Serie „Lateinamerika heute“. Teil 17: Brasilien und der Weltmarkt

DER TEUFELSKREIS DER SCHULDEN

Der Versuch, über die Schwelle zu schreiten und eine ordentliche Kapitalakkumulation hinzulegen, anstatt sich lediglich Rohstofflieferant für die Industrien der USA und der ehemaligen Kolonialmächte zu bleiben, zeichnet nicht nur Brasilien aus, sondern auch andere Staaten Lateinamerikas.

In Argentinien versuchte Perón eine eigene Industrie aufzubauen, in Mexiko verschiedene Präsidenten der Einheitspartei, die das Land bis 2000 regierte. Auch in Brasilien tat sich diesbezüglich einiges.

Der IWF und seine Schuldner

Neben dem Kapital, das nach 1945 in diese Richtung nördliche Vorbilder aufstrebenden Staaten wie Brasilien strömte – allerdings vor allem, um angesichts des eher schwachen inneren Marktes in Sparten zu investieren, die für den Export wichtig waren –, gesellten sich zunächst beim IWF und dann auch bei privaten Banken aufgenommene Kredite.
Die Verschuldung der Staaten Lateinamerikas, Afrikas und des fernen Ostens nahm Anfang der 70-er Jahre zu, als die Umstellung des IWF von der Goldbindung auf Sonderziehungsrechte die Kreditvergabe des IWF anspornte und die Banken der USA und vor allem Europas aus verschiedenen Gründen zuviel Geld hatten und nicht wußten, wohin damit. Da erschien u.a. Lateinamerika als perspektivenreicher Kunde.

Der IWF wurde mit der Zeit und den Schuldenproblemen als Gläubiger deshalb so wichtig für einen Kreditnehmer, weil der IWF-Kredit eine Art Bürgschaft darstellt: Wenn der IWF ein Land für kreditwürdig hält, so geben die kommerziellen Banken ihm auch Kredit. Wenn also ein Staat auf dem Finanzmarkt Geld aufnehmen will, so muß er sich erst beim IWF verschulden.
Das Geld, das mit dem IWF garantiert und von der kommerziellen Finanzwelt verliehen wird, ist Weltgeld und verschafft demjenigen, der den Kredit erhält, Zugriff auf Waren der ganzen Welt. Das heißt: sowohl auf Konsumgüter als auch auf Produktionsgüter wie Maschinen oder Industrieanlagen.
Außerdem ermöglicht ein IWF-Kredit das Anlegen bzw. die Pflege eines Devisen-, also Weltgeld-Schatzes, mit dessen Hilfe ein Staat die Konvertibilität seiner Währung garantieren kann. Das ist unbedingt notwendig, wenn dieser Staat bzw. seine Regierung ausländisches Kapital anziehen will. Mit der Konvertibilität kann er diesen Kapitalbesitzern garantieren, daß sie ihre Gewinne auch wieder in Weltgeld umwandeln und woanders hin verschieben können.

Der IWF war damals wichtig für Staaten, bei denen wenig Kapital akkumuliert worden war. Diejenigen Staaten, wo das Kapital sozusagen zu Hause ist, brauchten lange Zeit den IWF nicht als Kreditgeber – eher als Türöffner in andere Weltgegenden. Ihre Unternehmen exportierten selber genug Waren, um sich über den Welthandel die nötigen Devisen beschaffen zu können.

Diejenigen, die erst in diesen illustren Klub aufsteigen wollten, hatten vor, über Kredit eine Kapitalakkumulation in die Wege zu leiten. Sie waren von dem Willen getrieben, aus den Gewinnen der mit Kredit geschaffenen Unternehmen den Kredit zu bedienen bzw. auch irgendwann zu tilgen. Und das ist ja auch der Gedanke, der dem Begriff „Entwicklungsland“ zugrundeliegt. Hier geht es darum, den Weg der Entwicklung Richtung Westeuropa oder USA oder auch Australien zu beschreiten.
Wenn das nicht gelingt, so wächst die Verschuldung, und irgendwann einmal ist nicht genug da, um die regelmäßig fälligen Zinsen zu zahlen – geschweige denn, den Kredit zurückzuzahlen und sich damit aus dem Schuldendienst zu befreien.

