Argentinien schifft wieder ab

RICHTUNGSWECHSEL IN ARGENTINIEN: MAURICIO MACRI, EIN HELD AUF ABRUF

Die internationalen Medien waren in den letzten Jahren immer mehr von Kritik am „Regierungsstil“ von Frau Kirchner erfüllt, die durch alle möglichen Eingriffe in die Wirtschaft die Investoren verschreckte, die Schulden Agentiniens nicht zahlte, sich den Chinesen an den Hals warf, und ihre Bevölkerung mit bevormundenden Subventionen „kaufte“, nur um ihres Machterhaltes willen natürlich, unnötige Geschenke an die Armen machte, die Inflationszahlen fälschte (im Unterschied zur EU, deren Statistiken von kristallklarer Wahrhaftigkeit sind) usw. usf.

Endlich, endlich kam die Erlösung in Form von Mauricio Macri, der sehr zur Freude der internationalen Beweihräucherer der Marktwirtschaft entschlossen war, den kirchnerschen Augiasstall auszukehren.
Ein paar Lobmeldungen:

„Kurz und sachlich – ein neuer Stil für Argentinien … Mit knappen und sachlichen Worten umriss er seine Ziele. Dazu gehört die Stärkung des Handels – was der Vertreter aus Deutschland gerne hört.“ (Tagesschau, 11.12.)

Die NZZ kann sich fast nicht einkriegen über die wirtschaftliche Vernunft, die sich endlich auch in Argentinien durchsetzt:

„Das interventionistische Korsett und die populistische Subventionspolitik des Kirchnerismus hatten zur Stagnation der Wirtschaft und zu Rekorddefiziten im Staatshaushalt geführt. Macri verfügte deshalb die Freigabe des Dollarkurses, entlastete die Agrar- und Industrieproduzenten von Exportsteuern und strich die Verbilligungen für bedürftige Konsumenten bei der Energie.“

ähnlich euphorisch der „Spiegel“:

„Die Argentinier haben für einen radikalen Wechsel gestimmt, nicht nur von links nach rechts, sondern auch und vor allem in der Kultur der Macht.“

Macri versprach auch, die Verhandlungen mit den Geierfonds wieder aufzunehmen, und gab als erstes einmal den Wechselkurs zum Dollar frei.

Man muß an dieser Stelle erklären, warum die Regierungen Kirchner eine Devisenbewirtschaftung einführten und bis zum Ende ihrer Amtszeit beibehielten.
Vor 2002 herrschte in Argentinien die Politik des „currency boards“, der 1:1-Bindung des Peso an den Dollar, die mit dem IWF ausgehandelt worden war. Sie wurde aufrechterhalten durch strikte Austeritätspolitik und der Möglichkeit, sich an internationalen Börsen in Devisen zu verschulden. Das Zusperren fast der gesamten Industrie – weil nicht effizient, nicht profitabel! – kippte Argentiniens Handelsbilanz, und die steigenden Importe konnten nur durch immer höhere Verschuldung bezahlt werden. Der IWF entzog Argentinien 2001 seine Gunst, damit auch die internationalen Kreditgeber. Argentinien konnte seine Schulden nicht mehr begleichen und meldete Zahlungsunfähigkeit an.
Seither ist Argentinien von den (traditionellen) internationalen Finanzmärkten abgeschnitten und der Staat kann sich nur aus der internen Reichtumsproduktion des Landes finanzieren, durch Steuern, Abgaben, Zölle und die unter diesen Umständen unvermeidlichen Schmiergelder.
Weiters können Importe – die unumgänglich notwendig sind, da die produktive Basis des Landes in Folge der IWF-Auflagen bis 2001 ziemlich geschrumpft war und sich bis heute unter den Bedingungen des Kapitalmangels nicht wirklich erholt hat – können also diese Importe nur mit denjenigen Devisen bezahlt werden, die durch Export erlöst werden. Da aber viele Devisenexporteure, vor allem im Agrarbereich, ihr Geld lieber im Ausland parken, sofern es möglich ist, gab es an dieser Front ständig Streit zwischen der Regierung und den exportierenden Unternehmen.

Das hatte mehrerlei Folgen: erstens eine Devisenbewirtschaftung zur Eindämmung der Kapitalflucht, und einen offiziellen Wechselkurs, der durch Interventionskäufe gestützt wurde, neben einem Dollar-Schwarzmarkt, der gegen entsprechendes Bakschisch geduldet wurde.

