Serie „Lateinamerika heute“, Teil 21: Costa Rica

MILITÄRFREIE ZONE

Costa Rica ist neben seiner neueren Karriere als mittelamerikanisches Ferienparadies vor allem dafür bekannt, daß es keine Armee besitzt.

Das ist einerseits bemerkenswert. Jeder Staat auf der Welt hat normalerweise ein Heer und begründet das damit, daß man sich ja ständig gegen böse Feinde verteidigen muß bzw. davon abhalten muß, einen zu überfallen.

Außer Costa Rica verzichten nur Island, Haití, die Salomonen und einige kleine Inseln und Stadtstaaten auf diese Abteilung des staatlichen Gewaltapparates.
Das weist darauf hin, daß Costa Rica offenbar keine Feinde hat und auch keine Interessen, mit denen man sich andere Staaten zu Feinden macht.
Zusätzlich zur Armeelosigkeit ist es nämlich auch noch neutral und hat keinerlei offene Grenzfragen mit Nachbarstaaten.

Man fragt sich wirklich, wie in dem an Konflikten und Elend nicht gerade armen Mittelamerika ein solcher Staat zustandekommen konnte?

Rückzugsgebiet von Minderheiten und Armenhaus der Kolonie

Kolumbus gab der Gegend den Namen „Reiche Küste“. Da war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens.
Die Eroberung und spätere Besiedlung ging in sehr gemächlichem Tempo voran, weil jeder Eroberer, der seine Nase in das Territorium Costa Ricas steckte, herausfand, daß es dort nichts zu holen gab.

Die Eingeborenen, die es dort zu Kolumbus’ Ankunft durchaus gab, verstarben mit der Zeit an den von den Europäern eingeschleppten Infektionskrankheiten. Viele Konflikte erledigten sich dadurch von selbst. Heute machen die Indigenen ca. 2% der Bevölkerung aus.

Der Mangel an Bergbau oder Plantagenwirtschaft machte auch das Einführen von Sklaven aus Afrika unnötig.

Sowohl die Beamten der Kolonialverwaltung als auch die Kleriker, die sich nach Costa Rica begaben, waren notgedrungen anspruchslose Personen.

Der Ausspruch Galeanos von der „Armut der Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde“ bestätigt sich in Costa Rica in umgekehrter Weise: Es konnte kein großes Elend entstehen, weil sich dort keine Reichtümer anhäufen ließen.

Die Landwirtschaft bzw. das Grundeigentum

Mühsam warben die frühen Eroberer oder besser Erschließer dieser Gegenden Siedler an, die unerfreulichen Lebensumständen in Spanien zu entkommen versuchten. Es waren entweder verarmte spanische Kleinadlige, Bauern aus dem Norden oder konvertierte Juden, die dem Elend zu Hause oder der Inquisition entkommen wollten. Auch Protestanten suchten Zuflucht in diesem Niemandsland.

So bildete sich in Costa Rica eine größtenteils auf Subsistenz beruhende Landwirtschaft von kleinen Bauern heraus, die sich bescheiden weiterbrachten. Sie bauten neben den für ihren eigenen Konsum bestimmten Feldfrüchten auch handelsfähige Produkte wie Tabak, Kaffee oder Kakao an, die auf Maultierrücken in die Städte der umliegenden Provinzen transportiert wurden. Kleinformatige Aufstände und Piratenüberfälle störten hin und wieder diese ärmliche Idylle.

Große Teile des Territoriums wurden während der Kolonialzeit nie besiedelt. Neben den Bauern hielten sich abgeschiedene indigene Gemeinden, der Rest blieb Wildnis. Ein paar Großgrundbesitzer gab es zwar, aber sie waren eben ähnlich wie der Rest sehr bescheiden, besaßen weder große Flächen noch eine nennswerte Anzahl von Sklaven, die sie bewirtschafteten.

Nach der Unabhängigkeit wurde weiter nach Siedlern gesucht, die das unbebaute Land erschließen sollten. Sie erhielten das Land geschenkt, erhielten Eigentumstitel gegen geringe Abgaben. So kam ein neuer Schwung von Habenichtsen nach Costa Rica, die im Schweiße ihres Angesichts Wälder rodeten und Land urbar machten.

Durch diese unabhängige Bauernschaft und die vielen Produkte kam es auch nie zu Monokulturen wie in anderen Teilen Lateinamerikas. Sogar die Banane konnte sich trotz heftiger Aktivitäten des US-Kapitals nicht in gleichem Ausmaß wie in anderen lateinamerikanischen Staaten durchsetzen.

Hier hat sich inzwischen einiges getan. Ende des vorigen Jahrhunderts wurden gemäß dem Washington Konsens Privatisierungen auf die Tagesordnung gesetzt. Seit Costa Rica 2004 dem Freihandelsabkommen CAFTA mit den USA beigetreten ist, haben Investitionen, Gesetzesänderungen und die moderne Art des Bauernlegens mittels Banken und Krediten einiges verändert. Das moderne Agrarkapital hat auch den traditionellen costaricanischen Bauernstand reduzieren geholfen.

Man merkt hier, wie diese Freihandels-Abkommen sich keineswegs auf den Handel beschränken, sondern in die Rechtspflege und die Eigentumsverhältnisse eingreifen.

Tourismus

Freiwerdende Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft wurden von dem seit den 80-er Jahren ständig anwachsenden Tourismus-Sektor aufgesogen.

Auch hier gelang es den Costaricanern, aus der Not eine Tugend zu machen: Klein strukturierte Landwirtschaft mit mehr Human- als sonstigem Kapital und viel Wildnis – ideal für sanften Tourismus!

