Pressespiegel El País, 25.6.: Prigozhins Rebellion

RUSSLAND ZWISCHEN DER »LANGEN NACHT« PUTINS UND DEM »FLÜCHTIGEN PHÄNOMEN DES BÜRGERKRIEGES«

Pilar Bonet

„Der Aufstand wurde offenbar beschleunigt, weil Prigozhin durch den systematischen Versuch von Präsident Putin und dem Verteidigungsministerium, dem Mann die Flügel zu stutzen, dessen Truppen bis vor kurzem für ihre entscheidenden Siege im Krieg in der Ukraine verherrlicht und von Kreml-Propagandisten gelobt wurden, schikaniert und in eine Sackgasse geführt wurde.“

Die Analystin meint also, der Aufstand wurde absichtlich p r o v o z i e r t .

„Diese Belästigungen hatten sich in den letzten Wochen verschärft. Diesen Monat hat die russische Duma ein Gesetz verabschiedet, das auf die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols abzielt.
Demnach müssen sich alle Kombattanten, ob mobilisiert, freiwillig oder aus dem Gefängnis rekrutiert, der Hierarchie des Verteidigungsministeriums unterwerfen. Die Armee des tschetschenischen Führers Ramsan Kadyrow hat sich der Maßnahme diszipliniert unterworfen. Wagner nicht.
Dieses Unterhaus des russischen Parlaments hat außerdem Regelungen zur Rekrutierung (und auch zur Begnadigung) von Kriminellen während der Verbüßung ihrer Strafe verabschiedet.

Diese beiden Maßnahmen führten dazu, dass Wagner keine Möglichkeit mehr hatte, eine Privatarmee von Söldnern aufzustellen. Diese benützte bisher eine gewisse Grauzone, die Putin (in vielen Bereichen) unterhält, um den Subjekten – Verbündeten oder für ihn konjunkturell nützlichen – das Handeln zu erleichtern: Sie können hiermit nicht mehr im Rahmen des Rechts der Russischen Föderation handeln. Söldner sind somit in Russland verboten und alle Versuche des Parlaments, den Status und die Befugnisse von Wagner und privaten Militärunternehmen zu regeln, waren bisher erfolglos.“

Man muß hier ergänzen, daß diverse rechtliche Grauzonen dieser Art zwar vielleicht absichtlich
aufrechterhalten
, aber keineswegs in der Aera Putin e i n g e r i c h t e t wurden. Sie ergaben sich aus dem ganzen Zerfall der SU und dem Übergang zur Marktwirtschaft, bei dem der Staat viele Sphären aus der Hand gab und den Privatsubjekten überantwortete.

„In dieser Grauzone, außerhalb des Gesetzes, operierte Wagner, während er den russischen Behörden nützlich war, und dort verblieb er solange, bis er aufhörte, es zu sein – als Prigoschin nämlich eine Eskalation von Anschuldigungen und Verwünschungen gegen das Verteidigungsministerium und die herrschende Elite Russlands losließ und die Grundlagen und offiziellen Erklärungen zur Kriegsursache in Zweifel zog.

Vom Augenblick an, als der Kreml bei der Invasion in der Ukraine sich der Unterstützung Wagners bediente, bis zu dem Zeitpunkt, als er durch Prigozhins Selbstermächtigung alarmiert wurde, hat der sogenannte »Kremlkoch« seine eigene Armee mit mehreren Zehntausend Männern und Tausenden von Ex-Häftlingen aufgestellt, die von der Front zurückgekehrt sind und dank ihm begnadigt wurden.“

Damit hat Prigozhin sich sozusagen Hoheitsakte angemaßt und das ging zu weit.

„Von außerhalb der Szene, in der Prigozhin, der Kreml und russische Staatsinstitutionen agieren, ist es noch nicht möglich zu erkennen, ob der Aufstand dieses unflätigen Populisten die konkrete Tat eines trotzigen Putschisten ist oder ob er als Galionsfigur eines (oder mehrerer) Familien des Kremls operiert, oder beides gleichzeitig.

Im letzteren Fall wäre es notwendig zu wissen, welches Element das Gleichgewicht zwischen Prigozhins persönlichen Interessen und seinen Verbindungen zur Elite aus dem Gleichgewicht brachte. In seiner kurzen Ansprache bezeichnete Präsident Wladimir Putin die Meuterei als Verrat, und nur diejenigen, denen man vertraut, begehen Verrat. Putin erwähnte weder Prigozhins Namen noch den Namen von Verteidigungsminister Sergej Schoigu.

Am Samstagnachmittag versuchte Prigozhin, die Spannungen abzubauen, gratulierte sich selbst dazu, kein Blut vergossen zu haben und behauptete, den „Marsch für Gerechtigkeit“, der seine Männer nach Moskau führen sollte, aus Verantwortungsbewusstsein abgesagt zu haben.
Unabhängig vom Ausgang des Kampfes, der sich in seiner ganzen Härte manifestiert, wird die Situation in Russland jedoch nicht mehr dieselbe sein, denn wenn bis zu diesem 23. Juni das Epizentrum der Geschichte im Krieg gegen die Ukraine lag, konzentriert sich die Perspektive nun auf die Gespenst des innerrussischen Bürgerkriegs.

