Im 5. Kapitel von Staat und Revolution
wird die fixe Idee vom „Absterben des Staates“ auf ein sehr luftiges Fundament gesetzt. Lenin nimmt sich hier die „Kritik des Gothaer Programms“ vor und leitet aus ihr „wissenschaftlich“ ab, daß und wie sich der Staat verflüchtigen muß.
Diese Unart, mit Zitaten begründete Voraussagen für die Zukunft zu machen, und das als Gipfel der Wissenschaftlichkeit auszugeben, gilt leider – aufgrund der Vorarbeit von Lenin und anderen – als „marxistisch“. Es ist jedoch wieder einmal festzuhalten, daß diese Vorgangsweise höchst unwissenschaftlich ist, wie es Vorhersagen im allgemeinen sind. Marx ging im Allgemeinen nicht so vor, seine Schriften mußten jedoch leider dafür herhalten.
Zunächst wird diese Kritik einmal falsch vorgestellt:
„Der polemische Teil dieses bedeutenden Werkes, der aus einer Kritik am Lassalleanertum besteht, hat seinen positiven Teil, nämlich die Analyse des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung des Kommunismus und dem Absterben des Staates, sozusagen in den Schatten gestellt.“ (S. 96)
Marx formulierte seine Kritik am Gothaer Programm so, daß er seinen Anhängern vorwarf, sie hätten sich von den Lasalleanern sozusagen über den Tisch ziehen lassen und ihnen zu viele Zugeständnisse gemacht, – weil er der Wahrheit auswich, daß auch den Leuten, die sich als seine Anhänger bezeichneten, diese Momente des Lasalleanertums gut gefielen und sie sie gerne übernahmen. Marx kritisiert in diesem Brief verschiedene Moralismen, die später in der Sozialdemokratie und im Realsozialismus Karriere gemacht haben, so z.B. den Kult der Arbeit und in dessen Gefolge das Lob des Proletariers als fleißiger Biene.
Was Lenin hingegen als den „positiven Teil“ hinstellt, war gerade einerseits eine Kritik der Lasalleschen Idee des „unverkürzten Arbeitsertrages“, und von Marx keineswegs als Gebrauchsanweisung dafür gedacht, wie Staat zu machen sei, geschweige denn wie er „absterben“ würde.
Eine andere Frage sind Marx’ Ausführungen zum Staat der Gegenwart und der Zukunft, und die sind einfach falsch.
Lenin dekretiert zunächst:
„Marx … interessiert ein anderes Thema: die Entwicklung der kommunistischen Gesellschaft.“ (S. 97)
Das interessiert zwar Lenin, und nicht Marx, aber Lenin unterschiebt es ihm eben, um seinen eigenen Standpunkt dann daraus abzuleiten. Das ganze beginnt mit einem Paukenschlag:
„Die ganze Theorie von Marx ist eine Anwendung der Entwicklungstheorie – in ihrer konsequentesten, vollkommensten, durchdachtesten und inhaltsreichsten Form – auf den modernen Kapitalismus.“ (S. 97)
Die 3 Seiten, die Marx der Widerlegung des „unverkürzten Arbeitsertrages“ von Lassalle verfaßt hat, werden erstens in den Rang einer „Theorie“ erhoben. Zweitens wird behauptet, die seien die „Anwendung“ einer anderen Theorie, von der wir auch das erste Mal hören.
Eine Anwendung einer Theorie auf die Wirklichkeit! Man glaubt, in einem Wissenschaftstheorie-Proseminar für Zweitsemester zu sitzen, einer dieser Veranstaltungen, wo den jungen Leuten ein für allemal der Gebrauch ihres Verstandes abgewöhnt werden soll. Und dieses trostlose Kompliment wird von Lenin noch mit lauter Superlativen bedacht, als seelische Vorbereitung für die Schaumschlägerei, die jetzt folgt.