Costa Rica war Pionier des Öko-Tourismus. Flugs wurden viele brachliegende Naturschönheiten zu Nationalparks oder zu Orten von nationalem Interesse erklärt, sie wurden und blieben staatlich. Und Costa Rica ging damit international auf Werbefeldzug. Sie wollen Ballermännern entkommen? Sie wollen Naturbeobachtungen machen, aber doch am Abend warm duschen? Da sind sie bei uns genau richtig!

„Der Tourismus in Costa Rica ist einer der wichtigsten und am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige des Landes und stellt seit 1995 die erste Einnahmequelle der Wirtschaft dar.
Seit 1999 generiert der Tourismus mehr Deviseneinnahmen für das Land als der Export ihrer traditionellen Agrarprodukte: Bananen, Ananas und Kaffee. Der Tourismusboom begann 1987. Die Zahl der Besucher stieg von 329.000 im Jahr 1988 auf eine Million im Jahr 1999 und überstieg 2008 die 2-Millionen-Marke, bis sie im Jahr 2015 den Rekord von 2,6 Millionen ausländischen Touristen erreichte.“ (Wikipedia, Turismo en Costa Rica)

Unabhängigkeit

Ebenso unaufregend wie die Kolonisation gestaltete sich auch die Erringung und Bewahrung der nationalen Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit kam von außen – schwups, auf einmal war die Kolonialmacht weg.

Das Gebiet blieb für die dortigen Beamten und sonstigen Bewohner irgendwie übrig, weil niemand sie wollte. Keine Armeen durchquerten Costa Rica, keine Caudillos lieferten sich Bürgerkriege. Wofür denn auch? Für ein paar Kühe oder 3 Kaffeesträucher?
Diese beschauliche Ereignislosigkeit bescherte Costa Rica 1824 auch noch einen Gebietsgewinn, als eine Provinz Nicaraguas sich freiwillig Costa Rica anschloß, um eine Ruhe von den Machtkämpfen der nicaraguensischen Eliten zu haben.

Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit besaß Costa Rica keine Ärzte oder Spitäler oder Apotheken, sondern nur Heiler mit einiger Kenntnis von Pflanzen und Kuren für die Krankheiten, die eben so auftraten. Es gab kaum Schulen, die meisten Bewohner waren Analphabeten. Von höherer Bildung keine Spur. Die einzigen Gebildeten waren die Priester.

Die über das Land hereingebrochene Unabhängigkeit nötigte die spärlichen Eliten dazu, sich um so Dinge wie Bildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur usw. zu kümmern. Auf einmal war das alles notwendig, da von den Metropolen des Nordens nix mehr kam.

Staatswerdung

Der Versuch, die Infrastruktur zu entwickeln – vor allem durch Eisenbahnbauten – und neue Quellen des Reichtums, vor allem im Begbau, zu erschließen, führte im 19. Jahrhundert zu Wellen der Einwanderung aus Europa, Jamaica und China.

Diese Einwanderung aus allen Teilen der Welt verursachte die Notwendigkeit, ein Bildungssystem zu etablieren, das diese verschiedenen neuen Bürger über nationale Bildung und Spracherwerb in Wort und Schrift integrierte. Das Schulsystem Costa Ricas entstand in der gleichen Langsamkeit und in Schüben wie alles andere in der Geschichte dieses Staates. Erst im 20. Jahrhundert wurden Universitäten gegründet.

Ähnlich sah es mit der Rechtspflege aus. Die kam auch erst so um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in die Gänge. Da wurden Volkszählungen, Gerichte, Gefängnisse und ein Wahlregister eingerichtet, um überhaupt einmal eine Nation, ein Verhältnis von Oben zu Unten zu schaffen, wo alle Bürger erfaßt und in das staatliche System einbezogen wurden.

Im 19. und auch im 20. Jahrhundert war ein weiterer Vorteil Costa Ricas, daß durch seine geringe Attraktivität für ausländisches Kapital keine nennenswerte Verschuldung stattfand. Sogar die Aktivitäten der US-Unternehmer in Sachen Eisenbahn usw. funktionierten nur dann, wenn sie das Kapital vorschossen, um nicht an der staatlichen Zahlungsunfähigkeit zu scheitern.

Für die Entwicklung Costa Ricas war der Sohn katalanischer Emigranten, José Figueres Ferrer entscheidend, der nach einer kurzen Rebellion im Jahr 1948 zum Präsidenten aufstieg. Er schaffte das Heer ab, etablierte einen Sozialstaat,  und entwickelte die Infrastruktur und das Bildungswesen. Er machte dadurch Costa Rica zu einem attraktiven Staat für Einwanderer und Investitionen.

Wie das alles finanziert wurde, ist eines der Rätsel Costa Ricas. Es jedoch bemerkenswert, daß das Land nie in die in der weiteren Umgebung öfter vorkommenden Schuldenkrisen geriet. Es hat auch eine eigene Währung, den Colón (= Kolumbus), der nie besonders inflationär war, weshalb auch keine großen Währungsreformen nötig wurden.

Der Gewaltapparat

Costa Rica hat eine Polizei. Immerhin gibt es auch dort eine Eigentumsordnung und sonstige Gesetze, deren Einhaltung überwacht werden muß. Man merkt aber an Costa Rica – das eine bemerkenswert hohe Rechtssicherheit aufweist –, daß, wo es nicht viel Elend gibt, auch nicht viel Polizei nötig ist. In Costa Rica kommt nach offiziellen Angaben 1 Polizist auf 413 Einwohner. Im ebenfalls nicht besonders rechtsunsicheren Österreich war das Verhältnis im Vorjahr, d.h. 2023, 1 zu 239.