Zu dieser mißlichen Lage tragen oftmals auch die Rohstoffpreise bei, die den Konjunkturen des Weltmarktes gemäß fallen oder ansteigen. Wenn sie fallen, so verringern sie damit die Einnahmen des Schuldnerstaates, der solche Rohstoffe oder Agrarprodukte liefert, und damit auch seine Fähigkeit zur Bedienung der Schulden – und erinnern ihn damit daran, daß er von seinen Plänen zur Erreichung eines kompletten Kapitalstandortes noch weit entfernt ist.

„Importsubstitution“

In der Literatur zu den Bemühungen der großen Staaten Lateinamerikas, sich in den Kreis derjenigen Nationen einzureihen, deren Währungen auch ohne die Hilfe des IWF konvertibel sind, weil sie auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen nachgefragt werden, wird diese Politik oftmals als das Streben nach „Importsubstitution“ bezeichnet.
Dieser Begriff hat von vornherein etwas Mißbilligendes an sich. Irgendetwas soll „ersetzt“ werden. Und dieses Irgendetwas, der Import, wird sozusagen als die natürliche, sozusagen prästabilisierte Harmonie aufgefaßt. Damit ist gesagt, daß diese Staaten eigentlich importieren sollen, damit die „entwickelten“ Staaten, die mit dem richtigen, dem Weltgeld, ihren Krempel irgendwohin verkaufen können. Wenn Deutschland – und inzwischen auch China – Exportweltmeister sind, so muß es ja auch Staaten geben, die Import-, hmmm, -Champions sind.

Eine Sache ist, Dinge zu produzieren oder nicht zu produzieren. Man denkt zunächst einmal an Konsumgüter. Wenn es keine Fabriken für Waschmaschinen oder Staubsauger gibt, so muß man diese Güter eben aus dem Ausland beziehen.
Das zweite ist aber die Zahlungsfähigkeit. Für diese ganzen Importe muß Weltgeld an Land gezogen werden, d.h., irgendetwas muß aus diesem Land auch hinausgehen. Und wenn ein Staat über wenig Bodenschätze verfügt, oder wenig fruchtbare Erde hat, – was die Handelsbilanz negativ beeinflußt – so bleiben noch Tourismus und Arbeitsemigration, um Devisen an Land zu ziehen.
Und wenn mit all diesen Wirtschaftszweigen immer zuwenig hereinkommt, so bleibt auch nur der Weg der Verschuldung – die sich in diesem Fall nicht aus Ambitionen Richtung wirtschaftliche Entwicklung ergibt, sondern aus einer negativen Zahlungsbilanz.

Diese negative Zahlungsbilanz zu überwinden, ist das, was mit gerunzelter Stirn als „Importsubstitution“ bezeichnet und auch oftmals als gescheiterte Wirtschaftspolitik verbucht wird, – mit dem Verweis auf Schuldenkrisen und natürlich die immer und überall vorhandene und daher auch problemlos als Ursache aller Übel verwertbare Korruption.
Vom IWF wurde daher seit dem Anfang der Schuldenkrisen in Lateinamerika immer wieder empfohlen, die eigene Bevölkerung zu verbilligen und sich im Sinne der „internationalen Arbeitsteilung“ wieder zum Exporteur von Agrarprodukten und Rohstoffen und zum Importeur von Konsumgütern herzurichten und sich in dieser Rolle zu bescheiden.

