DER RUSSISCHE INQUISITIONS-UMHANG
„Das Etikett, das seit 2012 zur Kennzeichnung von NGOs mit ausländischer Finanzierung verwendet wird, ist inzwischen zu einer Hürde für Dissidenten geworden. Die Aktivitäten von bedeutenden Akteuren der russischen Presselandschaft sind von dieser Maßnahme betroffen.
Die Pestglocke, die Spitzkappe und der charakteristische Umhang der von der Inquisition Verurteilten: zu diesen und anderen historischen Methoden zur Kennzeichnung unbequemer Gruppen und potenzieller Quellen physischer oder ideologischer Ansteckung hat Russland seinen eigenen Beitrag geleistet, nämlich die Bezeichnung „ausländischer Agent“.
Das 2012 in die russische Gesetzgebung eingeführte Konzept des »ausländischen Agenten« diente dem von Wladimir Putin gelenkten System dazu, die Rechte politischer Aktivisten einzuschränken, die seine Richtung in Frage stellen oder lästige Träger verschiedener Alternativen zu seiner (…) Politik sind.
Die Gesetzgebung zu „ausländischen Agenten“ begann als eine Möglichkeit, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) öffentlich als solche mit politischen Aktivitäten und ausländischer Finanzierung zu identifizieren.“
Hierzu muß bemerkt werden, daß die meisten NGOs – nicht nur in Rußland – aus internationalen Quellen finanziert werden, die oft nicht sehr transparent sind.
Die Bezeichnung des „ausländischen Agenten“ stammt aus der Gesetzgebung der USA, Rußland hat sich von dort inspirieren lassen und diese Kategorie bzw. diesen Rechtsbegriff schöpferisch weiterentwickelt:
„Im Laufe der Zeit und durch aufeinanderfolgende Änderungen wurde der Geltungsbereich der Gesetzgebung erweitert und heute ist der Begriff »ausländischer Agent« ein verbindliches Zeichen für juristische Personen, natürliche Personen und als solche bezeichnete Medienunternehmen, das nicht nur für Empfänger von ausländischer finanzieller oder materieller Unterstützung gilt (wie gering sie auch sein mag), sondern auch auf diejenigen angewendet wird, die angeblich »unter dem Einfluss des Auslandes« stehen.
Natürliche und juristische Personen sind daher genötigt, sich überall dort, wo sie auftreten, als »ausländische Agenten« zu bekennen (bzw. als solche identifiziert zu werden). Ob sie einen kurzen Kommentar abgeben, einen Artikel oder ein Buch veröffentlichen oder auf der Bühne auftreten, ihre Namen dürfen in der Öffentlichkeit nur mit dem demütigenden Etikett erwähnt werden.
»Ausländische Agenten« haben keinen Zugang zu offiziellen Stellen, dürfen keine Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, keine Mittel vom Staat erhalten oder an Schulen unterrichten.“
Das alles erinnert sehr an den „Radikalenerlaß“ in Deutschland aus dem Jahr 1972 und den vorhergegangenen Adenauer-Erlaß von 1950, die sich allerdings ausdrücklich nur auf den öffentlichen Dienst bezogen. Diese Erlässe hatten allerdings Folgen für die Privatwirtschaft, vor allem für Medien, wo die von diesen Erlässen betroffenen Personen auch keine Jobs fanden.
„Darüber hinaus unterliegen sie einer besonderen Finanzkontrolle und müssen vierteljährlich und halbjährlich Berichte über Finanz- und Verwaltungsangelegenheiten vorlegen sowie über alle ihre öffentlichen Aktivitäten Rechenschaft ablegen.“
Damit wird natürlich auch klargestellt, daß private Spenden oder Finanzierungen innerhalb Rußlands unerwünscht sind, weil ja die etwaigen Finanziers dieser »ausländischen Agenten« offengelegt werden müssen.
„Eine Liste, die jeden Freitag erweitert wird
Auf einer Liste, die jeden Freitag um neue Namen erweitert wird, erscheinen unter anderem Künstler, Journalisten, Nichtregierungsorganisationen und deren Mitglieder, Schriftsteller, Sänger, Politikwissenschaftler.
