Pressespiegel El País 23.4.: Kriegstraumata

„UKRAINISCHE SOLDATEN MÜSSEN SICH OHNE UNTERSTÜTZUNG MIT DEN PSYCHOLOGISCHEN TRAUMATA DES KRIEGES AUSEINANDERSETZEN

Die Behörden des angegriffenen Landes beginnen zu begreifen, daß sie ein Problem ersten Ranges haben, aufgrund von Hunderttausenden Soldaten, die ohne angemessene Unterstützung kämpfen.“

Es stellt sich im Lauf des Artikels heraus, daß es sich um die psychologische Unterstützung handelt, nicht um die militärische.
Obwohl der Autor es durchaus offen läßt, ob nicht vielleicht die militärische auch mitgedacht sein könnte.

„Der Krieg in der Ukraine wird nicht nur an der Front ausgetragen, seine Explosionen und Toten finden sich auch in den Köpfen der Soldaten.
Der größte Konflikt, den Europa seit dem II. Weltkrieg erlebt hat, wird Hunderttausende von Soldaten auf beiden Seiten lebenslang gezeichnet hinterlassen, sagen Experten und Soldaten, die von EL PAÍS interviewt wurden. Auf ukrainischer Seite beginnen die Behörden davon auszugehen, daß die Folgen für die Zukunft, nach der Rückkehr des Militärs in das zivile Leben, ein Problem ersten Ranges sein wird.

In der Ukraine sind jetzt fast eine Million Männer und Frauen in irgendeiner Form in die Verteidigung des Landes eingebunden.
Der ukrainische Generalstab nennt keine konkreten Zahlen, aber militärische Quellen schätzen gegenüber dieser Zeitung, daß fast 500.000 Soldaten Kampferfahrung an der Front haben. Tausende von ihnen leiden bereits an psychischen Störungen, die auf das zurückzuführen sind, was sie miterlebt haben. »Was uns bevorsteht, hat unvorstellbare Ausmaße, und das Land ist darauf nicht vorbereitet«, folgert Robert van Voren, einer der führenden Experten für Psychiatrie in den ehemaligen Mitgliedstaaten der Sowjetunion.“

Um so mehr, als das Gesundheitswesen der Ukraine seit geraumer Zeit ohnehin nur für Zahlungsfähige da war, und sich irgendwo zwischen Leihmutter-Firmen und Biolaboren eingerichtet hat.

„Van Voren ist Exekutivdirektor der »Federation for the Global Initiative in Psychiatry«, einer Organisation, die mit der Verteidigung der Menschenrechte in Russland und Osteuropa verbunden ist.“

Menschenrechte in der Pychiatrie?
Da hätte dieses Institut vermutlich nicht nur in ehemaligen Mitgliedstaaten der SU zu tun, obwohl das offenbar seine Bestimmung ist. Um die Menschenrechte wird sich vor allem in Staaten gekümmert, wo alles nicht so nach Plan für Washington und Brüssel läuft.

„Die Einrichtung, erklärt der Experte, sei vom ukrainischen Justizministerium beauftragt worden, ein Behandlungsprogramm für Kriegsveteranen zu fördern, die im Gefängnissystem des Landes inhaftiert werden.“

Damit wird offenbar gerechnet bzw. es ist schon geschehen. Außerdem gibt es ja Richtwerte aus anderen, verbündeten Staaten:

„Sein Team wird Einheiten für den Einsatz in Gefängnissen mit Methoden ausbilden, die in Großbritannien angewendet werden. »17 % der britischen Veteranen aus Afghanistan und dem Irak sind im Gefängnis gelandet«, betont dieser niederländische Sowjetologe. Angesichts dieser Daten sei das Ausmaß des Problems klar, sagt er.

In der Ukraine gibt es nur ein Zentrum, das auf die psychologische Behandlung von Kriegsteilnehmern spezialisiert ist. Es wurde im Juni 2022 eingeweiht und ist der Armee unterstellt. Sein Gründer, Oberst Oleksandr Vasilkovskij, präsentiert das Charkower Rehabilitations-Zentrum eher als private Initiative denn als staatliche Dienstleistung, da es keine öffentlichen Mittel erhält, sondern auf Spenden angewiesen ist. Diese Klinik wurde in einem ehemaligen sowjetischen Sanatorium am Rande Charkows, 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, eingerichtet. In den neun Monaten ihres Bestehens hat sie mehr als 2.700 Soldaten versorgt, mit einem einwöchigen“ (!) „Betreuungsprogramm, das sie auf die Rückkehr in den Kampf vorbereiten soll.“

Das Hauptziel dieser Klinik ist also, das Kanonenfutter wieder für den Einsatz zu befähigen. Da wird also auch darauf geachtet, daß keine Simulanten versuchen, sich der wichtigsten Vaterlandspflicht zu entziehen.