Die erste Schuldenkrise Brasiliens

„In den 1960er und 1970er Jahren hatten sich viele lateinamerikanische Staaten, insbesondere Brasilien, Argentinien und Mexiko, große Summen an Kapital von internationalen Gläubigern geliehen, um ihre Industrialisierung voranzubringen. … Zwischen 1975 und 1982 ist die Gesamtsumme der Forderungen kommerzieller Banken gegenüber Lateinamerika jährlich um 20,4 % gestiegen. Dieser Umstand führte zu einer Vervierfachung der lateinamerikanischen Auslandsschulden von 75 Milliarden US-Dollar (1975) auf mehr als 315 Milliarden US-Dollar im Jahr 1983, mithin 50% des Bruttoinlandsprodukts der gesamten Region. Der jährliche Schuldendienst (d. h. Tilgungs- und Zinszahlungen) stieg noch rasanter an und erreichte 1982 einen Betrag von 66 Mrd. US-Dollar (nach nur 12 Mrd. US-Dollar im Jahr 1975).
Als … der Ölpreis (in den 70-er Jahren) in die Höhe zu schießen begann, bedeutete dies für viele Länder der lateinamerikanischen Region einen Wendepunkt. Viele Entwicklungsländer befanden sich plötzlich in einem extremen Liquiditätsengpass, weil sie durch die steigenden Rohstoff-“ (will heißen: Energie-)„preise in Zahlungsnot gerieten. Erdölexportierende Länder wurden hingegen mit Finanzmitteln aufgrund der gestiegenen Erdölpreise überschwemmt und investierten das Geld bei internationalen Banken, die dieses wiederum in Form von Krediten in Lateinamerika anlegten (sogenanntes Petrodollar-Recycling). Dadurch akkumulierten sich die Auslandsschulden dieser Staaten über die Jahre gefährlich. Im Anschluss begann die Schuldenkrise, als die internationalen Kapitalmärkte gewahr wurden, dass Lateinamerika seine Schulden nicht mehr zurückzahlen können wird.“ (Wikipedia, Lateinamerikanische Schuldenkrise)

Dazu muß man erwähnen, daß die Rückzahlung von Schulden inzwischen mehr oder weniger als unschicklich betrachtet wird. Der Schuldner soll seine Schulden bedienen und daher den Banken als ständige und verläßlich sprudelnde Geldquelle dienen.
Bei Staaten als Schuldnern heißt das, daß an bestimmten Terminen umgeschuldet wird: Sie nehmen neue Kredite auf, mit denen sie ihre alten zurückzahlen. Formell ist somit die Altschuld getilgt. An diesen Terminen beweist der Staat, daß er über Kredit verfügt und daher des weiteren Kredites würdig ist.

„Dies geschah im August 1982, als Mexikos Finanzminister Jesus Silva-Herzog öffentlich bekannt gab, dass Mexiko seinen Schuldendienst einstellt und den teilweisen Staatsbankrott erklärte.“ (ebd.)

Brasilien geriet also gar nicht in erster Linie deshalb in die Schuldenkrise, weil sich Einnahmen und Ausgaben nicht mehr im vorgesehenen Rahmen hielten, sondern weil sich am Kreditmarkt Mißtrauen gegenüber den lateinamerikanischen Schuldnern breit machte und die Gläubiger Brasilien den Kredit abdrehten.

Wie sich später herausstellte, gab es aber noch andere Faktoren.

Aus dem Vertrag, den Brasilien 1983 mit dem IWF schloß, geht hervor, daß Brasilien mit seiner Industrialisierungspolitik relativ erfolgreich gewesen war. Von einem reinen Agrarexporteur hatte sich Brasilien in eine Ökonomie verwandelt, deren Export zu mehr als der Hälfte aus industriell hergestellten Waren bestand. Der Import bestand neben Produktionsgütern vor allem in Energieträgern, vor allem Erdöl. Und darin lag der eine Grund seiner Schuldenproblematik: Das Erdöl hatte sich sehr verteuert, dadurch flossen Devisen für Energie ab. Zweitens verteuerte sich der Kredit und damit stiegen auch die Schulden. Drittens fielen die Preise der Exportprodukte und sie trafen auf weniger Nachfrage aufgrund von Rezession in den Käuferländern. Das führte zu einem Kursverfall der brasilianischen Währung und zu galoppierender Inflation.