Eine weitere Folge war der Abschluß umfangreicher Handelsabkommen mit China, das im Gegenzug gegen Importe von Energie und LW-Produkten, vor allem Soja, Argentinien einen Kreditrahmen in Dollar sowie unmittelbaren Warentausch auf Verrechnungsbasis, ohne faktische Geldflüsse eröffnete.
Macri interpretierte in braver nationalökonomischer Manier diese Versuche, den Warenumlauf in Argentinien überhaupt am Laufen zu halten, als eine schädliche Knebelung der Wirtschaft, die Investoren verschrecke und deshalb das Gedeihen der Wirtschaft behindere. Er vertauscht also Ursache und Wirkung. Die Maßnahmen der Vorgängerregierung waren für ihn nicht Reaktionen auf ein Scheitern der Wirtschaft, sondern sind die Ursache dafür, daß sie nicht vorankommt. Er selber zeigt damit ein sehr kurzes Gedächtnis und setzt dieses auch bei seinen Landsleuten voraus, weil er die Ursachen und Folgen des Staatsbankrotts mehr oder weniger aus dem Bild herausretuschiert, und alle Mißstände in „schlechtes Regieren“ auflöst.

Sein erster großer Schritt in ökonomischer Hinsicht war das Ende der Devisenbeschränkungen und die Freigabe des Wechselkurses.
Auch das wurde begrüßt:

„Was die Freigabe des Peso für Argentinien bedeutet … Für die unternehmerische Mittel- und Oberschicht ist Macris Kurswechsel deshalb eine lange erwartete Glücksnachricht.“ (SZ, 17.12.2015)

„Er macht die Währung frei handelbar und reduziert Handelsbarrieren – ein Hoffnungsschimmer für Anleger und Unternehmen.“ (Wirtschaftswoche, 18.12.)

Die Folgen waren zwar irgendwie unerfreulich:

„Schon am Donnerstag (Ortszeit) rutschte der Peso um mehr als 40 Prozent zum Dollar ab,“ – gehen aber zweifelsohne in Ordnung: „Die neuen Notierungen entsprechen ungefähr den vorherigen Schwarzmarktkursen,“ also hat sich eigentlich ohnehin nicht viel geändert, oder?

Ausgerechnet das Handelsblatt hält sich weniger beim Geschimpfe auf die Vorgängerregierung und der Nährung des Prinzips Hoffnung auf, sondern redet Klartext:

„Die Regierung hofft, so die Exporte anzutreiben. Doch die Abwertung könnte die galoppierende Inflation weiter antreiben.“

Einfache Logik: Im Rahmen der Devisenbewirtschaftung konnten die Importeure bisher zum offiziellen Wechselkurs importieren. Jetzt müssen sie 40% – oder mehr – über dem vorigen Preis berappen und das an ihre Kunden weitergeben. Entweder die Gehälter in Argentinien werden erhöht, oder die meisten Leute können sich das Zeug nicht mehr kaufen, was den inneren Markt drastisch reduziert und Argentinien für Investoren sehr unattraktiv macht. Die Freigabe des Wechselkurses wird also zwangsläufig eine neuerliche Verelendung der Bevölkerung und einen Anstieg der Kapitalflucht zur Folge haben.

Aber der „Reformwille“ des neuen Besens ist ungebrochen und vorige Woche räumte er mit einer weiteren Altlast des „Kirchnerismus“ auf, den beschränkten und subventionierten Energiepreisen, zumindest für den Großraum Buenos Aires:

„Marcri nimmt seine erste große Preisanpassungs-Maßnahme in Angriff, die Erhöhung der Elektrizitätspreise auf bis zu 300%, wenngleich die Details erst am 1. Februar bekanntgegeben werden.“

Der Artikel befaßt sich im weiteren mit den erwarteten positiven Effekten: Die Energie-Unternehmen können endlich wieder marktwirtschaftliche Preise festsetzen (stillschweigend wird unterstellt, daß die Kunden sie auch bezahlen können) und das Netz verbessern und ausbauen, und die Regierung ist einen Subventionsposten los. Ein Win-Win-Effekt wie im Bilderbuch.
Man muß hier hinzufügen, daß in Argentinien derzeit Sommer ist und zwar Klimaanlagen in Betrieb sind, aber das Heizproblem nicht aktuell ist. Wenn bei uns der Sommer einzieht und dort der Winter, kann man mit Meldungen über Erfrierungstote rechnen, sofern die marktwirtschaftsgeile Presse das überhaupt für berichtenswert hält.

