Über die Pressefreiheit

UNGARNS UMSTRITTENE ZENSURBEHÖRDE
In Ungarn wurde ein Mediengesetz verabschiedet und eine Behörde eingerichtet, die alle Medien ihrer Zuständigkeit unterstellt und mit Geldstrafen gegen diejenigen vorgehen kann, die anstößige Inhalte verbreiten. Sie kann sogar Vorschriften machen, welche Inhalte über die Medien verbreitet werden sollen.
Die einhellige Meinung inner- und außerhalb Ungarns ist, daß dieses Gesetz gegen die Pressefreiheit verstößt. Und das ist zweifelsohne auch so.
Aber ist diese Pressefreiheit etwas so ungefragt Gutes, daß jeder sich für sie stark machen sollte?
Die Pressefreiheit
gilt als große und unumstrittene Errungenschaft der Demokratie: Ihr Inhalt ist kein anderer als der, daß ausschließlich die finanziellen Mittel eines Zeitungsherausgebers, eines Fernseh-Kanal-Betreibers usw. darüber entscheiden, welche Inhalte verbreitet werden können. Die Pressefreiheit unterstellt also die Aufsicht über intellektuelle und künstlerische Inhalte dem Diktat des Marktes, und setzt an die Stelle der seinerzeitigen staatlichen Zensur die Selbstzensur der verantwortlichen Redakteure, Sendungsleiter, usw.
Der staatliche Souverän, die Regierung gibt damit tatsächlich ein Stück ihrer Kontrolle über die geistige Betreuung des Staatsvolkes an die Privatwirtschaft und das nationale Verantwortungsbewußtsein diverser Meinungsmacher und „Medienzaren“ ab. Deswegen, wegen dieses Verzichtes gilt die freie Presse auch – zu Recht – als „4. Gewalt“, und als „Königsmacher“ bei Wahlen.
In letzter Zeit wurde die Pressefreiheit und ihre Wichtigkeit vor allem im Zusammenhang mit den „Enthüllungen“ von Wikileaks strapaziert. Aber die Wortführer der solcherart freien Information übersehen gern das Alltagsgeschäft der freien Presse: „Bild“ und „Sun“, überhaupt die Medienimperien von Springer und Murdoch, die österreichische Krone und dergleichen Medien machen einen weitaus größeren Teil der verbreiteten und konsumierten „Nachrichten“ aus als die Inhalte der sogenannten „seriösen“ Blätter. Ihren Freibrief zur Volksverdummung nützen sie reichlich aus und können auch befriedigt verbuchen, daß die Kasse dabei klingelt. Und, was das Wichtigste ist: Die Regierungen der USA, Großbritanniens, Deutschlands, Österreichs usw. können sicher sein, daß die Meinungsbildung dieser Blätter stets im Einklang mit dem nationalen Interesse und dem der herrschenden Klasse ist.
Auch die sogenannten „seriösen Blätter“ wie das Handelsblatt, die Neue Zürcher, die Süddeutsche, die Presse usw. fühlen sich regelmäßig bemüßigt, wenn sie schon einmal kritisch sein wollen, höchstens die Herrschenden darauf hinzuweisen, daß die eine oder andere Maßnahme dem nationalen Interesse zuwiderlaufen, Probleme verursachen oder unnötig Wähler „verdrießen“ könnte. Damit hat es sich dann auch schon, was das „kritische Potential“ betrifft. Und wie die Griechenland-Hetze im Frühjahr 2010 jedem, der es wahrnehmen wollte, schlagend vor Augen geführt hat: Wenns ums Eingemachte, „unsere Interessen“, sprich: Geld, geht, so unterscheiden sich die großen Massenblätter und die Intellektuellenblattln nur mehr in Nuancen der Ausdrucksweise.
Die freie Presse in Ungarn
Nach 1989 wurde in Ungarn, wie in allen postsozialistischen Staaten, eine freie Presse eingerichtet. Das ging keineswegs so, daß auf einmal ein Startschuß gegeben wurde und man 1000 Blumen blühen lassen wollte. „Freiheit“ hieß, wie im Allgemeinen, die Freiheit des Eigentums – sie wurde in Kraft gesetzt, und die Presse dazu ausersehen, diese zu propagieren. Ausländisches Medienkapital strömte ins Land, übernahm Zeitungen und gründete Fernsehsender. Diese Boten der freien Marktwirtschaft wurden von den ungarischen Regierungen mit offenen Händen aufgenommen und erhielten sehr günstige Bedingungen zum Verbreiten ihrer Botschaften: Springer, Bertelsmann, die WAZ-Gruppe, die Schweizer Ringier-Gruppe, und viele andere waren oder sind auf dem ungarischen Medienmarkt präsent. Manche haben sich seit den stürmischen Gründerzeiten wieder zurückgezogen, weil die Umsätze auf dem doch eher kleinen Markt nicht so toll waren.
