WARUM ITALIEN? – TEIL 7
Zu den bisherigen Vermutungen, warum es Italien so erwischt hat,
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander
haben sich inzwischen in den Medien weitere gesellt: Fußballspiele der UEFA (Atalanta Bergamo gegen Valencia), und der Smog, der in den Industrieregionen der Poebene ähnlich wie in Chinas Coronavirus-Zentrum Wuhan herrscht.
Während das Fußballspiele unter Großveranstaltungen fallen, überall stattfinden und bestenfalls die besondere Konzentration in Bergamo erklären können, ist die Sache mit dem Smog weitere Überlegungen wert.
1. Smog in London
Als klassisches Land des Smogs, wo der Begriff (Rauch+Nebel) erfunden wurde, gilt Großbritannien, speziell London. Die großen Smog-Wellen, die die Sterblichkeitsrate in die Höhe schießen ließen und teilweise das öffentliche Leben lähmten, gingen außer dem Nebel auf die Kombination von Kohleheizungen und mit Kohle betriebenen Kraftwerken auch auf den wachsenden Straßenverkehr zurück. Dabei spielte eine wichtige Rolle, daß in London nach 1945 die Straßenbahnen durch Busse ersetzt worden waren.
Die „Smogkatastrophe von 1952“, die über 4.000 Menschen das Leben kostete, wird so beschrieben:
„Am Abend des 5. Dezember 1952 verdichtete sich plötzlich der Nebel … In den folgenden Tagen war es sogar für Fußgänger unmöglich, sich zurechtzufinden. Viele sonst ortskundige Menschen verirrten sich. Autofahren war unmöglich, selbst wenn jemand mit einer Lampe dem Auto voranging. … Der Smog wurde so dicht, dass die Sicht fast auf »Null« zurückging. Augenzeugen berichten, dass Menschen, die an sich herab blickten, alles, was unterhalb ihrer Taille war, nicht sehen konnten … Der Smog drang auch in die Gebäude ein, so dass Kino- und Theatervorführungen abgesagt werden mussten, weil Leinwände oder Bühnen aus dem Zuschauerraum nicht mehr zu sehen waren. Andererseits hätten aber auch die Menschen den Weg dorthin nicht mehr gefunden.“ (Wikipedia, Smogkatastrophe 1952)
Ab Mitte der 50-er Jahre wurden daher Gesetze für saubere Luft erlassen und sonstige Maßnahmen gesetzt, um die Luftqualität zu verbessern. Unter anderem begann damals ein schrittweiser Wechsel von dem klassischen Energieträger Kohle zu den zumindest vom Standpunkt der Luftverschmutzung „saubereren“ Energieformen Atomkraft, Erdöl und Erdgas. Das Heizen mit Feststoff-Öfen aller Art wurde untersagt. Großbritannien war führend in Filtertechnik für Kohlekraftwerke, bis sich herausstellte, daß auch die Verflüssigung von Schadstoffen das Problem nur auf eine andere Ebene verlagerte.
Heute gilt das Smog-Problem in Großbritannien als gelöst, was nicht heißt, daß in London inzwischen reine Luft wäre. Aber die Schäden, die inzwischen noch auftreten, werden zumindest von den Gesetzgebern als gesellschaftlich tragbar eingestuft.
Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Londoner Luft – und der in anderen britischen Großstädten – war sicher die großflächige Stilllegung der Kohleförderung im UK. Damit wurde die Kohle als Verschmutzungsfaktor an den Rand gedrängt.
Ähnliche Entwicklungen gab es in anderen Regionen Europas, wo klimatische Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Zunahme von Industrie und Verkehr Smogprobleme und infolgedessen ein Ansteigen der Atemwegserkrankungen verursachten. Zuletzt ist die Problematik als „Feinstaub-Belastung“ rund um den Dieselskandal wieder in den Medien breitgetreten wurden.
2. Smog in China
China besitzt auf seinem Territorium nur einen einzigen Energieträger, nämlich Kohle. Deshalb baute sowohl die in den 50-er Jahren einsetzende Industrialisierung als auch die Beheizung der Städte – mit Fernwärme – auf Kohlekraftwerken auf.