Lenin zitiert Marx’ Überlegungen, demzufolge die „Gesellschaft“ überall gleich, d.h. kapitalistisch, die Staaten aber verschieden seien:
„”Der heutige Staat” ist also eine Fiktion.“ (S. 98)
Weil es Unterschiede zwischen den Staaten gibt, soll es verkehrt sein, von „Staat“ zu reden? Damit darf man das Allgemeine nicht festhalten und eine Abstraktion behandeln? Das kommt fast einem Denkverbot gleich: Man darf den heutigen Staat und seine Rolle für die kapitalistische Gesellschaft nicht zum Gegenstand einer Betrachtung machen.
Obwohl, so ganz eng sieht es der Meister auch wieder nicht:
„Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von “heutigem Staatswesen” sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.“ (98)
Also, über den „heutigen Staat“ kann man einerseits nichts sagen, weil er eine „Fiktion“ ist, andererseits aber vielleicht doch, weil es immerhin „gewisse Gemeinsamkeiten“ gibt.
Also was jetzt?
Einen „zukünftigen Staat“ soll es aber dann doch geben, ohne bürgerliche Gesellschaft?
O weh.
Hier rächt sich der Theorieverzicht gegenüber den heutigen Staatswesen unmittelbar: Über die kann man zwar nichts aussagen, der Begriff „Staat“ wird also nicht ermittelt, über ein zukünftiges Staatswesen kann man jedoch alles mögliche frei erfinden.
Die Beteuerung von Marx, man müßte dabei selbstverständlich „wissenschaftlich“ vorgehen, verpufft angesichts des Vorherigen ins Leere.
Das Lob Lenins:
„Marx räumt vor allem mit der Konfusion auf, die durch das Gothaer Programm in die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft hineingetragen wird“ (98)
– klingt in diesem Zusammenhang höchst aufgesetzt: Im Gegenteil, hier wird Konfusion in die bewußte Frage hineingetragen.
Weiteres Zukunftsweisendes von Marx:
„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. “ (99)
Dieses seither in Stahl gegossene Dogma des Marxismus-Leninismus lohnt es sich wirklich zu hinterfragen.
Erstens: die Veränderung in Richtung Kommunismus, d.h. Vergesellschaftung der Produktionsmittel in den Händen der Produzenten, kann Lenin zufolge nur revolutionär erfolgen.
Das ist angesichts der Gewaltverhältnisse, die in der kapitalistischen Gesellschaft herrschen, wahrscheinlich. Weder der staatliche Gewaltapparat, noch die Klasse der Unternehmer wird ihre Macht freiwillig aus der Hand geben.
Es soll dennoch an dieser Stelle der von den Anarchosyndikalisten propagierte Generalstreik als Mittel der Machtübernahme nicht vergessen werden. Auch diese Umwälzung der Gesellschaft wird nicht ohne Waffen und Gewalt auskommen, setzt aber eine ungleich breitere Beteiligung der Bevölkerung voraus, als die, die in der russischen Februar- und Oktoberrevolution am Werke war.
Die Frage, die sich hier stellt, ist die: Findet eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung statt, die schon vorher weiß, was sie will und was sie nicht will, oder schafft es eine Minderheit – mit Hilfe von enttäuschten Staatsbürgern, die durch einen gerade stattgefundenen Krieg unter Waffen stehen –, eine Veränderung der Machtverhältnisse durchzuführen?
Wenn letzteres der Fall ist, wie schaut dann die „Übergangsperiode“ aus? Nach welchen Vorstellungen formt sich diese neue Gesellschaft?
In jedem Fall kommt man mit der Formel der „Diktatur des Proletariats“ nicht weiter, weil sie bedeutet nichts anderes, als daß die neuen Machthaber ihre Vorstellungen der restlichen Gesellschaft aufzwingen und sich dafür den nötigen Gewaltapparat zulegen – mit dem guten Gewissen, damit der „Entwicklung“, dem „Fortschritt“ und schließlich dem „Kommunismus“ zu dienen. Für die „Übergangsperiode“ haben sie sich alle Rechtstitel gesichert, weil sie dienen der „ausgebeuteten Klasse“.