Während sich die deutschsprachigen Medien über das nach wie vor virulente Schulden- und Devisenproblem Argentiniens eher bedeckt geben, und der Hoffnung Ausdruck verleihen, daß sich bei entsprechendem guten Willlen schon eine Lösung finden lassen wird, meldet El País, daß sich die Regierung Macri bereits im December, anläßlich der Peso-Freigabe, in der Finanzwelt umgehorcht hat:

„In der argentinischen Presse wurde spekuliert, daß die argentinische Zentralbank ein Abkommen zum Währungsaustausch mit der US-Fed oder den Zentralbanken Mexikos oder Brasiliens aushandeln könnte, aber bisher hat sich nur China in Sachen Aushilfe bereit erklärt.“

Nebenbei bemerkt wird der neue Wind zur Liberalisierung in den restlichen Staaten des Mercosur nämlich übel aufgenommen, weil er den Bestrebungen nach Schaffung eines gemeinsamen Marktes zuwiderläuft.

Die Perspektiven Argentiniens sind also:
weitere Verelendung der Bevölkerung, Tote durch Verhungern und Erfrieren
galoppierende Inflation, wie unter der Regierung Alfonsín
Bankrotte von Importfirmen und Energieversorgern
infolgedessen Streiks und Aufstände, und ein Anstieg der Gewaltverbrechen
und Händezusammenschlagen der Jubelpresse, wie jemand wie Macri in so kurzer Zeit sein „Kapital“ so habe verspielen, die in ihn gesetzten Erwartungen so sehr enttäuschen können! Nötigenfalls kann man noch die Schuld dem „Bremsern“ in Behörden und Parlament zuschreiben, die immer noch dem „Kircherismus“ verpflichtet sind und alles behindern.

Leichte Vorahnungen gibt es, manche Medien warnen vor der „Durststrecke“, die die argentinische Regierung und ihr Oberhaupt noch vor sich haben.

Frühere Beiträge zu Argentinien

Zum Prozeß der Gläubiger in New York:

Der Countdown läuft
https://nestormachno.alanier.at/der-argentinien-krimi-neueste-folge/ – 11.7. 2014

Das weltweite Kreditsystem wackelt wieder einmal
https://nestormachno.alanier.at/argentinien-am-scheideweg – 19.6. 2014

Aasgeier kreisen über Argentinien – 24.2. 2013

Der IWF und Argentinien:
Argentiniens Zahlungsunfähigkeit 2001/2
https://nestormachno.alanier.at/die-weltfinanzbehoerde-laesst-einen-musterschueler-durchfallen/– 2.8. 2011
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Argentinische Bankiers zur Euro-Schuldenkrise
https://nestormachno.alanier.at/ein-grosses-pyramidenspiel – 15.5. 2011

„Nation-building“ in Libyen

MACHTLOSE MARIONETTEN

1. Das politologische Ideal der „Staatengemeinschaft“ und der harmonischen Hierarchie der Nationen
Die Vorstellung, daß alle Nationen nebeneinander friedlich koexistieren könnten, wenn nur der gute Wille vorhanden sei, ist kein bloßes Hirngespinst der Universitäten und Symposien. Die UNO und ihr Vorgänger, der Völkerbund bauten darauf auf. Ein Ideal ist es allemal, das ständig durch Kriege, Bojkotte, Sanktionen usw. beschmutzt wird, an dem aber die Akteure des Imperialismus und vor allem viele ihrer Untertanen gerade deswegen gerne festhalten. Wie das bei Idealen eben so ist – durch das Hochhalten des Ideals wird die schnöde Wirklichkeit bestätigt und befestigt, und Kriege werden „führbar“ gemacht.

Das Dumme und Brutale an diesem Ideal ist, daß der grundlegende Gegensatz zwischen kapitalistischen, also auf der Marktwirtschaft, dem Diktat des Marktes und des Geldes beruhenden Staaten nicht zur Kenntnis genommen wird. Er wird einfach weggewischt. Dabei sind die modernen Nationalstaaten kraft ihrer Verfassung feindliche Brüder. Jeder möchte seine Marktanteile, seinen Einfluß auf dem Weltmarkt erhöhen, notfalls mit militärischen Mitteln, um die anderen aus dem Feld zu schlagen. Der gewöhnliche „Weltfrieden“ ist daher notgedrungen ein Tauziehen um diesen Einfluß, in dem dauernd Konflikte vom Zaun gebrochen, Stellvertreterkriege geführt, Potentaten vor Ort unterstützt oder bekämpft werden, und in dem solchermaßen die jeweiligen Claims dauernd neu abgesteckt werden.

