TOD EINES MARKTWIRTS
Heute ist der Jegor Gaidar abgenibbelt.
Viele Russen werden sagen: Endlich!
Obwohl, allen Schaden, den er anrichten konnte, hat er schon lange angerichtet gehabt. Er hat sich sozusagen, wie man so schön zu sagen pflegt, selbst überlebt.
Wofür stand der „Vater der russischen Marktwirtschaft“?
Mit der von ihm als Regierungschef beschlossenen Freigabe der Preise im Januar 1992 leitete er endgültig die Herrschaft des Geldes in Rußland ein. Was die Perestrojka, das „trockene Gesetz“ und die Pavlovsche Reform geleistet hatten – eine gründliche Zerstörung des sowjetischen Wirtschaftssystems – das führte Gaidar zu Ende: Er verpflichtete alle Leute darauf, in Zukunft mit allen Mitteln an Geld zu kommen, indem er ihnen erst einmal alles wegnahm. Wer nicht irgendwo schon Devisen in der Matratze gehortet hatte, verlor durch die galoppierende Entwertung des Rubels sein ganzes Geldvermögen und wurde dadurch mittellos.
Gaidars Reform schuf die eine Voraussetzung einer erfolgreichen Marktwirtschaft: flächendeckende Armut, es lag aber nicht in seiner Macht, sich um die andere Seite des funktionierenden Kapitalismus’ zu kümmern: Akkumulation von Reichtum auf der anderen Seite, um dann diese Armut produktiv einsetzen zu können, mit Ausbeutung nämlich. Das war dann in den nächsten Jahren das Geschäft der Oligarchen, der Paten – „gesetzlichen Diebe“, mit einem Wort, der neuen Unternehmerklasse, die in den westlichen Medien oft mit dem häßlichen Namen „russische Mafia“ bedacht wurde.
Die Figur Gaidars wirft allerdings auch ein schlechtes Licht auf die untergangene Sowjetunion, wenngleich anders, als die Nachrufe es vermelden. Wie ist es möglich, daß jemand, der 1978 mit Auszeichnung als Ökonom auf der Lomonossow-Universität promovierte und dann als Wirtschaftsexperte für die Pravda schrieb, schließlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Einführung der Marktwirtschaft die Zukunft der russischen Wirtschaft sah? Was haben die ihm eigentlich beigebracht auf der Lomonossow-Uni? Was hat er als ultima ratio der Ökonomie im Sprachorgan der Kommunistischen Partei Rußlands verbreitet? Offenbar eine große Bewunderung des Geldes als Zwangsmittel für die Bevölkerung, und eine ebenso große Bewunderung der „Effizienz“ desjenigen Wirtschaftssystems, das es versteht wie kein anderes, seine Bevölkerung für den Dienst am Kapital einzuspannen. Typen wie Gaidar gab es zuhauf als Absolventen und Lehrende sozialistischer Ökonomie-Lehrstühle, die ihre Bewunderung für die westliche Reichtumsproduktion im offiziellen Diskurs mit einem marxistisch-leninistischen Phrasenkostüm verhüllten und ihre Unzufriedenheit über die Unzulänglichkeiten ihrer eigenen „Planwirtschaft“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit heraushängen ließen.
Damit kann man über den untergegangenen Realsozialismus einmal eines erschließen: Wohlstand für Alle! war nicht sein Programm, sondern die werten Werktätigen sollten mit ihrer Arbeit nationalen Reichtum mehren und den Staat groß machen – dafür wurde dort geplant und schließlich diese Planwirtschaft endgültig kaputtrefomiert.
In den Nachrufen auf Gaidar wurde behauptet, die Freigabe der Preise hätte eine Hungersnot verhindert.
Wie soll denn das gehen? Wie soll der Umstand, daß man die Leute nötigt, alles für Geld zu kaufen, gleichzeitig aber eine völlige Entwertung dieses Geldes einleitet – wie soll das Hunger verhindern?
Das Gegenteil ist doch der Fall: Die Preisreform hat dafür gesorgt, daß in den nächsten Jahren jede Menge Leute verhungert und erfroren sind. Aber sie waren über das ganze Land verstreut, alt, krank und isoliert, oder Kinder, sie machten keinen Aufstand, sondern starben still, sie gefährdeten das zarte Pflänzchen der russischen Marktwirtschaft nicht.
Es waren auch keine UNO-Organisationen zur Stelle, oder NGOs, keine Medienfritzen, die Hunger, Armut und Krankheit in Sibirien vor die laufenden Kameras brachten und zu Spendenaktionen aufriefen. Denn diese Hungertoten Rußlands waren keine „unschuldigen Opfer“ von Naturkatastrophen oder „Regimes“, sondern die notwendigen Unkosten der Einführung des besten aller Systeme, des Kapitalismus, in einem Land, das sich ihm verbrecherischerweise jahrzehntelang verweigert hatte.
Gaidar ist tot, aber sein Werk hat ihn überlebt.
Was kann sich ein Nationalökonom Schöneres wünschen!