Zu dem ausländischen Kapital gesellten sich sehr willige ungarische Mitarbeiter. Gerade die Zeitung der ehemaligen Staatspartei, die „Népszabadság“, machte sich zu einem Wortführer des freien Unternehmertums und auch des Verteidigers der in dessen Interesse ständig anwachsenden ungarischen Staatsverschuldung. Dazu gesellten sich noch ein Haufen Intelligenzblattln, die mit humanistischen Obertönen, Bildungselementen und philosophischem Tiefgang die Marktwirtschaft als Befreiung des Individuums von diktatorischer Gängelung priesen. In die Redaktionsstuben der Zeitungen gelangten oft Leute, die vor 1989 als Zensoren tätig gewesen waren und jetzt diese Tätigkeit frei und verantwortlich nach anderen Inhalten ausübten und ihre Mitarbeiter dabei in der Kunst der Selbstzensur unterwiesen.
Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch noch ausländische Stiftungen und NGOs, die in den 90er Jahren reichlich Stipendien für junge ausländische Journalisten verteilten, und Konferenzen und Seminare organisierten, um der aufstrebenden Generation die richtige Leseart der Pressefreiheit beizubringen.
Diese ganzen freiwilligen und eifrigen Sprachrohre des Kapitalismus und der Demokratie sahen sich natürlich nicht als Agenten fremder Mächte, sondern als verantwortungsvolle Patrioten, die ihr durch sozialistische Mißwirtschaft und Propaganda zurückgebliebenes Land und Volk auf Vordermann bringen wollten. Zu dem passiven Imperialismus – bitte, kommt doch und zeigt uns, wie Ausbeutung effektiv geht! – gesellte sich also auch noch einer auf dem Gebiet der Kultur und Wissenschaft, wo selbsternannte Prediger „europäischer“ Kultur dauernd ihren Landsleuten um die Ohren hauten, daß sie eigentlich praktisch noch im Wald lebten.
Als sich die segensreichen Wirkungen der Marktwirtschaft nicht so recht einstellen wollten, wuchs in Ungarn die Unzufriedenheit auch mit dieser Art von Aufgeblasenheit und Schönrednerei. Leider führte das nicht zu einer Kritik der Marktwirtschaft und ihrer Ideologien. Die Unzufriedenen waren nämlich schon längst demokratiereif und gingen deshalb nicht auf die Suche nach Gründen, sondern nach Schuldigen.
Und eine andere Art von freier Presse wurde von der neuen einheimischen Unternehmerklasse ins Leben gerufen und finanziert, die auf die Suche nach „Kosmopoliten“, „Juden“, „Schmarotzern“ ging, die das Land ausverkauften, sich dabei die Taschen füllten und sich – jawohl!, auch das noch! – lauter Zeitungsschmierer hielten, die den biederen Ungarn Sand in die Augen streuen, um die Machinationen der „Verräter“ zu decken.
Jetzt ist diejenige Partei an die Macht gelangt, die sich der letzteren Sichtweise anschließt, und solche satte Mehrheiten im Parlament und in den Gemeinden hat, daß sie auch die Monarchie einführen oder Ungarn in einen Kirchenstaat verwandeln könnte. Man muß ja froh sein, daß sie sich vorerst mit einer Zensurbehörde begnügt.
Fortsetzung folgt: Die ersten „Opfer“ der Zensur – Tilos Rádió und RTL.

Neues vom Euro

DIE SACHE MIT DEN EUROBONDS
Der Euro bleibt weiter im Gerede, was seinem Kurs nicht gut tut. Während Irland gerade „gerettet“ wurde, unter heftigem Gerangel bezüglich der Bedingungen, die an diese Finanzhilfe geknüpft waren, stehen nicht nur die nächsten Kandidaten für dergleichen Manöver schon in der Warteschlange, sondern es zeigt sich auch am vorigen Problemfall, daß allen Sprachregelugen zum Trotz das Sparpaket, das Griechenland im Frühjahr verordnet wurde, nicht zu der angestrebten „Sanierung des Staatshaushaltes“ geführt, sondern die Wirtschaft des Landes weiter zerrüttet, und das Verhältnis von Staatseinnahmen und -ausgaben keineswegs verbessert hat.