Während des „Kalten Krieges“ von 1945 bis 1991, dem Ende der Sowjetunion, hatte das Ideal der friedlichen Koexistenz von imperialistischen Gegensätzen eine gewisse Realität, wenngleich anders, als dies in Geschichtsbüchern und Medien heute verbreitet wird. Die Gegnerschaft gegen die Sowjetunion stiftete eine gemeinsame Front im imperialistischen Lager, die die Heimatländer des Kapitalismus, den „Freien Westen“ dazu veranlaßte, ihre Gegensätze hintanzustellen und damit eine Einigkeit zu schaffen, die sich auf Außenpolitik, militärische Interventionen und Kredit- und Handelspolitik bezog. Man soll auch Letzteres nicht unterschätzen: eine völlige ökonomische Ruinierung von Staaten, wie sie heute in der EU und an ihren Außenrändern zu beobachten ist, stand damals nicht auf der Agenda, genausowenig wie das Schaffen von regierungslosen Einheiten à la Libyen – auch die Staaten Afrikas oder des Nahen und Fernen Ostens sollten als Verbündete der USA und Europas funktionsfähig sein und wurden dafür mit Entwicklungs- und Militärhilfe ausgestattet.

Nach dem Ende der SU fiel diese einigende Klammer weg. Was manche Idioten als „Ende der Geschichte“ feierten, war der Startschuß zur Neuaufteilung der ganzen Welt.

2. Die Zerstörung Jugoslawiens als Modell für neue „konzessionierte Souveränitäten“
Das durch das Ende des Systemgegensatzes überflüssig gewordene Jugoslawien – wer braucht schon „Blockfreie“, wenn es keine Blöcke mehr gibt – wurde von der frisch gegründeten EU und den USA in einer Mischung von Diplomatie und Interventionismus in 7 Teile aufgeteilt. Mit dem Ergebnis sind beide Machtzentren offensichtlich sehr zufrieden: lauter machtlose Kleinstaaten und teilweise anerkannte Armenhäuser innerhalb Europas, die sich ein Aufbegehren gegen die herrschende Weltordnung gar nicht leisten können, und die teilweise auch von außen verwaltet werden. Das geschieht in einer abgewogenen Mischung von ökonomischer Abhängigkeit und militärischer Bedrohung, und in trauter Zusammenarbeit von USA und EU-Behörden und -Militär.

Die Übertragung dieses „Modells“ auf die muslimische Welt, den Nahen Osten und Afrika, ist jedoch gescheitert, das läßt sich feststellen. Die Vorstellung, mißliebige Herrschaften in einer Mischung aus militärischer Intervention, Päppeln und Bewaffnen der Opposition und ökonomischem Druck zu entfernen und dann genehme Herrschaften einzusetzen, die nach der Pfeife erstens der USA und dann irgendwann weiter hinten auch der der EU tanzen, läßt sich nicht umsetzen. Das Zerschlagen der alten Ordnung kriegen sie schon hin, die Weltmacht und ihre Verbündeten, aber dann eine neue zu stiften gelingt nicht. Teilweise werden irgendwelche neuen Mächte inthronisiert, machen aber dann auch, was sie wollen (Irak) – oder aber, sie haben, wie in Afghanistan, im Lande nichts zu sagen und bedürfen weiterhin der Unterstützung von außen.

Das schlagendste Beispiel für diesen Mißstand ist Libyen.

3. Libyen – ein schwarzes Loch an der Außengrenze der EU
Libyen, das unter Ghaddafi regelmäßig sein Öl ablieferte, seine Öleinnahmen in Europa investierte und der EU die Flüchtlinge vom Leibe hielt – Ghaddafi verpflichtete sich vertraglich dazu, diejenigen Flüchtlinge aus Schwarzafrika, die durch Libyen anreisen wollten, an der Weiterreise nach Europa zu hindern – dieses Libyen ist nicht mehr. Seit dem Sturz Ghaddafis, der von einigen EU-Mächten aktiv mitverursacht und von der Weltpresse bejubelt wurde, ist in Libyen kein Stein auf dem anderen geblieben.

