Neues von der Schuldenfront

DER HYPOTHEKARKREDIT ALS VOLKSWIRTSCHAFTLICHER FAKTOR UND GESELLSCHAFTLICHE BÜRDE
Es gibt zwei Länder in der EU, wo mit der Krise eine Immobilienblase geplatzt ist, aus unterschiedlichen Gründen, aber mit ähnlichen Folgen: Spanien und Ungarn.
In Spanien waren es mehrere Faktoren, die den Immobiliensektor zum beherrschenden Sektor der Ökonomie werden ließen: Ein staatliches Investitionsprogramm zum Ausbau der Infrastruktur, das vor keinen Kosten zurückschreckte, ein neues Bodengesetz, das die Umwidmung von agrarischer Nutzfläche in Baugrund dem Belieben der Gemeinden anheimstellte, und schließlich die Einführung des Euro, die den nationalen Zinsfuß senkte und Spanien mit einer Weltwährung versah.
In Ungarn war es gerade das Ausbleiben aller Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung, verbunden mit einer Weichwährung und einem hohen Zinsfuß, das die Genehmigung und sofortige flächendeckende Ausbreitung der Fremdwährungskredite verursachte. Die Politiker aller Parteien waren sich darin einig, daß nur diese Maßnahme die Kreditklemme beheben und den Immobilienmarkt beleben könne. Die Banken und die Bauindustrie konnten ihr Geschäft ausweiten, und die Ungarn konnten sich endlich ihre Konsum- und Eigenheim-Träume erfüllen, die ihnen ihrer Meinung nach zustanden und ihnen gemeinerweise bisher verwehrt gewesen waren.
Die Krise von 2008 brachte beide Gebäude zum Einstürzen. In Spanien dämpfte das Ausbleiben der Nachfrage zunächst die Bautätigkeit, die Arbeitslosigkeit stieg, die Anzahl der nicht bedienten Kredite stieg, den Banken und vor allem Sparkassen brach ein großer Teil ihres Klientels weg, die Kredite versiegten, Immobilien und Baugründe entwerteten sich, und am Ende standen einige nur durch Verstaatlichung abgewendete Bankpleiten, und ein stagnierender Bausektor, der immer größere Teile der Ökonomie mit sich in die Tiefe riß. Die Arbeitslosigkeit betrifft ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung, die nur deshalb nicht schneller steigt, weil immer mehr Arbeitsemigranten aus Lateinamerika ihre Koffer packen und nach Hause zurückkehren. Dabei bleiben weitere unbediente Schulden zurück.
In Ungarn war es die ungünstige Wirtschaftsentwicklung erst im Lande selbst, dann in der Eurozone, die erst den Forint gegenüber dem Euro, dann den Euro gegenüber dem Schweizer Franken sinken ließ, während die meisten dieser FWK in Franken aufgenommen worden waren. In Ungarn werden 25% der Kredite gar nicht bedient, und weitere 30-40% stehen auf der Kippe zur Säumigkeit und werden nur durch Umschuldungen aller Art am Laufen gehalten. Die Schätzungen der Anzahl von Personen, die deshalb von Delogierung bedroht sind, schwanken zwischen 600.000 und 1,2 Millionen.
Für Spanien fehlen genaue Zahlen, weil eine solche Offenlegung der faulen Schulden vermutlich weitere Finanzinstitute kollabieren ließe.
Voriges Jahr hat der EU-Gerichtshof in Luxemburg das spanische Hypothekargesetz als nicht EU-konform bezeichnet und damit alle darauf beruhenden Verträge anfechtbar gemacht. Dieses noch aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts stammende und unter Franco modifizierte Gesetz läßt nämlich den Banken breiten Spielraum bei der Gestaltung der Verzugszinsen. Sobald der Schuldner säumig wird, steigt die Zinsenlast sprungartig an, was sowohl die Bilanzen der Banken verfälscht als auch die Bedienung des Kredits vollends verunmöglicht. Es ist jetzt Sache der spanischen Gerichte und des spanischen Parlaments, auf diesen Spruch zu reagieren. Es wurde bereits ein sogenanntes Anti-Delogierungs-Gesetz erlassen, das aber in den Augen der Betroffenen eine Augenauswischerei ist und den Banken in jedem Punkt recht gibt.