Die Aussichten für die Zukunft sind also so, daß immer mehr Euro-Mitgliedsstaaten mit EU-Krediten gestützt werden müssen, und zwar als Dauerprogramm: Ihre Ökonomie ist aufgrund der internationalen und Inner-EU-Konkurrenz überwiegend zu einem Markt für die erfolgreicheren EU-Staaten geworden, die Handelsbilanz ist negativ, und ein immer größerer Teil der Staatsausgaben muß durch Kredit finanziert werden, weil bei schrumpfender Ökonomie notgedrungen auch das Steueraufkommen zurückgeht: Arbeitslose zahlen keine Steuern, und Unternehmen wandern ab. Und gekauft wird selbstverständlich auch weniger, wenn alle pleite sind.
Die erfolgreich produzierenden und exportierenden EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Deutschland finanzieren also auf lange Sicht ihre eigenen Absatzmärkte mit diesen „Rettungspaketen“.
Angesichts dieser Perspektive hat der luxemburgische Oberhäuptling Juncker vorgeschlagen, gemeinsame Anleihen unter dem Namen Eurobonds herauszugeben. Seine Idee dabei war offenbar, daß dann die Risikoaufschläge auf nationale Anleihen entfallen, der Zinssatz sich vereinheitlicht und dadurch erstens Rettungsaktionen unnötig werden, zweitens die einzelnen Volkswirtschaften durch diesen einheitlichen Zinssatz neue Impulse erhalten würden.
Das wiederum wurde von verschiedenen Staaten, die diese „Rettungspakete“ nicht brauchen, sondern schnüren, heftigst zurückgewiesen: Sie wollen nämlich ihren eigenen nationalen Kredit nicht dadurch gefährden, daß sie mit ihm für die Verschuldungsfähigkeit derjenigen Staaten einstehen, die sich wirtschaftlich auf dem absteigenden Ast befinden. Stattdessen wollen sie den betroffenen Regierungen noch mehr dreinreden dürfen als bisher. Am liebsten würden Merkel und Sarkozy Länder wie Griechenland und Irland unter ihr persönliches oder nationales Kuratel stellen.
Das ganze lebt erstens von der dummen Vorstellung, es läge nur an der richtigen Wirtschaftspolitik, um eine ins Hintertreffen geratene Nationalökonomie wieder in Schwung zu bringen. Zweitens ist es auch von der Lüge begleitet, daß man mit Einschränkungen die Wirtschaft voranbringt: „Angemessene haushaltspolitische Maßnahmen und Strukturreformen, die das Wachstum wieder anschieben“ (EZB-Ratsmitglied Mario Draghi) schauen nämlich nicht so aus, daß an allen Ecken gekürzt wird, sondern im Gegenteil, da wird fest hineingebuttert – das sah ja die BRD-Regierung vor ein paar Jahren genau so, als sie die Maastricht-Kriterien mißachtete. Auf diese Art, mit staatlichen Wirtschaftshilfen und Infrastrukturprojekten wird nämlich Zahlungsfähigkeit geschaffen, als Voraussetzung – aber nicht Garantie! – für lohnende Geschäfte.
Griechenland und Irland hat es erwischt, bald ist Portugal dran.
Was das für den Euro bedeutet, wird die Zukunft weisen. Eines kann man aber schon heute feststellen: Nichts Gutes.

Staat und Revolution, Teil 16

ZUM SCHLUSS NOCH EINMAL DIE RAETEBEWEGUNG, KAUTSKY UND PANNEKOEK
Lenin kommt schliesslich auf ein anderes Werk Kautskys zu sprechen: seine Polemik gegen Pannekoek.
(Anton Pannekoek war ein holländischer Astronom, der in der deutschen sozialdemokratischen Presse Artikel veröffentlichte und eine Zeitlang auf der Parteischule der Sozialdemokraten in Berlin lehrte. In Ablehnung der Haltung der Partei gegenüber dem Krieg schloss er sich der linken Opposition an und wurde zum Theoretiker der Rätebewegung, in der er sie angemessene Form der Selbstorganisation der Arbeiterklasse sah.)
Lenin zitiert Pannekoek, nicht ohne Vorbehalte:
„Der Kampf des Proletariats“, schrieb er, „ist nicht einfach ein Kampf gegen die Bourgeoisie um die Staatsgewalt als Objekt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt … der Inhalt dieser Revolution ist die Vernichtung und Auflösung der Machtmittel des Staates durch die Machtmittel des Proletariats … Der Kampf hört erst auf, wenn als Endresultat die völlige Zerstörung der staatlichen Organisation eingetreten ist. Die Organisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit dadurch erwiesen, daß sie die Organisation der herrschenden Minderheit vernichtet hat“
denn im Grunde vertritt Pannekoek hier eine den in dieser Schrift dargelegten Anschauungen Lenins entgegengesetzte Position. Es ist im Folgenden interessant zu verfolgen, wie Lenin sich erst Pannekoeks bedient, um Kautsky zu widerlegen, um dann Pannekoek selbst zu demontieren.