Kategorie: Recht und Gewalt
Staat und Revolution, Teil 8
Die nächsten paar Seiten widmet sich Lenin den Anarchisten. Mit ihnen hatte er ein Problem: Sie hatten Einfluß in der damaligen Arbeiterschaft, waren immer Gegner des Krieges und Anhänger einer Revolution gewesen. Das „Opportunismus’“ konnte man sie also nicht bezichtigen, und auch des „Abweichlertums“ nicht, da sie ja keine Anhänger des Marximus waren. Ihre Forderung nach der „Abschaffung des Staates“ mußte jedoch lächerlich gemacht werden, um sowohl diese Forderung verstummen zu lassen als auch ihren Einfluß bei den Räten zurückzudrängen.
„Staat und Revolution“, das sollte man nie vergessen, ist auch gegen das Rätesystem geschrieben. Lenin wollte mit dieser Schrift die „Revolution von unten“ bekämpfen, im Sinne seines „Primats der Partei“ und den Führungsanspruch der Partei über die Arbeiterschaft begründen, – im Interesse der Arbeiterschaft, selbstverständlich.
Lenin zitiert hierfür zwei ursprünglich auf italienisch erschienene Schriften: „Der politische Indifferentismus“ von Marx und „Von der Autorität“ von Engels, beide aus dem Jahr 1873.
Die Argumentation läßt sich kurz zusammenfassen: Revolution geht nur mit Gewalt, wer Gewalt ablehnt, verzichtet auf den Kampf gegen die Bourgeoisie. Gewalt ist autoritär, also ist auch die Revolution autoritär. Auf Schiffen und Eisenbahnen braucht es auch Autorität. Autorität ablehnen heißt Gewalt ablehnen und damit verzichtet man auf Revolution. Den Staat „von heute auf morgen“ abzuschaffen, käme Selbstentwaffnung gleich. Man muß nämlich erst die sozialen Verhältnisse verändern, mit Hilfe des proletarischen Staates, und dann stirbt er ja ohnehin von selbst ab. Wer das nicht begreift, ist entweder dumm oder verlogen. „In beiden Fällen dienen sie nur der Reaktion.“ (S. 74)
Damit einem diese Argumente schlüssig erscheinen, muß man bereits die Trennung, die Lenin in den vorigen Kapiteln vollzogen hat, mitmachen: „Staat“, das ist der bewaffnete Arm der Bourgeoise, alles was Waffen in der Hand hat. Der Rest sind irgendwelche neutralen Behörden, „Verwaltung“ eben. Und dann ist der proletarische Staat, der Lenin vorschwebt, eben genauso ein Gewaltapparat, nur in den richtigen Händen.
Damit ist auch die Kurve gekratzt, um die Anarchisten alt ausschauen zu lassen: Statt nur den bürgerlichen Staat zu bekämpfen, lehnen sie das Prinzip des Staates ab, entwaffnen dadurch die Arbeiterklasse und arbeiten der Reaktion in die Hände.
Die nächste Schrift, die sich Lenin vornimmt, ist die Kritik von Engels am Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokraten. Dort schlägt Engels in seinem Brief an Bebel vor, das Wort „freier Volksstaat“ durch „Gemeinwesen“ zu ersetzen, um Irrtümer zu vermeiden und den Übergangscharakter des Arbeiterstaates hevorzustreichen.
So kann mans natürlich auch machen, daß man den Begriff überhaupt wegläßt und umschreibt. (Die deutschen Sozialdemokraten haben es übrigens nicht gemacht, sie haben nur statt „Volksstaat“ „Staat“ hingeschrieben.)