Die Tatsache, dass der Marsch auf seinem Weg in die Hauptstadt auf so wenig Widerstand gestoßen ist, lässt Zweifel an der Verteidigung des Staatsgebiets aufkommen und könnte Präsident Putin schwächen, berichten russische Medien in Moskau.

Wenn Prigozhin das Anhängsel einer der Kreml-Familien ist, fragt man sich, ob diese Familien zustimmen könnten, den unbequemen Meuterer zu opfern (und vielleicht andere Szenarien für das Ende des Konflikts in Betracht zu ziehen). Oder vielleicht würde sich eine dieser Familien gegen die anderen durchsetzen.

Neben diesen theoretischen Hypothesen lohnt es sich zu fragen, wie sich Wagners Rückzug von der ukrainischen Front auf die Kampffähigkeit der russischen Truppen und auch auf die bereits sinkende Moral der Männer auswirken wird, die im Namen der Wahnvorstellungen ihrer Vorgesetzten in den Kampf geschickt werden.“

Hier kommt die Propagandaabteilung Marke West zum Zug, der die Invasion und den Einmarsch als eine Art Wahnvorstellung abtut.
Aber es gibt natürlich Erklärungsbedarf für das Fallenlassen Prigozhins, der ja immerhin vor 2 Monaten noch als „unser Kämpfer an vorderster Front“ hochgehalten wurde.

„Wird es zu Spaltungen in den russischen Streitkräften kommen oder werden die Truppen im Gegenteil zusammenhalten?“

Es ist anzunehmen, daß dafür Vorsorge getroffen wurde, weil überraschend kam der Aufruhr ja nicht.

„Auswirkungen auf die Situation in der Ukraine

Es lohnt sich auch zu fragen, wie (oder ob) die Ukraine die aktuelle Situation in Russland ausnutzen wird (oder wissen wird, wie sie ausnutzen kann).

Ein weiterer Punkt, der geklärt werden muss – und der sich auf die Prozesse auswirkt, die hinter den Kulissen in Russland ablaufen könnten – sind die möglichen Versuche, Allianzen zwischen exilierten Oligarchen, die das ihnen vom Putin-Regime abgenommene Geld zurückerhalten wollen, und Teilen der russischen Regierung zu schmieden, die sie mit ihnen zusammenarbeiten und zu einem angenehmeren und weniger kriegerischen Leben mit der Welt zurückkehren möchten.“

Die sogenannten „Westler“ oder die marktwirtschaftsfreundliche Fraktion sind ja noch nicht ganz ausgestorben in Rußland.

„Interessant ist die Reaktion des Oligarchen Michail Chodorkowski, des ehemaligen Chefs des Jukos-Ölimperiums, der nach zehn Jahren Gefängnis aus Russland verbannt wurde.
Chodorkowski hatte den inzwischen abgesagten Marsch der Wagners von Rostow am Don nach Moskau unterstützt. Für den Fall, dass Prigoschin auf Moskau marschierte, empfahl Chodorkowski, »zu verhindern, dass er aufgehalten wird«, mit Treibstoff zu helfen und »diejenigen, die ihn aufhalten, davon zu überzeugen, dass man jetzt einen gemeinsamen Feind hat«.

Putins Rede zu dem Aufstand sollte als Drehbuch und Orientierung für die Regionalverwaltungen Russlands dienen und das Verhalten ihrer Führer bestimmen. Der Alltag in Moskau und St. Petersburg ist bereits verändert und in der russischen Hauptstadt, deren Sicherheit seit einigen Tagen sichtbar erhöht wurde, wurden die Werbetafeln und Straßenbanner, mit denen Wagner zur Rekrutierung aufrief, hastig entfernt.

In Provinzen wie Rostow am Don, Woronesch und Lipezk hingegen schien die Lage zunächst nicht so klar zu sein. Und für die russische Bevölkerung könnte es schwer zu verdauen sein, dass die Helden der Schlachten von Bachmut oder Soledar nun auf magische Weise aus dem offiziellen Gedächtnis verschwinden.“

Einmal sehen, ob sie retuschiert werden wie die in Ungnade gefallenen sowjetischen Führer von den offiziellen Fotos.

„»Der Bürgerkrieg in Russland ist eine Norm und kann in latenter Form und im Wechsel mit akuten Phasen jahrzehntelang andauern«, schreibt der Analyst Wladimir Pastuchow, der der Ansicht ist, daß der letzte Zyklus der Verschärfung dieses Bürgerkriegs 1989 begonnen hat und noch nicht beendet ist.
»Die Prigoschin-Meuterei ist nur eine der Episoden dieses Bürgerkriegs, der fast ein halbes Jahrhundert andauert«, schreibt Pastuchov. Und der Politikwissenschaftler erinnert daran, dass es im Bürgerkrieg keine Zwischentöne und Schattierungen gebe und man »entweder bei den Roten oder bei den Weißen« sei. Die Wahl ist schmerzhaft. »Zwischen Putin und der langen Nacht Russlands« und »dem flüchtigen Phänomen von Prigozhins Bürgerkrieg«, so sieht er die Möglichkeiten.“

Womit der Ausgang ja schon bestimmt ist, wenn die Wahl zwischen „lang“ und „flüchtig“ ist.

