Die nächsten paar Seiten widmet sich Lenin den Anarchisten. Mit ihnen hatte er ein Problem: Sie hatten Einfluß in der damaligen Arbeiterschaft, waren immer Gegner des Krieges und Anhänger einer Revolution gewesen. Das „Opportunismus’“ konnte man sie also nicht bezichtigen, und auch des „Abweichlertums“ nicht, da sie ja keine Anhänger des Marximus waren. Ihre Forderung nach der „Abschaffung des Staates“ mußte jedoch lächerlich gemacht werden, um sowohl diese Forderung verstummen zu lassen als auch ihren Einfluß bei den Räten zurückzudrängen.
„Staat und Revolution“, das sollte man nie vergessen, ist auch gegen das Rätesystem geschrieben. Lenin wollte mit dieser Schrift die „Revolution von unten“ bekämpfen, im Sinne seines „Primats der Partei“ und den Führungsanspruch der Partei über die Arbeiterschaft begründen, – im Interesse der Arbeiterschaft, selbstverständlich.
Lenin zitiert hierfür zwei ursprünglich auf italienisch erschienene Schriften: „Der politische Indifferentismus“ von Marx und „Von der Autorität“ von Engels, beide aus dem Jahr 1873.
Die Argumentation läßt sich kurz zusammenfassen: Revolution geht nur mit Gewalt, wer Gewalt ablehnt, verzichtet auf den Kampf gegen die Bourgeoisie. Gewalt ist autoritär, also ist auch die Revolution autoritär. Auf Schiffen und Eisenbahnen braucht es auch Autorität. Autorität ablehnen heißt Gewalt ablehnen und damit verzichtet man auf Revolution. Den Staat „von heute auf morgen“ abzuschaffen, käme Selbstentwaffnung gleich. Man muß nämlich erst die sozialen Verhältnisse verändern, mit Hilfe des proletarischen Staates, und dann stirbt er ja ohnehin von selbst ab. Wer das nicht begreift, ist entweder dumm oder verlogen. „In beiden Fällen dienen sie nur der Reaktion.“ (S. 74)
Damit einem diese Argumente schlüssig erscheinen, muß man bereits die Trennung, die Lenin in den vorigen Kapiteln vollzogen hat, mitmachen: „Staat“, das ist der bewaffnete Arm der Bourgeoise, alles was Waffen in der Hand hat. Der Rest sind irgendwelche neutralen Behörden, „Verwaltung“ eben. Und dann ist der proletarische Staat, der Lenin vorschwebt, eben genauso ein Gewaltapparat, nur in den richtigen Händen.
Damit ist auch die Kurve gekratzt, um die Anarchisten alt ausschauen zu lassen: Statt nur den bürgerlichen Staat zu bekämpfen, lehnen sie das Prinzip des Staates ab, entwaffnen dadurch die Arbeiterklasse und arbeiten der Reaktion in die Hände.
Die nächste Schrift, die sich Lenin vornimmt, ist die Kritik von Engels am Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokraten. Dort schlägt Engels in seinem Brief an Bebel vor, das Wort „freier Volksstaat“ durch „Gemeinwesen“ zu ersetzen, um Irrtümer zu vermeiden und den Übergangscharakter des Arbeiterstaates hevorzustreichen.
So kann mans natürlich auch machen, daß man den Begriff überhaupt wegläßt und umschreibt. (Die deutschen Sozialdemokraten haben es übrigens nicht gemacht, sie haben nur statt „Volksstaat“ „Staat“ hingeschrieben.)
Es folgen dann besonders langweile Ausführungen über die Fortschrittlichkeit verschiedener Staatsformen, und daß Zentralismus auf jeden Fall besser ist als Föderalismus. Als abschreckendes Beispiel wird die Schweiz angeführt. Argumente, Begründungen sucht man hier vergeblich.
Weiter geht es mit einer Einleitung von Engels zu einer späteren Ausgabe (1891) des „Bürgerkriegs in Frankreich“. Lenin bezeichnet die von Engels hier gezogenen Lehren aus der Kommune als das „letzte Wort des Marxismus“. Das non plus ultra also. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß man dagegen nichts einwenden darf, weil sonst wird man als Marxist exkommuniziert, von Lenin höchstpersönlich.
Nach einigen Ausführungen über die Bewaffnung des Proletariats und daß das dem Bürgertum nicht recht ist (surprise, surprise!), und einer Kritik an der Stellung der Sozialdemokratie zur Religion – Erklärung zur Privatsache statt Kritik an derselben –, denen man sich anschließen kann, aber was heißt das eigentlich? – kommt er auf Ersetzung und Entlohnung der Beamtenschaft zu sprechen. Beamten müssen gewählt werden und dürfen nicht mehr verdienen als gewöhnliche Arbeiter.
