Pressespiegel Komsomolskaja Pravda: 100 Jahres-Jubileum der Gründung der Sowjetunion

„EIN LAND GROSSER TATEN ODER EIN TRAGISCHES EXPERIMENT: WAS WAR DIE UDSSR WIRKLICH?

Am 30. Dezember jährt sich die Entstehung der UdSSR zum 100. Mal
Wir kennen die UdSSR als eine der größten Mächte ihrer Zeit. Doch weniger als 70 Jahre sind vergangen, seit das Land, das immer noch Millionen mit Nostalgie erfüllt und das zu einem Symbol für Stabilität und Macht geworden war, zusammenbrach. So schnell wie sie geboren worden war.“

Nun ja. Zur Entstehung waren 2 Revolutionen (die von 1917) bzw. 4 (wenn man die von 1905 und 1912 dazuzählt) und ein mehrjähriger Krieg und Bürgerkrieg vonnöten. Für den Zerfall genügte ein feuchtfröhlicher Abend zu dritt auf einer Datscha in Weißrußland.

„Was war also die UdSSR? Ein großes und tragisches Experiment, das den Schlußstrich unter das Russische Reich zog, oder eine glänzende Zukunft, in der wir lebten, aber sie nicht verstanden, weil wir ihr nicht gewachsen waren?
Wir haben darüber mit dem Historiker Pavel Pryanikov und dem Autor des Buches »Der Geheimcode der UdSSR« Alexander Myasnikov gesprochen.

Mit Austrittsrecht geködert

KP: Für den Umstand, daß die Sowjetunion schließlich zusammenbrach, beschuldigen viele ihre Gründer: Lenin und Stalin.
Sie gewährten jeder Republik das Recht, auf eigenen Wunsch aus der UdSSR auszutreten. Wovon die Republiken 1991 Gebrauch machten. Warum also stimmten sie vor 100 Jahren solchen Bedingungen für die Gründung der Union zu? Wussten sie nicht um die zerstörerische Kraft dieses Austrittsrechtes?

PP: Versetzen Sie sich kurz in die damalige Situation. 1922 hat das Land bereits Finnland, das Baltikum, Polen und die Hälfte Moldawiens verloren. Russland war so schwach, dass es sogar gezwungen war, Esten und Letten einen Teil seines Territoriums (Isborsk) zu überlassen und Reparationen (mehrere Tonnen Gold) zu zahlen. Alles lag in Trümmern. An der Staatsspitze standen Menschen, die noch nie mit Staatsführung zu tun hatten. Der Erste Weltkrieg, dann die Revolution und der Bürgerkrieg hatten die dünne Schicht der Regierungsbeamten – 2 Prozent der Bevölkerung – weggespült.

KP: Und dann beschlossen die verbleibenden Republiken, sie mit einem solchen „Zuckerbrot“ in die gemeinsame Union zu locken?

PP: Natürlich. Sie mussten sie zumindest unter allen Umständen vereinen – mit der Verlockung: Wenn es dir nicht gefällt, kannst du gehen.
Damals war es wichtig, einfach ein einheitliches wirtschaftliches und politisches Gebilde zu schaffen. Denn einige der Republiken waren strategisch wichtig: Ohne die Ukraine hätte Russland nicht überlebt – als Hauptkornkammer plus Kohle und Stahl. Es ging darum, Armut und Hoffnungslosigkeit hinter sich zu lassen. Deshalb kam es zu großen Zugeständnissen.

Die Alternativen und die Kompromißformel

KP: Wer hat die Gründung der Union in dieser Form initiiert? Haben Stalin und Lenin verstanden, dass nationale Republiken eine schlechte Option sind?

AM: Lenin hatte eine Ansicht darüber, wie der neue Staat eingerichtet werden sollte, Stalin hatte eine andere.
Laut Lenin sollte dies die UdSREuA sein – die Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens. Diese Konstruktion unterstützte Leo Trotzki. Sie entsprach den Zielen der Komintern, also der künftigen Weltrevolution.
Stalin schlug eine alternative Option vor: Alle Republiken sollten als autonom Regionen Teil Rußlands werden, ohne Austrittsrecht.
Das heißt, die UdSSR erwies sich als Kompromiss zwischen der UdSREuA und der RSFSR.“

Die Leninsche Konstruktion bleibt in diesem Gespräch unklar. Es scheint, daß er noch mehr Teilrepubliken vorgesehen hätte, wobei Rußland noch weniger Gewicht gehabt hätte, und alles mit Austrittsrecht.
Demzufolge ist es nur Stalin zu verdanken, daß die UdSSR überhaupt 70 Jahre bestehen konnte.
Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, daß dieser Unions-Gründungsvertrag der SU zum Vorbild für die Verfassungen Jugoslawiens (von 1974) und der Tschechoslowakei wurde.