In Spanien hat sich eine Plattform der Hypothekarkredit-Geschädigten gebildet, die Immobilienbesetzungen organisiert, Delogierungen durch Flashmobs verhindert und Protestaktionen vor den Domizilien von Politikern veranstaltet. Es gibt bereits Überlegungen innerhalb der regierenden Volkspartei, diese Vereinigung nach den gültigen Antiterror-Paragraphen zu kriminalisieren. Dergleichen Vorgehen stößt aber auf Bedenken angesichts des zunehmenden Widerstands im Staatsapparat selbst.
Die spanischen Richter zeigen gesteigerte Neigung, bei Streitigkeiten zwischen Geldinstituten und Schuldnern letzteren recht zu geben und damit Verträge zu annullieren. Die spanische Polizeigewerkschaft hat verkündet, diejenigen ihrer Mitglieder zu unterstützen, die sich weigern, Delogierungen durchzuführen. Schließlich hat die Schlosserei-Innung von Pamplona bzw. ganz Navarra verkündet, das Auswechseln von Schlössern bei Delogierungen zu verweigern.
Jetzt hat der EU-Gerichtshof auch in Ungarn einer Klägerin recht gegeben, daß bei den ungarischen FWK-Kreditverträgen etwas nicht gesetzeskonform ist. Eine andere Klage gegen die FWK-Verträge liegt derzeit beim ungarischen Verfassungsgericht. Die Kläger führen in Anschlag, daß sie erstens über das Risiko der Wechselkursschwankungen nicht genügend informiert wurden und in den Verträgen auch nicht genau angeführt ist, in welchem Ausmaß sie als Kreditnehmer die Last von Kursverfall zu tragen haben. Zweitens haben sich die Geldinstitute mit versteckten und verklausulierten Gebühren schadlos gehalten, sodaß die faktisch anfallenden Zinsen weit über den günstigen Franken-Zinsen liegen, mit denen sie ursprünglich zum Abschluß des Kredites gelockt wurden.
Die ungarische Bankenaufsicht PSZAF hat bereits das Verfassungsgericht gewarnt, daß ein negatives Urteil über diese Kreditverträge den Finanzplatz Ungarn gefährden, die Kreditinstitute zum Rückzug bewegen und die ungarische Börse abstürzen lassen würde. Diese Stellungnahme liefert wieder Zündstoff für die Parteienkonkurrenz und rechtsgerichtete Medien, die die Finanzaufsicht als Lakaien Brüssels und Sprachrohr des Finanzkapitals „entlarven“.
Die ungarische Regierung hat ihr Budget strapaziert und auch die Geldinstitute bluten lassen, um die Fremdwährungskredite in Forint-Kredite umzuwandeln. Von diesem „Angebot“, das eigentlich keines war, haben aber nur ungefähr ein Viertel der Kreditnehmer Gebrauch gemacht. Die Vereinigungen von Hypothekengeschädigten, die in Ungarn nicht den Organisationsgrad derer von Spanien haben, werden zunehmends von Mitgliedern der rechtsextremen Oppositionspartei Jobbik aufgesucht, die sich dieses Unzufriedenheitspotential nicht entgehen lassen möchte. Die Regierung, die stillschweigend die bisher jährlich erneuerten Schuldenmoratorien mit den Banken zur Aufschiebung der Delogierungen gekündigt hat, beobachtet diese Entwicklung mit Besorgnis.
Der Ball liegt jetzt in beiden Staaten bei der Justiz, bzw. bei den sich ständigen Zulaufs erfreuenden Vereinen der Hypotheken-Schuldner.