Solange geplante Industriestädte auf der grünen Wiese erbaut und mit den vorgesehenen Fabriken und Kraftwerken versehen wurden, gab es kein Problem der Luftqualität. Selbst wenn sie einmal nicht so toll war, nahmen das die Betroffenen mit Gelassenheit, und es ging bald wieder vorbei.
Man darf nicht vergessen, daß die chinesische Bevölkerung bis hoch in die 80-er Jahre sehr immobil war. Wohnorte und Arbeitsplätze wurden zugeteilt und das System der Lebensmittelmarken verhinderte unbegründete Ortsverlagerungen. So spielte auch der Verkehr keine besondere Rolle als Umweltbelastung. Über Land fuhr man – sofern es einen guten Grund gab, wie Studium oder Beruf – mit Zügen. In der Stadt dominierte das umweltfreundliche Fahrrad.
Diese idyllischen Verhältnisse änderten sich, als die Reformen in Richtung Marktwirtschaft begannen. Chinas Städte wuchsen schnell und unkontrolliert an. In den Vorstädten entstanden informelle Viertel, die mit Kohleöfen heizten. Der Verkehr nahm zu, die Privatautos begannen, die Straßen der Städte zu verstopfen. Sogar im öffentlichen Verkehr stiegen viele auf Busse um, weil die überall hinfahren konnten, wo es keine Bahnverbindungen gab.
In der allgemeinen Euphorie des Fortschritts und der plötzlich gewonnenen Bewegungsfreiheit wurden lange keine Maßnahmen gesetzt, und die Luftverschmutzung stieg und stieg. Die Leute setzten Masken auf und zuckten mit den Schultern. Die Behörden hatten Wichtigeres zu tun, und bald nach der Jahrtausendwende war China nahe den Londoner Zuständen von 1952, nur in mehr als 10 Städten gleichzeitig. Aufgrund der Größe des Problems hatte das sogar weitergehende Folgen:
„In China befinden sich nach Aussicht der Weltbank zufolge sechzehn der zwanzig Städte mit der stärksten Luftverschmutzung der Welt. Für das Klima in der Region und darüber hinaus hat das gravierende Folgen, wie aktuelle Studien zeigen. … Einer … Studie zufolge hat dieser Effekt in einer nordchinesischen Bergregion die Regenfälle in den letzten fünfzig Jahren um ein Fünftel zurückgehen lassen.“ (Stern, 14.3. 2007)
Die Smogproblematik gefährdete also nicht nur die Gesundheit vieler Millionen Menschen, sondern trug auch zur Versteppung und Verwüstung des Nordwestens Chinas bei.
Die politische Führung setzte den Umweltschutz auf die Tagesordnung. Und gegenüber den 3 Hauptverursachern – Industrie, Verkehr, Heizung – wurden im letzten Jahrzehnt einschneidende Maßnahmen gesetzt: Seit Jahren baut China Wasser-, Wind- und Sonnenenergie aus. Die Schadstoff-Grenzwerte wurden gesenkt bzw. oft überhaupt erst eingeführt, Filteranlagen montiert und viele Industrien und Kraftwerke zugesperrt, die diesen Werten nicht genügten. Mit dem Abschluß von Erdgaslieferverträgen mit Rußland werden ständig Fernwärmekraftwerke von Kohle auf Gas umgestellt. Bei der Ansiedlung neuer Betriebe werden Umweltverträglichkeitsprüfungen gefordert, und Industrieanlagen sollen vermehrt aus Ballungsgebieten in weniger dicht besiedelte Gebiete verlegt werden.
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Hochgeschwindigkeitszüge dienen nicht nur der Beförderung der Mobilität, sondern auch dem Ziel, sie umweltverträglicher zu machen. China hat auch den Startschuß gegeben für die Elektroauto-Erzeugung, die die Verbrennungsmotoren ersetzen soll.
Das alles geht natürlich bei den Dimensionen dieses Staates und der Produktion, die dort stattfindet, nicht von heute auf morgen.