Im Gegenzug zu einem Stützungskredit in nicht genau festgelegter Höhe verpflichtete sich Brasilien, die Inflationsrate und das Budgetdefizit zu reduzieren. Die weiteren Punkte stellen eine Art Wunschzettel dar: Steigerung der Agrarproduktion zum Zwecke des Exports; Stimulierung der unternehmerischen Tätigkeit; maßvolle Lohnpolitik, um „den Arbeitsmarkt zu erweitern“, „Preise, die die Produktion stimulieren sollen“, und in Folge überhaupt eine Freigabe der Preise, also auch für bis zu diesem Zeitpunkt offenbar subventionierte Lebensmittel und Treibstoff. Gleichzeitig sollten die Steuern und Abgaben erhöht und dadurch die Staatseinnahmen erhöht werden.
Dieses und die folgenden Abkommen wurden nie erfüllt – all das konnte sich nicht ausgehen – und der Kredit floß stockend. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme führten zum Ende der Militärregierung, und so – demokratisch und verschuldet – kam Brasilien in den globalisierten 90-er Jahren an.

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 16: Brasilien 1

HINTERHOF-ÜBERGRÖSSE

1. Historisches

Brasilien verdankt seine Größe – es ist nach Territorium das 5-t-größte Land der Welt – einigen historischen Zufällen.

Der erste davon fand zur Zeit der Eroberungen im 16. Jahrhundert statt. Der von einem spanischen Papst vermittelte Vertrag, der die Welt in zwei Hälften teilte, sollte die überseeischen Beziehungen Spaniens im heutigen Lateinamerika gegen portugiesische Ansprüche absichern und letztere auf Afrika und Indien beschränken.

Die Linie ging so, wie sie festgelegt worden war, durch Südamerika. Damals, 1494, war jedoch das amerikanische Festland den Vertragsparteien unbekannt. Kolumbus hatte auf seinen ersten zwei Reisen nur Inseln der Karibik betreten. Erst auf seiner 3. Reise sichtete und betrat er das Festland im heutigen Venezuela. Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr im November 1500 hatten die Portugiesen bereits den Seeweg nach Indien entdeckt.
Außerdem, aber das stellte sich erst im nächsten Jahr, bei der Rückkehr einer anderen portugiesischen Flotte heraus, hatte diese einen Küstenstreifen des heutigen Brasilien entdeckt und in Besitz genommen.

Zunächst war die brasilianische Küste eher eine Nebenfront des portugiesischen Kolonialismus. Der Gewürzhandel mit Indien hatte Vorrang. Mit dem Aufkommen des Zuckerrohranbaus und des Sklavenhandels gewann die Gegend jedoch an Bedeutung. Auf der Suche nach Gold und nach Bevölkerung, die man versklaven konnte, drangen die portugiesischen Glücksritter, die Bandeirantes, weit ins Innere des Subkontinentes vor. An der Küste wurden in beide Richtungen Forts und Siedlungen angelegt, um die Kolonie gegen Korsaren und konkurrierende Kolonialmächte abzusichern. Die Ausdehnung des portugiesischen Einflußbereiches war auch beeinflußt von der Erschöpfung der Humanressourcen Spaniens, sein großes Territorium zu befestigen, verteidigen und verwalten. Schließlich waren es die Jesuiten, die mit ihren Siedlungen wie Wehrdörfer funktionierten und der portugiesischen Expansion Einhalt gboten.

Der zweite historische Zufall war die besondere Art, wie die Entkoppelung der Kolonie vom Mutterland von sich ging. Sie wurde nämlich nicht in langen und blutigen Heerzügen und Schlachten in unzugänglichen Gegenden bewerkstelligt, wie im Falle Spaniens, sondern von der Chefität selbst ausgerufen: Der von den französischen Truppen vom Thron gestoßene portugiesische Monarch entwich in die Kolonie und wertete diese durch seine Anwesenheit zum neuen Zentrum des Reiches auf. Später wurde dann noch ein Kaiserreich draus, was der Größe des Territoriums angemessen war und die dortige Oberschicht befriedigte. Separatismus und Kleinstaaterei, gar Staatsgründungskriege wie im restlichen Teil Lateinamerikas erübrigten sich daher.

