So geht Meinungsbildung:

ATTENTATE
werden recht unterschiedlich beurteilt. Abgesehen von dem begriffslos-tantigem „Ach-wie-schrecklich!“, das einem unappetitliche Bilder von zerfetzten Leichen frei Haus liefert, wird dann auch meistens die richtige Sichtweise hinzugefügt, an die sich der entsetzte Betrachter zu halten hat.
Als Breivik sein Attentat in Norwegen verübte, hieß es zunächst: Sicherlich Al-Kaida, diese Bösen vom Dienst, denen man ja alles Schlechte zutraut und deren vermutete Mitglieder man deswegen auch ohne weitere Angabe von Gründen überall auf der Welt erschießen oder in die Luft sprengen darf.
Dann stellte sich heraus, es war ein norwegischer christlicher Neonazi. Oh wie peinlich! Wie konnte es dazu kommen?! Das ganze Land ist betroffen und gibt Solidaritätskundgebungen für seine Regierung ab.
Zweifelsohne steht fest, daß er ein Einzeltäter war. Nein, für so eine verruchte Tat kann er keine Komplizen gehabt haben, das darf einfach nicht sein.
Manche Fragen dürfen offenbar nicht gestellt werden: Wieso war denn der Polizeihubschrauber nicht einsatzfähig? Warum brauchten die Sicherheitskräfte so lange, um auf die Insel zu kommen? Wo hatte Breivik seine Polizeiuniform her? Kriegt man die einfach so im Versandhandel?
Hat er vielleicht Sympathisanten bei der Polizei? Man erinnere sich an den Palme-Mord, wo viel über die rechtsradikalen Sympathien der schwedischen Polizisten ans Tageslicht kam …
Aber inzwischen geht ohnehin nur mehr darum, ob er narrisch ist oder nicht.
Anders ist es in Syrien.
Da gibt es seit Monaten heftige Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen, wo niemand so genau weiß, wer da gegen wen kämpft und warum.
Das heißt, jemand, der die Wahrheit wissen will, kennt sich nicht so wirklich aus.
Die Medien hingegen haben kein Problem: Das „Regime“ schlägt in einer Art Endkampf um sich, alle Toten gehen auf sein Konto, es handelt sich sowieso nur um friedliche Demonstranten und Begräbnisumzüge, die aus purer Perfidie auf Befehl des Diktators Assad und seines nichtswürdigen Clans von den Sicherheitskräften niedergemacht werden.
Die im „Syrischen Nationalrat“ angeblich vereinte Opposition hingegen pflückt nur Gänseblümchen, oder, wenn man sie doch einmal dabei erwischt, jemanden umgelegt zu haben, so war das selbstverständlich Notwehr.
Jetzt gibt es seit einiger Zeit Bombenanschläge in Damaskus. Beim ersten wurde schon gemunkelt, das „Regime“ könnte seine Finger dabei im Spiel haben. Blöderweise gabs dann doch ein Bekennerschreiben oder so etwas ähnliches von einer mit – der übrigens als Organisation längst nicht mehr existenten – Al Kaida symphatisierenden fundamentalistischen Organisation.
(Man erinnere sich an dieser Stelle an den veritablen Krieg, den Bashir Al-Assad 1982 gegen die Moslembrüder in Hama geführt hat, und an den Haß, der seither unter rechtgläubigen Muslimen gegen die Familie Assad und die Aleviten überhaupt besteht. Man erinnere sich auch an den syrischstämmigen Fundamentalisten Mustafa Setmariam, einen der von den USA meistgesuchten Terroristen, auf dessen Kopf 5 Millionen $ ausgesetzt waren und der 2005 von pakistanischen Behörden in Quetta verhaftet und an die USA ausgeliefert wurde. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.)
Aber jetzt, der zweite Anschlag in Damaskus, und noch dazu gegen Polizisten – das kann doch nur von Assad angeordnet worden sein! Warum irgendjemand in der syrischen Regierung ein Interesse daran haben könnte, seine eigenen Polizisten in die Luft zu sprengen, darf man natürlich nicht fragen – die abgrundtiefe Bosheit dieser Leute ist eben undurchschaubar! Weil sonst, so die Logik der Zeitungsschmierer, hätten sie es ja verhindert! Was ein Kinderspiel ist, wie man seit Jahren im Irak und Afghanistan beobachten kann, wo ja solche Bombenanschläge praktisch unbekannt sind.
Jetzt wird sich zeigen, ob die syrische Führung die Verantwortlichen, die das nicht verhindert haben, streng bestraft – tut sie das nicht, so verrät sie damit, daß sie ja in Wirklichkeit selber die Finger im Spiel hat! (Wieviele Sicherheitsbeamte in Norwegen wurden eigentlich zur Verantwortung gezogen?)
