DIE BEHÖRDEN HABEN MICH PRAKTISCH UNTER HAUSARREST GESTELLT
Der Oligarch Michail Fridman (Staatsbürger Rußlands und Israels, vor 57 Jahren in Lemberg geboren) betrachtet die Sanktionen, die der Westen der russischen Unternehmerschaft, darunter auch ihm, auferlegt hat, mit Skepsis bezüglich ihres Effektes als Antwort auf die russische Invasion der Ukraine. „Populismus ist sehr attraktiv, aber vom praktischen Standpunkt sind diese Sanktionen kontraproduktiv, weil sie diese Unternehmer zur Rückkehr nach Rußland drängen, weil woanders können sie nicht hin“, meint er in einem Gespräch mit dieser Zeitung aus London, wo er seit 2015 residiert.“
Während sich in der zaristischen Zeit und nach der Oktoberrevolution Paris das Zentrum der russischen Emigration war, ist es seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 London.
In London leben, lebten (und starben):
Boris Beresowski
Badri Patarkazischwili
Michail Chodorkowski
Roman Abramowitsch
Achmed Sakajew
sowie die ehemaligen FSB-Spione Alexandr Litwinenko und Sergej Skripal, um nur die bekanntesten zu nennen.
Das Vereinigte Königreich bietet diesen Leuten günstige Bedingungen, erteilt freigiebig Asyl und bindet viele der dort lebenden russischen Oligarchen und Exilpolitiker in die geheimdienstliche Tätigkeit des MI6 ein, um sich eine gute Position für Einflußnahme in Rußland zu sichern.
„Fridman fühlt sich eingesperrt. Er hat seine Posten in Unternehmungen zurückgelegt, so auch den im Aufsichtsrat von LetterOne, einer Investment-Gesellschaft, in der er und sein Partner Pjotr Aven etwas weniger als 50% kontrollieren. LetterOne besitzt (seit 2019) 77% der Supermarktkette Dia. Seine Kreditkarten wurden gesperrt und er kann nicht in EU-Staaten einreisen. »Die Behörden in GB müssen mir eine bestimmte Summe zubilligen, damit ich mit dem Taxi fahren und Essen einkaufen kann, aber das wird für die Lebenshaltungskosten in London eine sehr begrenzte Summe sein. Ich weiß noch nicht, ob es genug sein wird, um normal, ohne Exzesse zu leben. Ich kann nicht einmal jemanden in ein Restaurant einladen. Ich muß mich zu Hause verpflegen und befinde mich praktisch unter Hausarrest«, meint er.
Der Unternehmer erzählt, daß er noch nicht weiß, ob er überhaupt das Haus behalten kann, das er gekauft und restauriert hat, als er mit seiner Familie in die britische Hauptstadt gezogen ist. Damals begann die Epoche eines Klimas der Unsicherheit für Investitionen in Rußland. Eines der Ziele seiner Übersiedlung nach London war, die Mittel zu investieren, die ihm der Verkauf seiner Beteiligung in dem großen Ölkonzern TNK-BP eingebracht hatte (– er verkaufte seine Anteile an Rosneft). »Es ist unklar, ob ich weiter in London leben kann oder ob ich genötigt sein werde, von hier wegzuziehen – was ich derzeit nicht kann und nicht will, aus vielen Gründen«, deutet er an.
»Dem Westen wird es nicht besser gehen, wenn er viele aussergewöhnliche und interessante Unternehmer zwingt, nach Rußland zurückzukehren, anstatt sie besser zu integrieren und sie zum Beziehen einer Stellung zu bewegen – obwohl es offensichtlich ist, daß der Einfluß der privaten Unternehmer auf Putin gleich Null ist«, meint er.
Fridman nennt est eine »Idiotie«, anzunehmen, daß die Oligarchen den russischen Präsidenten zum Abbruch des Krieges veranlassen könnten. Er vermeidet dabei das Wort »Krieg« und zieht es vor, sich auf diese blutige Realität mit Schönfärberei und Ausdrücken wie »Katastrophe« und »was (in der Ukraine) geschieht« zu beziehen.