Diese Übergröße war ein wichtiger Faktor im Verhältnis zu den USA, die Lateinamerika im Sinne der Monroe-Doktrin zu ihrem Hinterhof machten, anfänglich von Nord nach Süd und unter Hinausdrängung des britischen Empire.

Das daraus resultierende Spannungsverhältnis zwischen brasilianischen Präsidenten, die meinten, ihre große Nation sei zu Großem berufen und den USA, die meinten, jede brasilianische Ambition hätte an US-Interessen Maß zu nehmen, hat im 20. Jahrhundert drei von ihnen das Leben gekostet, Brasilien eine Militärdiktatur beschert und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes stark geprägt.

Sogar ein Präsident wir Jair Bolsonaro, der zu Beginn seiner Amtszeit sozusagen Liebkind der USA war, fiel bis zum Ende hin in Ungnade, weil er den Warenaustausch innerhalb des BRICS-Staatenbundes schätzte und nicht bereit war, sich wegen des Ukraine-Kriegs Sanktionen anzuschließen, die er als schädlich für Brasilien ansah.

2. Schwellenland

Brasilien gilt als klassisches Schwellenland, ähnlich wie andere seiner BRICS-Kollegen Indien und Südafrika.

Was ist mit diesem Begriff eigentlich ausgesagt? Um welche „Schwelle“ handelt es sich?

Gegenüber dem Begriff „Entwicklungsland“, der irgendwie die armen Hinterwäldler in Afrika, Asien oder der Karibik bezeichnet, die noch einen weiten Weg vor sich haben, soll es das Schwellenland weiter gebracht haben.

In beiden Fällen werden jedoch die erfolgreichen Staaten Euroas und Nordamerikas als Ziel verstanden, zu dem sich andere hinbewegen sollten, sogar eigentlich in einer Art Geschichtsteleologie müssen. Es gibt kein Entrinnen, alle müssen sich zu marktwirtschaftlich begründeten Konkurrenzgesellschaften wandeln, dann dürfen sie sich auch an den gedeckten Tisch setzen – so die Vorstellung, die die Grundlage von Begriffen wie Entwicklungs- und Schwellenland ist.

Macht schön, was der IWF und ähnlich gelagerte Institutionen und unsere diversen „Berater“ euch sagen, und dann kommt ihr auch so weit – das ist die Vorstellung, mit der diese Staaten und ihre Regierungen „im globalen Süden“, wie sie inzwischen heißen, im Grund schon seit 1945 am Gängelband gehalten werden.

Klappt es nicht, so sind sie selber schuld, weil ihre Bevölkerung lernunfähig ist, ihre Eliten korrupt und geldgierig, und so weiter.

Klappt es aber einmal schon, wie bei China – so ist es auch nicht recht und der glücklich im Entwicklungsparadies angekommene Kandidat wird als Spielverderber und Bösewicht schlecht gemacht, der sich nicht an die Regeln gehalten hat.

Die ewigen Schwellenländer sind dem Wertewesten weitaus lieber, weil sie sind klein genug, um weiter nach der Entwicklungs-Karotte zu schnappen, und groß genug, daß man mit ihnen gute Geschäfte machen kann.

Der Zusammenschluß von solchen Staaten mit Rußland und China ist den USA und Europa überhaupt nicht recht. Das war der Grund für das Mißtrauensvotum, das die Regierung von Dilma Rousseff gestürzt hat, und die Unterstützung des Sieges von Bolsonaro.

Bis dahin war aber ein holpriger Weg.

Fortsetzung folgt: Schulden und Energie

Pressespiegel El País, 5.3.: Griechenland erntet die bitteren Früchte der Kürzungen im öffentlichen Dienst

KOSTEN DER EURORETTUNG

„Das Zugunglück in Tempe am Dienstag – die größte Eisenbahntragödie in der griechischen Geschichte, bei der 57 Menschen ums Leben kamen – hat den prekären Zustand der griechischen öffentlichen Dienste deutlich gemacht.
Gewerkschaften und Opposition führen die Verschlechterung auf mehr als ein Jahrzehnt Sparpolitik zurück. Die konservative Regierung von Kyriakos Mitsotakis hingegen definiert sie als „chronische Pathologien“.