In Rußland selbst wird nämlich von vielen Personen die Herrschaft Putins nicht als „Nacht“ empfunden. Das ist die Sichtweise der „Westler“, deren Zahl sich von Jahr zu Jahr verringert. Viele der ehemaligen Anhänger westlicher Kultur und Werte sind inzwischen im eurasischen Dunstkreis Dugins gelandet. Für diese Leute ging mehr oder weniger mit Putin die Sonne auf.

Bei diesem Vokabel fällt einem als historisch geschultem Geist eher die „Nacht der Langen Messer“ ein, mit dem sich Hitlerdeutschland der lästig gewordenen SA entledigte, die zwar bei der Machtergreifung nützlich gewesen, aber dann lästig geworden war.

Abgesehen vom weiteren Schicksal Prigozhins stellt sich auch die Frage nach seiner Wagner-Truppe – erstens sind sie sicher nicht ohne weiteres den regulären Einheiten einzugliedern. Zweitens sind sie auch außerhalb Rußlands im Einsatz – in Mali, in Libyen, in der Zentralafrikanischen Republik. Die ganze Außenpolitik Rußlands muß neu organisiert werden.

Ukrainische Hoffnungsträger, wo seid ihr geblieben?

GARANTEN DER FREIHEIT

Bei dem medialen Aufwand, der um Volodimir Selenskij getrieben wird, tauchen bei mir Erinnerungen an ukrainische Politiker auf, die seinerzeit auch als „unsere Leute in der Ukraine“ gehandelt wurden, oder doch zumindest im Hintergrund die Fäden zogen, um die, hmmm, Westorientierung der Ukraine voranzubringen.

Bis auf Vitalij Klitschko hört oder liest man von denen gar nichts mehr.

Wer erinnert sich noch an Viktor Juschtschenko?
Er war erst Präsident der Nationalbank und dann Regierungschef unter dem Präsidenten Kutschma. Später gründete er eine Oppositionspartei zusammen mit => Julia Timoschenko. Die Partei hieß „Unsere Ukraine“. Sein Nachfolger als Ministerpräsident wurde Viktor Janukowitsch. Bei der Wahl 2003 trat er gegen Janukowitsch um das Amt des Präsidenten an. Er erlitt im Wahlkampf 2004 angeblich eine Dioxinvergiftung.
Nach Protesten gegen Wahlfälschungen bei der 1. Stichwahl – die von Polen, von Soros, von Otpor und anderen außerhalb der Ukraine tätigen Freunden derselben angefachte „Orange Revolution“ – gewann er die 2. Stichwahl und regierte die nächsten 5 Jahre. Für diesen Wahlsieg war die Unterstützung durch die inzwischen verbotene Sozialistische Partei von Aleksandr Moros ausschlaggebend.
Bereits damals war der Majdan in Kiew das Zentrum der Proteste.
Die Sparpakete, die Juschtschenko aud Betreiben des IWF der Ukraine verordnete, versuchte er durch einen privatfinanzierten Fond zur Unterstützung von Kindern und durch Appelle an den ukrainischen Nationalismus populär zu machen – wir müssen da durch! Während seiner Präsidentschaft wurde der Holodomor als Berufungsinstanz für die Eigenständigkeit der Ukraine entdeckt und als Genozid qualifiziert, die Dnjeprkosaken hofiert und die OUN-UPA als ehrbare Organisation salonfähig gemacht. Außerdem begann die Ukrainisierung des Bildungswesens. Einiges davon wurde von seinem Nachfolger wieder rückgängig gemacht.
Bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2010 hatte er sich mit seiner Ministerpräsidentin überworfen. Julia Timoschenko trat mit ihrer Partei „Vaterland“ gegen Juschtschenko an. Die Wahlen gewann Janukowitsch. Juschtschenko erhielt lediglich etwas mehr als 5% aller Stimmen, ein sehr schlechtes Ergebnis für einen amtierenden Präsidenten. 2012 wurde er aus der von ihm gegründeten Partei „Unsere Ukraine“ ausgeschlossen, weil er für die Parlamentswahlen dieses Jahres angeblich einen geheimen Pakt mit Janukowitsch geschlossen hatte.
Seither trat er einige Male als Vertreter des Imkerbundes in Erscheinung. Angeblich erhielt er eine Zeitlang sogar Unterstützung aus der ukrainischen Staatskasse, weil seine Einkünfte nicht so toll waren.
Seine Frau ist US-Bürgerin und hat Kontakte zu höchsten Polit- und Finanzkreisen der USA. Es ist möglich, daß Juschtschenko von den USA in der Hinterhand für etwaige Nach-Selenskij-Regierungen gehalten wird.
Das Problem ist seine Unbeliebtheit im Lande …