Mit Stand vom 15. März umfasste das Register, für das das Justizministerium zuständig ist, 781 Namen, von denen 199 als ausgenommen“ (d.h., nicht mehr unter diese Kategorie fallend) „aufgeführt waren, was bedeutet, daß in 582 Fällen die Bezeichnung »ausländischer Agent« in Kraft ist. Bei den aus dem Register entfernten Namen handelt es sich überwiegend (134) um aufgelöste Körperschaften, etwa Schwulen- und Lesbenvereine. Nur in fünf Fällen erkennt das Ministerium seinen Fehler bei der Einstufung als »ausländische Agenten« an.
Ursprünglich verfügten die russischen Behörden über vier verschiedene Register (entsprechend den verschiedenen Kategorien ausländischer Agenten).
Die erste registrierte Organisation (im Jahr 2013) war die Eurasische Antimonopol-Vereinigung (aus Juristen mit Wurzeln in Kasachstan).“
Dieser Verein wurde offenbar verdächtigt, irgendwelche mafiösen Praktiken aus mittelasiatischen Staaten zu decken, bestand aber trotz des Etiketts des „ausländischen Agenten“ bis 2023.
Daraus kann man erkennen, daß diese rechtliche Kategorie ursprünglich keineswegs bloß aus Gründen der Gesinnungskontrolle eingeführt wurde, sondern um jegliche Aktivitäten zu kontrollieren, die der russischen Gesetzgebung verdächtig erschienen.
Man kann daraus auch ersehen, daß der Status des „a.A“ nicht mit einem Verbot dieser Aktivitäten gleichzusetzen ist.
„Im Jahr 2014 folgten die NGO Golos (Stimme) zum Schutz des Wahlrechts und weitere, insgesamt waren es damals 29.
Im Jahr 2015 gab es 80 Neuzugänge, darunter die internationale Organisation Memorial und das Komitee gegen Folter.
Bei den letzten sieben Namen, die am vergangenen Freitag zur Liste hinzugefügt wurden, handelt es sich um einen Wirtschaftswissenschaftler, einen Gemeindevertreter, einen Schauspieler, einen Theaterregisseur, zwei Journalisten und einen ehemaligen Polizisten. In fünf Fällen wird ihnen vorgeworfen, sie hätten sich der »militärischen Sonderoperation« (Krieg) des Kremls in der Ukraine widersetzt, und in mindestens drei Fällen würden sie »unzuverlässige Informationen« über die offizielle Politik verbreiten. Von den sieben neuen Agenten befinden sich sechs außerhalb Russlands.“
Das heißt, diese Leute haben sich ins Ausland abgesetzt und verbreiten ihre Ansichten über das Internet.
„Eine der jüngsten Maßnahmen, die diesen Monat in Kraft getreten ist, verbietet russischen Bürgern die Plazierung von Anzeigen in Medien, die als ausländische Agenten gelten. Dadurch werden große Persönlichkeiten des russischen Journalismus wie Jekaterina Gordejeva (1,64 Millionen Abonnenten auf YouTube) oder Alexej Pivovarov (4 Millionen Abonnenten auf YouTube und mehr als eine Million auf Telegram) ihrer Ressourcen beraubt. Beide Journalisten haben angekündigt, daß sie ihre Aktivitäten einschränken müssen.“
Pivovarov hat eigentlich andere Probleme, er wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.
„Neben dem öffentlichen Register ausländischer Agenten gibt es ein weiteres Register von Personen, die »mit ausländischen Agenten verbunden« sind, das den Verantwortlichen des russischen Wahlsystems über Wahlteilnehmer dient, die mit ausländischen Agenten in Verbindung stehen. Die Kategorie der „Verbundenen« unterliegt nicht den Einschränkungen ausländischer Agenten und wurde bereits bei den Parlaments- und Regionalwahlen 2021 verwendet. Im Jahr 2023 erschienen mehr als 800 Namen in diesem Register.“
Diese Personen unterliegen also der Beobachtung, sind aber nicht mit den Einschränkungen der „a.A“ konfrontiert.
„Das Konzept des »ausländischen Agenten« ist eine der Säulen des gegenwärtigen russischen Regimes und ist mit kulturellen Stereotypen verbunden, die seit der Zeit Ivans des Schrecklichen (16. Jahrhundert) im Land verankert sind, sowie mit der stalinistischen Repression, deren Opfer oftmals der Spionage für ausländische Mächte beschuldigt wurden.“
Nur ein Schritt noch bis zum GULAG.
„Diese historischen Assoziationen haben in Russland großes Gewicht und ein Beispiel dafür war Michail Gorbatschows kategorische Weigerung, als ausländischer Agent bezeichnet zu werden, als die entsprechende Gesetzgebung in Kraft trat.