Sollte es in den nächsten Tagen ein Bekennerschreiben von irgendwelchen Fundamentalisten geben, so wissen wir schon längst, daß das ein Fake ist, mit dem das syrische Regime davon ablenken will, daß es selber dahinter steckt.
Dann gabs in Damaskus noch eine Solidaritätsdemonstration mit der syrischen Regierung – die ist nicht ernstzunehmen, die ist ja vom Regime organisiert.
Demokratische Pressefreiheit 2012: Es ist empörend, für wie dumm die werten Journalisten ihre Leser und Zuhörer verkaufen.

Pompe funebre

STAATSTRAUER RICHTIG UND FALSCH
Es kommt ja öfters vor, daß wer stirbt. Wir alle sind sterblich. Aber bei den Begräbnisfeierlichkeiten zeigt sich, wer was zu melden gehabt hat auf dieser Welt. Manche Tote waren im Leben wichtiger als andere, und wenn sie gar Machthaber waren, Regierende, also solche, die anderen ihre Lebensbedingungen diktieren, so ist deren Begräbnis ein Staatsakt, der international gewürdigt und kommentiert wird und an dem man ablesen kann, was dieser Mensch im Leben geleistet oder wobei er gestört hat.
An zwei beinahe gleichzeitig verstorbenen Staatsmännern konnte man die Dramaturgie dieser Art von Events schön studieren, und dabei auch entnehmen, welche Moral dem gemeinen Volk verordnet oder verwehrt wird.
Václav Havel
Hier haben wir es mit einem Staatsmann zu tun, der von allen wichtigen Politikern Amerikas und Europas geschätzt wurde, die ihm in Prag in Massen die letzte Ehre erwiesen. An Lob für ihn fehlte es in den Nachrufen wahrlich nicht. Er hat nämlich dazu beigetragen, daß der historische Betriebsunfall des Realen Sozialismus repariert wurde, das falsche Gesellschaftssystem endlich abgedankt hat und die Sonne der Freien Marktwirtschaft auch in Osteuropa aufgehen konnte. Und dazu hat Havel tatsächlich seinen Teil geleistet. Er hat also wirklich nichts als das Gute, Wahre und Schöne befördert. Unter den fast schon peinlichen Elogen an diese Ikone der Demokratie und der Menschenrechte sei nur der gedichtete Nachruf Jewgenij Jewtuschenkos erwähnt, der ihn mehr oder weniger als Messias der Freiheit anruft und an seinem Grab die Schatten all derer aufmarschieren läßt, die für die Verbrechen des Sozialismus stehen.
Hingegen
Kim Jong-il,
dem weint außerhalb Nordkoreas wirklich keiner nach! Gerade daß die westlichen Zeitungen nicht schreiben: Endlich! Nur ein toter Kommunist ist ein guter Kommunist! Aber in die Freude über den Tod des „Diktators“ mischt sich die bittere Einsicht, daß dieses verwerfliche Regime dort weiterbesteht. Die „einzige kommunistische Dynastie der Welt“ sorgt für die Kontinuität dessen, was eigentlich nicht sein soll. Die Befürchtungen, daß der unerfahrene junge Mann, der jetzt „Alleinherrscher“ über ein Land mit Atomwaffen wird, Mist baut, sind gemischt mit dem Ärger, daß er offenbar so allein nicht ist, sondern eine Staatspartei hat, die hinter ihm steht. Und nicht nur die Partei, sondern auch das Volk, das sich in Trauerbezeugungen über das Ableben des geliebten Führers geradezu überbietet: „hysterisch“ sind sie, weil was gibt es denn da zu trauern?! Es wird auch sauer vermerkt, daß keine Trauergäste aus dem Ausland geladen wurden – es wäre ja auch niemand hingefahren, weil ja wie gesagt, niemand unter den Staatsmännern der Welt trauert um Kim Jong-il, – aber dieser Mangel an Etikette wird auch fein säuberlich vermerkt: Dieses Land gehört einfach nicht zur zivilisierten Welt! Schluchzende Nordkoreaner sind entweder „inszeniert“, wie ja die ganzen Trauerfeierlichkeiten überhaupt – im Unterschied zu anderen Staatsbegräbnissen, wo ja anscheinend die Toten ohne viel Federlesens in die Grube geworfen werden – oder die Leute sind – dieser Generalverdacht besteht ja immer gegenüber den Nordkoreanern, die nicht einmal die zur Standardausstattung eines „kommunistischen“ Staates dazugehörenden Dissidenten hervorbringen – einfach entartet, kommunistisch verseucht bis in die Knochen.