Frau Julia Timoschenko ist sicherlich noch vielen im Gedächtnis, vor allem wegen ihrer medienwirksamen Auftritte mit und ohne Rollstuhl.
Von Forbes wurde sie immerhin 2005 zu einer der weltweit 100 einflußreichsten Frauen gekürt, im selben Jahr sogar als eine der 3 mächtigsten Frauen der Welt.
Sie gehört zu der Wirtschaftselite von Dnjepropetrowsk, dem Industriezentrum der Ukraine. Ein wichtiger Schritt ihrer Karriere war die Leitung des ukrainischen Energiekonzerns „Vereinigte Energiesysteme der Ukraine“. Sie machte viele Geschäfte mit Gazprom, die sich positiv auf ihre Vermögensverhältnisse auswirkten.
Sie war Mitgründerin der Partei „Vaterland“, trat aber gerne auch unter dem Namen „Block Julia Timoschenko“ bei Wahlen an. Sie war offenbar das Zugpferd dieser Vaterlandspartei, die für sich wenig zu bieten hatte. Als sie wegen Korruptionsvorwürfen im Gefängnis saß, war „Vaterland“ die Sammelpartei aller Oppositionsparteien.
Unvergeßlich ist ihr geleaktes Gespräch mit einem ukrainischen Politiker, derzufolge man alle Russen abknallen und auf die Ostukraine eine Atombombe abwerfen sollte. Das Gespräch wurde auf Russisch geführt. Das ist nämlich die Muttersprache von Frau Timoschenko. Vielleicht ist sie deshalb in letzter Zeit wenig an die Öffentlichkeit getreten, weil sie noch an ihrem Ukrainisch arbeitet.
Um sich als wahre Vertreterin des Vaterlandes glaubwürdig zu machen, legte sie sich eine neckische Zopffrisur zu und schlüpfte für mediale Anlässe auch hin und wieder in Volkstracht.
Die Orange Revolution brachte auch sie an die Macht. Neben dem Präsidenten Juschtschenko machte sie sich als Ministerpräsidentin stark für die Erweiterung der Wirtschaftstätigkeit Richtung Westen und der Einschränkung derselben Richtung Rußland.
Wegen diverser Privatisierungsprojekte und Streit um das Gas-Importmonopol währte ihre erste Regierungszeit, in die das überwältigende Lob von Forbes fiel, jedoch nur kurz. Sie wurde im Herbst 2005 mitsamt ihrer ganzen Regierung vom Präsidenten entlassen.
Mit dem Streit zwischen den beiden Hoffnungsträgern änderte sich rasch die Parlamentsmehrheit, die Partei von Juschtschenko zerfiel. Auf einmal wurde der ehemalige Gegner und Buhmann Janukowitsch zum Ministerpräsidenten ernannt, nachdem seine Partei der Regionen Zulauf erhalten hatte. Daraufhin rauften sich Timoschenko und Juschtschenko noch einmal zusammen, erhielten die Mehrheit und Timoschenko wurde erneut Ministerpräsidentin.
Sie wurde gerne herumgereicht und als „unsere“ demokratische Hoffnung in der Ukraine gehandhabt. In den Jahren 2007-2010 flossen auch Kredite in die Ukraine reichlich. In Zeiten von Niedrigzinsen im Westen waren sie verhältnismäßig hoch verzinst und die Ukraine galt als verläßlicher Schuldner, weil ja „unsere“ westorientierten Politiker die Geschicke des Landes lenkten.
Ihre Popularität im In- und Ausland nahm ab, als sie Europa aufgrund der Streitigkeiten um die Gas-Liefer- und -Transitpreise Europa den „Gaskrieg“ bescherte.
Ihre Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen entfernte sie von der Macht und brachte sie wegen der Rivalitäten im Gassektor ins Gefängnis, von wo aus sie sehr medienwirksame Auftritte organisierte.
Nach dem Majdan 2014 konnte sie das Gefängnis verlassen. Irgendwie verschwand sie seither aus den westlichen Medien. Sie benützt inzwischen weder einen Rollstuhl noch einen Zopf: Die Frisur von ihr ist inzwischen wieder ein dezenter Pferdeschwanz.
Sie trat zu den Präsidentschaftswahlen 2019 an, unterlag jedoch Selenskij deutlich. Seither fristet sie ein relatives Mauerblümchendasein als Parlamentsabgeordnete der inzwischen recht geschrumpften Vaterlandspartei.
Nach dem Einmarsch Rußlands in die Ukraine machte sie ein paar medial begleitete Auftritte zwischen Ruinen, wo sie mit Stöckelschuhen zwischen Schutt herumspazierte, Kinder in die Arme nahm und alte Leute tröstete, oder Soldaten an der Front Mut zusprach.
Sie hat es noch nicht aufgegeben, wieder an die Spitze zu kommen, aber im Augenblick scheint keine besondere Nachfrage nach ihr zu herrschen.