Um nicht mit dem demütigenden Etikett des »ausländischen Agenten« belastet zu werden, mußte die Stiftung des ehemaligen Präsidenten der UdSSR ihre Pläne zur internationalen Zusammenarbeit aufgeben und ihre Öffentlichkeitsarbeit (…) drastisch einschränken.“
Die rechtliche Kategorie des „a. A.“ wirkt also sowohl im Vorfeld als auch im Nachhinein.
„Im Jahr 2012“ (als dieser Begriff eingeführt wurde) „stellten russische Behörden die verpflichtende Identifizierung von »Agenten« als Maßnahme zur Aufdeckung von Lobbyismus vor und behaupteten, daß es in den USA seit den 1930er Jahren ähnliche Gesetze gebe.“
Das ist keine leere „Behauptung“, sondern stimmt.
„Aber das russische Konzept hatte seine eigene Entwicklung. Zunächst mit sich überschneidenden und verwirrenden Regelungen und ab 2022, nach dem Einmarsch in die Ukraine, systematisch. Das Gesetz, das die Politik gegenüber a.A. klar regelte, trat im Dezember 2022 in Kraft.“
Eine etwas eigenartige Beschreibung. Offenbar war es 10 Jahre lang eine Art Gummiparagraph, lax angewendet und leicht zu umgehen. Erst jetzt ist es eine wirklich einschränkende Maßnahme.
„Bis zu 6 Jahre Gefängnis
Derzeit kann ein »ausländischer Agent«, der seinen Pflichten nicht nachkommt, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 2 Jahren (falls innerhalb eines Jahres 2x gegen Vorschriften verstoßen wurde) oder bis zu 5 Jahren (wegen des Sammelns militärischer Daten, auch wenn diese öffentlich zugänglich sind) bestraft werden. Mit Haft bis zu 6 Jahren wird bestraft, wenn der a.A. die Durchführung von Aktivitäten organisiert, die von der Verwaltung verboten sind.“
Etwas unklar formuliert. Entweder die Aktivitäten sind verboten oder nicht. Was heißt hier „Verwaltung“?
„Im zweiten Fall“ (d.h., Bekanntgabe militärischer Daten, das bezieht sich wahrscheinlich auf Hochrechnungen von Verlusten an Menschen und Material im Zuge des Ukraine-Kriegs, aus Todesanzeigen und Daten von Bestattungsunternehmen) „kann es Journalisten und Analysten betreffen und im dritten Fall Leute, die Organisationen gründen, um sich der offiziellen Politik zu widersetzen (z. B. um sich der Einberufung zum Militär zu entziehen, oder um Menschen zur Teilnahme an Kundgebungen aufzufordern).
Die Gesetzgebung zu ausländischen Agenten kann als Teil einer Politik der „Archaisierung“ (Entwicklung zum Archaischen) betrachtet werden, die darin besteht, einflussreiche und aktive Personen zu neutralisieren, die Verbindungen zu einer unabhängigen Zivilgesellschaft sein könnten.“
Das Fehlen einer demokratisch agitierten „Zivilgesellschaft“ wird von der Autorin offenbar als „archaisch“, also der fernen Vergangenheit, vielleicht sogar der Zeit der Höhlenmenschen angehörig, betrachtet.
„Der andere Teil dieser gerade skizzierten Politik besteht in der Förderung einer neuen Art von Elite im Einklang mit dem militaristischen Modell, das Putin in der Gesellschaft zu etablieren versucht.
Am 29. Februar kündigte der Präsident in seiner Rede vor dem Parlament den Start eines von ihm erfundenen Programms an, das er »Heldenzeit« nennt, um die Leistungen von Kriegsveteranen im Ukraine-Krieg zu glorifizieren. Die Konzepte für dieses Projekt, das an die chinesische Kulturrevolution erinnert, werden »in den kommenden Monaten« gebildet, wie der russische Führer ankündigte.“
Man muß da nicht nach China gehen. Solche Programme von Helden der Arbeit, der Kollektivierung oder des Großen Vaterländischen Krieges gab es in der Sowjetunion mehrere.
Generell ist der Artikel zwar eine Beschreibung der fortschreitenden Gesinnungskontrolle in Rußland, wirkt aber für ein Land, das sich immerhin im Krieg befindet, relativ gemäßigt.