„Sergej Fjedoretschk wird vorerst nicht an die Front zurückkehren, weil er durch eine Explosion taub geworden ist. Am vergangenen Freitag verabschiedete er sich emotional von Vasilkovskij, nachdem er seine Genesungstage in der Charkower Einrichtung beendet hatte. Seine neue Partnerin, eine Krankenschwester, die ihn im Krankenhaus behandelte, holte ihn ab. Fjedoretschk ist ein Sergeant der Spezialeinheit der Luftwaffe. Er kann kaum sprechen, er sieht aus wie ein Boxer, der nach einem K.o. aufsteht. Aber er lächelt, weil er im Rehabilitationszentrum die erste friedliche Woche seit über einem Jahr hatte.
Vasilkovskijs Ziel ist es, daß das Militär wieder Stabilität gewinnt, damit es sich sicher fühlen kann, wieder zu kämpfen. Sowohl dieser Oberst als auch der Spezialist Van Voren und andere in den letzten Monaten befragte Soldaten stimmen darin überein, daß die Rotationen an der Front weniger häufig sind als nötig.“

Man fragt sich, wer eigentlich entscheidet, wie viele Pausen ein Soldat „nötig“ hat? Und „nötig“ wofür? Für den Soldaten? Für den wäre es das Beste, von der Front dauerhaft wegzukommen.
Oder für den Endsieg? Da sind Kampfpausen ganz schädlich, weil die schwächen die kämpfende Einheit.

„Das bedeutet, daß es Soldaten gibt, die monatelang einem Dauerdruck ausgesetzt sind. »In einer idealen Welt«, betont Vasilkovskij, »sollten Rotationen alle zwei oder drei Monate stattfinden, aber das ist nicht der Fall, weil unser Feind viel mehr Ressourcen hat als wir.«“

Hier wird also von kompetenter und unverdächtiger Seite bestätigt, daß die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann und ihre Leute ohne wirkliche Perspektive an der Front verheizt.
Die „ideale Welt“ ist offenbar eine, in der Dauerkrieg herrscht …

„Das Verfahren zu einem Aufenthalt im Charkower Rehabilitations-Zentrum beginnt an der Front. Dort müssen Militärpsychologen diejenigen Soldaten identifizieren, die unter Panikattacken, Demoralisierung oder Selbstmordgedanken leiden.“

Es fragt sich, was genau unter „Demoralisierung“ zu verstehen ist? Desertationsgefahr?

„In Charkow angekommen, werden diese Männer – eventuell in Begleitung eines Angehörigen – ab sieben Uhr morgens mit verschiedenen individuellen und kollektiven Therapien behandelt: Sie führen unter anderem physiotherapeutische Maßnahmen durch, um den Körper zu entspannen; Übungen in einem Pool bei einer Temperatur von 32 Grad, der den vorgeburtlichen Zustand simuliert;“ (!!!) „Ruheräume mit Aromen, Salzen und auch mit Lasertechniken.“

Ein Wellnesszentrum für ausgepowerte Soldaten, wie neckisch.

„Maxim Baida, seit 2011 Militärpsychiater und verantwortlich für die psychologische Betreuung von Internierten der Charkower Klinik, betont, daß sie sich nicht um Langzeitfälle von posttraumatischer Belastungsstörung kümmern können, der häufigsten psychischen Erkrankung, unter der Soldaten in jedem Krieg leiden.
Ihre Priorität ist, daß sie ohne Albträume wieder einschlafen, daß sie aufhören, sich für ihre toten Kameraden schuldig zu fühlen und vor allem, daß sie ihre Angst verlieren, wann sie an die Front zurückkehren müssen, wenn sie die Straße entlang gehen, – oder wenn sie von Zukunftsängsten angesichts einer äußerst ungewissen Zukunft gequält werden.“

Na, da hat der Psychologe sicher viel zu tun und das in nur einer Woche!