Als nächstes ist an Petro Poroschenko, den „Schokoladebaron“, zu erinnern.
Im Ausbau seines wirtschaftlichen Imperiums, das außer Schokolade und anderen Süßigkeiten auch Medien oder Rüstungsgüter umfaßte – eben alles, womit sich in turbulenten Zeiten Geschäfte machen lassen, – war er Mitglied vieler Parteien, die Interessensvertretungen der aufkommenden Unternehmersschicht waren und sind. Er war Gründungsmitglied der Partei der Regionen, saß in Parteien und „Blöcken“ mit Juschtschenko und Timoschenko. Ebenso verbündete er sich für kurze Allianzen mit anderen Großunternehmern, unschön „Oligarchen“ genannt, gegen andere und pflegte auch gute Beziehungen zur Unterwelt.
Bei soviel Pragmatismus blieb weder der ökonomische noch der politische Erfolg aus. Er war zweiweilig Nationalbankdirektor, hatte mehrere Ministerämter inne und verkehrte bei der Münchner Sicherheitskonferenz, schüttelte Hände mit Putin, Merkel und US-Politikern – kurz, ein Mann von Welt.
Nachdem die vereinten EU- und USA-Kräfte mit den Helden des Majdan den gewählten Präsidenten zum Teufel gejagt hatten, war Poroschenko der ideale Kompromißkandidat, auf den sich die USA, Polen und Deutschland einigen könnten, auch wenn die US-Politikerin, die die EU gerne f…n wollte, einen anderen Kandidaten bevorzugt hätte.
Wer in der Ukraine selbst bei den Wahlen 2014 Poroschenko wollte und deshalb wählte, ist ebenso rätselhaft wie gegenstandslos. Die Wahlen wurden unter internationaler Beteiligung abgehalten, zumindest in Kiew und zumindest in einigen Bezirken, also waren sie gültig.
Poroschenko ließ auch nichts anbrennen, ließ alle Lenin-Denkmäler in der Restukraine (ohne Krim) abmontieren und öffnete Investoren und vor allem ausländischen Diensten Tür und Tor. Gegen die Separatisten im Donbass ließ er Patrioten und Neonazis antreten, auch mit dem angenehmen Nebeneffekt, sie sich selbst vom Hals zu halten. Einzig und allein bei der Veräußerbarkeit des ukrainischen Ackerlandes scheiterte er am ukrainischen Parlament.
Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2019 scheiterte er an einem jungen Schauspieler, der von einem rivalisierenden Großunternehmer zum neuen ukrainischen Hoffnungsträger aufgebaut worden war.
Der Wahlsieger ließ ihn auch strafrechtlich wegen irgendwelcher Deals bei der Energieversorgung verfolgen. Inzwischen hat sich Selenskij aber mit Kolomojskij, seinem ursprünglichen Förderer, überworfen und Poroschenko – vielleicht auch unter dem Eindruck von Krieg und und ausländischen Beratern – ist wieder wohlgelitten in der Ukraine.
Poroschenko geht weiterhin auf internationale Treffen hohen Ranges und kauft im Ausland Waffen für die Ukraine ein.
Er wartet auf eine gute Gelegenheit, wenn der Schauspieler seine Rolle zu Ende gespielt hat. Vielleicht lernt er inzwischen fleißig Ukrainisch – seine Muttersprache ist nämlich auch Russisch.

Fortsetzung folgt: Weitere Kandidaten für das Präsidentenamt, sowie kleinere Kaliber

Die Auflösung der ETA

DAS (VORLÄUFIGE) ENDE EINES STAATSPROJEKTS

Die ETA (Abkürzung für „Euskadi Ta Askatasuna“, „Baskenland für Freiheit“) hat vor einigen Wochen offiziell ihre Selbstauflösung verkündet. De facto war sie seit dem „Waffenstillstand“ von 2011 nicht mehr aktiv gewesen, jetzt wurde der Schlußakt formal vollzogen.
Das hat hierzulande kein besonderes Echo gefunden, genausowenig, wie die jahrzehntelange Tätigkeit dieser Organisation niemanden außerhalb Spaniens besonders gestört hat.

Die ETA war nämlich nicht in die Konfrontation des Kalten Krieges eingebunden. Sie suchte den Kontakt mit der Sowjetunion nicht und erhielt von dort keine Unterstützung. Die SU soll Ende der 70-er Jahre sogar angeboten haben, die ETA zu beseitigen, wenn Spanien der NATO nicht beitrete. Die damalige spanische Regierung (Suarez) reagierte, wenn überhaupt, ablehnend.

Daraus sieht man, daß die spanischen Eliten mit dem ETA-Terror gut leben konnten. Im Gegenteil, der ständige Kampf gegen einen inneren Feind kam als Rechtfertigung vieler höchst unangenehmer Maßnahmen gerade recht.

Die Vorwegnahme des Staates als Gewaltapparat

In ihre Gründungszeit herrschten noch verschiedene Vorstellungen über die Ziele dieser Organisation, die in Spaltungen und Vereinigungen mündeten. Als Ziel setzte sich schließlich die Unabhängigkeit des Baskenlandes durch und verschiedene terroristische, also gewaltsame Akte zur Durchsetzung dieses Ziels.
Dieser vornehme Auftrag, der gebeutelten Nation endlich zur ihr zustehenden Entfaltung zu verhelfen, gab den Mitgliedern von ETA das gute Gewissen, von ihrer Gründung 1968 bis 2011 nach offiziellen Zählungen 853 Menschen umzubringen.

„Wir haben eine alte Sprache, daher sind wir ein Volk und deshalb werden wir einen Staat haben“ – mit diesen Worten charakterisierte eine französische Juristin seinerzeit das Selbstverständnis der ETA.
Der Wille zu einem eigenen Staat einte die ETA mit verschiedenen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Es gibt aber wenige Organisationen, die diese Sehnsucht so sehr in Reinkultur verkörpert haben wie die ETA.

Diese Vorstellung, sich als ideelle Staatsmacht mit der realen gleichzusetzen, zeigt sich auch an den angebotetenen „Waffenstillständen“. Da ist es unwichtig, ob sie gehalten haben oder gebrochen wurden. Die ETA definierte dieses Angebot auf Gewaltverzicht als einen Hoheitsakt, bei dem eine kriegsführende Seite sich mit der anderen auf etwas verständigt.