Die Polizisten Costa Ricas erhalten ihre Ausbildung im Ausland, da es gar keine Polizeiakademie oder dergleichen gibt. Nachdem ein Schub Polizisten, die von den USA in der „School of the Americas“ ausgebildet worden waren, gleich einmal ein kleines Massaker anrichtete, – weil sie die Subversionsbekämpfung unbedingt praktizieren wollten, auch wenn es keine Subversion gab – wurde die Ausbildung etwas diversifiziert. Inzwischen wird Spanien als Ausbildungsstaat bevorzugt.

Die Sicherheitsprobleme Costa Ricas kommen heute vor allem von außen: Erstens liegt es auf der Drogen-Route für das Kokain aus Kolumbien, zweitens schleppt sich ein ständiger Strom von Flüchtlingen aus der ganzen Welt von Südamerika durch Costa Rica Richtung Norden, um in das Gelobte Land USA zu gelangen.

Die Politik Costa Ricas besteht darin, daß sie versucht, diese Reisenden möglichst schnell von der südlichen Landesgrenze zur nördlichen zu schieben, wo das benachbarte Nicaragua eine ähnliche Politik betreibt, was dem großen Bruder im Norden sehr mißfällt.

Da aber Costa Rica eine privilegierte Stellung genießt, schlossen die USA unter Trump mit anderen Staaten ein Rückführungsabkommen ab ( – das inzwischen von seinem Nachfolger aufgekündigt wurde).

Die Stellung Costa Ricas in beiden Amerikas und in der Welt

Ihren ersten wichtigen außenpolitischen Auftritt hatte die Regierung Costa Ricas Mitte des 19. Jahrhunderts, als der damalige Präsident Mora eine zentralamerikanische Allianz schuf, um den US-Abenteurer Walker daran zu hindern, eine Art US-Brückenkopf in Nicaragua zu errichten.

Später geriet das Land in Territorialstreitigkeiten, vor allem aufgrund der beiden anvisierten Routen für den späteren Panamakanal. (Die 2. Route war durch den Nicaraguasee geplant, ein Projekt, das hin und wieder auftaucht und wieder verschwindet.) Costa Rica lag zwischen den beiden Routen – ein weiterer historischer Glücksfall – wurde aber durch die Auseinandersetzungen in Mitleidenschaft gezogen.

Rund um den I. Weltkrieg und danach geriet Costa Rica in verstärkte Abhängigkeit von den USA in dem Maße, in dem es sich aus der britischen löste, die sich vor allem an der Pazifikküste gezeigt hatte. Das sogenannte Taft-Urteil entband Costa Rica des Schuldendienstes gegenüber britischen Banken, die damit korrupte Geschäfte eines früheren Machthabers finanziert hatten – damit war klargestellt, daß sich die USA die Jurisdiktion über Costa Ricas Geldgeschäfte zusprachen.

Amerika den Amerikanern!

In realistischer Einschätzung seiner geringen Größe und sich der daraus ergebenden Bedeutungslosigkeit segelt Costa Rica seither im Windschatten der USA und vermeidet Konfrontationen mit der Weltmacht.

Von 1961 bis 2003 waren die diplomatischen Beziehungen Costa Ricas zu Kuba auf Eis gelegt.
Vorsichtiger positionierte sich Costa Rica gegenüber den Sandinisten in Nicuaragua. Weder wurden sie nach ihrem Sieg groß unterstützt, noch gab sich Costa Rica allzu lange für ihre Bekämpfung her.

Costa Rica hat sich inzwischen etabliert als eine Art lateinamerikanische Moralinstanz, dessen Politiker in Konflikten zu vermitteln versuchen. In der Hauptstadt San José wurde die Amerikanische Menschenrechtskonvention 1969 initiert und später erweitert.

Der Präsident Arias Sánchez erhielt 1987 den Friedensnobelpreis für seine Vermittlungstätigkeit in den Bürgerkriegen Mittelamerikas.

Eine ausführlichere Version dieses Beitrags findet sich hier.

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Weitere Artikel zu Lateinamerika kann man hier finden.

Ansonsten:

Wahlsieg Mileis in Argentinien – 2023

Sturz Castillos in Peru – 2023

Unruhe im Hinterhof – 2023

Das weltweite Finanzsystem: Argentiniens Schulden – 2022

Ein neuer Präsident in Chile: Gabriel Boric – 2022

Wie geht Propaganda? BERICHTERSTATTUNG ZU KUBA – 2021

Über die Dissidenz in Kuba – 2021

Venezuela und die Karibik. Das Petrocaribe-Programm – 2021

Fluch der Karibik, Teil I & II – 2021

Argentiniens Schulden – 2021

Statistiken zur Sterblichkeit in Sachen Coronavirus: LATEINAMERIKA – 2020

Nachruf auf Ernesto Cardenal: Die Revolution wird beerdigt – 2020

Bolivien: Der medial abgesegnete Putsch – 2020

Pressespiegel El País, 1.7.: Wem gehören die Frauen Afghanistans?

„DIE UNO HÄLT EIN GIPFELTREFFEN ZUR ZUKUNFT AFGHANISTANS OHNE DIE ANWESENHEIT AFGHANISCHER FRAUEN AB

Lokale und internationale Verbände werfen der UNO vor, den von den Taliban gestellten Bedingungen für die erstmalige Teilnahme an diesem Forum nachgegeben zu haben.