Nach anfänglichen Jubelmeldungen über die in Libyen ausgebrochene Pressefreiheit, die angesichts der Verwüstungen durch die wochenlangen Bombardements reichlich gleichgültig gegen die tatsächlichen Verhältnisse im Land waren, gab es bald lange Gesichter unter den Zeitungsschmierern angesichts von bewaffneten Milizen, islamistischen Tendenzen, einem ermordeten US-Botschafter, einem, alsbald zwei machtlosen Parlamenten, Lynchjustiz und Wegelagerertum, dem belagerten und zerstörten Flughafen der Hauptstadt – und den Tausenden und Abertausenden von Flüchtlingen, die die klassische Transsahara-Route nützen und über Libyen, das Mittelmeer und Italien nach Europa einströmen. Das Schlepperwesen ist in Libyen inzwischen ein etablierter Geschäftszweig und neben dem Ölhandel und -schmuggel die Haupt-Einkommensquelle des zerstörten Landes.

Es ist wahrscheinlich, daß die Führung der USA andere Vorstellungen von der Entwicklung in Libyen hatte und auch nicht zufrieden mit den Vorgängen in dieser Gegend ist. Die Haupt-Betroffenen sind jedoch die EU-Staaten, erstens wegen der Flüchtlinge, zweitens weil Libyen zu einer Bastion des kämpferischen Islamismus geworden ist, was das labile Gleichgewicht in ganz Nordafrika bedroht, und schließlich auch wegen der Ausfälle im Ölhandel.
Die Versuche der EU, diese Mißstände zu beenden, sind nahezu drollig. Sie zeigen die ganze Lächerlichkeit dieses Bündnisses, das von seinem Anspruch her Weltordner sein will, aber keineswegs die Mittel dazu hat, und das nicht zur Kenntnis nehmen will.

4. Wir verpassen Libyen eine Regierung, jawohl!
So wurden parallel zu den rauchenden Ruinen und Maschinengewehrsalven, mit denen sich verschiedene Fraktionen in Libyen die strategisch wichtigen Punkte, aus denen man noch Einnahmen erlösen kann, zu sichern suchen, ein diplomatisches Wandertheater eingerichtet, in dem sich europäische und arabische Diplomaten und abgehalfterte libysche Politiker und Clanchefs seit Jahren die Hand geben und Höflichkeiten austauschen. Jordanien, Marokko, zuletzt Tunesien bieten sich bereitwillig als Kulisse für dieses Schauspiel in Fortsetzungen an. Solche Events bringen den Gastgebern Geld und internationale Anerkennung, auch wenn dabei nichts herauskommt.

Regelmäßig wird der Leser mit Jubelmeldungen versorgt, wie gut die Sache vorankommt. Im März 2015 verkündete die UNO bzw. ihr damaliger Verhandlungsleiter Bernadino León einen „Durchbruch“ bei den Verhandlungen, und stellte eine baldige „Regierung der nationalen Einheit“ in Aussicht. Es stünden in Marokko zwar noch „schwierige Gespräche“ bevor, der „politische Prozess komme aber gut voran“, so damals der inzwischen abgetretene León.
Im Herbst beklagte Die Zeit: „Nach dem Scheitern Leons, der demnächst von dem deutschen Diplomaten Martin Kobler abgelöst wird, ist der endgültige Staatszerfall Libyens wohl nicht mehr aufzuhalten.“ Auch das ist eine interessante Meldung.

Der libysche Staat ist nämlich mit Ghaddafis Sturz und Ermordung zerfallen, diesen Umstand wollen aber die Staatenwelt und die Medien nicht zur Kenntnis nehmen. Also wird mit den Satzpartikeln „noch nicht“, „nicht mehr“ oder „noch immer“ eine andere Wirklichkeit konstruiert, nach der die Weisen aus dem Abendlande dort doch mit etwas gutem Willen wieder ein funktionierendes Staatswesen einrichten könnten, nachdem die dortigen – ja, was eigentlich? Notabilitäten? selbsternannte Herrscher? Agenten westlicher Dienste? – es nicht zusammenkriegen.
Schon bei der Auswahl des anvisierten Herrschaftspersonals hapert es nämlich, weil niemandem klar ist, wer in Libyen eigentlich dazu qualifiziert wäre.
Leute, die unter Ghaddafi was waren? Leute, die auf US-Unis gelehrt haben oder sonst irgendwie auf US-Gehaltslisten gestanden sind? Warlords, die zeigen, daß sie mit einigen Kalaschnikovs und Anhängern Einfluß über einen Hafen oder eine Straßenkreuzung haben? Politiker, die in mehr als fragwürdigen Wahlen einige Stimmen bekommen haben sollen, laut ihrer Behauptung?