Griechenland wurde ganz offiziell gezwungen, von 2010 bis August 2022 Sparmaßnahmen zu ergreifen.
2009, nachdem die wichtigsten Ratingagenturen das Schuldenrating des Landes herabgestuft hatten, brach der Athener Aktienmarkt ein. Im Jahr 2010, kurz vor dem Bankrott, nahm das Land einen Kredit der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds (IWF) an, als Gegenleistung dafür, dass die griechische Regierung eine harte Sparpolitik und tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben anwendet.
Zur Überwachung der Anpassungen wurde die als Troika bekannte Gruppe gebildet, die sich aus der Europäischen Kommission, dem IWF und der Europäischen Zentralbank zusammensetzte. (…) 2012 einigte sich die griechische Regierung mit der Troika darauf, 15.000 Beamte zu entlassen, um Zugang zur 2. Finanzrettung zu erhalten. Die Schulden wuchsen weiter.

Soziale Unzufriedenheit führte im Januar 2015 zum Sieg der linken Formation Syriza, die versprach, die Sparpolitik zu beenden und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen rückgängig zu machen.
Syriza hat sich in Folge nicht nur geweigert, die Privatisierungen zu reduzieren oder rückgängig zu machen, sondern unterzeichnete nur sechs Monate nach dem Wahlsieg das 3. Rettungspaket. Im Rahmen desselben kürzte sie weiter Löhne und Renten und schloss Privatisierungen wie die des Hafens von Piräus, dem wichtigsten des Landes, oder der öffentlichen Eisenbahngesellschaft TrainOSE, heute Hellenic Train, ab.
Die Rettungspakete wurden 2018 beendet, aber bis 2022 unterlag Griechenland einer »verstärkten Überwachung« durch die Europäische Kommission.

Nach der Eisenbahntragödie von Tempe haben die Gewerkschaften des Sektors zahlreiche interne Mitteilungen veröffentlicht, in denen sie davor gewarnt hatten, dass der schlechte Zustand der Infrastruktur die Sicherheit von Arbeitern und Reisenden gefährdet.
Der Fernsehsender Open TV hat enthüllt, dass die Geschäftsführung der Hellenic Train damit gedroht hat, die Vertreter der griechischen Zugführer-Gewerkschaft, die sich aus Lokführern zusammensetzt, wegen Verleumdung anzuzeigen.
Diese Gewerkschaft hatte am 31. Oktober des Vorjahres ein außergerichtliches Verfahren gefordert, um von der Unternehmensleitung »die sofortige Wiederherstellung der seit Jahren verschlechterten Bahninfrastruktur, Fernsteueranlagen, Lichtsignale und Netzsicherheit« zu fordern, um durch diese Maßnahmen die »Gesundheit und Sicherheit« der Arbeitnehmer zu gewährleisten.
Die Unternehmensleitung erklärte, die Vorwürfe seien verleumderisch und die Urheber der Vorwürfe hätten mit Konsequenzen zu rechnen.

Der Ingenieur Athanasios Ziliaskopoulos wurde von der Regierung als Mitglied des Expertenkomitees ausgewählt, das die Ursachen des Tempe-Unfalls untersuchen soll. Syriza als Oppositionspartei hat in einer Erklärung darauf hingewiesen, dass eine solche Ernennung »ein Hohn ist«, weil Ziliaskopoulos im Zeitraum 2010-2015 Vorstandsvorsitzender von“ (der damals staatlichen Eisenbahngesellschaft) „TrainOSE war – das heißt, als das Unternehmen seinen Privatisierungsprozess mit dem Verkauf von 49% seiner Vermögenswerte begann. Anschließend leitete der Ingenieur das TAIPED (»Verwertungsfonds für das öffentliche Privatvermögen«, das Gremium, das das Privatisierungsprogramm in Griechenland verwaltet).
Allerdings wird aus dem Schreiben von Syriza auch klar, dass die Privatisierung von TrainOSE, obwohl sie 2010 begann, 2016 abgeschlossen wurde, also als die Linkskoalition regierte.“

Syriza war also genauso an dieser Privatisierung beteiligt, oder sogar in wichtigerer Position, als der ominöse Ingenieur, der jetzt offenbar zwecks Verwischens von Spuren eingesetzt wird.