„Julija Sobolta ist Therapeutin beim DoLadu-Projekt, das sich um Verwundete in Militärkrankenhäusern in Kiew kümmert. Sobolta arbeitet seit 2017 einen Monat lang mit Soldaten, während sie ins Krankenhaus eingeliefert werden. In DoLadu arbeiten sie nicht grundlegend an den Traumata, die die Soldaten erleiden. Sie konzentrieren sich darauf, Patienten zu stabilisieren, ihnen Entspannungstechniken näherzubringen, sobald sie an die Front zurückkehren, und Meditation – etwas, das das Militär zum ersten Mal akzeptiert. »Es ist immer noch etwas ungewöhnlich, weil die Ukraine eine konservative Gesellschaft ist, die vom orthodoxen Christentum beeinflusst ist, und Meditation als eine von außen kommende religiöse Praktik angesehen wird«, sagt er.“

Meditation und Entspannungstechniken im Schützengraben und unter Raketenbeschuß – sehr innovativ.
Auch bei DoLadu (was soviel heißt wie „Wieder ins Lot bringen“) steht offenbar die Wiederherstellung der ramponierten Wehrtauglichkeit im Vordergrund.

„Sobolta weist darauf hin, daß die Haupttraumata unter den Soldaten die Schuld wegen verlorener Freunde ist, sowie in einer zivilen Umgebung überleben zu können, und nicht bei ihren Kameraden zu sein.“

Das ist etwas erklärungsbedürftig. Also erstens, wenn es an der Front einen Kameraden erwischt, so geben sich diese Patienten selbst die Schuld. Warum er und nicht ich?
Zweitens, die begründete Sorge, daß man nach allem, was man an der Front erlebt – und auch getan – hat, vielleicht nicht so einfach mehr in ein Leben als Ehemann, Sohn, oder in den Beruf zurückfindet.
Der 3. Punkt wirkt etwas aufgesetzt und soll anscheinend dem ausländischen Journalisten klarmachen, daß alle ukrainischen Soldaten ihre Landesverteidigung und die Kameradschaft im Schützengraben über alles stellen.
Aber im Zusammenhang mit Punkt 2 ist auch klar, daß das zivile Leben vorher und die Monate an der Front zwei Wirklichkeiten schaffen, die nur schwer miteinander vereinbar sind.
Die Mitarbeiter von DoLadu

„haben auch ein neues Problem in Bezug auf diejenigen entdeckt, die im Donbass-Krieg (seit 2014) gekämpft haben (…): »Jetzt sehen wir mehr Hoffnungslosigkeit, sie haben das Gefühl, daß es keinen sicheren Ort gibt, die Unsicherheit betreffend Leib und Leben ist viel größer«.“

Auch das ist etwas unklar.
Im Donbass hatte man als Soldat – oder auch Mitglied eines paramilitärischen Bataillons – das Gefühl, Separatismus zu bekämpfen und konnte ohne große Schwierigkeiten Scharfschützen auf Babuschkas und Kleinkinder schießen lassen.
Der Donbass-Krieg lief nämlich 8 Jahre lang als „Antiterroristische Operation“, man hatte also ein gewisses Rechtsbewußtsein und Gefühl der Stärke. Im Grunde verstieß es allerdings gegen die ukrainische Verfassung, Militär im Inland einzusetzen. Der Großteil der dort im Einsatz befindlichen Soldaten war freiwillig und aus Überzeugung dort.
Heute hingegen steht man einer gut gerüsteten Großmacht und deren Dauerfeuer gegenüber, und auf die Freiwilligkeit wird von der ukrainischen Regierung und Armeeführung auch verzichtet.

„Der Schmerz wegen toter Gefährten

Vjatschislav Melnikov ist 27 Jahre alt und Scharfschütze in einem Infanteriebataillon. Vor dem Krieg war er Maurer. Eine Granate eines feindlichen Panzers traf seine Stellung und die Prellungen, die er erlitt, hinterließen seelische Narben. Er wurde in das Rehabilitationszentrum Charkow eingeliefert, weil er jede Nacht Alpträume hatte und an Zittern in seinen Extremitäten litt. Er leidet unter den Selbstvorwürfen, nicht genug getan zu haben, um Gefährten vor dem Tod zu bewahren.
Er will nicht an die Zukunft denken, weil sie ihm Angst macht, und er erklärt, daß ihm Methoden beigebracht wurden, seinen Kopf auf ein Ziel zu konzentrieren. Sein Ziel ist es, so schnell wie möglich in den Kampf zurückzukehren. »Es ist wichtig, daß ich meine Familie nicht mit dem Hass anstecke, den ich empfinde. Ich möchte diesen Hass an der Front spüren, nicht zu Hause.« Er kann die Zahl der von ihm getöteten feindlichen Soldaten nicht nennen, aber er beteuert mit einem Blick, der Gewalt ahnen läßt, daß es kein Trauma sei, das Leben anderer Menschen beendet zu haben: »Diese Leute marschieren in mein Land ein. Ich bin nicht nach Russland gegangen, um Zivilisten zu töten. Ich beschütze unsere Familien.«“

Vorbildlich. Solche Leute muß man mit allen Mitteln wieder einsatzfähig machen.