3. Wuhan
Die Existenz und die Größe Wuhans verdankt sich seiner Lage. Es liegt am Großen Fluß, dem wichtigsten Verkehrsweg Chinas, und an der Einmündung eines wichtigen Nebenflusses. So entstanden die 3 Städte, die Wuhan ausmachten, als Handelszentrum zwischen den gebirgigen westlichen Provinzen Chinas, die das Einzugsgebiet des Jangtse ausmachen und der Region um Shanghai, der großen Handelsmetropole.
Fast genauso wichtig wie die West-Ostverbindung ist für Wuhan die Nord-Süd-Verbindung: Durch Wuhan geht der historische Verkehrsweg, der Peking mit Kanton verbindet, also die wichtigste Nord-Süd-Verbindung Chinas. Deshalb wurde die erste feste Brücke über den Jangtse im Jahr 1957 mit sowjetischer Hilfe erbaut – in Wuhan.
Die zentrale Lage Wuhans ließ es auch im 20. Jahrhunderts im Krieg gegen die Japaner und zwischen Volksarmee und Kuomintang zu einer wichtigen militärischen Basis werden, sogar als mögliche neue Hauptstadt war es eine Zeitlang im Gespräch.
Die Vorteile der günstigen Lage ziehen aber auch Nachteile nach sich: Die Lage an den Flüssen (– außer dem Han-Fluß münden auch weitere kleinere Flüsse in der Nähe ein –) führte zu häufigen und sehr heftigen Überschwemmungen, sogar in jüngerer Vergangenheit. Die Überschwemmungsgefahr des Jangstekiang wurde durch den 3-Schluchten-Damm sehr verringert, aber er ist nicht das einzige Wasser, das sich Richtung Wuhan ergießt.
Außerdem führt die Lage am Wasser – außer Flüssen gibt es in und um Wuhan jede Menge Seen – zu einer hohen Luftfeuchtigkeit, die es im Zusammenhang mit der Luftverschmutzung in der kalten Jahreszeit zu einer idealen Brutstätte für Smog macht.
Der Einwohnerzahl nach gehört der Großraum Wuhan zu den großen Ballungszentren Chinas: In dem als „Innenstadt“ definiertem Gebiet leben 8 Millionen Menschen, im Großraum Wuhan mehr als 10,5 Millionen. Unter den Städten Chinas nimmt es nach Einwohnerzahl den 6. Rang ein.
„Die Stadt ist der industrielle Schwerpunkt Mittelchinas und hat die für chinesische Millionenstädte typische Mischung aus Produktionsbetrieben vieler Branchen, u. a. Motoren-, Schiffs-, Fahrzeug- und Maschinenbau, Zementfabriken, Textilwerke, chemische Werke, Papierherstellung, ein Aluminiumwerk sowie eine … Brauerei.“ (Wikipedia, Wuhan)
So kam zu dem Markt, von wo der Coronavirus angeblich seinen Ausgang nahm, ein vom Standpunkt des Virus ideales Milieu, wo sich erstens das Virus schnell ausbreiten konnte, aber zweitens in Wuhan Atemwegserkrankungen sowieso schon verbreitet waren, das Immunsystem der dortigen Menschen geschwächt, und deshalb auch eine durch erhöhte Medikamente-Konsum für dergleichen Infektionen anfällige Bevölkerung vorhanden war.
4. Die Poebene
a) Industrie
Eine der Voraussetzungen für die Industrialisierung Norditaliens war die bereits im Spätmittelalter erfolgte Aufhebung der Leibeigenschaft in verschiedenen norditalienischen Stadtstaaten. Um die Lebensmittelversorgung der Handelsmetropolen sicherzustellen, schufen diverse Fürstentümer bereits im 13. und 14. Jahrhundert einen freien Bauernstand, der mit der Zeit auch ein blühendes Handwerk außerhalb der Städte zustande brachte, sehr im Unterschied zu den süditalienischen Provinzen, wo der Großgrundbesitz bis heute vorherrscht und jede wirtschaftliche Entwicklung erstickte.
Diese Entwicklung wurde noch beflügelt durch die österreichische Herrschaft, wo das Urbarium und die Gewerbeordnung zur Zeit Maria Theresias beide Entwicklungen begünstigten.
