Die Auswirkungen der Krise in Rußland

PIKALJOVO — EINE BANKROTTE STADT

Die 22.000-Einwohner-Stadt im Bezirk Leningrad wurde erst im letzten Jahr in Rußland so richtig bekannt.
Sie zählt zu denjenigen Städten, für die in den letzten Jahren der Name „Mono-Stadt“ populär geworden ist. Mono-Stadt deshalb, weil die ganze Stadt aus sowjetischen Zeiten her sich um einen einzigen Großbetrieb herum abspielte, ja oft rund um ihn erst gebaut wurde. So ging die sowjetische Planwirtschaft seinerzeit vor: An dieser Stelle gibt es irgendwelche natürlichen Ressourcen, und/oder sie liegt auch transportmäßig günstig, da stellen wir ein So-und-so-Kombinat hin. Oft wurden Straßen oder Eisenbahnen dann erst direkt hin- oder nahe vorbeigebaut.

Solange das sowjetische System noch in Kraft war, also bis zur Mitte der 80-er Jahre, bevor die Perestrojka ihre zerstörerische Wirkung entfaltete, funktionierten diese Städte auch halbwegs. Die sozialen und kommunalen Aufgaben wurden entweder aus dem zentralen Budget oder über das Kombinat direkt finanziert.

Seither hat es erstens eine Privatisierung gegeben. Das Kombinat von Pikaljovo ging irgendwann um die Jahrtausendwende in den Besitz des Oligarchen Oleg Deripaska über. Er spaltete es in mehrere Betriebe auf: für Zement, Tonerde, Soda, Pottasche u.ä. Alle gehören zu Deripaskas Gruppe „Basic Element“, die auf der Kanalinsel Jersey und auf den Virgin Islands registriert ist.

Die Krise in Rußland erfaßte auch die Bau- und Schwerindustrie, und die in Pikaljovo hergestellten Grundstoffe wurden auf einmal nicht mehr nachgefragt. Ende 2008 und in den ersten Monaten von 2009 schlossen die 3 größten Betriebe Pikaljovos und setzten ihre Arbeiter auf die Straße, nachdem sie ihrnen vorher oft monatelang keinen Lohn gezahlt hatten – etwas, was in der Jelzin-Ära gang und gäbe war, und wogegen aufgrund der russischen Arbeitsverträge auch keine Handhabe gegeben ist. Der Arbeiter kann ausstehende Löhne bei keinem Arbeitsgericht einklagen, sondern höchstens auf Provinzebene Beschwerde einlegen. Das russische Arbeitsrecht ist nämlich absichtsvoll sehr diffus formuliert und auch sehr verschwiegen darüber, welche Instanzen überhaupt für Beschwerden zuständig sind. Es wird mehr oder weniger dem Ermessensspielraum der Regionalbehörden überlassen, wie sie Arbeitskonflikte regeln und wann sie wo die Augen zudrücken, eventuell gegen ein kleines oder größeres Bakschisch.

Diese elastischen rechtlichen Bestimmungen sind eines der Ergebnisse der Ära Putin und seiner Versuche, das Kapital der Oligarchen wieder ins Land zu locken, indem er ihnen günstige Ausbeutungsbedingungen zur Verfügung stellte.

Also, Deripaska gehören die Betriebe, er hat sie zugesperrt, mit einem Haufen Schulden gegenüber der Belegschaft, den Zulieferern, der Gemeinde und den Energieversorgern. Was soll man machen?! Deripaska ist heutzutage beinahe ein armer Schlucker … Ihn pfänden geht auf keinen Fall.

Außer der Privatisierung hat es in Rußland seit den 90-er Jahren auch noch eine Verwaltungsreform gegeben, innerhalb derer die Unkosten, die ein modernes Staatswesen so hat, vom staatlichen Budget nach unten, zu den Regionen, Landkreisen und Gemeinden verlagert wurden. Begleitet, ähnlich wie in anderen postsozialistischen Staaten, von den Schalmeienklängen in der Presse, daß hiermit endlich die Gängelung der Bürger durch die Zentralverwaltung aufhöre, und sich das Individuum in seiner gewohnten Umgebung endlich frei entfalten könne.