Ein schönes Beispiel für diese beispiellos dumme Berichterstattung findet sich im Artikel des Standard vom 28.12., der seinerseits von einer Agentur stammt und offenbar die Minimalvorgabe ist, an dem sich jedes Kasblattl orientiert.
Die Zeremonie war nicht nur „inszeniert“, sondern auch noch „pompös“ – sowas! Gleich wird auch noch erwähnt, daß Korea Atommacht ist – als ob das bereits irgendwelche Standards für den Ablauf von Begräbnissen vorgeben würde. Das Auto, das dem Konvoi vorausfährt, hat ein Bild des Verstorbenen auf dem Dach – laut Standard ist dieses Bild nicht überlebensgroß, wie das für solche Anlässe angemessen ist, sondern „überdimensional“.
Die tagelange „Massentrauer“ – mehr Personen als den Familienmitgliedern gesteht der Standard Trauergefühle offenbar nicht zu – war natürlich „organisiert“. Damit wird suggeriert, daß die Nordkoreaner natürlich niemals freiwillig trauern würden, sondern mehr oder weniger dazu gezwungen werden müssen. (Man fragt sich, wie? Tränen auf Knopfdruck – im Kommunismus kein Problem! Wahrscheinlich handelt es sich ohnehin um Tausende von unterirdisch hergestellten Robotern, die wir da sehen …) Und das alles trotz Schneefalls, das kann doch nicht echt sein! Manche der Trauernden weinten „zügellos“, also das auch noch! Sie wissen sich einfach nicht zu benehmen, diese Anti-Bürger.
Den Leichenwagen begleiteten der Sohn und der Bruder des Verstorbenen, und dann auch noch der Stabchef der Armee. Sehr überraschend ist das nicht. Dennoch schließt der Standard daraus orakelhaft auf die „künftigen Machtverhältnisse“.
Die Trauerfeier ist der des Vaters des Verstorbenen abgekupfert – nicht einmal improvisieren können die dort! Dabei wird der Sarg „in einer Prozession durch Pjöngjang geführt“. Das haben sie sich sicherlich bei uns abgeschaut, – wo es ja ähnlich zugeht. All das sind natürlich Insiderinformationen aus erster Hand – aus Südkorea. Und man erfährt nebenbei, daß Nordkorea doch nicht so isoliert ist, wie man es gerne hätte, da China „nach wie vor gute Kontakte“ zu Nordkorea „pflegt“. Grrr!
Nordkoreanische Regimegegner – es gibt sie doch, sie leben aber in Südkorea, sind also propagandistisch nur bedingt brauchbar – schicken Umsturzaufrufe mit $-Scheinen per Luftballon nach Norden.
Wenn wer die Scheine einlösen will, wird er/sie wahrscheinlich draufkommen, daß sie gefälscht sind.
Das alles, was in Nordkorea vor sich geht, inklusive dieses Begräbnisses, hat übrigens – entgegen der Propaganda – mit Kommunismus nichts zu tun.

Nachruf auf Václav Havel

DIE SCHÖNE SEELE DER FREIHEIT IN OSTEUROPA GEHT VON UNS
Was ist bzw. war ein „Dissident“?
Der Begriff Dissident „(von lat. dissidere „nicht übereinstimmen, getrennt sein, widersprechen“), auch Systemkritiker, bezeichnet einen Andersdenkenden.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Dissident)
Damit wurden nach 1945 alle Personen, die mit den Zuständen im ehemaligen sozialistischen Lager unzufrieden waren, in einen Topf geworfen und für „uns“, die Demokratie, die beste aller möglichen Welten vereinnahmt. Mit „Dissident“ wurden nur die Kritiker des falschen Systems bezeichnet – Regimegegner in Lateinamerika, wie Neruda, oder in Afrika, wie Mandela, kamen nicht in den Genuß dieser Hofierung. Wer im Westen als Dissident anerkannt war, bekam eine gute Presse, und galt fraglos als ein Vertreter „unserer“ Werte. Es gab manchmal kleinere Mißtöne, wie im Falle Solschenizyns, der bald nach seiner Ausbürgerung öffentlich bekanntgab, daß er das westliche System – Konsumismus, keine spirituellen Werte! – auch für Scheiße hielt, aber da war in der Gestalt Sacharows schnell ein Ersatz gefunden, an dem man weiter die Unmenschlichkeit des kommunistischen „Systems“ anprangern konnte.