Für den Islam ist das Leben ein Geschenk Gottes, das nur er nehmen kann. Wer Selbstmord begeht, dem droht die ewige Hölle.
Für Arzo, eine 15-jährigen Afghanin, muss diese Hölle besser gewesen sein, als im Afghanistan der Taliban zu leben. Diese Jugendliche, deren Geschichte von CNN dokumentiert wurde, nahm im Jahr 2023 Autobatteriesäure zu sich. Sie hat überlebt, muß nun aber mit einer Magensonde ernährt werden.
Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen greifen immer mehr afghanische Frauen, die in ihren Häusern eingesperrt und schrecklichen Misshandlungen ausgesetzt sind, zu Rattengiften, Reinigungsmitteln, Düngemitteln oder einem Seil, um sich zu erhängen, um den Fundamentalisten zu entgehen.“

Irgendwie klingen diese Horror-Stories seltsam. Wenn sie eingesperrt sind, wer mißhandelt sie? Um welche Art von „Mißhandlung“ geht es hier?
Überprüfbar ist das alles nicht.
Sicher ist die Situation der afghanischen Frauen nicht beneidenswert, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Erzählungen dramatisiert werden, um sich mit Berufung auf internationale Rechte Einfluß in Afghanistan zu sichern.

Für die Machthaber Afghanistans präsentiert sich damit die weibliche Bevölkerung als eine Art 5. Kolonne, mittels derer die früheren Besatzungsmächte unter dem Mantel der Menschenrechte zurückkehren wollen.

„In Afghanistan gibt es keine Statistiken über Selbstmord, aber ein aktueller Bericht des UN-Sonderberichterstatters für Afghanistan, Richard Bennett, warnte vor dem Ausmaß der Selbstmordgedanken unter afghanischen Frauen und bezeichnete ihre Tortur als »Geschlechterapartheid«.

Dieselbe Organisation, die UNO, die dieses Dokument veröffentlicht hat, hat für diesen Sonntag und diesen Montag in Doha (Katar) den dritten Gipfel zum Thema Afghanistan einberufen. Die Taliban sind eingeladen. Die Afghaninnen nicht. Die Verletzungen ihrer Menschenrechte stehen nicht auf der Tagesordnung.

Dies ist das erste Mal, dass die Taliban an einem Treffen des sogenannten Doha-Prozesses teilnehmen. Im Februar, als das zweite Gipfeltreffen stattfand, waren sie bereits eingeladen worden, lehnten jedoch die Teilnahme ab, weil die UNO sich weigerte, Forderungen zu erfüllen, die ihr eigener Generalsekretär António Guterres als »inakzeptabel« bezeichnete.
Die Radikalen“ (so bezeichnet die Autorin des Artikels die Taliban) „bekräftigten auch seither, dass die Rechte ihrer »Schwestern« – wie sie die afghanischen Frauen nennen – eine »interne« Angelegenheit seien und dass sie die einzigen Gesprächspartner der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan zu sein haben.“

Eine klare Aussage.
Die UNO war letztlich genötigt, die Bedingungen der Taliban anzunehmen, um diesen Staat überhaupt einmal an den Verhandlungstisch zu bekommen.
Immerhin sind die Taliban inzwischen seit fast 3 Jahren an der Macht, ohne von irgendeinem anderen Staat als Regierung anerkannt worden zu sein.

Das ist vor allem für die UNO ein untragbarer Zustand. Es ist einfach absurd und unglaubwürdig, Konferenzen über Afghanistan abzuhalten ohne die dortigen Machthaber. Die Beschlüsse solcher Konferenzen sind logischerweise Makulatur, nichts wert.
Die UNO ist also die erste Organisation, die den Taliban eine Art internationale Anerkennung verleiht.

Man muß aber dabei bedenken, daß das Thema „Frauenrechte“ usw. den Taliban gegenüber in Anschlag gebracht wird, bei den Saudis und verschiedenen anderen Golfstaaten jedoch kein Thema ist. Dort „respektiert“ man als freier Wertewesten die „lokalen Traditionen“. Auch in verschiedenen anderen Teilen der Welt wird hier keineswegs so genau nachgeschaut, wie es denn dort mit den Frauen und ihrer gesellschaftlichen Repräsentation aussieht.

„Lokale Organisationen wie die Unabhängige Koalition afghanischer Frauenprotestbewegungen und andere internationale Organisationen wie Human Rights Watch (HRW) und der Malala-Stiftung (gegründet von der Aktivistin Malala Jusefzai) sind der Ansicht, dass das, was im Februar inakzeptabel war, jetzt akzeptabel zu sein scheint. Angesichts dieses Präzedenzfalls glauben diese Gruppen, dass der Ausschluss der afghanischen Frauen vom dritten Doha-Treffen darauf zurückzuführen ist, dass sich die UNO letztendlich den Bedingungen der Taliban für die Teilnahme am Gipfel gebeugt hat.“

Das ist ja wohl so.
Warum müssen da verschiedene Organisationen angeführt werden, die das auch „glauben“?

„Sogar der Sprecher Zabihullah Mujahid, der ihre Delegation in Doha leitet, bestätigte diesen Samstag in einer Pressekonferenz, dass bei dieser Gelegenheit die Forderungen der Gruppe“ (die Autorin des Artikels legt eine gewisse Zurückhaltung, den Begriff „Taliban“ zu verwenden, an den Tag) „für Doha III »akzeptiert« worden seien.
Das Büro des Sprechers des UN-Generalsekretärs hat auf die Fragen dieser Zeitung nach dem Grund für diese Änderung nicht geantwortet.

Bevor die Taliban 2021 die Macht übernahmen, wollte Arzo Ärztin werden. Am 21. Juni, eine Woche nach 1.000 Tagen des von den Radikalen verhängten Studienverbots für alle afghanischen Mädchen über 12 Jahren, bestätigte die oberste UN-Beamtin in Afghanistan, Roza Otunbajeva, Leiterin der Hilfsmission der UNO in Afghanistan (UNAMA) den Ausschluss von Frauen von dem Treffen mit dem Zusatz, dass diese einen Tag später konsultiert würden.“

In welcher Form, fragt man sich? Wer wäre der/die offizielle Vertreter/in der Frauen Afghanistans?