„PP: Lenin war Maximalist, er glaubte, dass wir weiter expandieren würden, dass es eine »Republik Zemshara« (= Erdkugel) geben würde. Stalin bewegten eher taktische Überlegungen.
Ende der 1930er Jahre gestand er: »Was bin ich im Vergleich zu Lenin? Ein bloßes Insekt.« Das sagte er in seinem berühmten Trinkspruch am 7. November 1937 in Woroschilows Wohnung.

Im Kaukasus rumorte es

KP: Die Grenzen der Unionsrepubliken – wer zog die?

PP: Formal das Ministerium für Nationalitäten. Das unterstand Stalin. Aber die Koordination ging immer noch über Lenin, über das Zentralkomitee. Es war eine schwierige Aufgabe. Damals wußte niemand, wie man das anstellen sollte.“

Das ist heute noch genauso, nicht nur in Rußland.

„Sie zogen sie ungefähr dort, wo die ethnische Mehrheit war. Und später wurden die Grenzen noch ein paar Mal geändert.

KP: Damals gab es noch die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (TSFSR). Es umfasste Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Abchasien.

AM: Ja. Sie gehörte zusammen mit Weißrussland, der Ukraine und der RSFSR zu den vier Gründern der UdSSR. Die Bolschewiki glaubten, dass die Vereinigung Transkaukasiens in der TSFSR notwendig sei, um dort nationalistische Aufstände zu verhindern. Dies war die unruhigste Region. Der armenisch-aserbaidschanische Krieg von 1918 bis 1920 bereitete große Sorgen. Damals gab es Massaker und ethnische Säuberungen.

Lenin blendete die Ukraine

KP: Wie kamen sie auf die Idee, ganz Neurußland an die Ukraine zu übergeben?

AM: Auf Beschluss Lenins. Die Ukrainische SSR wurde 1919 auf einem Kongress in Charkow (der Hauptstadt der damaligen Republik Donezk-Kriwoj Rog) proklamiert. Es wird traditionell so angesehen, dass sie auf dem Territorium von Kleinrußland gebildet wurde. Aber in Wirklichkeit umfasste sie auch den größten Teil von Neurußland – das Gebiet von Chisinau bis Lugansk, d.h. die gesamte Schwarzmeerküste und die Küste des Asowschen Meeres.“

Hier ist natürlich auch eine gewisse Geschichtsklitterung bzw. Verlegenheit zu beobachten, denn dieses Gebiet war damals umstritten zwischen den Machnowzy, Kosaken und den Interventionsarmeen. Die Kongreßdelegierten in Charkow vertraten also ein Territorium, das sie nicht kontrollierten.

„Sehen wir die Fakten an: Im Januar 1918 unterzeichneten Vertreter der ukrainischen Zentralrada einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland und Österreich. Die Besetzung der Ukraine begann. Bis Mai besetzten sie das Territorium der Sowjetrepublik Donezk-Krivoy Rog, Teile von Taurien und der Volksrepublik Odessa vollständig. Aber als nach der Kapitulation Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg die Gebiete befreit wurden, verbot Lenin kategorisch ihre Rück-Eingliederung in das Territorium Rußlands. Er bestand darauf, sie der Ukraine anzuschließen.
Und sobald die Ukrainische SSR gegründet wurde, begann das, was als Politik der Ukrainisierung („Verwurzelung“) in die Geschichte eingegangen ist. Das heißt, die übereilte Schaffung der „ukrainischen Sprache“ und ihre gewaltsame Einführung.
Charkow blieb übrigens bis 1934 Hauptstadt der Ukraine.

Die nationale Frage

KP: Wer zog die Grenzen innerhalb der Russischen Föderation?

AM: Am Tag, nachdem die Welt von der Gründung der UdSSR erfahren hatte, schrieb Lenin in sein Notizbuch:
»Internationalismus … sollte nicht nur in der Einhaltung der formalen Gleichheit der Nationen bestehen, sondern auch in einer solchen Ungleichheit, die seitens der Unterdrückernation, einer großen Nation, die im Leben tatsächlich entstehende Ungleichheit kompensieren würde.«“

Das heißt also als Antwort auf die eigentlich unbeantwortete Frage: Die anderen Republiken wurden auf Kosten der russischen Föderation bevorzugt, in strittigen Fragen entschied man gegen russische Bevölkerungsmehrheiten.