„Sobolta betont, Experten, daß die Ukraine viel zu wenig“ (psychologische) „Experten habe: Nach ihren Schätzungen kommt in Militärkrankenhäusern auf 100 Soldaten ein Psychologe. In DoLadu halten sie es für wesentlich, daß dringend neue Gruppen von Experten für militärische psychische Gesundheit ausgebildet werden.“

Eine schwere Aufgabe. Weil die Lust am Töten psychologisch zu vermitteln, setzt erstens Freiwilligkeit bei den solchermaßen „Behandelten“ voraus. Die liegt aber möglichweise nicht vor … Außerdem steht sie in einem krassen Gegensatz zum bisher Gelehrten und Gelebten, wo Mord strafbar ist.
Und dann noch Leute zu finden, die diese schwere Aufgabe der Umerziehung beherrschen …

„Diese Einrichtung (DoLadu) arbeitet mit der Unterstützung der US-Regierung und verweist auf Israel als Referenz.
Die von Olena Selenskaja, der Ehefrau des Präsidenten, geleitete Stiftung hat in Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung ein Programm erarbeitet, durch das sie bereits etwa dreißig Therapeuten im Tel Aviv NATAL-Zentrum für die Behandlung von Opfern in Konfliktgebieten ausgebildet hat.“

Jetzt wird eines für die Behandlung von Tätern fällig.

„Um den Therapieplan für das Charkov-Zentrum zu entwerfen, hat Vasilkovskij Pflegeprogramme für amerikanische Veteranen des Vietnamkriegs studiert. Und er ist überzeugt, daß die Ukraine seit 2014 bereits genug Erfahrung hat, um ihre Experten auszubilden, – mehr als jede NATO-Armee.
Sowohl er als auch die Therapeutin betonen die Bedeutung der Kriegsveteranen des Donbass-Konfliktes, die sich als psychisch belastbarer erwiesen haben. »Diese Männer vermitteln Sicherheit an die Einheit und wissen, wie man sich verhält, wenn zum Beispiel ein Kollege eine Blockade hat«, sagt Oberst Vasilkovskij.“

Es handelt sich vermutlich um eine Blockade beim Töten.

„Das Positive sei, sagt Van Voren, daß die ukrainischen Behörden sich des Problems bewusst seien, weil sie sich seit 2014 damit befassen und sich seit 30 Jahren schrittweise den Standards der EU annähern.
Der Nachteil hingegen sei, fügt er hinzu, ist, daß »psychische Gesundheit nie eine Priorität war«.“

Man fragt sich, was die „psychische Gesundheit“ bei einem Scharfschützen sein soll? Kill, kill, kill – sowas wird doch den Leuten eingehämmert. Und wenn das nicht mehr funktioniert, so sind sie „krank“?

„Nach seinen Schätzungen hat ein Drittel der psychiatrischen Einrichtungen kriegsbedingt geschlossen und viele ihrer Mitarbeiter sind inzwischen Flüchtlinge im Ausland. Auf Seiten der Eindringlinge ist das Problem sicherlich größer, weil sich die russische Psychiatrie isoliert hat und weil die Position ihrer Soldaten schlechter ist, wie Van Voren“ mit Krokodilstränen „erwähnt: »Sie kämpfen in einem anderen Land, in einer Umgebung, in der sie gehasst werden und sie kommen aus einer Gesellschaft, in der die Menschen keine moralische Unterstützung haben.“

Nun ja, das ist natürlich ein Trost: Beim Feind ist alles viel schlimmer, der hat ja nicht einmal die fachliche Unterstützung der EU, der USA, des UK und Israels.

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda: 100 Jahres-Jubileum der Gründung der Sowjetunion

„EIN LAND GROSSER TATEN ODER EIN TRAGISCHES EXPERIMENT: WAS WAR DIE UDSSR WIRKLICH?

Am 30. Dezember jährt sich die Entstehung der UdSSR zum 100. Mal
Wir kennen die UdSSR als eine der größten Mächte ihrer Zeit. Doch weniger als 70 Jahre sind vergangen, seit das Land, das immer noch Millionen mit Nostalgie erfüllt und das zu einem Symbol für Stabilität und Macht geworden war, zusammenbrach. So schnell wie sie geboren worden war.“

Nun ja. Zur Entstehung waren 2 Revolutionen (die von 1917) bzw. 4 (wenn man die von 1905 und 1912 dazuzählt) und ein mehrjähriger Krieg und Bürgerkrieg vonnöten. Für den Zerfall genügte ein feuchtfröhlicher Abend zu dritt auf einer Datscha in Weißrußland.