»Ich bin nicht bereit, daß die vielen Personen, die von mir abhängen, in Schwierigkeiten geraten« – mit diesen Worten bezieht er sich auf die 400.000 bis 500.000 Angestellten, die in seinen Unternehmen in Rußland arbeiten oder mit ihnen irgendwie verbunden sind.
Fridman meint, daß die Privatunternehmer Putin zwar nicht beeinflussen können, aber »versuchen könnten, ihren Standpunkt zu übermitteln, wenn sie mehr Wahlmöglichkeiten hätten«. Unter den gegenwärtigen Bedingungen könnten »die von Sanktionen Betroffenen nur nach Rußland zurückkehren, wo sie keinen Ausweg hätten als den der unbedingten Loyalität, wo sie aber weiterhin tätig sein würden, weil sie Leute mit Energie, Talent und außergewöhnlichen Fähigkeiten sind. Sie werden Unternehmen gründen und Arbeitsplätze schaffen.«
Das Gespräch ähnelt einem Seiltanz, wo jeder Verlust des – in diesem Falle verbalen – Gleichgewichts ernste Folgen haben könnte, ganz gleich, in welche Richtung der Betreffende fällt. Im Westen: Sanktionen, in Rußland: Die Reaktion von erzürnten Führungsfiguren. Aus Moskau gibt es Hinweise, daß das Personal verschiedener russischer Unternehmen, deren Eigentümer im Westen leben, von den Sicherheitsbehörden kontaktiert wurde, die sich dafür interessieren, ob diese Herrschaften die Absicht haben, ins Vaterland zurückzukehren.
Der Oligarch beharrt auf die Notwendigkeit für den Westen, zu begreifen, »daß es verschiedene Russen gibt und daß man nicht alle bestrafen kann. … Der Westen muß intelligenter sein, weil die Russen nur dafür zu bestrafen, daß sie Russen sind, verstärkt die Konfrontation und auch die Anzahl der Parteigänger der antiwestlichen Politik in Rußland.«
»Seit 8 Jahren bin ich in London, habe Milliarden von Dollars in GB und anderen europäischen Ländern investiert und die Antwort darauf ist, daß alles konfisziert und ich hinausgeworfen werde«, beschwert er sich. Die Oligarchen sind nicht durch eine Art Zunftgeist geeint. »Es gibt keinen Oligarchen-Klub. Wir sind ganz verschieden. Um eine Initiative zu entfachen, müßte man miteinander reden und das Schlimmste ist, daß hier niemand mit uns redet!« – so entrüstet er sich.
»Wir haben uns immer dem Geschäft gewidmet und uns nie an die Macht gedrängt. Wir versuchten immer auf Distanz zu bleiben und uns in keine Diskussionen eingemischt, die sich nicht direkt mit den Bedingungen des Geschäftslebens befaßten. Wir wollten immer ein konstruktives Verhältnis mit den Behörden und keine Konflikte mit ihnen. Putin ließ nie eine Diskussion über die Innenpolitik zu« – so beschreibt Fridmann seine Business-Aktivitäten in Rußland.
2003, als Putin dem Oligarchen Michail Chodorkowski seine Grenzen zeigte (und ihn ins Gefängnis brachte), wurde klargestellt, daß »jede Beteiligung am politischen Leben unmöglich wurde … Von da an unterstützten wir keinen Politiker mehr, weil wir begriffen, daß das ein Überschreiten des Rahmens gewesen wäre, den der Kreml der Unternehmerschaft gesetzt hatte«, fährt er fort.