Der Kampf des spanischen Staats gegen die ETA

Der Umstand, daß die ETA nach Francos Tod nicht die Waffen streckte und weiter aktiv blieb – und sich auch einer gewissen Unterstützung im restlichen Spanien erfreute, aufgrund der Tatsache, daß sie die einzige Organisation war, die dem Regime die Stirn geboten hatte – kam den spanischen Eliten gerade recht. Mit Berufung auf „Bekämpfung des Terrorismus“ konnte die Übergangsregierung unter Suarez und die Nachfolgeregierungen auch gegen linke Studenten- und Arbeiterorganisationen vorgehen und den Gewaltapparat aus der Franco-Zeit 1:1 übernehmen. Er diente jetzt der „Verteidigung der Demokratie“.

Eine besondere Rolle kam dabei der Guardia Civil zu. Diese spezielle Einheit, die als „Gendarmerie“ übersetzt wird, wurde 1844 als eine Art Militär für das Inland gegründet, zur Überwachung der ländlichen Bevölkerung. Ihre Mitglieder leben in Kasernen, kommen aus anderen Landesteilen und dürfen sich nicht mit der Bevölkerung vor Ort verbrüdern, verheiraten usw. Nach Ablauf ihrer Dienstzeit werden sie versetzt und in die nationale Polizei übernommen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Guardia Civil eine Art interne Terrororganisation gegen das aufständische Landproletariat Spaniens. Im Baskenland wurde sie zu einer Besatzungsarmee. Sie verfügte über spezielle Vollmachten, die alle demokratischen Gepflogenheiten außer Kraft setzten. Während die baskische Polizei, die Ertzaintza, mehr oder weniger auf verkehrspolizeiliche Maßnahmen und ähnliches beschränkt war, konnte die Guardia Civil problemlos in Wohnungen eindringen, Hausdurchsuchungen vornehmen, Leute verhaften und tage-, sogar wochelang Leute in Gewahrsam nehmen, verprügeln, demütigen, usw., ohne ihre Angehörigen auch nur in Kenntnis zu setzen.

Es ist nicht herauszukriegen, wieviele Personen der Repression der Sicherheitskräfte seit 1975 zum Opfer gefallen sind. Darüber wird offenbar keine Statistik geführt, während die Opfer der ETA genau verzeichnet wurden. Zu den Ermordeten, ob ETA-Mitglieder oder nur der ETA-Mitgliedschaft Verdächtigen, muß man auch diejenigen hinzuzählen, die durch die Polizeihaft bleibende Schäden erlitten haben.

Das war aber offenbar dem Staat noch nicht genug.

Von 1983 bis 1987 übten die paramilitärischen Einheiten der GAL (Antiterroristische Befreiungsgruppen), die vom Innenministerium zur Zeit der sozialistischen Gonzalez-Regierung organisiert wurden, ihre Tätigkeit aus, die später als „schmutziger Krieg“ bezeichnet wurde. Ihnen werden 27 Morde zugeschrieben. Sie entführten Personen und ermordeten sie, auch in Frankreich.

Die Organisationsstruktur der ETA

Die ETA verfügte mit der 1978 von aus dem Exil heimgekehrten Politikern gegründeten Partei Herri Batasuna („Volkseinheit“), die sich 1986 formal als Partei gründete, über ein legales Standbein im baskischen Regionalparlament, bis HB und auch Nachfolgeorganisationen 2003 verboten wurden.

Die „Volkseinheit“ definierte sich als „patriotische Linke“, womit sie erstens die Liebe zur Heimat als linke Tugend definierte, und zweitens sich als ehrbare Opposition darstellte, die letztlich immer für das Gute und gegen das Böse war.
Zur Erreichnung dieser hohen Ziele sind natürlich alle Mittel erlaubt.

Die paramilitärischen Einheiten, die „Kommandos“, agierten unabhängig voneinander, sodaß die Verhaftung eines oder mehrer Mitglieder eines solchen Kommandos keine Auswirkungen für die anderen hatte. Auch unter Folter konnten die Verhafteten keine Informationen weitergeben, weil sie keine hatten.
Die Unabhängigkeit der Kommandos bezog sich auf die Wahl der Opfer, der Tatorte, die Form der Ausführung, und auch auf Geldbeschaffung und Einbrüche in militärische Depots zur Beschaffung von Sprengstoff.

Ein Moment der Dauerhaftigkeit und Unterstützung der ETA war das absolute Verbot des Konsums von Alkohol und Drogen.

In der Zeit der Transición, des Übergangs zur Demokratie, wo sich eine ganze Generation mit Heroin zu- und wegtörnte – durchaus von den Behörden geduldet –, war das ein Anziehungspunkt. Den meisten Eltern war es lieber, wenn ihre Kinder sich in ETA-Kreisen herumtrieben, als sie im Drogenmilieu versumpfen zu sehen.
Ihre Mittel beschaffte sich die ETA über Schutzgelderpressung – mit sehr glaubwürdigen Drohungen unterlegt –, über Entführungen von Unternehmern und das dafür gezahlte Lösegeld, und über Einbrüche in Munitionsdepots.