Es folgen dann besonders langweile Ausführungen über die Fortschrittlichkeit verschiedener Staatsformen, und daß Zentralismus auf jeden Fall besser ist als Föderalismus. Als abschreckendes Beispiel wird die Schweiz angeführt. Argumente, Begründungen sucht man hier vergeblich.
Weiter geht es mit einer Einleitung von Engels zu einer späteren Ausgabe (1891) des „Bürgerkriegs in Frankreich“. Lenin bezeichnet die von Engels hier gezogenen Lehren aus der Kommune als das „letzte Wort des Marxismus“. Das non plus ultra also. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß man dagegen nichts einwenden darf, weil sonst wird man als Marxist exkommuniziert, von Lenin höchstpersönlich.
Nach einigen Ausführungen über die Bewaffnung des Proletariats und daß das dem Bürgertum nicht recht ist (surprise, surprise!), und einer Kritik an der Stellung der Sozialdemokratie zur Religion – Erklärung zur Privatsache statt Kritik an derselben –, denen man sich anschließen kann, aber was heißt das eigentlich? – kommt er auf Ersetzung und Entlohnung der Beamtenschaft zu sprechen. Beamten müssen gewählt werden und dürfen nicht mehr verdienen als gewöhnliche Arbeiter.
Die Frage, die sich hier stellen würde, wäre: Was ist ihre Aufgabe? Was verwalten sie eigentlich? Es kommt aber nichts. Dafür wird daraus wieder einmal eine „Lehre“ gezogen:
„Engels gelangt hier an jene denkwürdige Grenze, wo eine konsequente Demokratie sich auf der einen Seite in Sozialismus verwandelt und auf der andern Seite den Sozialismus erfordert. Denn zur Aufhebung des Staates ist nötig, daß die Funktionen des Staatsdienstes in solche einfachen Operationen der Kontrolle und Rechnungsführung verwandelt werden, die für die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung und später für die gesamte Bevölkerung ohne Ausnahme verständlich und ausführbar sind.“ (S. 91)
Was entnehmen wir diesem Zitat?
1. Demokratie wird zu einer bloßen Verfahrensform erklärt, die im Wählen von Repräsentanten besteht. Das ist ein häufiges Mißverständnis dessen, was Demokratie bedeutet: Der Begriff bedeutet „Volksherrschaft “, dient der Aufrechterhaltung der Kapitalsinteressen, und die Verfahrensform wird sehr großzügig gehandhabt. Heute gilt z.B. Österreich in den Medien zweifelsfrei als Demokratie, weil dort die Gemeindevertreter, Landesregierungen, das Parlament und das Staatsoberhaupt durch Wahlen bestimmt werden, Kuba hingegen nicht, obwohl dort die Gemeindevertreter und die Provinzvertreter auch durch Wahlen bestimmt werden.
2. Wenn die Verfahrensform stimmt, so ist der Inhalt dessen, worüber diese solchermaßen gewählten Vertreter entscheiden, für die Anhänger von Demokratie relativ gleichgültig. Die Ermächtigung für diverse Entscheidungen ist ausschlaggebend, deren Inhalt ist dann ziemlich beliebig und richtet sich nach den Erforderungen in- und ausländischer Mächte.
(Wie wir im Folgenden sehen werden, ist letztlich für Lenin die Verfahrensform auch nicht entscheidend, sobald wichtigere Gesichtspunkte auftreten.)
3. Zivile Beamte (die nicht gewählt wurden!) vollführen also dennoch „Funktionen des Staatsdienstes“, nicht nur die Gewalt macht also den Staat aus. Und deren bisheriger Mangel war – mangelnde Transparenz? Nicht das, wofür sie angeblich dienten: Unterdrückung, Verdummung der Arbeiter zugunsten der Bourgeoisie?
Das Zitat, das angeblich so viele Fragen beantwortet, läßt noch viel mehr Fragen offen.