Obwohl er betonte, nie politische Parteien finanziert zu haben, gab er zu, für Boris Nemzow von der »Union der rechten Kräfte« eine Ausnahme gemacht zu haben, als diese Partei noch in der Duma vertreten war. Er habe das gemacht, »weil diese Bewegung sich an der Privatwirtschaft orientierte.« Und auch noch aus einem zweiten Grund: »Nemzow war ein sehr guter Freund von mir, ein wirklicher Politiker, absolut ehrenwert, nicht korrumpierbar und für alles offen«. Nemzow wurde im Februar 2015 neben dem Kreml ermordet.
Druck auf die Wirtschaft
Der Oligarch gesteht ein, daß „einige wirtschaftliche Sanktionen Wirkung zeigen könnten, weil sie die russische Wirtschaft als Ganzes treffen und infolgedessen die Ansichten der Führer des Landes beeinflussen. »Aber die Sanktionen gegen private Unternehmer sind sinnlos, weil die Mehrheit von ihnen ihre Geschäfte auf ihr Talent, ihre Anstrengungen und ihre persönlichen Qualitäten aufgebaut haben«, fährt er fort.
Nachdem Brüssel auch Fridman wegen seiner angeblichen Verbindungen zu Putin auf die schwarze Liste der sanktionierten Unternehmer gesetzt hatte, ist der Oligarch von allen seinen bisherigen Posten zurückgetreten, sowohl in seinen Unternehmungen als auch in Kultureinrichtungen, an denen er beteiligt war. Dazu gehört der Aufsichtsrat des LetterOne-Konzerns (Miteigentümer der Supermarktkette Dia und der Alfa Bank, der ersten privaten Bank Rußlands). Der Unternehmer, selbst ein Nachfahre einiger Opfer des Holocausts, zog sich auch aus dem Holocaust-Gedenkzentrum Babyn Jar zurück, das im Oktober 2021 in Anwesenheit des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskij eröffnet worden war. Die Gedenkstätte befindet sich an einem Ort in der Nähe von Kiew, wo die Nazi-Besatzer zwischen 1941 und 1943 ungefähr 100.000 Juden umbrachten.“
Die heute zugeschüttete Schlucht von Babyn Jar liegt in Kiew im Stadtteil Schewtschenko und es gibt in einem später an der Stelle der Erschießungen angelegten Park mehrere Denkmäler, die sich auf dortige Massaker während der deutschen Besatzung beziehen. Das älteste davon stammt noch aus sowjetischer Zeit, nach der Unabhängigkeit kamen mehrere andere dazu. Der Umgang mit dem Ort des Massakers und der Erinnerungskultur ist bis heute seltsam. Auf jeden Fall war der Akt von 2021 nicht der erste, der sich darauf bezog, und das Gedenkzentrum kam bis heute nicht in Form eines Gebäudes zustande.
„Im Jänner wohnte Fridman an der Vorführung des Filmes »Babyn Jar. Contexto« des Ukrainers Sergej Loznitsa bei, die von der Stiftung Hispano Judía organisiert war. Kurz bevor er durch die Sanktionen betroffen wurde, wollte sich der Oligarch an der Finanzierung einer Ausstellung bisher unveröffentlichten Bildmaterials zum Spanischen Bürgerkrieg beteiligen, die von der Vereinigung der Republikanischen Luftwaffe geplant war.“
Wenngleich seine Darstellung der völligen Trennung von Politik und Privatwirtschaft nicht ganz glaubwürdig ist, so ist doch festzuhalten, daß er und seines Standeskollegen nur aufgrund ihrer Nationalität praktisch enteignet wurden und sich die EU-Staaten in einer beispiellosen Aktion fremden Eigentums bemächtigen.
Was das für die Ökonomie Rußlands für Folgen haben wird, wird sich erst herausstellen. Dieser Umgang mit russischem Eigentum, der bereits mit der Zypern-„Rettung“ 2012 seinen Anfang nahm, ist jedenfalls eine deutliche Absage an die Marktwirtschaft in Rußland und wird auch so verstanden.
Ob es in der EU auch einmal Enteignungen von Bürgern anderer Nationalität oder aus anderen Gründen geben wird, wird ebenfalls die Zukunft weisen.