Der Konkurs der österreichischen Baufirma Alpine

NEUES AUS DER WELT DER IMMOBILIENBLASEN
Blasen überhaupt
Der Begriff „Blase“ ist einerseits sehr naiv: Er tut so, als gäbe es ein angebliches „solides“ Geschäft, wo brav produziert und verkauft und „anständige“ Gewinne gemacht werden. Die heile Welt des Kapitals, wo Waren zum Markt getragen und dort zu marktkonformen Preisen verkauft werden. Daß diese heile Welt eigentlich nirgends mehr existiert, ist nach Meinung der Kritiker auf mangelnde Moral, „Gier“, zurückzuführen.
Dieser anständigen Gschaftlmacherei wird die mehr oder weniger „raffgierige“, auf „Gewinnmaximierung“ basierende Jagd nach dem großen und schnellen Geld gegenübergestellt, wo immer mehr dubiose Finanzprodukte als Gewinn-Melkkühe dienen, die „Realwirtschaft“ unter der „Zinsknechtschaft“ stöhnt und eigentlich Gedeih und Verderb des Geschäfts weltweit den Kalkulationen des Finanzkapitals unterworfen ist.
Den Kritikern und Jammerern ist dabei entgangen, daß Kapitalismus heute genau so geht. Es ist die Verfügung über Kredit, die über die Geschicke der Produktion entscheidet. Märkte sind ebenso kreditfinanziert – Hypotheken, Leasing, Kreditkarten – wie Fabriken und Holdings, oder Handelsketten. Kann sich eine Firma von irgendwoher Kredit beschaffen, so prosperiert sie. Wird ihr der Kredit aufgekündigt, so kann sie zusperren.
So kommt die Gültigkeit des abstrakten Reichtums über den konkreten, die Dominanz des fiktiven über das reale Kapital an ihren vorläufigen Endpunkt, und das hat verheerende Auswirkungen auf die Lebensumstände der lohnabhängigen Klasse. Immer mehr Proletarier fallen aus dem Selbstverwertungsprozess des Kapitals hinaus und werden vom Standpunkt der Ökonomie für überflüssig erklärt.
Insofern hat das Gerede von der „Blase“ doch wieder etwas Richtiges an sich: solange Kredit hineingepumpt wird, wächst der Ballon. Bleibt der Kredit aus, so fällt er in sich zusammen.
Der europäische Bausektor, Marke Ost
So ist jetzt Österreichs zweitgrößte Baufirma, die Alpine mit Sitz in Salzburg, pleite gegangen.
Die Alpine wurde in den 60-er Jahren als mittelständisches Bauunternehmen in Salzburg gegründet. Unter den Bedingungen der damaligen österreichischen Wirtschaftsstruktur konnte sie gegen die großen staatlichen Baufirmen jedoch nicht aufkommen. Sie blieb auf den Häuslbauer-Markt beschränkt. Größere Aufträge ließen sich nur im Ausland an Land ziehen.
Die große Zeit der Alpine kam nach der Wende. Erstens wurde der staatliche Sektor ständig abgebaut. Zweitens eröffnete sich ein scheinbar unbegrenzter Markt für Bautätigkeit in Osteuropa. Drittens waren die inzwischen umstrukturierten und privatisierten österreichischen Banken auch in der Lage und willens, die Expansion von Firmen wie der Alpine mit Krediten zu befördern. Und die Alpine wuchs und wuchs. Sie überflügelte die traditionellen Baufirmen und wurde zur zweitgrößten Bauholding nach der Strabag.
Unter den damaligen Umständen störte es niemanden, daß im Grunde diese ganze Expansion kreditfinanziert war. Nicht nur, daß die Alpine selbst für ihre Bauvorhaben jede Menge Kredit erhielt, auch ihre Kunden, die Einkaufszentren oder Sportstätten oder Infrastruktur (die Alpine war kräftig beteiligt bei Bauaufträgen im Vorfeld der Olympiade 2004 in Griechenland) in Auftrag gaben, erhielten jede Menge Kredit, um die Tätigkeit der Baufirma bezahlen zu können. Schließlich kommt noch der von den Gesetzgebern in der EU planmäßig vorangetriebene Ausbau des Immobilienkredits, wo in vielen Ländern dem kleinen Mann Hypothekarkredite mit für die Banken äußerst lohnender Verzinsung geradezu nachgeschmissen wurden, und teilweise noch werden.
Diese Expansion gelang auch durch den Einstieg der spanischen Firma FCC, Abkürzung für „Förderung von Bauvorhaben und Vertragsabschlüssen“.
Der europäische Bausektor, Marke West