Schließlich, auch das bleibt in obigem Zitat offen: was ist eigentlich „Sozialismus“? Man müßte diesen Begriff irgendwie mit Inhalt füllen, sonst ist dieses Zitat eine Tautologie: Demokratie führt zu Sozialismus, und Sozialismus ist vollendete Demokratie. Alles sehr schön. Aber worum geht es eigentlich?
Umso mehr, als Lenin den Gedanken wie folgt fortführt:
„… ein vollauf konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, im Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.“ (S. 91)
Also: einerseits sind wir ja sehr für Demokratie, andererseits ist sie im Grunde überflüssig. Warum dann Partei ergreifen für diese Staatsform? Nur weil es gut klingt? Wenn sie ohnehin für nichts taugt im proletarischen Staat?
„Für sich genommen wird kein Demokratismus den Sozialismus bringen.“ (S. 91)
Über irgendwelche dialektischen Verschlingungen hat dann die Demokratie doch was mit der Arbeitermacht zu tun. Lenin vollführt hier einen Eiertanz, um zu beweisen, daß alle diese von ihm herangezogenen Schriften zeigen, daß es eine Entwicklung zum Sozialismus gibt und jede Einseiferei seitens der Bolschewiki, oder seiner Person, gerechtfertigt ist, sofern sie dem „Fortschritt“ dient. Demokratie muß man einerseits propagieren, aber wenn man einmal damit die Leute auf seine Seite gezogen hat, so ist sie schnellstmöglich abzuschaffen. „Demokratie“ heißt hier soviel wie „Mitbestimmung“: Erst muß man die Leute diesbezüglich auf seine Seite ziehen, daß sie in einer neuen Gesellschaft selbstverständlich auch etwas zu sagen hätten. Kaum hat man dann die neue Gesellschaft konstituiert, so sind natürlich alle diese Mitbestimmungs-Gremien und -Möglichkeiten sofort zu liquidieren …
„Engels begeht aber nicht den Fehler, den z.B. manche Marxisten in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen begehen: im Kapitalismus sei die Selbstbestimmung unmöglich und im Sozialismus überflüssig. Eine derartige, anscheinend geistreiche, in Wirklichkeit aber falsche Argumentation ließe sich über jede beliebige demokratische Einrichtung wiederholen, auch über die bescheidenen Beamtengehälter, denn ein vollauf konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, im Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.“ (S. 91)
Die Demokratie wird hier von Lenin zu einer reinen Augenauswischerei erklärt. Im Kapitalismus ist sie „nie verwirklicht“, im Sozialismus ist sie überflüssig.
Diese Bestimmung der Demokratie ist nicht mit einer Kritik von derselben zu verwechseln. Lenin erklärt diesen Begriff zu einer bloßen Verfahrensform, einem Begriff, mit dem man die Leute für sich einnimmt, um ihn dann, wenn die eigenen Ziele verwirklicht sind, einfach abzuschaffen. Weils sich als „marxistisch“ eingebürgert hat, daß unangenehme Dinge einfach „absterben“, so spricht Lenin ihr auch diese Entwicklung zu. Im Grunde erklärt er die Demokratie zu eier Einseiferei, zu einer schlauen Roßtäuscherei für Revolutionäre: Man verspricht dem Volk Demokratie, und wenn man dann die Macht hat, so wirft man die ganze Demokratie in den Mistkübel der Geschichte.
Eine eigenartige Form, die Massen, oder das Proletariat zu überzeugen: Man nimmt einen Begriff aus dem bürgerlichen Repertoire, erklärt sich zu deren Vertreter, und wenn man dann an der Macht ist, so verabschiedet man sich davon.
Warum dieser Begriff der Demokratie attraktiv ist, warum man damit Leute gewinnen kann, ist für Lenin ganz gleich. Er „zieht“, also verwendet man ihn, und sobald sich die Gelegenheit ergibt, so läßt man ihn fallen.