„Diese Ankündigung veranlasste zahlreiche afghanische Organisationen dazu, in sozialen Netzwerken eine Kampagne zu starten, in der sie die UNO aufforderten, diese Entscheidung rückgängig zu machen.“

»Die wichtigen Treffen sind für den 30. Juni und 1. Juli angesetzt, und für Tag 2 sind Frauen eingeladen“

– man sieht, auch die Taliban haben nachgegeben, aber das darf man ja nicht offen sagen!

„ein bewusster Akt der Nachlässigkeit [über die Rechte] afghanischer Frauen und ihren wichtigen Beitrag zur Zukunft Afghanistans. Die UN sollten die Taliban für ihre Verbrechen an Frauen und Mädchen zur Verantwortung ziehen, nicht umgekehrt«, kritisiert Sahar Fetrat, Frauenrechtsforscherin bei Human Rights Watch (HRW), in einer E-Mail.“

Der streitbaren Frau von HRW, die immerhin im Exil sitzt, wäre eine weitere Ächtung des Taliban-Regimes recht, auch wenn davon niemand in Afghanistan etwas hat. Aber sie könnte weiter volles Rohr gegen die Taliban zu Felde ziehen.
Die UNO und die zuständige Frau aus Kirgistan nehmen jedoch eine pragmatischere Haltung ein, und haben zumindest die Teilnahme afghanischer Exil-Frauen-Organisationen erreicht.
Hier gibt es offenbar eine richtige Rivalität zwischen Hardlinern und Pragmatikerinnen:

„Fetrat betont, daß laut Otunbajeva: »niemand den UNO Bedingungen für das Doha-Treffen diktiert hat.« Es sei jedoch »offensichtlich, dass die Beteiligung von Frauen und ihre Rechte von dem Treffen und seiner Tagesordnung ausgeschlossen wurden, um die Taliban an den Tisch zu bringen.«“

Stimmt nicht ganz, siehe Tag 2.

„In seiner Pressekonferenz präzisierte der Taliban-Sprecher, dass sich die Agenda von Doha III »auf Wirtschaftsfragen und Anti-Drogen-Bemühungen« konzentrieren werde. Der UN-Vertreter in Afghanistan hatte genau jene Themen angesprochen, bei denen, wie die HRW-Forscherin“ („Forscherin“ ist Frau Fetrat nun wirklich nicht) „tadelt, »Privatunternehmen, Banken und der Kampf gegen Drogen Vorrang haben und bei denen Frauen nicht anwesend sein werden, um ihre Meinung zu äußern«.“

Es geht offensichtlich darum, die afghanische Ökonomie wieder etwas voranzubringen, um eine gewisse Ernährungssicherheit in dem Land herzustellen. Für Frauenrechtsaktivistinnen eine Nebensache.

„Otunbayeva versuchte, die Kontroverse herunterzuspielen, indem sie argumentierte, dass wir über den Drogenhandel in Afghanistan sprechen angesichts der Tatsache, »daß 30 % der Süchtigen Frauen sind«“.

Eine ziemlich wenig untermauerte Zahl. Um das Ausmaß der Sucht in Afghanistan – bei Männern und Frauen – festzustellen, müßte man doch zunächst einmal normale Beziehungen einrichten, um überhaupt Untersuchungen anstellen zu können.

„Sie verteidigte auch die Bedeutung eines »direkten Dialogs mit den Taliban«, um ihnen sagen zu können, dass »Frauen an diesem Tisch sitzen sollten [Doha III]«. Diese Diskussionen über Afghaninnen, aber ohne Afghaninnen, sind einer der Gründe, warum diese Expertin“ (welche? handelt es sich vielleicht wieder um Frau Ferhat? Nur die HRW-Dame ist „Expertin“, während die kirgisische UNO-Angestellte eben nur eine Beamte ist …) „glaubt, dass die UN »den Doha-Prozess patriarchalisch verwaltet«.
Sie fügt hinzu: »Afghanische Frauen mögen es nicht, wenn die UNO mit ihren Unterdrückern Geschäfte machen und sie von wichtigen Entscheidungen über ihr eigenes Land ausschließen.«“

Die Dame aus Afghanistan maßt sich an, für alle Afghaninnen zu sprechen, obwohl sie eigentlich niemand dazu ermächtigt hat.

„Im November hatte die UNO Fortschritte bei der Anerkennung der Taliban-Exekutive von einer Verbesserung der Situation der Frauen abhängig gemacht. Berichterstatter Bennett empfiehlt in seinem Bericht, die Straflosigkeit der derzeitigen Machthaber des Landes zu beenden.“

Wieder einmarschieren, oder was?
An wen richtet sich diese Aufforderung eigentlich?

„Am Kreuzweg

Der Doha-Prozess war eine Initiative des UN-Generalsekretärs, um eine internationale Strategie zum Umgang mit Fundamentalisten festzulegen.“

Guterres sieht den Zustand als unhaltbar an, in dem die Taliban überall ausgeschlossen werden, und versucht einen Dialog zu etablieren.
Er erkennt damit an, was der Rest der Welt nicht und nicht zur Kenntnis nehmen will: Daß die Taliban gekommen sind, um zu bleiben.
Der einzige Weg zur Einflußnahme auf dieses Land ist also der Dialog auf gleicher Augenhöhe. Die Taliban sind nämlich eine Regierung, die sehr eifersüchtig auf ihre Souveränität pocht – im Unterschied zu den anderen afghanischen Regierungen der letzten Jahrzehnte, die sich alle an irgendwelchen ausländischen Mächte anschmiegten und vor allem in Kabul breitmachten.