Woher nahm also Pikaljovo das Geld für seine Gemeindeausgaben?
Kindergärten, Bibliotheken, Straßenausbau und -ausbesserug, Autobusverkehr usw. will ja auch irgendwie bezahlt werden.
Solange bei den Betrieben von Pikaljovo der Schornstein noch rauchte, kam über Lohnsteuern und Verbrauchssteuern noch einiges herein. Körperschaftssteuer wird Herr Deripaska wohl kaum gezahlt haben, weil wenn er ein Bedürfnis dazu verspürt hätte, so hätte er seine Sub-Firmen ja gleich in Rußland registrieren lassen können und nicht in irgendeinem Steuerparadies.

Seit aber alles zugesperrt ist, kommt weder in die individuellen Haushaltskassen noch in die Gemeindekassen, noch in die Kassen der Energieversorger auch nur ein müder Rubel. Die Einwohner Pikaljovos hatten eine Zeitlang kein heißes Wasser, nahmen Löwenzahn-Salat und ähnliche (kostenlose) Delikatessen in ihr Menü auf und blockierten schließlich die wichtige Fernstraße, die Petersburg mit Vologda verbindet. Der Stau zog sich über ein paar 100 Kilometer, in beide Richtungen.
Pikaljovo hatte sich in ein Ordnungsproblem verwandelt.

Und die Regierungsspitze rückte an. Putin persönlich gab sich die Ehre und stellte erst einmal gegenüber den ausgesteuerten Arbeitern klar: Das letzte, was sie sich erlauben dürfen, ist, gegen die Gesetze zu verstoßen.
Im Anschluß daran machte er alle anwesenden Bezirks- und Gemeindefunktionäre zur Schnecke, einschließlich des etwas kleinlauten Deripaska – wofür eigentlich? Letzterer hatte Gewinne gemacht, und als er keine mehr machte, die Betriebe zugesperrt. Ganz normal, wie es in der Marktwirtschaft üblich ist und wie auch die Gewerkschaften überall inzwischen einsehen.
Und die lokalen Behörden: Sie hatten mit dem Geld gewirtschaftet, das ihnen zur Verfügung stand, und als keins mehr da war, was hätten sie tun sollen? Sie sind ja auf Marktwirtschaft verpflichtet worden, und darauf, daß sie ihre Einnahmen aus dem Wirtschaftsleben zu beziehen hätten, und nicht aus irgendeinem zentralen Geldreservoir. Gleichzeitig wurden ihnen aber alle Möglichkeiten beschnitten, in Form von Steuern und Abgaben legal an den Gewinnen der Unternehmen vor Ort mitzuschneiden, weil man damit die Unternehmer, die neuen Messiasse, womöglich vergrausigt hätte.

„Die überflüssige Bevölkerung wird vielmehr durch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich erzeugt, die jeden einzelnen Arbeiter zwingt, täglich so viel zu arbeiten, als seine Kräfte ihm nur eben gestatten. Wenn ein Fabrikant täglich zehn Arbeiter neun Stunden lang beschäftigen kann, so kann er, wenn die Arbeiter zehn Stunden täglich arbeiten, nur neun beschäftigen, und der zehnte wird brotlos. Und wenn der Fabrikant zu einer Zeit, wo die Nachfrage nach Arbeitern nicht sehr groß ist, die neun Arbeiter durch die Drohung, sie zu entlassen, zwingen kann, für denselben Lohn täglich eine Stunde mehr, also zehn Stunden zu arbeiten, so entläßt er den zehnten und spart dessen Lohn.“

Oder, wie Deripaska, läßt alle eine Zeitlang weiterarbeiten, zahlt aber gar nichts.
Wenn es aber partout keine Käufer für die Produkte gibt, nützen alle Methoden der Mehrwertsteigerung nichts. Die Versilberung der Ware gelingt nicht.