Die Unterstützer der ETA

Das Staatsprojekt der ETA fand auf der Welt wenig Unterstützer. Spekulationen auf Unterstützung von Seiten der Sowjetunion oder anderer Staaten des Warschauer Paktes werden nicht einmal von den größten Antikommunisten in die Welt gesetzt.
Auch der CIA hatte nichts mit der ETA zu tun, weder vor noch nach Francos Tod. Die USA waren mit Spanien hochzufrieden, sie hätten gar keinen Grund dafür gehabt.

Die ETA wurde lange von Algerien unterstützt. Die Regierungen von Boumedienne und Bendjedid sahen offenbar im nationalen Befreiungskampf der ETA eine Parallele zur eigenen Befreiung von der Kolonialmacht. Algerien diente sowohl als Versteck und Zufluchtsort für ETA-Mitglieder, die in Spanien gesucht wurden, als auch als Ausbildungslager für die Mitglieder der Kommandos.
Aus verschiedenen lateinamerikanischen Staaten erhielt die ETA ebenfalls Unterstützung, vor allem aus Mexiko, Venezuela, Argentinien und Uruguay. Von staatlicher Seite wurde diese Unterstützung nur geduldet, nicht aktiv betrieben. Die Freunde der ETA waren in diesen Staaten republikanische Flüchtlinge und deren Angehörige sowie Nachfahren baskischer Auswanderer.

Nicht ganz klar erschließt sich die Rolle Frankreichs. Die ETA hätte sich nie so lange halten können, wenn die französischen Behörden mit den spanischen zusammengearbeitet hätten. Aber daran bestand offenbar kein Interesse von Seiten Frankreichs.
So diente das französische Baskenland als Rückzugsgebiet und logistisches Hinterland. Der Sprengstoff kam aus französischen Militäreinrichtungen, die weniger streng bewacht waren als die spanischen. Aktionen der spanischen Polizei und Guardia Civil in Frankreich, bei denen öfters auch französische Staatsbürger zu Schaden kamen, wurden zwar geduldet, führten aber regelmäßig zu Verstimmungen und Protesten von französischer Seite.
Diese Duldung ist um so verwunderlicher, als der Wunsch nach einem eigenen Staat durchaus auch das französische Baskenland bedrohte und damit die Einheit Frankreichs. Zunächst konzentrierte sich die ETA auf den spanischen Teil – Hegoalde, die „südlichen Länder“ –, aber der Norden – Iparralde – lag als Fernziel durchaus im Staatskonzept der baskischen Patrioten.

Schließlich ist auch eine Unterstützung der ETA bei der baskischen Unternehmerschaft nicht zu unterschätzen. Nicht alle wurden genötigt, Schutzgeld zu zahlen. Es gab auch in der Unternehmerschaft welche, denen die Vorstellung eines unabhängigen Baskenlandes angenehm war und die dafür gerne etwas ablegten.
Sie erhofften sich dadurch geringere Abgaben und damit höhere Profite.

Die Attentate

Der bewaffnete Arm der ETA betrachtete sich als Nachfolger der baskischen Armee im Bürgerkrieg, der Finger saß recht locker am Abzug. Sie betrachtete sich als Armee im Krieg und wollte den Feind treffen, wo es nur ging. Die Auswahl ihrer Opfer fand so statt, daß diese Personen von den Mitgliedern der Kommandos für lebensunwert betrachtet und zur Liquidierung verurteilt wurden.
Die Attentate erfolgten in Form von Hinrichtungen mit Schußwaffen, oftmals aus nächster Nähe – der Attentäter ging zu seinem Opfer und teilte ihm vorher mit, daß es jetzt erschossen würde.

Andere Attentate erfolgten mit Bombenanschlägen. Die Frequenz von Anschlägen mit Bomben hing davon ab, welche Mengen der ETA gerade zur Verfügung standen. Die Anschläge erfolgten teilweise auf Wohneinheiten der Guardia Civil.
Oftmals wurden aber einfach auf Lokale, Flughäfen, Bahnhöfe und Supermärkte Anschläge verübt, weil die ETA die als legale Ziele gegen die Besatzungsmacht ansah.

Mit der Zeit bürgerte sich ein, daß bei den Bombenattentaten in öffentlichen Gebäuden vorher eine Warnung erfolgte, damit die betreffende Örtlichkeit rechtzeitig geräumt werden konnte.
Beim Attentat auf den Hipercor in Barcelona 1987, das 21 Todesopfer forderte, war die Warnung von der Polizei ignoriert worden, weil sie es für günstig hielt, mit einem blutigen Attentat die Stimmung in der Bevölkerung gegen die ETA aufzuhetzen. Die Toten von damals kann man also als Gemeinschaftswerk von Polizei und ETA betrachten.
Beim Bombenattentat auf den Flughafen Barajas 2006 war der Flughafen zwar geräumt worden, zwei Ecuatorianer, die in ihren Autos schliefen und deshalb die Evakuierung verschliefen, fielen der Explosion jedoch zum Opfer.

Die Opfer der ETA

Die ETA hatte ein relativ breit gestreutes Spektrum an Opfern.

Der größte Teil ihrer Opfer waren Mitglieder der Exekutive – der Guardia Civil und der Polizei, des Militärs, sowie deren Angehörige. Es gab keinerlei Bedenken oder Reue, wenn bei einem Attentat gegen eine als Feind definierte Zielperson auch deren Partner und Kinder umkamen, oder die Erschießung ihres Vaters mit ansehen mußten. Die ETA betrieb also bei ihren Attentaten auch eine Art Sippenhaftung.