„Die erste Sitzung fand am 1. und 2. Mai 2023 statt, an der die Sondergesandten für Afghanistan aus der Staaten der Region teilnahmen;

Alle Nachbarstaaten Afghanistans haben also eigene Diplomaten, die nur für die Afghanistan-Beziehungen zuständig sind, eine Art Botschafter also, aber im Inland, die möglicherweise im Falle einer Anerkennung der Taliban als Auslandsvertreter eingesetzt würden. Sie stehen also Gewehr bei Fuß zur Anerkennung der Taliban –

„internationale Geberstaaten und -organisationen;“

– Afghanistan hängt bis heute an der Hungerhilfe der UNO –

USA, Rußland und die EU.“

Sieh da, wen eine Afganistan-Konferenz alles an einen Tisch bringt. Rußland unterhält bis heute einen Botschafter in Kabul, auch wenn es die Taliban noch nicht offiziell anerkannt hat. Ähnlich hält es China.
Der Westen gerät also durch seine bisherige Afghanistan-Politik in Gefahr, dort völlig ausgegrenzt zu werden. Um so lauter und schriller werden die Beschwerden der Frauenrechts-Organisationen, mittels derer sie dort den Fuß in die Tür kriegen wollen.

„Zuvor hatten 2019 in Doha Friedensgespräche mit den Taliban stattgefunden, bei denen das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, mit dem internationale Truppen aus dem Land abzogen, was die Rückkehr der Fundamentalisten an die Macht beschleunigte. Seitdem steht die UNO vor dem Dilemma, kohärent zu sein und alle Beziehungen zu den Taliban abzubrechen, was ihrer Meinung nach zu einem Veto gegen die Arbeit internationaler Organisationen führen könnte, auf deren Hilfe mehr als die Hälfte der Afghanen angewiesen ist – am meisten gefährdet, Frauen und Kinder – oder versuchen, eine gewalttätige, frauenfeindliche Gruppe zu legitimieren, die die Menschenrechte mit Füßen tritt, in der Hoffnung, dass sie sich mit der Zeit mäßigen wird.“

Die Autorin des Artikels hält dies, wie ihre Wortwahl beweist, für völlig ausgeschlossen und würde lieber wieder einmarschieren. Oder die Frauen Afghanistans bewaffnen und zum Bürgerkrieg aufrufen.
Das mag jetzt polemisch klingen, aber was wären denn die Alternativen zum Dialog mit den Taliban? Doch nur deren Sturz, so oder so.

„Nur Nicaragua hat diplomatische Beziehungen zur Taliban-Regierung aufgenommen. China hat dies in der Praxis getan, indem es seinen Botschafter in Peking aufgenommen hat.“

Auch Chinas Botschaft in Kabul ist mit diplomatischem Personal besetzt, wenngleich nicht mit einem offiziellen Botschafter, und wenngleich es auch keine offizielle Anerkennung der Regierung ausgesprochen hat.
Aber de facto haben sowohl Rußland als auch China die taliban anerkannt und kooperieren mit ihnen, was sowohl die UNO als auch die westliche Wertegemeinschaft unter Zugzwang setzt.
Nicaragua hat auch keine offizielle Anerkennung ausgesprochen, ist aber der erste Staat des amerikanischen Kontinents, der hier in Sachen diplomatische Beziehungen vorprescht.

„Mit der UN-Einladung nach Doha III weist Laila Bassim von der Unabhängigen Koalition afghanischer Frauenprotestbewegungen per WhatsApp aus Kabul darauf hin, dass diese Einladung »sie“ (d.h., die Taliban) „reinwäscht und die Länder in der Region ermutigt werden, sie anzuerkennen«“.

Damit hat sie zweifellos recht, aber die Alternativen wären eben, alles zu lassen, wie es ist und zuzulassen, daß die Feinde des Freien Westens sich des Landes völlig bemächtigen.

„Die Aussicht auf Mäßigung sei bei diesen ehemaligen Guerillas eine Illusion, sagt Bassim, eine 24-jähriger Aktivistin, der die Taliban mit dem Tode drohen. Sie erklärt, dass Fundamentalisten eine »ideologische« Gruppe seien, die »nicht an Verhandlungen glaubt und nur ihr eigenes Gesetz akzeptiert«.“

Es ist in der Tat etwas unbescheiden und auch weltfremd, zu glauben, die Taliban würden sich fremde Gesetze aufnötigen lassen.

„Sahar Halaimzai, Direktorin der Afghanistan-Initiative der Malala-Stiftung, stimmt dem zu. »Wir dürfen nicht zulassen, dass (die Taliban) ihre Zusammenarbeit als Druckmittel nutzen, um Debatten über ihre extremen (Menschenrechts-)Verstöße zum Schweigen zu bringen. Und er weist darauf hin, dass sie keineswegs gemäßigt seien, sondern »ihre unterdrückerischen und brutalen Dekrete« gegen afghanische Frauen verdoppelt hätten. Im März kündigten sie die Wiedereinführung der öffentlichen Auspeitschung und Steinigung von Frauen wegen Ehebruchs an.“

Man sieht, wie sich das westliche Lager spaltet in die Gemäßigten, die sich mit den Taliban ins Benehmen setzen wollen, und die Frauenrechts-Fundamentalist(inn)en, die weiterhin auf Konfrontation gehen wollen.
Auf Seiten der Taliban ruft natürlich diese zweite Abteilung wieder den nationalen Stolz hervor, sich als Wahrer der Tradition zu sehen und von keiner ausländischen Macht etwas dreinreden zu lassen.