„Wie hier im kleinen, so geht es bei einer Nation im großen. Die durch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich auf ihr Maximum gesteigerten Leistungen jedes einzelnen, die Teilung der Arbeit, die Einführung von Maschinerie, die Benutzung der Elementarkräfte werfen eine Menge Arbeiter außer Brot. Diese brotlosen Arbeiter kommen aber aus dem Markte; sie können nichts mehr kaufen, also die früher von ihnen verlangte Quantität Handelswaren wird jetzt nicht mehr verlangt, braucht also nicht mehr angefertigt zu werden, die früher mit deren Verfertigung beschäftigten Arbeiter werden also wieder brotlos, treten vom Markte ebenfalls ab, und so geht es immer weiter, immer denselben Kreislauf durch“ (Engels, die Lage der arbeitenden Klassen in England, Die Konkurrenz) –

es sei denn, woanders gibt es wieder einen Aufschwung, was derzeit in Rußland nicht abzusehen ist.

Die Schulden Deripaskas bei den Arbeitern usw. wurden schließlich irgendwie aus Budgetmitteln der Region, mit Garantien aller Art, beglichen.

Das eigentlich Problem aber blieb bestehen: Was wird aus Pikaljovo, und ähnlichen Städten dieser Art, in Zukunft? Absiedeln? Wohin? Woanders ist ja auch keine Arbeit da. Die Überflüssigen werden sogar jeden Tag mehr.

Die Umstellung auf die Marktwirtschaft hat Rußland gebracht:
1. Eine willige und billige Arbeiterklasse, die durch die Entbehrungen der letzten 20 Jahre zu fast allem bereit ist, vorausgesetzt, sie wird angewandt,
2. eine Unternehmerklasse, die auf der ganzen Welt zuhause ist und sehr wählerisch, wo sie wie investiert oder auch, wann sie wo zusperrt,
3. einen Verwaltungsapparat, der dem Ideal, das IWF, EU-Institutionen und Marktwirtschafts-Gurus verbreiten – funktionieren soll alles, aber kosten solls nix – sehr nahe kommt, und
4. eine Staatsführung, die im Zweifelsfall klarstellt, daß sie alle ihr zur Verfügung stehende Gewalt einsetzen wird, damit das alles auch so bleibt, Krise hin oder her.