„Die Bahngewerkschaften behaupten, unter Ziliaskopoulos sei beschlossen worden, daß die Bahngesellschaft keine »Fernleitzentrale« bauen werde – d.h., ein Bahnverkehrs-Aufsichtsamt, das die ETCS-Technologie (European Traffic Control System) integriert, ein automatisiertes System, dessen Ziel es ist, den Verkehr vor möglichen menschlichen Fehlern zu schützen.“

Es wäre ja nicht nur mit einem Bau einer solchen Zentrale getan gewesen. Jede einzelne Zugstrecke und jeder einzelne Bahnhof hätte damit verbunden werden müssen.

„Obwohl Griechenland und die Europäische Union 20 Millionen Euro für die Modernisierung der Züge und des Acharnes Railway Center (dem wichtigsten Eisenbahnknotenpunkt in der Nähe der Hauptstadt) ausgegeben haben, wurde ein solches Leitsystem nie in Betrieb genommen.“

Es wurde ja auch, wie dem Artikel zu entnehmen ist, nie installiert.

„Als Konsequenz, so die Version der Gewerkschaftsvertreter, seien die Bahnhofsvorstände gezwungen worden, manuell mit Funkgerät, Papier und Kurbel zu arbeiten – am sogenannten „Nullpunkt“, wo sich die internationalen Linien mit Nahverkehrszügen kreuzen.“

Angesichts solcher Zustände fragt man sich, was mit diesen 20 Millionen geschehen ist, die angeblich in das Zugssystem investiert worden sind?

Ähnlich sieht es in anderen Abteilungen des öffentlichen Sektors aus:

„Im Januar 2019 gab der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, zu, Griechenland »gedankenlose Sparmaßnahmen« aufgezwungen zu haben. »Wir haben Griechenland unzureichend unterstützt«, erklärte er vor der Plenarsitzung der Eurokammer. Drei Jahre später verkündet die Lehrerin Tsiftsi dem Korrespondenten von EL País: »Es gibt keine gute Bildung, es gibt keine guten Krankenhäuser, es gibt keinen sicheren Transport … Das Einzige, was wir in diesem Land haben, sind die Menschen. Wenn wir überleben, ist es pures Glück.«“

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„Der Hellenic Republic Asset Development Fund (=TAIPED) schrieb Anfang 2016 TrainOSE zum Verkauf aus. Am 14. Juli 2016 gab die Privatisierungsbehörde bekannt, das einzige vorliegende Gebot, das der italienischen Staatsbahn Ferrovie dello Stato Italiane, in Höhe von 45 Mio. Euro, anzunehmen. Am 18. Januar 2017 wurde der Verkaufsvertrag unterschrieben. Der Eigentumsübergang erfolgte zum 14. September 2017. Zum 1. Juli 2022 erhielt das Unternehmen den neuen Namen Hellenic Train.“
(Wikipedia, Hellenic Train)

Bei denen italienischen Staatsbahnen, was man so liest, sind die Zustände ähnlich. Die Privatisierung diente also nur dem Schuldendienst für Griechenland und verschaffte den italienischen Staatsbahnen eine zusätzliche Adresse für Stützungen aus der EU, die dann entweder in Verwaltungskosten oder ins laufende Geschäft (notwendigste Reparaturen) oder in private Taschen gesteckt werden konnten.

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Erinnerung an ein anderes Zugsunglück mit noch mehr Toten, auch „made in EU“:

Zeit ist Geld – Geschwindigkeit als Geschäftsmittel: DIE MOBILITÄT UND IHR PREIS

Hier kommen auch noch Geschäftskalkulationen hinzu, aber die Parallelen bei der „Bewältigung“ sind unübersehbar: Dort soll der Lokführer, hier der Bahnhofsvorstand verantwortlich gemacht werden, damit weder die Geschäfts- noch die Sparkalkulationen ins Visier geraten.