Das folgende Lob Lenins für Engels ist eher ein intellektuelles Eigentor, es läßt nämlich beide großen „Theoretiker“ eher alt ausschauen:
„Der Dialektiker Engels bleibt am Ende seiner Tage der Dialektik treu. Marx und ich, sagt er, hatten einen ausgezeichneten, wissenschaftlich exakten Namen für die Partei, aber es fehlte die wirkliche, d.h. die proletarische Massenpartei.“ (S. 94)
Eine Lachnummer. Der Name paßt, es fehlt nur die Partei.
Und was heißt in diesem Zusammenhang „wissenschaftlich exakt“? In beiden Fällen liegen Absichtserklärungen vor, auch wenn Engels sich über den Umstand hinwegtäuschen will: Wer sich als Kommunist bezeichnet, bringt damit zumindest einen Vorbehalt gegen das Privateigentum zum Ausdruck, erklärt es für ein Zu-Überwindendes. Wer sich als Sozialdemokrat bezeichnet, betont seine soziale Ader und bekennt sich zur Demokratie als Herrschaftsform.
Somit hatten die beiden Parteien genau die Namen, die ihrem Programm entsprachen.
Lenins programmatische Erklärung am Ende dieses Kapitels mag als frommer Wunsch angesichts der späteren Entwicklungen grotesk erscheinen:
„Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. Wir erwarten nicht, daß eine Gesellschaftsordnung anbricht, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht eingehalten werden würde. Doch in unserem Streben zum Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüberwachsen wird und daß im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt, der Unterordnung eines Menschen unter den anderen, eines Teils der Bevölkerung unter den anderen verschwinden wird, denn die Menschen werden sich daran gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterdrückung einzuhalten.“ (S. 95)
Diese schöne neue Welt ist aber nicht deshalb nicht zustandegekommen, weil Lenin sie nicht aufrichtig gewünscht hätte, oder selbst nicht an seine Sprüche geglaubt hat. Nein, der Kommunismus sowjetischer Prägung ist deshalb gescheitert, weil Lenin die feindselige Welt, der er gegenüberstand, falsch bestimmt hat, wie in diesem vorliegenden Falle den Staat und die Demokratie.
Staat und Revolution, Teil 7
IV. Erläuterungen von Engels
Lenin sucht hier auf konkrete Fragen, die sich der neu einzurichtenden Staatsmacht stellen, eine Antwort, und schlägt wieder nach bei den Klassikern. Er zitiert zunächst Engels Abhandlung von 1873 „Zur Wohnungsfrage“ ).
Festgestellt wird einmal: Es gibt im Kapitalismus jede Menge leerstehenden Wohnraum, und gleichzeitig Obdachlose. Der Grund für diesen Umstand ist das Privateigentum. Eine korrekte Feststellung.
Wie sieht die Lösung Engels/Lenin für dieses Problem aus, nach der „proletarischen Revolution“?
Löst man das Privateigentum auf und baut möglichst schnell ordentliche Häuser?
Keineswegs. Sondern man verteilt einmal das Vorhandene, und wer sich darüber aufregt, ist ein Klassenfeind:
„Soviel aber ist sicher, daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen ‘Wohnungsnot‘ sofort abzuhelfen. Dies kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehn, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht ausführbar sein, wie andere Expropriationen und Einquartierungen durch den heutigen Staat.“(S. 69)
Engels erklärt also das Vorhandene für ausreichend und alles nur für eine Frage der Verteilung.
Das ist ein wenig naiv, oder zumindest verharmlosend gedacht, ähnlich wie heute gegen den Hunger in der Welt protestiert wird: Es ist ja genug da, nur aus Geschäftsinteresse wird es nicht den Bedürftigen gegeben.