Pressespiegel El País, 26.6.: Enthaftung Assanges

„AUSTRALIEN ERWARTET JULIAN ASSANGE INMITTEN DER ZURÜCKHALTUNG OFFIZIELLER STELLEN UND ERLEICHTERUNG AUF DEN STRASSEN

Der Mitbegründer von WikiLeaks kehrt in sein Heimatland zurück, nach der Forderung der Regierung, seinen Fall einzustellen, und den Protesten tausender Anhänger, die jahrelang seine Unterstützung betrieben hatten.
(Im Original-Artikel ein Foto: Australische Journalisten erwarten Assanges Ankunft auf dem Luftwaffenstützpunkt Fairbarin in der Nähe von Canberra.)“

Bereits dieser über ein Foto vermittelte Umstand, daß Assange auf einen Militärstützpunkt überstellt wird, weist auf die Aktivität und Rolle der australischen Führung hin, für die der Fall sich über die Jahre zu einer Peinlichkeit entwickelt hatte. Immerhin sind es enge Verbündete Australiens – die USA und GB – die einen Bürger ihres Landes jahrelang unter rechtlich fragwürdigen Umständen festgehalten hatten.

„Die Freilassung von Julian Assange, der an diesem Mittwochabend (Ortszeit) nach 12 Jahren Haft in London“

– präziser: 7 Jahren Asyl in der ecuadorianischen Botschaft und nach seiner Auslieferung durch Ecuador (unter dem Präsidenten Lenin Moreno) und Verhaftung durch die britische Polizei 5 Jahre im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh –

„und nachdem er sich vor einem US-Gericht auf den Nördlichen Marianen der Spionage schuldig bekannt hat, in seine Heimat Australien zurückkehren wird, beendet eine lange Bürgerrechts-Kampagne, die sich seit Jahren für seine Befreiung eingesetzt hatte.“

Wir wurden – vor allem in alternativen Medien – vor allem mit den Protesten in Großbritannien konfrontiert, die sich gegen die Inhaftierung und drohende Auslieferung Assanges richteten, also an die britische Regierung adressiert waren.
Hierzulande ist hingegen recht unbekannt, welche Proteste es in Australien selbst gab, wo wachsende Teile der Bevölkerung gegen die Komplizenschaft ihrer verschiedener Regierungen mit den USA mobilisierten und der Regierung Schwäche und Mangel an Souveränität vorwarfen, was auch Thema der Parteienkonkurrenz und der Wahlkämpfe in Australien wurde.

Es bedurfte eines Regierungswechsels, um in der Frage etwas weiterzubringen. Es war jedenfalls Anliegen des jetzigen Premierministers und auch eines seiner Vorgänger, beide von der australischen Labour-Partei, diese Akte endlich einmal zu schließen.
Angesichts des 2021 geschlossenen AUKUS-Bündnisses, einer Art angelsächsischer Pazifik-NATO, war dieser Stachel im Fleisch der Verbündeten zusätzlich lästig, weil es auch die Zustimmung der Bevölkerung zu diesem Bündnis beeinträchtigte.

„Gleichzeitig schürt diese Rückkehr eine politische Debatte, die dazu geführt hat, daß die Labour-Regierung die Nachricht mit Vorsicht aufnimmt.

Assange wurde 1971 in Townsville, einer Stadt an der Nordostküste Australiens, geboren, wuchs aber mit der Wandertheatergruppe seiner Mutter in einem Dutzend Städten auf und entwickelte sich zu einem jugendlichen Hacker, der bereits damals die örtlichen Behörden in die Enge trieb.
Seit 2010 sorgte er dafür, daß die ganze Welt das Thema Informationsfreiheit entdeckte, nachdem Millionen geheimer Dokumente enthüllt wurden, die Kriegsverbrechen aufdeckten und ihn ins Fadenkreuz der USA brachten. Deswegen wird er vom offiziellen Australien nicht als verlorener Sohn mit offenen Armen empfangen.

Seine Rückkehr nach Australien schließt allerdings Monate stiller Regierungsdiplomatie und wachsender Unterstützung auf den Straßen und im Kongress ab. Die Forderung lautete: Ein australischer Staatsbürger dürfe nicht den Gerichten eines anderen Landes unterworfen werden.
»Welche Meinung auch immer die Menschen über die Aktivitäten von Herrn Assange haben, der Fall hat sich zu lange hingezogen«, sagte Premierminister Anthony Albanese bei einem Auftritt vor dem Parlament am Dienstag: »Aus seiner langen Inhaftierung war nichts zu gewinnen und wir wollten ihn nach Hause bringen.«
Albanese, Vorsitzender einer Labour-Regierung, die Mitte 2022 an die Macht kam, beendete fast ein Jahrzehnt der offiziellen Passivität der ihm vorangegangenen konservativen Regierungen gegenüber dem Assange-Fall.
Er hat den Vorteil, daß er Monate nach der Unterzeichnung eines strategischen Verteidigungsabkommens Australiens im Pazifik, das seine Beziehungen zu den USA und England intensivierte, sowie einer Reihe von Treffen mit US- Behörden an die Macht gekommen war.“

Man kann vermuten, daß Albanese sozusagen den AUKUS-Beitritt Australiens an die Assange-Frage geknüpft hatte und seither an einer Lösung arbeitete.
Die USA konnten auch nicht so einfach zurück, nach all den Jahren der Verfolgung und Aufregung und der Implikation Schwedens und Großbritanniens in die Sache. Zu sagen: Na gut, Schwamm drüber, war nicht so gemeint – das ging nicht.
Es mußte also eine Lösung gefunden werden, die es der bereits angeschlagenen Weltmacht ermöglicht, ihr Gesicht irgendwie zu wahren.

„Im Juli letzten Jahres gab es erste Anzeichen: Von Brisbane aus erwähnte Außenminister Antony Blinken in Begleitung der australischen Außenministerin Penny Wong, daß der Fall des Wikileaks-Gründers bei seinem Besuch Thema gewesen sei.
Blinken sagte, Assange sei »sehr schweres kriminelles Verhalten« vorzuwerfen, weil er angeblich an einem der größten Lecks vertraulicher Informationen in der Geschichte des Landes beteiligt gewesen sei, er habe jedoch »die Sorgen und die Sichtweise der Australier verstanden«.