Das Weltwährungssystem, Fortsetzung

Rußland und der Euro
Ein Artikel in der „Izvestija“ vom 15.2. befaßt sich mit der Frage: Wie geht es weiter mit dem Euro und was bedeutet das für Rußland?
„Der Kollaps des Euro ist unausweichlich“ – so wird zunächst ein Bericht der französischen Bank „Société Générale“ zitiert.
Was heißt das, erstens für „uns“ und zweitens allgemein? fragt sich die Izvestija.
Sollte man seine Ersparnisse jetzt schnell in $ oder gar in Rubel umwechseln?
Hurra, Reisen nach Europa verbilligen sich?!
Im „think positive“-Denken setzt der Artikel fort: Solange der Euro mäßig fällt, so könnte das die Konkurrenzfähigkeit der Eurozone erhöhen, der EU neue Exportmärkte öffnen und so einen Aufschwung einleiten.
In den letzten Jahren gab es jedoch große Investitionen aus dem Euro-Raum in Rußland. Kommt der Euro unter Druck, so ist zu erwarten, daß sich die Direktinvestitionen erheblich verringern werden und außerdem Kapital aus Rußland abgezogen wird.
Der Rubel wird also nicht unbedingt gegenüber dem Euro zulegen, und Probleme der Eurozone könnten die Wirtschaftsentwicklung Rußlands deutlich beeinträchtigen.
Nicht zu vergessen die ehemaligen sozialistischen Staaten, (also EU-Mitglieder ohne Euro,) mit denen ja Rußland auch mehr oder weniger intensive Wirtschaftsbeziehungen hat – wenn die jetzt auf einmal selbst zu Sanierungsfällen werden, so versetzt das der Ökonomie Rußlands einen weiteren Schlag.
Noch einmal kehrt die Autorin des Artikels zum Bericht der „Société Générale“ zurück: Demzufolge seien alle Maßnahmen, die zur Stützung Griechenlands ergriffen würden, nur ein vergeblicher Klebstoff für ein Kartenhaus, das bald zusammenbrechen werde. Sie stellen nur eine Verzögerung des unausweichlichen Zusammenbruchs des Europäischen Währungssystems dar.
Ganz so schlimm wird es schon nicht sein, meint die Autorin in der Izvestija. Und ergeht sich weiter in Vorstellungen eines möglichen guten Ausganges: Wenn die Spekulanten zu viel Druck auf den Euro machen sollten, so wird die EZB Stützungskäufe machen, d.h. ihre $-Bestände abverkaufen und € einkaufen, und dann wird sich der Euro wieder stabilisieren.
Es kann natürlich sein, daß das alles nichts nützt, und daß die wackeligen Staatshaushalte der Problemländer schließlich auch die Kernstaaten der EU, wie Frankreich, in Schwierigkeiten bringen könnten.
Es gibt, so der Schluß des Artikels, nur zwei Möglichkeiten: Entweder eine Menge Euro wird auf den Markt geworfen, oder die Eurozone wird verkleinert. Beides führt auf jeden Fall zu einer Schwächung des Euro.
Was kann man alles aus diesen Ausführungen folgern?
Erstens, es gibt offenbar auch innerhalb der EU und Eurozone Geldhändler (und vielleicht auch Politiker), die an einer Schwächung und Abwertung des Euro interessiert sind. Was sonst veranlaßt eine große europäische Bank dazu, den Euro gleichsam zu Grabe zu tragen? Sie setzt mit einer solchen „Analyse“ ja bewußt ein Datum, um Mißtrauen in diese Währung auszulösen.
Zweitens, in Rußland werden möglicherweise sowohl die Zentralbank als auch Privatbanken anfangen, Euro gegen $ zu verkaufen und dadurch einen Kursverfall des Euro in die Wege leiten. Es handelt sich bei Rußland ja nicht gerade um eine kleine Ökonomie und da lagert einiges an Geldmengen in den Kellern der Banken.
Drittens, Rußland ist inzwischen so gründlich in den weltweiten Kapitalismus eingebunden, daß bis nach Sibirien Produktion, Gewinn, Arbeitsplätze und Zahlungsfähigkeit wackeln, wenn in der Eurozone jemand hustet. Oder ernsthafter: Die Eckpfeiler der Ökonomie Rußlamnds sind nach wie vor die Weltwährungen $ und Euro, von denen ein guter Teil der eigenen Wirtschaftsleistung abhängt.
Rußland ist inzwischen ein interessanter Markt für europäische Investoren und Spekulanten, die dort Kredite plazieren.
Dadurch ist die Abhängigkeit des Rubel von Euro und $ aber auch wieder nicht ganz einseitig: Euroverkäufe in großer Menge sind in Rußland möglich und werden, sofern sie stattfinden, Wirkung auf den Euro haben.
(Es ist natürlich auch nicht ausgeschlossen, daß russische Banken mit den Euro-Hütern in Verhandlungen eintreten und sich eine eventuelle Stützung des Euro zu bestimmten Bedingungen abkaufen lassen.)
Staaten und Normalverbraucher sehen gleichermaßen, sollte eine Währung ins Gerede geraden, ihren Ausweg nur in einer anderen Währung. Es wird nicht angedacht, Gold zu horten, sondern $ gegen Euro zu tauschen. Das Vertrauen in die Geldausgabe- und Garantiefähigkeit gewisser Staatsgewalten bestimmt die Berechnungen aller „Marktteilnehmer“, von ganz oben bis ganz unten.