Man muß erwähnen, daß die Gründe, aus denen die verschiedenen Gegner des Realen Sozialismus zu solchen wurden, der westlichen Öffentlichkeit herzlich wurscht waren. Ob sie, wie Solschenizyn, die Abkehr vom Glauben und seinem Wertesystem beklagten, wie Sacharow mit dünner Stimme auf die Einhaltung der Menschenrechte beharrten, wie Milovan Djilas eine wahrhaft sozialistische Gesellschaft ohne „neue Klasse“ der Bürokratie anstrebten, oder wie Jacek Kuron ein „Komittee zur Verteidigung der Arbeiterklasse“ (KOR) einrichteten, tat ihrer Klassifizierung als Dissident keinen Abbruch.
Vor 1989 waren sie bloße nützliche Idioten der demokratischen Propaganda und, sofern sie ihren Staaten den Rücken kehrten und „rübermachten“, Aushängeschilder der demokratischen Meinungsfreiheit, die bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit das Loblied des Pluralismus singen durften.
Ihre große Stunde schlug jedoch mit dem Systemwechsel 1989, als sie sich auf einmal als die Wir-haben-es-immer-schon-gesagt-Kronzeugen westlicher Werte zu den Anführern der Implantierung des Kapitalismus in Osteuropa machen wollten und durften. Die zu Staatsmännern aufgestiegenen Systemkritiker vereinigten besonders glaubwürdig den Idealismus des Humanisten mit dem Realismus des Politikers, der im Namen höherer Werte seiner Bevölkerung die Scheidung in Arm und Reich, in Proletarier und Kapitalisten verordnete.
Niemand jedoch verkörperte diese Karriere reiner als Václav Havel.
Vom Dramatiker zum Dissidenten
Havel entstammte einer großbürgerlichen Familie, deshalb wurde ihm in der sozialistischen Tschechoslowakei der Zugang zur höheren Bildung verwehrt. Als Autodidakt und nach Absolvierung eines Fernstudiums begann er Theaterstücke zu schreiben. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings erhielt er Publikationsverbot und wurde mehrmals inhaftiert. Er war einer der Mitinitiatoren der „Charta 77“, deren Mitglieder sich für die Einhaltung der Menschenrechte in der Tschechoslowakei einsetzten, und deshalb von der tschechoslowakischen Regierung als Staatsfeinde behandelt wurden. „Menschenrechte“ hieß für deren Verteidiger in der Tschechoslowakei vor allem: Zulassung von Rockmusik, Dichtung und anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Die Charta 77 wendete sich gegen deren „Gängelung“ und strafrechtliche Verfolgung.
Der Inhalt der Kritik von Václav Havel am sozialistischen System war vor allem philosophischer Natur: Er wendete sich gegen die Realität der vom sozialistischen System verkündeten Ideale, und bezichtigte die Politiker der Heuchelei. Er warf ihnen vor, sie predigten Wasser und tränken Wein. Dieses langweilige Evergreen untertäniger Meckerei, die übrigens systemübergreifend ist, ist eine rein moralische Kritik an den Zielen der Machtausübung, die sie an ihren eigenen Kriterien mißt und für zu leicht befindet. Weder die Ziele des Sozialismus und deren unbestreitbare Errungenschaften, wie eine flächendeckende Versorgung und Bildung der Bevölkerung, noch deren häßliche Seiten und Widersprüche waren für ihn Thema, sondern das Auseinanderklaffen von Ideal und Realität: Seine Kritik arbeitete sich unter anderem daran ab, daß z.B. die Tschechoslowakei wie alle sozialistischen Staaten den Frieden propagierte, und gleichzeitig eine beachtliche Rüstungsindustrie unterhielt.
Um den Fehler dieser Art von Kritik kurz zu skizzieren:
Warum unterhielt die Tschechoslowakei eine solche gewaltige Rüstungsindustrie, während sie gleichzeitig das Ideal des Friedens propagierte?
War es, um den Sozialismus zu verteidigen, oder diente sie nicht vielmehr der Erwirtschaftung von Devisen? (Die Tschechoslowakei war der 7-größte Rüstungsproduzent der Welt. Ihre Waffen wurden unter anderem in den Iran und den Irak exportiert, während des zwischen den beiden Staaten von 1980-88 ausgefochtenen Krieges.)
Warum braucht ein sozialistischer Staat unbedingt Devisen? Um beim Klassenfeind Waren einzukaufen?
Warum braucht man die von der westlichen ausgebeuteten Arbeiterklasse erzeugte Waren? Weil man die selber nicht herstellen kann?