Die Frage, die sich hier stellen würde, wäre: Was ist ihre Aufgabe? Was verwalten sie eigentlich? Es kommt aber nichts. Dafür wird daraus wieder einmal eine „Lehre“ gezogen:
„Engels gelangt hier an jene denkwürdige Grenze, wo eine konsequente Demokratie sich auf der einen Seite in Sozialismus verwandelt und auf der andern Seite den Sozialismus erfordert. Denn zur Aufhebung des Staates ist nötig, daß die Funktionen des Staatsdienstes in solche einfachen Operationen der Kontrolle und Rechnungsführung verwandelt werden, die für die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung und später für die gesamte Bevölkerung ohne Ausnahme verständlich und ausführbar sind.“ (S. 91)
Was entnehmen wir diesem Zitat?
1. Demokratie wird zu einer bloßen Verfahrensform erklärt, die im Wählen von Repräsentanten besteht. Das ist ein häufiges Mißverständnis dessen, was Demokratie bedeutet: Der Begriff bedeutet „Volksherrschaft “, dient der Aufrechterhaltung der Kapitalsinteressen, und die Verfahrensform wird sehr großzügig gehandhabt. Heute gilt z.B. Österreich in den Medien zweifelsfrei als Demokratie, weil dort die Gemeindevertreter, Landesregierungen, das Parlament und das Staatsoberhaupt durch Wahlen bestimmt werden, Kuba hingegen nicht, obwohl dort die Gemeindevertreter und die Provinzvertreter auch durch Wahlen bestimmt werden.
2. Wenn die Verfahrensform stimmt, so ist der Inhalt dessen, worüber diese solchermaßen gewählten Vertreter entscheiden, für die Anhänger von Demokratie relativ gleichgültig. Die Ermächtigung für diverse Entscheidungen ist ausschlaggebend, deren Inhalt ist dann ziemlich beliebig und richtet sich nach den Erforderungen in- und ausländischer Mächte.
(Wie wir im Folgenden sehen werden, ist letztlich für Lenin die Verfahrensform auch nicht entscheidend, sobald wichtigere Gesichtspunkte auftreten.)
3. Zivile Beamte (die nicht gewählt wurden!) vollführen also dennoch „Funktionen des Staatsdienstes“, nicht nur die Gewalt macht also den Staat aus. Und deren bisheriger Mangel war – mangelnde Transparenz? Nicht das, wofür sie angeblich dienten: Unterdrückung, Verdummung der Arbeiter zugunsten der Bourgeoisie?
Das Zitat, das angeblich so viele Fragen beantwortet, läßt noch viel mehr Fragen offen.
Schließlich, auch das bleibt in obigem Zitat offen: was ist eigentlich „Sozialismus“? Man müßte diesen Begriff irgendwie mit Inhalt füllen, sonst ist dieses Zitat eine Tautologie: Demokratie führt zu Sozialismus, und Sozialismus ist vollendete Demokratie. Alles sehr schön. Aber worum geht es eigentlich?
Umso mehr, als Lenin den Gedanken wie folgt fortführt:
„… ein vollauf konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, im Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.“ (S. 91)
Also: einerseits sind wir ja sehr für Demokratie, andererseits ist sie im Grunde überflüssig. Warum dann Partei ergreifen für diese Staatsform? Nur weil es gut klingt? Wenn sie ohnehin für nichts taugt im proletarischen Staat?