„Was war also die UdSSR? Ein großes und tragisches Experiment, das den Schlußstrich unter das Russische Reich zog, oder eine glänzende Zukunft, in der wir lebten, aber sie nicht verstanden, weil wir ihr nicht gewachsen waren?
Wir haben darüber mit dem Historiker Pavel Pryanikov und dem Autor des Buches »Der Geheimcode der UdSSR« Alexander Myasnikov gesprochen.

Mit Austrittsrecht geködert

KP: Für den Umstand, daß die Sowjetunion schließlich zusammenbrach, beschuldigen viele ihre Gründer: Lenin und Stalin.
Sie gewährten jeder Republik das Recht, auf eigenen Wunsch aus der UdSSR auszutreten. Wovon die Republiken 1991 Gebrauch machten. Warum also stimmten sie vor 100 Jahren solchen Bedingungen für die Gründung der Union zu? Wussten sie nicht um die zerstörerische Kraft dieses Austrittsrechtes?

PP: Versetzen Sie sich kurz in die damalige Situation. 1922 hat das Land bereits Finnland, das Baltikum, Polen und die Hälfte Moldawiens verloren. Russland war so schwach, dass es sogar gezwungen war, Esten und Letten einen Teil seines Territoriums (Isborsk) zu überlassen und Reparationen (mehrere Tonnen Gold) zu zahlen. Alles lag in Trümmern. An der Staatsspitze standen Menschen, die noch nie mit Staatsführung zu tun hatten. Der Erste Weltkrieg, dann die Revolution und der Bürgerkrieg hatten die dünne Schicht der Regierungsbeamten – 2 Prozent der Bevölkerung – weggespült.

KP: Und dann beschlossen die verbleibenden Republiken, sie mit einem solchen „Zuckerbrot“ in die gemeinsame Union zu locken?

PP: Natürlich. Sie mussten sie zumindest unter allen Umständen vereinen – mit der Verlockung: Wenn es dir nicht gefällt, kannst du gehen.
Damals war es wichtig, einfach ein einheitliches wirtschaftliches und politisches Gebilde zu schaffen. Denn einige der Republiken waren strategisch wichtig: Ohne die Ukraine hätte Russland nicht überlebt – als Hauptkornkammer plus Kohle und Stahl. Es ging darum, Armut und Hoffnungslosigkeit hinter sich zu lassen. Deshalb kam es zu großen Zugeständnissen.

Die Alternativen und die Kompromißformel

KP: Wer hat die Gründung der Union in dieser Form initiiert? Haben Stalin und Lenin verstanden, dass nationale Republiken eine schlechte Option sind?

AM: Lenin hatte eine Ansicht darüber, wie der neue Staat eingerichtet werden sollte, Stalin hatte eine andere.
Laut Lenin sollte dies die UdSREuA sein – die Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens. Diese Konstruktion unterstützte Leo Trotzki. Sie entsprach den Zielen der Komintern, also der künftigen Weltrevolution.
Stalin schlug eine alternative Option vor: Alle Republiken sollten als autonom Regionen Teil Rußlands werden, ohne Austrittsrecht.
Das heißt, die UdSSR erwies sich als Kompromiss zwischen der UdSREuA und der RSFSR.“

Die Leninsche Konstruktion bleibt in diesem Gespräch unklar. Es scheint, daß er noch mehr Teilrepubliken vorgesehen hätte, wobei Rußland noch weniger Gewicht gehabt hätte, und alles mit Austrittsrecht.
Demzufolge ist es nur Stalin zu verdanken, daß die UdSSR überhaupt 70 Jahre bestehen konnte.
Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, daß dieser Unions-Gründungsvertrag der SU zum Vorbild für die Verfassungen Jugoslawiens (von 1974) und der Tschechoslowakei wurde.

„PP: Lenin war Maximalist, er glaubte, dass wir weiter expandieren würden, dass es eine »Republik Zemshara« (= Erdkugel) geben würde. Stalin bewegten eher taktische Überlegungen.
Ende der 1930er Jahre gestand er: »Was bin ich im Vergleich zu Lenin? Ein bloßes Insekt.« Das sagte er in seinem berühmten Trinkspruch am 7. November 1937 in Woroschilows Wohnung.

Im Kaukasus rumorte es

KP: Die Grenzen der Unionsrepubliken – wer zog die?

PP: Formal das Ministerium für Nationalitäten. Das unterstand Stalin. Aber die Koordination ging immer noch über Lenin, über das Zentralkomitee. Es war eine schwierige Aufgabe. Damals wußte niemand, wie man das anstellen sollte.“

Das ist heute noch genauso, nicht nur in Rußland.