Warum kann die sozialistische Ökonomie diese Waren nicht herstellen? Obwohl sie angeblich den Widerspruch zwischen Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen aufgehoben hat?
Hat sie vielleicht andere Widersprüche eingerichtet, die die Produktion behindern? Unter anderem den Hauptwiderspruch, für Versorgung und gleichzeitig mit Geld zu produzieren?
Aber solche Fragen, die auf eine Analyse der bestehenden Verhältnisse hinauslaufen, kommen gar nicht auf, wenn jemand immer nur das Sollen einer besseren Welt gegen das Sein der schlechten Wirklichkeit in Anschlag bringt. Das ist übrigens keine Besonderheit des Dissidententums, sondern gehört zum guten Ton demokratischer Kritik.
Präsident der Tschechoslowakei
Mit Bauchweh – man ist schließlich Intellektueller und nicht Politiker – übernahm Havel zur Zeit der Wende das Präsidentenamt der Tschechoslowakei. Und er setzte einige Maßnahmen, aus denen man ersehen kann, daß Schöngeister nur mäßig für das Amt des Politikers geeignet sind.
Er verkündete eine Generalamnestie. Er ging davon aus, daß alle Menschen, die zum Zeitpunkt der Wende in Gefängnissen saßen, Opfer des sozialistischen Systems waren und sofort freigelassen gehörten. (Es gab zwar einige Einschränkungen für Gewaltverbrecher, aber im Grunde wurden ein Großteil der Häftlinge amnestiert.) Erstens verlor dadurch die Autofabrik Skoda einen Teil ihrer „Mitarbeiter“, die aus Häftlingen bestand, und mußte die Produktion beträchtlich zurückfahren. Zweitens, und das war schlimmer, kümmerte sich Herr Havel & Co. überhaupt nicht darum, was aus diesen Leuten, die durch den Gefängnisaufenthalt aus ihren vorherigen Verhältnissen herausgerissen worden waren, geschehen sollte. Die Amnestie wurde ohne Auffang- und Reintegrationspläne durchgeführt, mit dem Ergebnis, daß jede Menge gescheiterte Existenzen plötzlich auf der Straße standen, ohne Wohnraum und Jobs, und naturgemäß (wieder) kriminell wurden. Sie kamen noch dazu in eine Welt der Entlassungen und der flächendeckenden Verarmung, und verunsicherten den Rest der Bevölkerung. Havel wurde schlagartig unpopulär.
Sein zweiter Beschluß war, die Rüstungsindustrie zuzusperren. Er wollte ein Friedensbringer sein.
Damit ging der einzig konkurrenzfähige Teil der tschechoslowakischen Industrie flöten. Der Rest der Wirtschaft war auch in Nöten, aber dieser Beschluß Havels hatte besonders verheerende Folgen für die Slowakei, wo ein Großteil der Rüstungsindustrie konzentriert war. Die Privatisierungspolitik von Václav Klaus und die friedenstaubenmäßigen Maßnahmen von Havel führten zur Abspaltung der Slowakei, die in der internationalen Presse als Ergebnis der nationalistischen Verbohrtheit der Slowaken dagestellt wurde.
Havels politisches Vermächtnis ist also die Spaltung der Tschechoslowakei, eines Staates, der
1918 in Pittsburgh in den USA von Tomás Masaryk und seinen Haberern gegründet,
1939 von den Nationalsozialisten besetzt und aufgelöst, und
1945 von den Siegermächten des II. Weltkriegs wiedereingerichtet worden war.
Präsident der Tschechischen Republik
Nach der Trennung von der Slowakei 1993 wurde Havel wieder zum Präsidenten der Tschechischen Republik gewählt, ein Amt, das er bis 2003 innehatte.
Er erhielt jede Menge Auszeichnungen und Preise für die Verteidigung von Freiheit und Frieden, und die Einrichtung und Verteidigung der Zivilgesellschaft. Besonders gewürdigt wurde sein Beitrag zur Einigung Europas.
Seinen letzten großen internationalen Auftritt hatte er 2003 kurz vor seinem Rückzug ins Privatleben. Zusammen mit den ehemaligen Dissidenten Adam Michnik (Polen) und György Konrád (Ungarn) befürwortete er eine militärische Invasion des Iraks. Er unterzeichnete damals sogar den „Brief der 8“ (neben Aznar und Blair), die diesen Krieg forderten.
Eine perfekte Karriere eines „Andersdenkenden“: Aus der Friedenstaube wurde ein Kriegstreiber, am Schluß im besten Einvernehmen mit den Chefs der Weltordnung, den imperialistischen Schlächtern von heute.