„Für sich genommen wird kein Demokratismus den Sozialismus bringen.“ (S. 91)
Über irgendwelche dialektischen Verschlingungen hat dann die Demokratie doch was mit der Arbeitermacht zu tun. Lenin vollführt hier einen Eiertanz, um zu beweisen, daß alle diese von ihm herangezogenen Schriften zeigen, daß es eine Entwicklung zum Sozialismus gibt und jede Einseiferei seitens der Bolschewiki, oder seiner Person, gerechtfertigt ist, sofern sie dem „Fortschritt“ dient. Demokratie muß man einerseits propagieren, aber wenn man einmal damit die Leute auf seine Seite gezogen hat, so ist sie schnellstmöglich abzuschaffen. „Demokratie“ heißt hier soviel wie „Mitbestimmung“: Erst muß man die Leute diesbezüglich auf seine Seite ziehen, daß sie in einer neuen Gesellschaft selbstverständlich auch etwas zu sagen hätten. Kaum hat man dann die neue Gesellschaft konstituiert, so sind natürlich alle diese Mitbestimmungs-Gremien und -Möglichkeiten sofort zu liquidieren …
„Engels begeht aber nicht den Fehler, den z.B. manche Marxisten in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen begehen: im Kapitalismus sei die Selbstbestimmung unmöglich und im Sozialismus überflüssig. Eine derartige, anscheinend geistreiche, in Wirklichkeit aber falsche Argumentation ließe sich über jede beliebige demokratische Einrichtung wiederholen, auch über die bescheidenen Beamtengehälter, denn ein vollauf konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, im Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.“ (S. 91)
Die Demokratie wird hier von Lenin zu einer reinen Augenauswischerei erklärt. Im Kapitalismus ist sie „nie verwirklicht“, im Sozialismus ist sie überflüssig.
Diese Bestimmung der Demokratie ist nicht mit einer Kritik von derselben zu verwechseln. Lenin erklärt diesen Begriff zu einer bloßen Verfahrensform, einem Begriff, mit dem man die Leute für sich einnimmt, um ihn dann, wenn die eigenen Ziele verwirklicht sind, einfach abzuschaffen. Weils sich als „marxistisch“ eingebürgert hat, daß unangenehme Dinge einfach „absterben“, so spricht Lenin ihr auch diese Entwicklung zu. Im Grunde erklärt er die Demokratie zu eier Einseiferei, zu einer schlauen Roßtäuscherei für Revolutionäre: Man verspricht dem Volk Demokratie, und wenn man dann die Macht hat, so wirft man die ganze Demokratie in den Mistkübel der Geschichte.
Eine eigenartige Form, die Massen, oder das Proletariat zu überzeugen: Man nimmt einen Begriff aus dem bürgerlichen Repertoire, erklärt sich zu deren Vertreter, und wenn man dann an der Macht ist, so verabschiedet man sich davon.
Warum dieser Begriff der Demokratie attraktiv ist, warum man damit Leute gewinnen kann, ist für Lenin ganz gleich. Er „zieht“, also verwendet man ihn, und sobald sich die Gelegenheit ergibt, so läßt man ihn fallen.
Das folgende Lob Lenins für Engels ist eher ein intellektuelles Eigentor, es läßt nämlich beide großen „Theoretiker“ eher alt ausschauen:
„Der Dialektiker Engels bleibt am Ende seiner Tage der Dialektik treu. Marx und ich, sagt er, hatten einen ausgezeichneten, wissenschaftlich exakten Namen für die Partei, aber es fehlte die wirkliche, d.h. die proletarische Massenpartei.“ (S. 94)
Eine Lachnummer. Der Name paßt, es fehlt nur die Partei.
Und was heißt in diesem Zusammenhang „wissenschaftlich exakt“? In beiden Fällen liegen Absichtserklärungen vor, auch wenn Engels sich über den Umstand hinwegtäuschen will: Wer sich als Kommunist bezeichnet, bringt damit zumindest einen Vorbehalt gegen das Privateigentum zum Ausdruck, erklärt es für ein Zu-Überwindendes. Wer sich als Sozialdemokrat bezeichnet, betont seine soziale Ader und bekennt sich zur Demokratie als Herrschaftsform.
Somit hatten die beiden Parteien genau die Namen, die ihrem Programm entsprachen.
Lenins programmatische Erklärung am Ende dieses Kapitels mag als frommer Wunsch angesichts der späteren Entwicklungen grotesk erscheinen:
„Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. Wir erwarten nicht, daß eine Gesellschaftsordnung anbricht, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht eingehalten werden würde. Doch in unserem Streben zum Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüberwachsen wird und daß im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt, der Unterordnung eines Menschen unter den anderen, eines Teils der Bevölkerung unter den anderen verschwinden wird, denn die Menschen werden sich daran gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterdrückung einzuhalten.“ (S. 95)
Diese schöne neue Welt ist aber nicht deshalb nicht zustandegekommen, weil Lenin sie nicht aufrichtig gewünscht hätte, oder selbst nicht an seine Sprüche geglaubt hat. Nein, der Kommunismus sowjetischer Prägung ist deshalb gescheitert, weil Lenin die feindselige Welt, der er gegenüberstand, falsch bestimmt hat, wie in diesem vorliegenden Falle den Staat und die Demokratie.
Das vollständige Zitat:
Und noch:
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Staat und Revolution, Teil 8 « Der ganz normale Wahnsinn