„Sie zogen sie ungefähr dort, wo die ethnische Mehrheit war. Und später wurden die Grenzen noch ein paar Mal geändert.

KP: Damals gab es noch die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (TSFSR). Es umfasste Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Abchasien.

AM: Ja. Sie gehörte zusammen mit Weißrussland, der Ukraine und der RSFSR zu den vier Gründern der UdSSR. Die Bolschewiki glaubten, dass die Vereinigung Transkaukasiens in der TSFSR notwendig sei, um dort nationalistische Aufstände zu verhindern. Dies war die unruhigste Region. Der armenisch-aserbaidschanische Krieg von 1918 bis 1920 bereitete große Sorgen. Damals gab es Massaker und ethnische Säuberungen.

Lenin blendete die Ukraine

KP: Wie kamen sie auf die Idee, ganz Neurußland an die Ukraine zu übergeben?

AM: Auf Beschluss Lenins. Die Ukrainische SSR wurde 1919 auf einem Kongress in Charkow (der Hauptstadt der damaligen Republik Donezk-Kriwoj Rog) proklamiert. Es wird traditionell so angesehen, dass sie auf dem Territorium von Kleinrußland gebildet wurde. Aber in Wirklichkeit umfasste sie auch den größten Teil von Neurußland – das Gebiet von Chisinau bis Lugansk, d.h. die gesamte Schwarzmeerküste und die Küste des Asowschen Meeres.“

Hier ist natürlich auch eine gewisse Geschichtsklitterung bzw. Verlegenheit zu beobachten, denn dieses Gebiet war damals umstritten zwischen den Machnowzy, Kosaken und den Interventionsarmeen. Die Kongreßdelegierten in Charkow vertraten also ein Territorium, das sie nicht kontrollierten.

„Sehen wir die Fakten an: Im Januar 1918 unterzeichneten Vertreter der ukrainischen Zentralrada einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland und Österreich. Die Besetzung der Ukraine begann. Bis Mai besetzten sie das Territorium der Sowjetrepublik Donezk-Krivoy Rog, Teile von Taurien und der Volksrepublik Odessa vollständig. Aber als nach der Kapitulation Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg die Gebiete befreit wurden, verbot Lenin kategorisch ihre Rück-Eingliederung in das Territorium Rußlands. Er bestand darauf, sie der Ukraine anzuschließen.
Und sobald die Ukrainische SSR gegründet wurde, begann das, was als Politik der Ukrainisierung („Verwurzelung“) in die Geschichte eingegangen ist. Das heißt, die übereilte Schaffung der „ukrainischen Sprache“ und ihre gewaltsame Einführung.
Charkow blieb übrigens bis 1934 Hauptstadt der Ukraine.

Die nationale Frage

KP: Wer zog die Grenzen innerhalb der Russischen Föderation?

AM: Am Tag, nachdem die Welt von der Gründung der UdSSR erfahren hatte, schrieb Lenin in sein Notizbuch:
»Internationalismus … sollte nicht nur in der Einhaltung der formalen Gleichheit der Nationen bestehen, sondern auch in einer solchen Ungleichheit, die seitens der Unterdrückernation, einer großen Nation, die im Leben tatsächlich entstehende Ungleichheit kompensieren würde.«“

Das heißt also als Antwort auf die eigentlich unbeantwortete Frage: Die anderen Republiken wurden auf Kosten der russischen Föderation bevorzugt, in strittigen Fragen entschied man gegen russische Bevölkerungsmehrheiten.

„KP: Hat die nationale Frage als Ergebnis die UdSSR zum Einsturz gebracht?

AM:  Stalin hat vor dieser Gefahr gewarnt. Er wies darauf hin, dass es notwendig sei, dem Spiel der »nationalen Unabhängigkeit« ein Ende zu setzen, alle Republiken fest Moskau unterzuordnen und sie in Zukunft insgesamt zu liquidieren und einen einheitlichen Sowjetstaat zu schaffen.
Lenin kritisierte diesen »stalinistischen Plan«. Und sehr scharf …

KP: Wieso denn?

PP: Lenin hatte wirklich Angst vor russischem Großmachts-Chauvinismus. Deshalb wurden nicht nur angestammte Territorien Rußlands abgetrennt, sondern Rußland war auch das einzige Mitglied der Föderation, das im Gegensatz zu anderen Republiken weder eine eigene Kommunistische Partei noch eine Akademie der Wissenschaften erhielt.