Die FCC war eine der traditionellsten Baufirmen Spaniens, die sich zur Zeit Francos konsolidierte. Später, nach dem EU-Beitritt Spaniens, begann sie groß zu expandieren. Erstens territorial. In die damaligen EU-Staaten, die USA, Lateinamerika. Und zweitens begann sie sich zu diversifizieren. FCC ist heute neben dem angestammten Baugeschäft einer der größten europäischen Anbieter von kommunalen Dienstleistungen wie Müllabfuhr und Wasserversorgung, sie beteiligt sich am Autobahnbau und dessen Finanzierung, und ist auch groß in das Geschäft mit erneuerbaren Energien eingestiegen. FCC ist eines der größten Firmenkonglomerate Spaniens, das Privatvermögen der Besitzerin Esther Koplowitz wurde 2006 von Forbes auf 2,5 Milliarden Euro geschätzt.
Auch die Firma FCC finanziert natürlich ihre Geschäfte mit Kredit. Neben dem Kredit, den sie selbst bei Banken und durch Aktienemissionen an mehreren Börsen generiert, beruht ein guter Teil der Zahlungsfähigkeit ihrer Kunden auf dem Staats- und Kommunalkredit. Außerdem hat Spanien seit Ende der 90-er Jahre bis zur Krise 2008 ein beispielloser Immobilienboom geprägt, der der Motor des Wachstums war und von anderen EU-Staaten bewundert wurde. Auch dieser Bauboom war – neben Geldwäschefunktionen, die er auch erfüllte – selbstverständlich kreditfinanziert, zu einem Teil durch sehr großzügig en masse vergebene Hypothekarkredite.
West meets East
Der Kauf der Mehrheitsanteile bei der Alpine war wahrscheinlich von dem Wunsch getragen, neben dem angestammten Geschäft auch am Baugeschäft in den neuen EU-Staaten nach der Osterweiterung 2004 mitschneiden zu können. Für die Alpine bedeutete der Einstieg des spanischen Multis eine weitere Steigerung ihres Kreditrahmens und ihres Aktivitätsradius’, der auch gehörig ausgenutzt wurde.
Im Lichte all dessen ist begreiflich, daß die Alpine nach 2008 immer mehr in Schwierigkeiten geriet. Zusammenbrechende Märkte in Ost- und Südosteuropa, der Konkurs der Hypo Alpe Adria – all das schlug sich negativ aufs Geschäft und ließ die Verbindlichkeiten in ihren Büchern anwachsen. Hierzu gesellten sich auch noch die Schwierigkeiten, die die spanische Mutterfirma selbst hatte, als der Bauboom in Spanien zusammenbrach und den gesamten Sparkassensektor mit sich riß. Damit war auch von dort nicht mehr viel Liquidität zu erwarten.
Krise
Dennoch übernahm FCC 2012 noch einmal Anteile an der Alpine, baute also ihre Beteiligung noch aus.
Dazu mögen Illusionen begetragen haben, die die spanische Firma bezüglich Osteuropa hatte. Man hoffte, auf einigen Märkten, wie Polen, weiter expandieren zu können. Vermutlich wurden auch diese Illusionen von den Alpine-Managern und dem verkaufswilligen Mitbesitzer genährt.
Umgekehrt scheinen sich auch bei der österreichischen Firmenleitung hartnäckige Illusionen über die Liquidität von FCC gehalten zu haben, bei denen vor dem Zustand des spanischen Kreditsektors die Augen geschlossen wurden.
Da andere Finanzierungsmöglichkeiten versiegten, begab die Alpine in den Jahren 2010-2012 insgesamt 3 Anleihen mit einem Gesamtvolumen von insgesamt 290 Millionen Euro aus. Diese mit 5–6% verzinsten Anleihen fanden angesichts der niedrigen Zinsfüße und Renditen bei den meisten anderen Wertpapieren guten Absatz, da zudem eine österreichische Baufirma als äußerst solid galt.
Das Problem der mangelnden Zahlungsfähigkeit der Kunden, die sich seit 2010 nicht verbessert, sondern im Gegenteil verschlechtert hat, konnten diese Anleihen jedoch nicht beheben. Dafür belasteten sie das Alpine-Budget zusätzlich mit dem Zinsendienst. Die Hoffnung, daß die Märkte sich „erholen“ würden, bewahrheitete sich nicht.
Als die Alpine diese Woche bei ihrem Mutterkonzern um eine Geldspritze ansuchte und vermutlich erstmals die Karten bezüglich ihrer steigenden Verluste offen auf den Tisch legte, fiel die spanische Unternehmensleitung allem Anschein nach aus allen Wolken. Sie hatte die Alpine, da nicht von den spanischen Problemen betroffen, selbst als einen Rettungsanker angesehen, über den man sich gegebenenfalls Liquidität für das Geschäft in Spanien beschaffen könnte. Und sie ließ die Alpine fallen wie eine heiße Kartoffel, worauf letztere Konkurs anmelden mußte.
Der Konkurs der Alpine könnte den des Konsum übertreffen und zum größten Konkurs der Zweiten Republik werden. Dieses hätte noch nicht abschätzbare Auswirkungen auf den österreichischen Kreditsektor und die Wiener Börse.
Auch ein Domino-Effekt ist vorstellbar: Auf den spanischen Mutterkonzern, den spanischen Kreditsektor, und auf den Euro.