Weiters wurden Lokalpolitiker – Bürgermeister oder Gemeinderäte von nicht-baskischen Parteien – ins Visier genommen, mit ähnlich tolerierten Kollateralschäden. Sie waren immerhin Verräter, die sich trotz ihrer baskischen Abstammung dem spanischen Kolonialherren andienten.
Ein – sogar baskischstämmiger – Schulwart wurde vor einem Haufen Schüler am hellichten Tag an seinem Arbeitsplatz erschossen – in der irrigen Annahme, er hätte früher einmal bei der Polizei gedient.

Gerne und reichlich wurden Taxifahrer, Kellner oder Barbetreiber erschossen, weil die ETA von ihnen annahm, daß sie Spitzel waren. Sie hatten nämlich hin und wieder Polizisten in ihren Taxis geführt oder in ihren Etablissements bewirtet, waren also eindeutig Kollaborateure der Besatzungmacht.
Bei diesen Menschen war auch noch zusätzlich verdächtig, daß sie oftmals aus anderen Teilen Spaniens stammten, also schon ihrer Herkunft nach als Feinde zu gelten hatten. In dieser Logik wurden auch diverse Andalusier oder aus Kastilien, Murcia oder Extremadura stammende Leute einfach so erschossen, um klarzustellen, daß die ETA keinen Wert auf Zuzug legte.

Auch Leute, die die ETA verlassen hatten, weil sie genug von diesem Wahnsinn hatten, wurden hingerichtet, sobald sie sich wieder ins Baskenland wagten, in der irrigen Annahme, daß über die Sache Gras gewachsen sei.

Einmal ETA – immer ETA!

Die Nachfolgeorganisation Bildu

Die Organisation Bildu (= „versammelt“) ist das Ergebnis verschiedener Koalitionen, die sich aus baskischen Kleinparteien seit dem sogenannten „Abkommen von Gernika“ im Jahre 2010 gebildet hat. Damals wurde der Waffenstillstand, also das Ende des bewaffneten Kampfes vereinbart, und alle anderen politischen Organisationen auf die Zusammenarbeit mit der ETA verpflichtet.

Hier ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, daß die ETA jahrzehntelang keine Organisationen der spanischen oder sogar internationalen Linken auf dem Territorium des Baskenlandes duldete. Sobald irgendwelche anarchistischen, trotzkistischen, maoistischen, marxistischen und ähnlichen Gruppen eine Filiale im Baskenland eröffnen wollten, erhielten sie einen Besuch, der ihnen davon abriet, weil dergleichen mit Gefahr für Leib und Leben verbunden sei. Diese Drohungen betrafen auch den französischen Teil des Baskenlandes.
So ergab es sich zwangsläufig, daß alle Organisationen, die sich dort bildeten, ob sozialistisch oder ökologisch orientiert, als erstes die nationale Frage in ihre Statuten oder sonstigen Absichtserklärungen aufzunehmen hatten. Sie hatten sich als baskische Patrioten zu definieren, mußten sich einen baskischen Namen geben und hatten ihre Veröffentlichungen auf Baskisch zu machen.

Man kann sagen, daß die ETA sich auf diese Art und Weise den Boden für den Übergang in die Legalität vorbereitet hat. Erstens hat sie eine Infrastruktur für die Teilnehme am demokratischen Machtkampf zugelassen, derer sie sich jetzt bedienen kann. Zweitens hat sie damit gesorgt, daß alle Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen sich nur innerhalb der „patriotischen Linken“ artikulieren kann. Dadurch hat sie drittens ein breites Reservoir von jungen Anhängern und Wählern, denen es selbstverständlich ist, ihre gesamten Anliegen zu Bildu und deren Koalitionspartnern zu tragen.
Der Übergang in die Legalität ist also geglückt. 44 abgeurteilte und nach langen Haftstrafen wieder entlassene Etarras, also ehemalige ETA-Kämpfer, kandidieren jetzt für die laufenden Gemeinderatswahlen und werden es vermutlich auch schaffen, auf einen Gemeinderatssitz zu kommen. Dort sitzen sie bald neben den Anhörigen ihrer ehemaligen Opfer, die sich bei anderen Parteien betätigen und oft erst als Ergebnis der Ermordung ihrer Väter zu einem politischen Engagement entschlossen haben.
Alle Einsprüche gegen diese Umwandlung von ETA in Bildu – oft mit Zwischenschritten über andere, kurzlebige Organisationen wurden abgeschmettert.
Es ist anzunehmen, daß die PNV mit Bildu Pakte geschlossen hat, um möglichst viele Gemeinderatssitze für die nationale Sache zu sichern und andere Parteien nach Möglichkeit aus dem Baskenland zu entfernen.

Die Vereinigung mit dem Norden ist weiterhin nicht ausgeschlossen, wenngleich derzeit auf die Gemeindeebene reduziert: Bildu bzw. mit der Partei verbündete Parteien kandidieren auch in Frankreich.

Eine ausführlichere Version dieses Artikels findet sich hier:

DAS (VORLÄUFIGE) ENDE EINES STAATSPROJEKTS