Was wäre geschehen, wenn es keinen (II. Welt-)Krieg gegeben hätte?

KP: Die UdSSR hatte eine Vielzahl großartiger Errungenschaften. Hätten wir ohne diese den Großen Vaterländischen Krieg gewinnen können?

PP: Ohne sie hätte es keinen Krieg gegeben. Denn statt eines riesigen Landes hätte es 30-40 kleine Staaten gegeben. Russland wäre in verscheidene Gebiete zerrissen worden, die Satelliten anderer Mächte gewesen wären. Die Ukraine oder Georgien wären wie Rumänien oder Ungarn unter deutschen Einfluß geraten.
Der Ferne Osten wäre den Amerikanern und den Japanern zugefallen. Der Kaukasus wäre pro-türkisch und Karelien gehörte zu Finnland. Weißrussland wäre Teil Polens geworden. Mit einem Wort, es hätte niemanden gegeben, der (durch Deutschland) zu bekämpfen gewesen wäre.

KP: Und was wäre von Russland übrig geblieben?

PP: Das großrussische Kernland. Wie unter Iwan dem Schrecklichen – bis zur Wolga. Rundherum 30 bis 40 Staaten. Zentralasien wäre unter britischen Einfluss geraten. Nun, mit wem soll man kämpfen? Es wäre eingenommen worden, ohne daß es jemand bemerkt hätte.
Die Sowjetunion hingegen schuf einen Superstaat.

Der Westen zwang uns, Großmacht zu werden

KP: Die Industrialisierung, der GOELRO-Plan (des Staatlichen Elektrifizierungs-Ausschusses) gilt als Errungenschaft der Sowjetunion.

PP: Die UdSSR hat hier nichts erfunden. Alle großen Infrastrukturprojekte der Welt wurden unter der Führung des Staates oder durch die Streitkräfte des Staates durchgeführt. Nur der konnte es tun.

KP: Sind Sozialleistungen auch ein Verdienst des Sowjetstaates? Schulen, Kliniken, ein Achtstundentag…

PP: Die Sowjetunion übernahm das deutsche System, dass der Staat eine strenge Bildungs-, Gesundheits-, Sanitärpolitik betreiben sollte …
Lenin verstand, dass Fabriken gebildete Arbeiter brauchen, Armeen gebildete, gesunde Soldaten brauchen.

KP: Die Monarchisten behaupten, dass sowohl GOELRO als auch die allgemeine Alphabetisierung Pläne von Nikolaus II. waren, die die Bolschewiki einfach kopiert haben.

PP: Alles hat seine Zeit. Vielleicht hatte dieser Zar Pläne, aber er war zu spät dran.
In Deutschland begann die Zentralisierung von Bildung und Gesundheit in den 1870er Jahren. Rußland war genötigt, dies in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts durchzuführen. Die Transsibirische Eisenbahn war eine gute, richtige Idee. Aber es hätte in den 1870er Jahren geschehen sollen, nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir hätten Millionen von Bauern aus Zentralrussland umsiedeln und eine Revolution vermeiden können. Die verschiedenen Zaren dachten sich viel aus, aber alles war 20–30 Jahre zu spät.

KP: Die UdSSR war doch bei vielen Dingen Pionier. Sie schickte einen Menschen in den Weltraum. Sie erfand die Wasserstoffbombe. Liegt das auch nur an der Rivalität mit dem Westen?

PP: Konfrontation bringt immer viel hervor. Aber wenn Lenin länger gelebt hätte, hätte sich das Land höchstwahrscheinlich mehr in eine konsumorientierte Richtung entwickelt.
Die NEP wäre nicht eingeschränkt worden, viele Leben wären gerettet worden, es hätte nicht so schreckliche Repressionen gegeben.
Andererseits gäbe es keine große Industrialisierung, keine Großindustrie. Russland wäre ein mäßig entwickeltes Land. Und wir wissen nicht, ob es die Randgebiete in seinem Staatsbestand gehalten hätte.

Opfer hätten vermieden werden können

KP: Die UdSSR hatte aber auch viele unerfreuliche Züge. Das Gulag, die totale Gleichmacherei, weitverbreitete Armut. Und all dies führte zum Totalitarismus und der Apathie in der Bevölkerung.

PP: Das ist eben der industrielle Durchbruch, für den unser Staat bezahlt hat. Wenn man in 20 Jahren den Weg zurücklegen muß, der in 50 bis 100 Jahren schrittweiser Reformen zurückgelegt werden müsste, so sind Opfer unausweichlich.
Es gibt ein russisches Modell der staatlichen Führung: Es schwankt ständig wie ein Denkmal, zwischen Stagnation und Akkordarbeit. Die ganze Geschichte des Landes ist so aufgebaut. Peter I. übertraf in seinen Reformen sogar Stalin in Bezug auf menschliche Verluste. Aber Stalins Problem ist, dass dies vor unseren Augen geschah.