In Wirklichkeit verhält es sich im Kapitalismus so, daß viele Dinge gar nicht erst erzeugt werden, weil sich die Unternehmer kein zahlungsfähiges Bedürfnis dafür ausrechnen. So stehen zwar Wohnungen leer und werden Lebensmittel vernichtet, aber es werden eben auch viele der Ersteren gar nicht erst gebaut und viele der Letzteren gar nicht erst angebaut. Der Kapitalismus erzeugt Mangel auf zweierlei Art: Erstens verwehrt er durch die Eigentumsordnung den Bedürftigen den Zugang zu bereits vorhandenem Reichtum. Zweitens orientiert sich die Produktion von konkretem Reichtum nicht am gesellschaftlichen Bedürfnis, sondern an der Zahlungsfähigkeit des p.t. Publikums.
Die Vorstellung von Engels, daß die Wohnungsfrage durch Enteignungen und Einquartierungen zu lösen wäre, hat durchaus Folgen gehabt im ersten proletarischen Staat: Noch heute leben viele Menschen in russischen und anderen Städten postsowjetischer Staaten in den sogenannten „Kommunalkas“, ehemals gutbürgerlichen großen Wohnungen von 10-15 Zimmern, in der pro Zimmer ein bis drei Leute leben und sich eine Küche, ein Bad und ein, bestenfalls zwei Klos teilen.
Auch eine Möglichkeit, „Wohnungsnot“ zu bekämpfen.
Engels rechtfertigt in seiner Schrift auch Pacht und Miete:
„Übrigens muß konstatiert werden, daß die ‘faktische Besitzergreifung’ sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volkes, das gerade Gegenteil ist von der proudhonistischen ‘Ablösung’. Bei der letzteren wird der einzelne Arbeiter Eigentümer der Wohnung, des Bauernhofs, des Arbeitsinstruments; bei der ersteren bleibt das ‘arbeitende Volk’ Gesamteigentümer der Häuser, Fabriken und Arbeitsinstrumente, und wird deren Nießbrauch, wenigstens während einer Übergangszeit, schwerlich ohne Entschädigung der Kosten an einzelne oder Gesellschaften überlassen. Gerade wie die Abschaffung des Grundeigentums nicht die Abschaffung der Grundrente ist, sondern ihre Übertragung, wenn auch in modifizierter Weise, an die Gesellschaft. Die faktische Besitznahme sämtlicher Arbeitsinstrumente durch das arbeitende Volk schließt also die Beibehaltung des Mietverhältnisses keineswegs aus.“ (S. 70)
Statt dem Privateigentum setzt Engels – und, auf ihn aufbauend, Lenin – auf ein anonymes Volkseigentum, das aber natürlich von irgendwem vertreten werden muß, und an diese Volksvertretung sind auch Pacht und Miete zu entrichten. Der gesamte Wohnraum, und auch der gesamte Boden eines Landes erhält also einen neuen Eigentümer, der fürs Einkassieren der Pacht und Miete zuständig ist und natürlich auch darüber entscheidet, wer diese Wohnungen bewohnen, auf diesem Grund bauen oder jene Felder bewirtschaften darf. Diese mit dem unvermeidlichen Hinweis auf die „Übergangszeit“ eingerichteten neuen Besitzverhältnisse weisen darauf hin, daß hier die gesamte Bevölkerung gewaltsam enteignet und eine keineswegs absterbende neue Macht eingerichtet wird.
Lenins Schlußfolgerung aus den Ausführungen Engels’ ist anders, bzw. sieht die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten als eine positive Entwicklung:
„Alles das erfordert eine gewisse Staatsform, erfordert aber keineswegs einen besonderen militärischen und bürokratischen Apparat mit beamteten Personen in besonders bevorzugter Stellung.“ (S. 70)
Über diesen Satz hätten die Bürger der Sowjetunion nur herzhaft gelacht. Eine Stellung im Wohnungsamt war dort nämlich sehr begehrt, weil man da an einer der Schaltstellen der Macht saß.