Die offizielle Linie der Regierung, die von der Außenministerin befürwortet wurde, war immer, daß der Fall »sich schon zu lange gezogen hatte« und daß »sie mit seiner Beendigung rechneten«.
Für die Australier, die sahen, wie sich eine Mitte-Links-Regierung den USA im Kampf gegen die Expansion Chinas im Pazifischen Ozean näherte, wurde der Fall zu einem Maßstab für das Gewicht, das Albaneses Wort vor dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden haben würde.

Im Februar dieses Jahres verabschiedete das australische Parlament mit 86 von 151 möglichen Stimmen im Repräsentantenhaus einen Antrag, der die USA und Großbritannien aufforderte, »die Angelegenheit abzuschließen« und Assange „die Rückkehr zu seiner Heimat und seiner Familie nach Australien zu gestatten.« 42 Vertreter der konservativen Koalition stimmten dagegen, aber der von Labour und der progressiven Grünen Partei angenommene Antrag brachte einige konservative Parlamentarier dazu, dafür zu stimmen und machte die Unterstützung offiziell, die sich jahrelang im australischen Kongress ohne die Zustimmung der konservativen Regierungen zusammengebraut hatte – nach Jahren der Straßenproteste in den wichtigsten Städten des Landes.

Bidens Antwort kam im April, als ein Reporter ihn fragte, was er auf die australische Anfrage geantwortet habe, und der amerikanische Präsident, der an ihm vorbeiging, ohne ihn anzusehen, mit einigen Worten etwas Optimismus auslöste: »Wir denken darüber nach.« In einem Fernsehinterview einige Tage später sagte Albanese, der Kommentar sei sicherlich ermutigend. »Ich bin optimistisch, was eine Lösung angeht, aber wir haben noch keine«, sagte er dem Fernsehsender Sky News. »Wir werden die Angelegenheit weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufs Tapet bringen.«

Die offenen Worte des Labour-Premierministers standen im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem Konservativen Scott Morrison, der das Thema kaum angesprochen hatte, abgesehen von zwei Anlässen: Anfang 2022, am Vorabend der Wahlen, die zur Niederlage seiner Partei führten, und als die USA auf die Auslieferung Assanges aus England drängten, behauptete er, daß »das Justizsystem am Zug sei« und daß Australien »keine beteiligte Partei« sei.“

Das macht natürlich keine schlanke Figur, wenn ein Mensch Premierminister werden will, der einen Bürger seines Landes einfach fallenläßt, wenn eine befreundete Macht an ihm ein Interesse hat.

„Von Morrison ist eine weitere Äußerung aus dem Jahr 2019 in Erinnerung, als die Schauspielerin und Model Pamela Anderson, eine Freundin von Assange und Aktivistin für seine Freilassung, ihn während eines Interviews bat, für seine Rückführung nach Australien zu arbeiten, und Morrison antwortete, daß er dies nicht tun würde es, aber daß »viele seiner Freunde« ihn gebeten hätten, »Sondergesandter sein zu wollen, um diese Angelegenheit mit Pamela Anderson zu regeln«.“

Eine Meldung, die von der Arroganz der Macht zeugt: Mit lästigen Bürgern wird man im eigenen Land schon irgendwie fertig. Im Ausland sollen sich andere um sie kümmern.

Assange wurde am Mittwoch zu Mittag freigelassen, nachdem er sich vor einem US-Gericht in Saipan, der Hauptstadt der Nördlichen Marianen, einem nicht eingemeindeten Territorium der USA im Pazifischen Ozean,“

– also einer inoffiziellen Kolonie, einer Art Guantánamo –

„der Spionage schuldig bekannt hatte und nachdem ein Richter die fünf Jahre, die er in einem Hochsicherheitsgefängnis in London verbracht hatte, als Verbüßung seiner Strafe angerechnet hatte: »Sie werden diesen Raum als freier Mann verlassen können«, sagte Richterin Ramona Manglona zu ihm, nachdem sie im Rahmen einer Anhörung die Vereinbarung zwischen Assanges Verteidigung und dem US-Justizministerium ratifiziert hatte.“

Ein recht kompliziertes Verfahren, unter sorgfältiger Wahl des Ortes, um alle beteiligten Seiten gut aussteigen zu lassen.

„In Canberra, der Verwaltungshauptstadt Australiens, erwartet ihn die Regierung mit einem Empfang, der aufgrund des nüchternen Tons, mit dem die Nachricht von seiner Freilassung aus London aufgenommen wurde, einige Erwartungen weckt.“

Die australische Regierung muß auch den Eiertanz bewältigen, endlich etwas gemacht zu haben, nachdem sie lange nichts gemacht hatte.
Welche Lorbeeren soll sie sich hier aufs Haupt setzen?
Endlich!
Sag ich auch, könnte Assange antworten.

„Auf ihn warten auch seine Frau und Anwältin Stella sowie die beiden kleinen Kinder, die sie während der Gefangenschaft des Wikileaks-Herausgebers bekamen. »Ich hoffe, sein Leben wird etwas ruhiger. Er sollte etwa ein Jahr damit verbringen, wieder am Strand spazieren zu gehen, den Sand an seinen Füßen zu spüren, geduldig mit seinen Kindern zu spielen …«, sagte heute Morgen sein Vater John Shipton dem Medium 9 News, als das Flugzeug mit seinem Sohn auf den Marianen landete: »Ich wünsche ihm ein normales Leben.«“

Das Exempel wurde jedenfalls statuiert, daß es nicht ratsam ist, US-Staatsverbrechen publik zu machen.
Es sei denn, man schafft es nachher rechtzeitig nach Rußland …