Gibt es die Möglichkeit einer Wiedervereinigung?

KP: 1991 fand der Zusammenbruch der UdSSR statt. Aber wurden nicht die slawischen Schwestern – Russland, Ukraine und Weißrussland – künstlich auseinanderdividiert?

PP: Seien wir ehrlich: Die Spaltung zwischen Russland, die Ukraine und Weißrussland fand nicht 1991 statt, sondern im 15. und 16. Jahrhundert, als ein Zweig des russischen Volkes zum Moskauer Zarenreich wurde und die anderen beiden Teil der litauisch-polnischen Republik. Damit war alles entschieden. In der UdSSR und sogar in der späten Zarenzeit versuchte man, die Unterschiede auszugleichen, aber das Vermächtnis eines getrennten Lebens im Laufe von zwei oder drei Jahrhunderten erfüllte seine Aufgabe, vor allem bei den Eliten.
Die Eliten der Ukraine hatte unter den Polen eine lediglich untergeordnete Position – das inspirierte die ukrainischen Intellektuellen, sich als eigene Nation zu emanzipieren.“

Das ist nicht ganz richtig, weil Teile der Ukraine – Sumi, Tschernigow, später Kiew – gehörten zum Zarenreich, und auch dort wurden die Eliten nur dann anerkannt, wenn sie sich assimilierten (=> Emser Dekret).

„KP: Aber warum hat dann die Sowjetunion selbst die Ukrainisierung der Ukraine so heftig propagiert?

PP: Man muß sich vor Augen halten, dass die Westukraine in den 1920er und 1930er Jahren in Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien gelandet ist. Und die Bolschewiki mussten den Menschen, die dort gelandet waren, die »vorbildliche Ukraine« als Beispiel zeigen. »Unterdrücken dich die Polen, lassen dich nicht Ukrainisch sprechen? Aber daneben ist die wunderbare Ukraine, wo die Ukrainer alles haben.«

KP: War das in Weißrussland auch so?

PP: Teilweise. Denn ein Drittel von Weißrussland landete auch in Polen. Bitte beachten Sie, dass es in anderen Republiken der UdSSR keine so aggressive Förderung des Nationalismus’ gab.

Wir erinnern uns an Stabilität

KP: Warum denken so viele Menschen mit Nostalgie an die UdSSR zurück?

AM:  Damals waren die Spielregeln klar und die Menschen konnten ihr Leben planen. Niemand in der UdSSR kannte den chinesischen Fluch: »Mögt ihr in einer Zeit des Wandels leben!« Einer der Verdienste der UdSSR war das Vertrauen in die Zukunft. Und die Menschen werden von Stabilität angezogen.

PP: Das ist ein sehr wichtiges psychologisches Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Wenn man nicht darüber nachdenken muß, ob man morgen seine Familie ernähren kann.

KP: Für welche spezifischen Jahre sind die Menschen so nostalgisch?

PP: Natürlich sehnen sie sich nach der Breschnew-Ära. Die Menschen erinnern sich an die Zeit, in der sie selbst gelebt haben, als es keine großen Kriege und Repressionen gab – das sind die 60er, -70er Jahre, die erste Hälfte der 80er Jahre. Das war die Blütezeit der Sowjetunion. Die Menschen waren überzeugt, dass morgen besser sein wird als heute. Damals gab es diese Überzeugung.

Die letzte Utopie

KP: Was war also die UdSSR? Ein grandioses tragisches Experiment? Oder eine Ära großer Errungenschaften?

PP: Vielleicht war sie die letzte Utopie der Welt, die gut anfing.
Niemand – weder Marx noch Engels und vor allem Lenin – dachten nicht, als sie über den Übergang zum Sozialismus sprachen, daß dieser so viele Opfer fordern würde. Die UdSSR begann zu früh. Sie wurde auf der Grundlage eines sehr armen, analphabetischen Bauernlandes ausgerufen – in eine Gesellschaft, die diese Umgestaltung schwer annahm. Und vieles lief von Anfang an schief. Alles musste laufend geändert werden, man lebte dauernd auf Abruf. Lenins Traum von einer sozialistischen Weltrepublik musste schnell aufgegeben werden. Dann wurde die NEP aufgegeben … Ja, es war ein Experiment. Aber ein großartiges, nicht ohne einen gewissen Zauber.