Aus diesen Lichtgestalten soll jetzt in Tunesien wieder eine „Regierung“ zustandegekommen sein. Hurra! „Libyen schafft eine Einheitsregierung, die ihm von der UNO aufgetragen wurde“ lautet die Schlagzeile in El País. Das Subjekt ist also Libyen, das sich endlich eine Regierung im Auftrag der UNO angeschafft hat. Der Untertitel besagt eigentlich mehr oder weniger das Gegenteil bzw. straft den Obertitel Lügen: „32 Mitglieder der Exekutive wurden in Tunis ernannt, es gibt aber noch keinen Termin für ihre Übersiedlung ins eigene Land“. Auch der Rest der Meldung klingt nach Kabarett: „Der von der UNO … vorgeschlagene Premierminister hat es … geschafft, eine Übergangsregierung aus 32 Ministern zu bilden.“ In Tunis. Als Erfolg wird gewertet, daß er die inneren Differenzen zwischen seinen 32 Ministern schlichten konnte.

Auch kein schlechter Job: Minister ohne Portfolio im Exil, und vermutlich mit einem Gehalt aus irgendeinem UNO- oder EU-Topf, während die Flüchtlings- und Hungerhilfe der UNO mit ihren Mitteln nicht auskommt und die Opfer der diversen von den USA und der EU losgetretenen und angeheizten Bürgerkriege deshalb nix zum Fressen haben.

Sobald diese „Regierung“ „ihre Tätigkeit aufnimmt“, werden ihr 100 Millionen Euro von Seiten der EU in Aussicht gestellt. Wow!

Wie man so hört, scheren sich die beiden Parlamente innerhalb Libyens keinen Deut um diese tunesische „Übergangsregierung“. Es erscheint unwahrscheinlich, daß diese „Regierung“ Ende Jänner ihre Tätigkeit aufnehmen könnte, wie von der UNO vorgesehen wird.
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Irgendwie war das vorauszusehen, wenngleich ich mir – ebenso wie die Mächte, die dort interveniert haben – über die Steuerbarkeit etwaiger Marionetten Illusionen gemacht habe:

Das imperialistische Bündnis EU zersetzt sich

JAHRESRÜCKBLICK
1. Das Finanzkarussell der EU
Die EU kämpft seit Jahren mit dem Umstand, daß ihre innere Verfaßtheit einige ihrer Mitgliedsstaaten zahlungsunfähig gemacht hat, und weitere nur deshalb weiter zahlungsfähig sind, weil die EZB alle ihre Prinzipien über Bord geworfen hat, um diese Staaten kreditwürdig zu halten und den Euro als Gemeinschaftswährung zu retten.
Zu ersteren gehören Griechenland und Portugal, zu letzteren Spanien und Italien.
Während Griechenland und Portugal von der Troika aus EZB, IWF, Europäischen Rettungsfonds und als Staaten aufrechterhalten werden, weil sonst ihr gesamter Staatsapparat nicht mehr finanzierbar wäre, werden die anderen beiden über das Staatsschulden-Aufkauf-Programm der EZB gestützt. Die EZB kauft Staatsanleihen dieser Staaten auf und betreibt Nullzinspolitik, um den Banken dieser Staaten, die zu den größten der EU gehören, den Aufkauf der Anleihen dieser Staaten möglich und schmackhaft zu machen. Die Banken Santander, BBVA, Intesa Sanpaolo und Unicredit, und wahrscheinlich auch kleinere Banken dieser Staaten kaufen Staatsanleihen Spaniens und Italiens, um erstens sich selber im Spiel zu halten – kämen Spanien oder Italien in den Ruch der Zahlungsunfähigkeit, so wären diese Banken selber in Schwierigkeiten. Ihr Kredit hängt nämlich auch an dem Staat, in dem sie domiziliert sind. Diesen Umstand kann man an den wirklichen Pleitestaaten Griechenland und Portugal deutlich sehen, deren Banken alle pleite und dadurch erstens international ziemlich wertlos sind, zweitens zum Kredit ihres Staates nichts mehr beitragen können.
Zweitens verschafft das Nullzinsprogramm der EZB diesen Banken ein Geschäft, da sie durch den besicherten Aufkauf der Anleihen ihres Staates Zinsgewinne erlösen und dadurch Gewinne machen können. Das Dreieck EBZ-Staatsanleihen-Banken hält sich darüber über Wasser – es ist nur ein Hin und Her zwischen staatlich-überstaatlich garantiertem Kredit und Geschäftsinteresse der Banken, das durch keinerlei Gewinne aus der Geschäftswelt beglaubigt wird.
Der Rest der EU gfrettet sich durch, was Ökonomie und Wachstum, d.h. Geschäfte und Gewinn betrifft. Deutschland produziert zwar noch ein – wenngleich schwaches – Wachstum, das sich sowohl aus den europäischen als auch aus den außereuropäischen Märkten speist. Es ist aber abzusehen, daß dieses weder Gegenwarts- noch Zukunftsmärkte besitzt und angesichts der weltweiten Rezession und der Sanktionen gegen Rußland nur auf den amerikanischen Markt konzentrieren kann, der durch den VW-Skandal fragwürdig geworden ist.
Der Rest der EU besteht aus Armenhäusern in Osteuropa und auf dem Balkan, und aus Staaten wie Schweden und Österreich, die mit einem wackligen Banksektor konfrontiert sind, der dauernd staatliche Interventionen erfordert, die den Kredit dieser Staaten belasten. Dazu kommt Frankreich, dessen politische Ambitionen sich in militärischen Abenteuern ausdrücken, deren Finanzierung die schwächelnde Wirtschaft nicht hergibt, wodurch die Verschuldung weit über der als erstrebenswert oder auch nur als bewältigbar erachteten Höhe liegt.
Es ist daher nicht verwunderlich, daß Großbritannien dieses sinkende Schiff verlassen will, was jedoch angesichts der Bedeutung, die die EU für das britische Bank- und Handelskapital hat, keine einfache Sache sein wird. Die britischen Allüren, aus der EU austreten zu wollen, beruhen jedenfalls auf der Einsicht, daß die EU als Staatenbündnis gescheitert ist.

2. Die EU nach innen – Zerstörung, soweit das Auge reicht
Die EU-Führung hat es zwar geschafft, Griechenland auf Sparflamme zu setzen und seiner Regierung die Wirtschafts- und Sozialpolitik ein Stück weit aus der Hand zu nehmen. Was auf diese Art und Weise jedoch nicht gelingt, ist, es wieder in eine Geschäftssphäre zu verwandeln: Griechenland bleibt ein Zuschußbetrieb, der den Euro und die EU belastet.
Ähnlich verhält es sich mit Portugal, obwohl dessen Regierung bisher alle Auflagen der Troika erfüllt hat: daran zeigt sich noch deutlicher, daß diese keine Rückkehr zu Prosperität oder auch nur Kreditwürdigkeit hervorbringen können.
Schon in der bloßen Frage der Euro-„Rettung“ – Rettung im Sinne von Nicht-Auseinanderbrechen – haben sich also sehr deutliche Gegensätze aufgetan, die inzwischen weiter vor sich hinbrodeln.
Mit der EU-Außenpolitik verhält es sich ähnlich. Gegenüber der Ukraine hat die EU sich im Windschatten der USA in eine Situation hineinmanövriert, in der sie beim besten Willen keinen Nutzen aus dem Assoziationsvertrag mit diesem Land ziehen kann, aber jede Menge Kosten damit hat, um größeren Schaden zu vermeiden. Die Ukraine bleibt ebenso wie Griechenland ein Kostenfaktor ohne Perspektive auf Verbesserung. Und es sind nicht nur Schecks, die Brüssel oder die EZB weiterhin Richtung Ukraine abschicken müssen: das ganze Vertrauen des internationalen Finanzkapitals in EU und Euro ist durch den Zustand dieses Landes belastet.
Dazu kommen die inzwischen ohne Angabe von Gründen immer wieder verlängerten Sanktionen gegen Rußland, die sich politisch als wirkungslos, ökonomisch als schädlich für beide Seiten, also auch für die EU; erweisen. Nichtsdestotrotz wird an dieser Politik festgehalten, um die Subjektrolle der EU zu unterstreichen und einander, also den Mitgliedsstaaten, und der restlichen Welt so etwas wie eine gemeinsame Außenpolitik vorzuspiegeln.
In militärischer Hinsicht versuchen diverse osteuropäische Staaten, sich als NATO-Frontstaaten gegen Rußland in Stellung zu bringen und damit ihr Gewicht in der EU gegen Deutschland zu erhöhen.
Im Syrien-Konflikt wiederum versucht Kerneuropa – D, Fr, GB – irgendwie auch dabeizusein, um mitreden zu können, es kommt aber ein eher lächerliches Getue dabei heraus – weder kann man sich auf Kriegsziele einigen, noch ist klar, was eigentlich bombardiert wird oder werden soll, und nebenbei arbeiten sich die dickeren Brummer der EU an der Stellung zur Türkei ab. Einerseits will man das Land für die eigenen Zwecke domestizieren und einsetzen, andererseits fehlen dazu die Druckmittel: für die auf dem Balkan und in Osteuropa geübte Politik des Einrichtens von Hinterhöfen ist dieser Staat entschieden eine Nummer zu groß.