Anläßlich der Wahlen in der Ukraine

PORTRAIT EINES OLIGARCHEN: RINAT ACHMETOV

Rinat Achmetov gilt als der eigentliche Königsmacher der Ukraine. Der Wahlsieg Janukovitschs geht zu einem großen Teil auf sein Konto. Während der Orangen Revolution wurde Justschenkos Wahlkampf mehr oder weniger von Boris Berezovski finanziert, und Justschenko konnte einen Etappensieg verbuchen. Achmetov stand auch damals auf der Seite Janukovitschs. Er hatte den längeren Atem. (Berezovsky hat seinen Schützling längst fallengelassen, weil der ihm nach seinem Wahlsieg gemeinerweise die triumphale Übersiedlung in die Ukraine verweigert hat.) Inzwischen hat sich also der einheimische gegen den auswärtigen Oligarchen durchgesetzt, in der Politik jedenfalls.

Wie kam der Sohn eines Bergarbeiters und Absolvent einer sowjetischen Wirtschaftsuni zu seinem Vermögen?

Zunächst einmal – Mitte der 90-er Jahre – gründete er, ähnlich wie andere der neuen Großunternehmer der ehemaligen SU, eine Bank.
(Hier erinnert man sich an Brechts Spruch aus der Dreigroschenoper: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? “)
Damit verschaffte er sich Kredit und begann, Betriebe zu kaufen.

Man muß sich vor Augen führen, wie die Situation in der Ukraine damals war.

Nachdem Kravtschuk, Schuschkievitsch und Jelzin auf einer weißrussischen Datscha bei Konsum von einigen Flaschen Wodka beschlossen hatten, nach der Devise „small is beautiful“ die Zerschlagung der Sowjetunion einzuleiten, wurde die Ukraine 1991 unabhängig. Sie war gleichzeitig mehr oder weniger pleite. Zunächst ließ die Regierung 1992 im Ausland – auf Kredit selbstverständlich – hübsche Banknoten drucken. Die ukrainische Regierung verschuldete sich also schon einmal ordentlich, um sich ein nationales Geld zuzulegen. Die Kosten für den Druck der Hrivna bei zwei kanadischen Firmen sollen sich auf ca. 200 Millionen US-Dollar belaufen haben.
Dabei wäre das, wie sich herausstellte, gar nicht nötig gewesen. Die Hrivna wurde nämlich erst viereinhalb Jahre später in Umlauf gebracht. Bis dahin lagerten die Geldscheine in diversen Kellern von öffentlichen Gebäuden. Man wollte das gute Geld nämlich nicht durch eine schlechte Wirtschaft verderben.

Im Umlauf waren von 1992 bis 1996 die Kupony-Karbowanzy, die aus irgendeiner ukrainischen Druckerei stammten. Und ihren Dienst, die Menschen von den Waren fernzuhalten, sofern sie keinen Karbowanez in der Hand hatten, auch tadellos versahen.

Der Staat war der Eigentümer seiner gesamten Wirtschaft, für deren Produkte es auf einmal keine Absatzmärkte mehr gab, da die meisten von ihnen Ausland geworden und nach den neuen, plötzlich geltenden Prinzipien genauso zahlungsunfähig wie die Ukraine waren: Auch sie verfügten nur über nationales Geld vom Schlage der Karbowanzy und nicht über die im zwischenstaatlichen Zahlungsverkehr nötigen Devisen.
Der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, diverse Experten und andere menschenfreundliche Institutionen nahmen das frische Mitglied der internationalen Staatenfamilie unter ihre Fittiche, kreditierten es, um diese Nationalökonomie vor dem völligen Kollaps zu bewahren, und erteilten ihre bewährten immergleichen Ratschläge: Nicht zu viel Geld drucken, um eine Inflation zu vermeiden, und möglichst rasch alles privatisieren. Und ja keine Erhöhungen von Löhnen und Gehältern!