Interessant auch Kautskys Stellung:
„Bisher“, schrieb er, „bestand der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten darin, daß jene die Staatsgewalt erobern, diese sie zerstören wollten. Pannekoek will beides.“
Wenn Kautsky auch den Gegensatz zwischen den beiden Richtungen korrekt benennt, so ist jedoch nicht festzustellen, wie er zu dem Schluss kommt, dass Pannekoek die Eroberung der Staatsmacht auf seine Fahnen schreibt.
Lenin sieht die Sache anders: Pannekoeks „Darstellung“ (warum Darstellung? Es handelt sich hier nicht nur um ein unglücklich gewähltes Wort. Lenin deutet hiermit an, dass Pannekoeks Ausführungen – zum Unterschied von seinen eigenen, aber auch denen Kautskys, nicht den Stellenwert einer Theorie haben.) sei „nicht klar“, und Kautsky benennt den Unterschied der beiden Richtungen falsch:
Es folgt ein spitzfindiges Auseinanderklauben, dass die Anarchisten „nur“ den Staat zerschlagen wollen, die Marxisten hingegen sich zunächst seiner bedienen, ihn dann zerschlagen und schliesslich eine neue Staatsmacht an seine Stelle setzen.
Lenin redet hier von „Marxisten“, Kautsky von „Sozialdemokraten“: auch diesen Unterschied sollte man nicht übersehen. Lenins moralischer Vorwurf, dass die Sozialdemokraten den Marxismus „verraten“ hätten, hat eine reale Grundlage darin, dass sich die deutsche Sozialdemokratie eine eigene Interpretation der Klassiker vorbehalten hat, die sich von der Lenins unterscheidet.
Lenin erklärt sich also hier zum Marxisten, um dann Pannekoek als Vertreter seiner Position zu definieren.
„Um seine Entstellung des Marxismus zu bemänteln“,
macht Kautsky das gleiche wie Lenin: Er zitiert Marx. Damit bringt er sich als Vertreter des „marxistischen“ Prinzips des „Zentralismus“ ins Spiel, um Pannekoek als Zerstoerer des Zentralismus zu kritisieren.
Wahrscheinlich hat Kautsky recht, Pannekoek, oder überhaupt die Rätebewegung hatte es nicht mit dem Zentralismus. Das wiederum interessiert Lenin gar nicht. Er wird nur wütend, weil sich Kautsky der gleichen Argumentation wie er selbst bedient, gegen die Rätebewegung. Dieser Usurpator!
Kautsky wirft Pannekoek vor, die Beamten abschaffen zu wollen, und auch damit hat er vermutlich recht. Er argumentiert, warum Beamte immer notwendig sind. Auch hier stoert Lenin nicht der Inhalt von Kautskys Ausführungen, sondern der Umstand, dass seine eigenen, „marxistischen“ Argumente hier für antirevolutionäre Positionen „missbraucht“ werden. „Revolution“ wird durch „Opposition“ ersetzt, die Zerschlagung der Staatsmacht ist weg vom Fenster.
Auch Beamte sind ersetzbar, meint Lenin, durch andere Beamte, und wenn die aber der Revolution und dem Proletariat verpflichtet sind, so sind sie entweder gute Beamte, oder gar keine Beamten mehr …
Kautsky hingegen! Voellig der Bürokratie verpflichtet, und ohne die geringste politische Distanz zur bürgerlichen Bürokratie, die doch notwendig die Interessen der Bourgeoisie vertritt.
Es folgt ein Exkurs Lenins über die verkehrte Interpretation des Trade-Unionismus durch Kautsky und Bernstein.
Von Pannekoeks Gedanken ist nicht mehr die Rede. Es wird ein namensloser „Anarchist“ eingeführt, um auch gleich wieder gegen ihn zu polemisieren – Verzweiflungstaten statt kühne revolutionäre Arbeit …
Es folgt die Polemik um den Massenstreik. Die Anarchisten und auch die Rätebewegung sahen den Streik als Mittel, die Regierung zu stürzen. Kautsky wendete sich dagegen, weil er ja mit friedlichen Mittel die Macht erobern wollte.
Was hat Lenin dazu zu sagen? Nichts anderes, als dass Kautsky sich wieder einmal als Opportunist entlarvt und damit zu denen gehoert.
Damit, mit dieser nicht sehr überraschenden Entlarvung, mit entsprechendem Blitz und Donnerwetter, schliesst Lenins Schrift zu „Staat und Revolution“.
Der Taschenspielertrick, den er mit dieser Hereinholung“ Pannekoeks gemacht hat, dient dazu, sich selbst zum Vertreter der Rätebewegung zu stilisieren, die alle ihre revolutionären Ziele verwirklicht, während sie ihre unreifen und idealistischen Vorstellungen abschafft.