Schließlich ist das bisherige Grenzregime der EU gescheitert und die Versuche Deutschlands, eine neue Abschottungs-, Asyl- und Aufnahmepolitik durchzusetzen, kommt nicht so recht voran, was weitere Zentrifugalkräfte in der EU ins Leben ruft.
3. Unklare Verhältnisse zwischen Staat und Volk
Die EU erklärt nämlich einen ständig wachsenden Teil ihrer eigenen Bevölkerung für überflüssig, was die heuer massenhaft anreisenden Flüchtlinge zu einem ganz großen Problem macht, und zwar nicht von der materiellen Seite. Diese Leute ebenso wie die eigenen Arbeitslosen oder Sozialfälle irgendwie durchzufüttern, könnte sich die EU ohne weiteres leisten, aber das Wofür? steht im Raum: was tun mit Bevölkerungsteilen, die niemand braucht, die in keinen Arbeitsprozeß eingegliedert und dafür auch gar nicht mehr notwendig sind, weil niemand sich aus ihrer Verwendung Gewinn verspricht? Auch für 1-Mann/Frau-Betriebe, sogenannte Ich-AGs, ist der europäische Markt inzwischen gesättigt, wie sich herausgestellt hat – für viele aus allen Hilfen herausgesäuberte Arbeitslose bieten sich nur mehr illegale Tätigkeiten an.
Während die EU sich als Hort des Fortschritts selbst beweihräuchert, Frauenquoten einführt und die Homosexuellen-Ehe gesetzlich verankert, entstehen an ihren Rändern Armenküchen, werden Teile der Bevölkerung von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen, und die Zahl derer, die sich das Heizen und Warmwasser nicht mehr leisten können, nimmt immer mehr zu. Während also die Grundbedürfnisse für immer mehr Menschen nicht mehr befriedigt werden können, preist eine mediale und kulturelle Elite die Gleichberechtigung, die Modernität und Toleranz als überlegene Werte, und trompetet in alle Richtungen, daß am europäischen Wesen die Welt genesen muß.
Dem tritt eine radikale Opposition aus Leuten entgegen, die entweder die Religion oder die Nation als Hort des Wahren, Guten und Schönen hochhalten, und Andersdenkende am liebsten vernichten, zumindest aber vertreiben wollen. Man erinnere sich an den Bestseller von Thilo Sarrazin, der sowohl die einheimischen Sozialfälle als auch die Zuagroasten aus anderen Kulturkreisen am liebsten auf den Mond schießen wollte, und diese Art von EU-Gegnerschaft breitet sich quer durch Europa aus. Ebenso kommen die Freiwilligen des IS aus den Vorstädten der EU-Metropolen, und preisen die Unterwerfung unter die von Gott befohlene Moral als den einzigen Ausweg aus materialistischer Dekadenz.
Staatsführungen und Möchtegern-Politiker, die unzufrieden mit der Performance ihrer tatsächlichen oder angestrebten Untertanen sind: untüchtig, schmarotzermäßig, ideologisch verkehrt aufgestellt – und Untertanen, die eine Herrschaft einfordern, die endlich mit eisernem Besen in dem ganzen dekadenten und konsumhörigen Saustall aufkehrt – so präsentieren sich die Demokratien Europas zum Jahreswechsel, was für 2016 keine guten Perspektiven verheißt.
Man vergesse nicht: Faschisten sind enttäuschte Demokraten, und jeder Faschismus bisher ist aus einer Demokratie entstanden.