Nachruf auf Gyula Horn

DER NUSSKNACKER DES REALSOZIALISMUS

Es ist selten, daß sich bei einem Nachruf auf ein ehemaliges Mitglied einer osteuropäischen Staatspartei (die Bezeichnung „Kommunist“ wäre bei Horn äußerst unpassend, auch seinem Selbstverständnis zufolge) die Medien so in Lobreden überbieten. Unter dem Grundsatz „De mortuis nil nisi bonum“ – über die Toten nichts als Gutes – werden im Allgemeinen nur westeuropäische Politiker und Wirtschaftstreibende verabschiedet. Also Leute, die sich um die Verwaltung und den Ausbau des kapitalistischen Systems verdient gemacht haben. Der Verdacht liegt nahe, daß Horn ähnliche Verdienste auf seine Fahnen schreiben konnte.

Über Gyula Horn beginnt ein Sprachrohr des konservativen Deutschlands seinen Nachruf:

„Die Liste von Ungarns überragenden Staatsmännern des 20. Jahrhunderts ist kurz. Sie besteht aus Gyula Horn.“

und weiß am Ende seines Artikels – durchaus anerkennend – zu vermelden:

„Er war ein Machtmensch, irgendwo auch ein Zyniker, und ein Patriot.“ (Die Welt, 20.6.)

Horn war einer der osteuropäischen Politiker, bei denen sich im Lauf der 70-er und 80-er Jahre steigende Unzufriedenheit über die Leistungen des sozialistischen Wirtschaftssystems breitmachten. Das ewige Wurschteln um die Erfüllung von Plänen, die ständige Feilschen und die Mühsal des Austausches von Gütern mit den Bruderländern innerhalb des RGW, die noch mühsamere Jagd nach Devisen und die Not, sich fortschrittliche Technologie unter Umgehung der Handelsbeschränkungen mittels Schmuggel zu besorgen – das zehrte an der Substanz der Staatsparteien, die diese ganze Art von Ökonomie noch dazu sich selbst und der Bevölkerung als einen eigenen Weg des Fortschritts und eine Überwindung der Mängel des Kapitalismus verkaufen mußten. Die ganzen Widersprüche und Absurditäten, die das sowjetische System der Ökonomie und das daselbst eingerichtete Verhältnis zwischen Staat und Volk seit seiner Gründung mit sich schleppte und die nach 1945 den Volksdemokratien verpaßt worden waren, führten zu starken Selbstzweifeln bei den jeweiligen Staatsparteien.