Nach der Einigung Italiens baute die königlich-piemontesische Regierung auf diesen Vorbedingungen auf. Die Entscheidung, sich mit den Eliten Süditaliens nicht zu verscherzen und die dortigen Eigentumsverhältnisse zu bestätigen, besiegelte das Schicksal des Mezzogiorno, der seither als Arbeitskräfte-Reservoir für Norditalien dient.
Die weitere Industrialisierung Italiens geschah über den Schulterschluß des bisher vorhandenen Handelskapitals mit den genossenschaftlich organisierten Arbeiter- und Handwerkervereinen Norditaliens. Die Manufaktur und Industrie der Lombardei, des Piemonts und angrenzender Gebiete geschah teilweise von unten, mit Hilfe des traditionellen Bank- und Handelskapitals.
Der Faschismus schuf mit Staatshilfe einen weiteren Schub, und nach dem Krieg wurde die Industrie Norditaliens mit Hilfe des staatlichen Energie-Riesen ENI weiter ausgebaut.
„Die italienische Wirtschaft ist die sechstgrößte auf der Welt und lässt sich am besten mit der von Frankreich oder von Großbritannien vergleichen.“ (ItalienWissen)
(Die entsprechende Kulisse kann man in dem Film „Die rote Wüste“ betrachten.)
Abgesehen von den Textilfirmen sei erinnert an: Fiat, Pirelli, diverse Lebensmittel- und Sportartikel-Firmen, Möbel, usw. Die Berichterstattung der jüngeren Vergangenheit beleuchtet auch diesen Zustand der Wirtschaft der Lombardei:
„Die geschäftstüchtige Stadt Bergamo, bekannt für ihre Chemie- und Baumaterial-Produktion, den Stahlbau, sowie ihre Forschungsinstitute, ist in wenigen Wochen zum Lazarett Italiens geworden.“ (Tiroler Tageszeitung, 22.3. 2020)
b) Natur
Die Poebene ist eigentlich keine Ebene, sondern ein weitläufiges hügeliges Becken zwischen zwei Bergzügen, den Alpen im Norden und Westen und dem Apennin im Süden, des in Form eines Dreiecks in die Adria sozusagen entlüftet, was sich dort sammelt. Über den Nebel, der dort auftritt, kann man sich im Film „Amarcord“ von Fellini einen Eindruck verschaffen.
Die Luftfeuchtigkeit dieser Gegend war lange kein Problem, sondern sogar ein Faktor der Fruchtbarkeit, der die Landwirtschaft beflügelte.
Im Zusammenhang mit der Industrie wurde der traditionelle Nebel jedoch in den letzten Jahrzehnten zu einem bestimmenden Moment der Erkrankung der gesamten Bevölkerung der Poebene.
Das Bild aus Wikipedia zeigt das Ausmaß des Problems sehr deutlich:
Die Krankenhäuser der Lombardei, des Piemonts und Venetiens waren in den letzten Jahren bei der Behandlung der Atemwegs-Erkrankten an den Grenzen ihrer Kapazitäten:
„Letztes Jahr hätte niemand eine schwere Grippesaison erwartet. Und stattdessen: 8,5 Millionen Betroffene in Italien, über 740 schwerwiegende Fälle, 160 direkte und 10 000 indirekte Todesfälle, die mit Komplikationen der Atemwege wie Lungenentzündung und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammenhängen.“ (La Republicca, 26.9. 2018)
Zu diesen Zahlen und Fakten muß man noch hinzufügen, daß mit diesen sozusagen chronischen Erkrankungen, die sich aufgrund der Smog-Zustände ergeben, ebenfalls als chronisch zu bezeichnende Medikamenten-Abhängigkeiten ergeben, die nicht nur das Immunsystem, sondern durch ihre Nebenwirkungen angegriffene Organismen zusätzlich schwächen.
Der Smog Norditaliens ist also mit seinen direkten und indirekten Folgen als eine der wichtigsten Triebkräfte der CV-Pandemie Italiens zu betrachten.
Fortsetzung folgt: Fazit aus dem Bisherigen