„DER ENTSCHLOSSENE VORMARSCH DER UKRAINISCHEN TRUPPEN ERZEUGT RISSE IN DER RUSSISCHEN POLITISCHEN SZENE
Stimmen der offiziellen Propaganda verlangen Veränderungen in der Regierung und der Militärführung
Der bestimmte Vormarsch der ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes in Gegenden, wo seit Monaten die Russen ihre Positionen gehalten hatten, hat die ersten Risse im politischen Diskurs Rußlands entstehen lassen. Bisher waren da keine Mißtöne gegen die offizielle Linie des Kreml zu vernehmen. Die Führer der russischen Propaganda“
Wer das wohl ist?
„drängen öffentlich darauf, die Kommandanten zu exekutieren, die die enormen verlorenen Gebiete verteidigen hätten sollen. Andere der Macht nahestehende Kreise fordern jetzt, diejenigen zu bestrafen, die den Präsidenten Vladimir Putin davon überzeugten, daß seine Truppen in der Ukraine mit Umarmungen empfangen werden würden. Die Rückschläge in Charkow und Cherson treffen zeitlich zusammen mit einem einer neuen Herausforderung seitens der Opposition, von geringem Gewicht, aber vielsagend. Mehr als 40 Gemeinderäte der beiden größten Städte Rußlands haben im russischen Parlament einem Aufforderung zum Rücktritt Putins wegen Hochverrat eingereicht. Diese Initiative gewinnt mit jeder Stunde neue Anhänger.“
Das zeitliche Zusammentreffen dürfte nicht zufällig sein. Die Initiatoren warteten auf einen günstigen Zeitpunkt.
„Der tschetschenische Präsident Kadyrow hat offen von strategischen Fehlern gesprochen.
Die ukrainische Gegenoffensive, die in den letzten Tagen zu großen Gebietsgewinnen geführt hat, hat Rußland überrascht. Am Samstag, als Kiew verkündete, zentrale Orte wie Charkow eingenommen zu haben,“
– das ist irreführend formuliert, die Stadt Charkow war immer in ukrainischer Hand, es handelt sich um mehrere Städte in der Region Charkow –
„befand sich Putin in Moskau bei der Einweihung des größten Riesenrades Europas, während die Einwohner tanzend und trinkend das 875. Jubiläum der Stadt feierten. Das russische Verteidigungsministerium hüllte sich angesichts der Verlautbarungen der ukrainischen Behörden einige Zeit in Schweigen und verkündete schließlich einen geordneten Rückzug in der Region Charkow.
Die Wortwahl des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow zu diesem Rückzug war bezeichnend. In einer Botschaft auf seinem Telegram-Kanal schrieb er über den »Umstand, daß die russische Armee abgezogen ist und mehrere Städte hergeschenkt hat«. Er fügte hinzu: »Ich bin kein Stratege wie die dort im Verteidigungsministerium, aber es wurden Fehler begangen.« Weiters kündigt er an, sich nicht nur mit dem Verteidigungsministerium, sondern auch mit der Führung direkt, also mit Putin in Verbindung zu setzen, falls es nicht unmittelbar Änderungen bei der sogenannten »Sonderoperation« geben sollte.“
Kadyrow fordert offenbar schon länger wichtige Posten für seine tschetschenischen Offiziere und nutzt jetzt auch den günstigen Zeitpunkt.
Die Tschetschenen stellten auch in der Roten Armee eine im Verhältnis zur Bevölkerung überproportionalen Anteil von Berufssoldaten, aber so richtig nach oben kamen sie nie. Sowohl Dudajew (Luftwaffe) als auch Maschadow (Artillerie) waren Militärs.
„Die Armee, nach Umfragen die von den Russen am meisten geschätzte Institution des Landes – mehr noch als der Kreml – ist großem Druck ausgesetzt. Putin weigert sich, eine Generalmobilmachung anzuordnen, eine unpopuläre Maßnahme, wie sie von den Falken gefordert wird.“
Es wird nicht ganz klar, wo diese Falken sitzen: Im Militär, im nationalen Sicherheitsrat?
„Die dem Kreml nahestehenden Medienvertreter schießen sich derweil auf die Militärführung ein. Einer der Hauptverantwortlichen für die Kremlpropaganda, der Moderator Vladimir Solowjow von Rossija 1, verkündete ebenfalls in Telegram: »Viele Anführer in Uniform (ich würde es nicht wagen, sie als Kommandanten zu bezeichnen) verdienen eine unehrenhafte Entlassung, einen Strafprozess oder sogar die Hinrichtung, und ich könnte einigen von ihnen namentlich nennen«.“
Der Kreml hat einen Sprecher, Peskow. Der erwähnte Solowjow, der offenbar ein Parteigänger der russischen Politik ist, wird hier hochstilisiert zu einer Art Goebbels, und seine Telegram-Botschaft dann zu einer Bedrohung für Leib und Leben für einige Offiziere.
Dabei macht er nur eine kleine Hetzpropaganda in einem eben gerade nicht vom Kreml kontrollierten Medium, die für ihn selbst durchaus Folgen haben kann, denn dergleichen ist in Rußland eigentlich verboten.
„Die durch die Gegenoffensive erzeugte Krise hat mit einem Satz die die Ratgeber des Kreml und die Militärführung ins Scheinwerferlicht gerückt. Diverse Analysten und Politiker stellten den Fortgang der Operationen der russischen Truppen in den letzten Monaten in Frage. Dies fand in einer Debatte des beliebten Fernsehkanals NTV statt. die Kontrolle über diesen Sender übt Putin aus, seit er an der Macht ist.“
Das Kreml-Sprachrohr veranstaltet also eine öffentliche Debatte darüber, wie der Krieg, pardon die Spezialoperation, denn so läuft.