Die Widersprüchlichkeit des sowjetischen Systems bringt ein weiteres Sprachrohr des deutschen Kapitalismus in eigentümlicher Begriffslosigkeit auf den Punkt:

„Mit ganzer Vehemenz hatte sich der Sohn aus proletarischem Milieu … der Sache des Kommunismus verschrieben. Er studierte – nach einer Mechanikerlehre bei den ungarischen Siemenswerken – in der Sowjetunion Finanzwissenschaften.“ (FAZ, 19.6.)

Warum der „Sache des Kommunismus“ ausgerechnet durch ein Studium des Umgangs mit dem abstrakten Reichtum, der im Kapitalismus alle Produktion bestimmt, gedient sein soll, hält die FAZ natürlich nicht für erklärungsbedürftig. Auch warum die Sowjetunion eine solche Studienrichtung einrichtete und meinte, auch ihre Satellitenstaaten mit diesbezüglichem „Wissen“ ausstatten zu müssen, fragt niemand nach.

Es jedenfalls Leuten wie Horn zuzuschreiben, daß Ungarn bereits vor der Wende eine Art Maulwurf zur Untergrabung der sozialistischen Arbeitsteilung war, dafür um jeden Preis mit westlichen Finanzinstitutionen ins Geschäft kommen wollte, wie der IWF-Beitritt 1982 und die Bankenliberalisierung 1987 zeigen. Die ungarische Staatspartei war auch der eifrigste Verfechter der Auflösung des RGW, und der Umstellung von Tauschhandel auf Verrechnung in Devisen, der nach 1990 den Handel zwischen den ehemaligen Bruderländern praktisch zum Erliegen gebracht hat.

Daß Horn mit seinem historischen Stacheldrahtschnitt 1989 den Fall der Berliner Mauer und damit die deutsche Wiedervereinigung sozusagen eingeleitet hat, wird ihm in den deutschen Medien hoch angerechnet. Über dieser historischen Leistung treten Horns Verdienste um den Systemwechsel in Ungarn selbst in den Hintergrund: Es war der nach der Wende gewählten Regierung Horn zuzuschreiben, die Verabschiedung aller sozialistischen Illusionen an ihr logisch-historisches Ende zu führen. Als sich herausstellte, daß es auch in Ungarn keine „blühenden Landschaften“ geben wird, daß das heiß ersehnte westliche Kapital in Ungarn zwar einen Markt sucht, aber sich alle Konkurrenz in Sachen Produktion vom Leibe schaffen will; und auch daß Ungarn seine Vorreiterrolle in Sachen Auflösung des Ostblocks von keiner Instanz gelohnt wird, so war es Horn, der daraus die nötige Konsequenz zog. Er sagte mehr oder weniger: Leute, das wars. Ein guter Teil von euch ist in Zukunft überflüssig oder nur mehr für Hungerlöhne gut.

Es bedurfte der ehemaligen Staatspartei und ihrer immer noch vorhandenen Seilschaften in Betrieben und Medien, um dieses Programm durchzuziehen: In die Regierungszeit Horns (1994-98) fällt der Abbau des ungarischen Sozialstaates, die zwangsweise Privatisierung des Pensionssystems, und der Anschluß an die westliche Waffenbruderschaft, die NATO.

Es ist also zweifelsohne eine Leistung Horns, daß Ungarn im Westen angekommen ist, und ebenso, wie: Im einstigen „Land der 3 Millionen Bettler“ leben inzwischen ca. 4 Millionen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze.

Tja, Pech, würde Horn sagen, wenn er es noch könnte. Aber mehr war eben nicht drin! Und Dabeisein ist schließlich alles.