Die Löhne und Gehälter vieler Ukrainer wurden nicht nur nicht erhöht, sie wurden oft jahrelang nicht gezahlt. Die Regierung durfte ja nicht so viel Geld drucken! Also woher nehmen? Und so arbeiteten ukrainische Professoren, Bergarbeiter, Ärzte und so weiter jahrelang mehr oder weniger gratis und versuchten sich mit Kleinhandel oder anderen Nebenerwerbstätigkeiten irgendwie über Wasser zu halten.
Hätten sie das nicht getan, wären sie nicht an ihrem Arbeitsplatz erschienen, wären sie nämlich laut Dienstvertrag sofort entlassen worden, ohne irgendwelche Ansprüche auf Wiedereinstellung, Abfertigung oder Arbeitslosenunterstützung. Dies war ein Erbe der sowjetischen Wirtschaftsordnung, in der Entlassung nicht vorgesehen war und man einen Arbeitsplatz auf Lebenszeit hatte. Lang ists her …

Alle Betriebe warteten also auf den rettenden Investor. Und er erschien, in Gestalt von Achmetov und seinen Geschäfts- und Bankpartnern. Da es in der Ukraine kein Kapital gab, so erschufen sie es durch Kredit, den sie sich über ihre neugründeten Banken gewährten.

Man sieht hier sofort, daß es tatsächlich nur den richtigen Unternehmergeist braucht (und natürlich die nötige staatliche Unterstützung für ein solches Unterfangen), und dann ist das lumpigste Geld auch gerade gut genug, um zum Schmiermittel einer frisch angeleierten Kapitalakkumulation zu werden. Durch die Erteilung der Bankkonzession hat auch der Staat grünes Licht zur Kreditschöpfung gegeben und klargestellt, daß er auf dem seiner Hoheit unterstehendem Territorium auf Kapitalakkumulation Wert legt und für die Gültigkeit der zu diesem Zweck geschöpften Kredite qua dieser seiner Hoheit als lender of last resort geradesteht.

Natürlich gab es in der Anfangsphase einige Schwierigkeiten für Achmetov, sich durchzusetzen. Da kam es ihm sicherlich zugute, daß er früher einmal eine Zeitlang professioneller Boxer gewesen war. Die Idee, eine Bank zu gründen, aus nichts Kredit zu schaffen und dann einkaufen zu gehen, hatten nämlich sicher auch andere. So wahnsinnig originell ist sie ja nicht, wie überhaupt der ganze in den Medien stets hochgerühmte Unternehmergeist, näher betrachtet, eine ziemlich eintönige Angelegenheit ist.
Aber es wäre kleinlich, ihm das vorzuwerfen, wie das heute manche seiner Neider tun. So etwas gehört zu einer Gründerphase dazu, da gibt es eben eine natürliche Auslese, in der sich der Weizen der zukünftigen Kapitalistenklasse von der Spreu derjenigen Möchtegern-Unternehmer trennt, die dann in irgendeinem Wald oder Straßengraben enden.

Nachdem Achmetov so zum Besitzer einiger großer metallurgischer Kombinate und anderer Unternehmen geworden war und daran arbeitete, sie profitabel zu machen, legte er sich eine Fußballmannschaft zu, die seiner Heimatstadt: Schachtjor Donetsk.

Weil diese Affinität neureicher Unternehmer zu Fußballmannschaften oft als Spleen belächelt wird, ist es einmal angebracht, darauf hinzuweisen, daß der Besitz einer solchen Mannschaft zunächst eine ausgezeichnete Geldwaschmaschine ist, und nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit. Die Ausgaben für Transferkosten, Spielergehälter, Sozialversicherung, Stadionbauten usw. sind ebenso gewaltig wie manipulierbar. Ebenso die Einnahmen von Sponsoren, Übertragungsrechten, Prämien und was es da noch so gibt. Da ist viel Platz, um Summen hineinzustecken und wieder herauszuziehen, die man woanders verdient hat und weder den Steuerbehörden noch der Justiz unter die Nase halten will.
Außerdem schafft einem das Sponsoring und der Betrieb von so einem Fußballteam viele Sympathien und eröffnet einem gute Beziehungen, auf die man als Unternehmer immer angewiesen ist. Wer liebt nicht den Fußball?! Und das Herz jedes Patrioten schlägt höher, wenn die eigenen Burschen sich im internationalen Wettbewerb bewähren. Das läßt die Armen im Land ihre leeren Speisekammern vergessen, und schwellt den glücklichen neuen Reichen die Brust, nicht nur Geldfürsten und einflußreiche Leute zu sein, sondern auch einen Stolz auf ihr Heimatland zu entwickeln.
Und die Fußball-Anhängerschaft schafft auch das nötige Wähler-Klientel, wenn man seine bevorzugten Politiker ins Parlament und die Regierung hieven will.