Unerträglich, diese Autokratie mit ihrer Zensur.
„»Die Leute, die den Präsidenten davon überzeugt haben, daß die Spezialoperation schnell und effektiv sein würde; daß wir keine Zivilisten bombardieren würden, daß wir kommen würden und die Nationalgarde und die Kadyrowzy (Kadyrows Spezialgarde) Ordnung schaffen würden … diese Leute haben uns alle in eine Falle gelockt,« sagte der Ex-Dumaabgeordnete Boris Nadezhdin. »Gibt es solche Leute?« fragte ihn der Moderator. »Selbstverständlich. Der Präsident setzt sich nicht einfach so hin und sagt: ,Ich werde eine Spezialoperaton ausrufen.’ Jemand hat ihm gesagt, daß die Ukrainer sich ergeben und Rußland anschließen werden,« antwortete er.
Die Offenheit, mit der diese Debatte ausgetragen wurde, erstaunte Rußland. Der Abgeordnete und Vorsitzende der Partei »Gerechtes Rußland« Sergej Mironow hielt an seiner Position der letzten Monate fest, daß es mit »Selenskis Nazi-Regime« keine Verhandlungen geben könnte. Er wurde außer von Nadezhdin sofort von einem großen Teil der Anwesenden kritisiert. Der Analyst für Politik Viktor Olewitsch warf ihm vor, daß »angeblich alles nach Plan verläuft, aber vor 6 Monaten glaubte niemand, daß der Plan wäre, sich jetzt zurückzuziehen.« Ein anderer bekannter Kommentator politischer Ereignisse, Alexej Timofejew, nützte die Gelegenheit daran zu erinnern, daß in offiziellen (also Kreml-treuen) Medien verbreitet wurde, daß die Armee im Falle der Einnahme von Odessa »dem Risiko ausgesetzt würde, sehr heftige Umarmungen von Seiten der Bevölkerung zu erhalten.« Seine Kritik war hart: »Diese Irrtümer waren verbrecherisch, katastrophal – warum müssen wir uns weiterhin die Meinung dieser Experten anhorchen?«.
Im Zentrum der Kritik steht in solchen Debatten inzwischen eine der bekanntesten Gesichter der russischen Propaganda: Die Direktorin von »Russia Today«, Margarita Simonjan, die in einer Talkshow im Fernsehen noch vor dem Einmarsch gesagt hatte: Rußland »besiegt die Ukraine in 2 Tagen«. Heute sind 201 Tage seit dem Beginn der Offensive vergangen und die russischen Truppen ziehen sich an verschiedenen Fronten zurück.
Die Verhaftung mehrer Politiker wegen ihrer Kritik an dem Krieg hat die Kritik an Putin nicht verstummen lassen. Da ihr der Zugang zum nationalen Parlament versperrt ist, spielt sich ein guter Teil der russischen Politik in den Gemeinderäten der großen Städte ab.“
– Es folgt wieder die bereits eingangs erwähnte Story mit den Gemeinderäten, die Putin wegen Hochverrats vor Gericht stellen und absetzen lassen wollen. Der Verfasser des Artikels meint offenbar, die Wiederholung könnte diesem Schritt mehr Gewicht verleihen. –
„»Es handelt sich um einen sehr intelligenten und sehr sorgfältig verfaßten Text. Ich erwarte, deshalb nicht vor Gericht gestellt zu werden, weil wir nichts Illegales gemacht haben. Wir haben die landesweit gültigen Gesetze für ein solches Vorgehen eingehalten und haben Argumente verwendet, die man auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen kann, um ein solches Absetzungsverfahren einzuleiten«, erklärt diese einer ihrer Betreiber, Nikita Juferew, per Telefon.
Dem“ (ursprünglich von Petersburg ausgehenden) „Schreiben schlossen sich inzwischen weitere Stadträte aus Moskau an. »Wir wollen uns an das Publikum Putins wenden, damit er nachdenkt. Wenn sie glaubten, daß die Expansion der NATO eine Bedrohung Rußlands darstellt, so hatte seine Entscheidung vom 24. Februar zum Ergebnis, daß sie sich weiter ausgedehnt hat. Mit dem Beitritt Finnlands hat sich die NATO-Außengrenze sogar verdoppelt«, fügt er hinzu. »Wir sehen die Sache so, daß die von Putin ergriffene Initiative das Risiko für Rußland und seine Bevölkerung vergrößert hat. Jetzt ist die Ukraine eine Gefahr, weil sie als Ergebnis des Einmarsches vom 24. Feber Waffen im Wert von 38 Milliarden $ erhalten hat«, bekräftigt er in mit dem Millimetermaß sorgfältig gewählten Worten.
»Wir sind der Ansicht, daß Putin nicht recht hatte«, präzisiert Juferew. »Man muß die Situation unserer Soldaten in Betracht ziehen, den wirtschaftlichen Abstieg und die Probleme der jüngeren Generation. Die Wirtschaft Rußlands leidet beträchtlich«, fügt er hinzu.“
Diese Absetzungsinitiative geht von der Partei „Jabloko“ aus, die in der Duma nicht mehr vertreten ist und im St. Petersburger Stadtrat eine Fraktion besitzt.
Die jetzt geäußerten Kritikpunkte an dem Ukraine-Krieg sind offenbar auch ein Ergebnis von heftigen internen Debatten innerhalb der Streitkräfte und der politischen Klasse Rußlands, wo eine Abteilung immer noch auf eine Einigung mit der gegnerischen Seite gehofft hat.
Gleichzeitig verkündeten Mitglieder der ukrainischen Regierung im Bewußtsein ihrer derzeitigen militärischen Erfolge, keine Verhandlungen führen zu wollen und die Demilitarisierung Rußlands anzustreben.