Schließlich sieht man auch, wie heute das Proletariat weltweit bei der Stange gehalten wird: Von „panem et circenses“, mit denen die alten Römer ihre Besitzlosen zum Mitmachen brachten, ist nur letzteres übriggeblieben. Das moderne Proletariat ist bescheidener als seine antiken Namensgeber.

Bei der Geldwäsche und den illegalen Geschäften, für die sie nötig ist, muß man nicht immer an das Schlimmste denken, also an den im Zusammenhang mit postsozialistischen Staaten immer wieder beschworenen Menschen-, Waffen- oder Drogenhandel. Nein, auch Produzenten von ganz biederen Gebrauchsgegenständen, wie Schuhen oder Autoreifen, oder womöglich Lebensmitteln haben oft die größten Absatzschwierigkeiten, wegen mangelnder Zahlungsfähigkeit des p.t. Zielpublikums.
Ein Unternehmer in der Ukraine hat Unkosten, die z.B. ein österreichischer nicht kennt, und steht wegen seiner Staatszugehörigkeit immer schon mit einem Fuß im Kriminal.

Die oben erwähnten menschenfreundlichen Institutionen wie IWF usw. wollen zwar unbedingt, daß in der Ukraine Marktwirtschaft herrscht und ja nichts produziert wird, wo nicht am Ende Geschäft und Gewinn dabei herausschauen. Gleichzeitig werden aber viele Türen verschlossen, die dazu beitragen könnten, daß das Unternehmertum in der Ukraine vorankommt: Gerade diejenigen Staaten, die über „richtiges“, also Weltgeld verfügen, auf deren Märkte also jeder Unternehmer drängt, schützen ihren Markt und ihre Produktion durch Zölle und Quotenregelungen und verweisen die neuen Kapitalisten auf ihren inneren Markt und auf die genauso schwachbrüstigen Märkte ihrer ehemaligen Bruderländer.

Will also so jemand wie Achmetov irgendeines seiner Produkte in die EU verscheppern, so muß er zu Methoden greifen, für die das altertümliche Wort Schmuggel mit all seiner Romantik schon etwas überholt wirkt. Da müssen Ursprungszertifikate gefälscht, Partnerstaaten – meist auf dem Balkan – eingeschaltet werden, dann muß man noch irgendwo Zöllner bestechen – jede Menge Unkosten also, die aber nicht in der Bilanz aufscheinen dürfen, und nicht zum Abschreiben von der Steuer taugen. Und ist die Ware dann irgendwo „drüben“ glücklich an den Mann gebracht – wie weiter? Diesen Gewinn kann man ja auch wieder nicht durch die Bücher gehen lassen, und will ihn ja auch gar nicht versteuern. Die exportierte Ware muß aber doch irgendwo deklariert werden … Also muß man wieder was fälschen, usw.

Und da ist so ein Fußballklub der ideale Filter, durch den alle Tätigkeiten, die den Blick der Behörden scheuen müssen, durchgedrückt werden können.

Der Sieg Janukovitschs über Timoschenko wird von westlichen Medien aus politischen Gründen als problematisch besprochen – zuviel Nähe zu Moskau, „unserer“ Einfluß ist gefährdet, usw. Das sind aber innerimperialistische Konkurrenzgedanken. Ökonomische Bedenken, wie es sie noch in den 90-er Jahren gab, ob die Enttäuschung über die Auswirkungen der Marktwirtschaft womöglich jemanden Falschen an die Macht bringen würde und ein Liebäugeln mit „sozialistischen“ Experimenten als Folge zeitigen können, sind heute längst vom Tisch.

Dafür sorgen politische Paten wie Achmetov. Sie garantieren, daß in der Ukraine weiterhin alle Prinzipien des Kapitalismus in Kraft sind, auch wenn die Erfolge in der nationalen Bilanz eher spärlich ausfallen.