„KP: Hat die nationale Frage als Ergebnis die UdSSR zum Einsturz gebracht?

AM:  Stalin hat vor dieser Gefahr gewarnt. Er wies darauf hin, dass es notwendig sei, dem Spiel der »nationalen Unabhängigkeit« ein Ende zu setzen, alle Republiken fest Moskau unterzuordnen und sie in Zukunft insgesamt zu liquidieren und einen einheitlichen Sowjetstaat zu schaffen.
Lenin kritisierte diesen »stalinistischen Plan«. Und sehr scharf …

KP: Wieso denn?

PP: Lenin hatte wirklich Angst vor russischem Großmachts-Chauvinismus. Deshalb wurden nicht nur angestammte Territorien Rußlands abgetrennt, sondern Rußland war auch das einzige Mitglied der Föderation, das im Gegensatz zu anderen Republiken weder eine eigene Kommunistische Partei noch eine Akademie der Wissenschaften erhielt.

Was wäre geschehen, wenn es keinen (II. Welt-)Krieg gegeben hätte?

KP: Die UdSSR hatte eine Vielzahl großartiger Errungenschaften. Hätten wir ohne diese den Großen Vaterländischen Krieg gewinnen können?

PP: Ohne sie hätte es keinen Krieg gegeben. Denn statt eines riesigen Landes hätte es 30-40 kleine Staaten gegeben. Russland wäre in verscheidene Gebiete zerrissen worden, die Satelliten anderer Mächte gewesen wären. Die Ukraine oder Georgien wären wie Rumänien oder Ungarn unter deutschen Einfluß geraten.
Der Ferne Osten wäre den Amerikanern und den Japanern zugefallen. Der Kaukasus wäre pro-türkisch und Karelien gehörte zu Finnland. Weißrussland wäre Teil Polens geworden. Mit einem Wort, es hätte niemanden gegeben, der (durch Deutschland) zu bekämpfen gewesen wäre.

KP: Und was wäre von Russland übrig geblieben?

PP: Das großrussische Kernland. Wie unter Iwan dem Schrecklichen – bis zur Wolga. Rundherum 30 bis 40 Staaten. Zentralasien wäre unter britischen Einfluss geraten. Nun, mit wem soll man kämpfen? Es wäre eingenommen worden, ohne daß es jemand bemerkt hätte.
Die Sowjetunion hingegen schuf einen Superstaat.

Der Westen zwang uns, Großmacht zu werden

KP: Die Industrialisierung, der GOELRO-Plan (des Staatlichen Elektrifizierungs-Ausschusses) gilt als Errungenschaft der Sowjetunion.

PP: Die UdSSR hat hier nichts erfunden. Alle großen Infrastrukturprojekte der Welt wurden unter der Führung des Staates oder durch die Streitkräfte des Staates durchgeführt. Nur der konnte es tun.

KP: Sind Sozialleistungen auch ein Verdienst des Sowjetstaates? Schulen, Kliniken, ein Achtstundentag…

PP: Die Sowjetunion übernahm das deutsche System, dass der Staat eine strenge Bildungs-, Gesundheits-, Sanitärpolitik betreiben sollte …
Lenin verstand, dass Fabriken gebildete Arbeiter brauchen, Armeen gebildete, gesunde Soldaten brauchen.

KP: Die Monarchisten behaupten, dass sowohl GOELRO als auch die allgemeine Alphabetisierung Pläne von Nikolaus II. waren, die die Bolschewiki einfach kopiert haben.

PP: Alles hat seine Zeit. Vielleicht hatte dieser Zar Pläne, aber er war zu spät dran.
In Deutschland begann die Zentralisierung von Bildung und Gesundheit in den 1870er Jahren. Rußland war genötigt, dies in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts durchzuführen. Die Transsibirische Eisenbahn war eine gute, richtige Idee. Aber es hätte in den 1870er Jahren geschehen sollen, nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir hätten Millionen von Bauern aus Zentralrussland umsiedeln und eine Revolution vermeiden können. Die verschiedenen Zaren dachten sich viel aus, aber alles war 20–30 Jahre zu spät.

KP: Die UdSSR war doch bei vielen Dingen Pionier. Sie schickte einen Menschen in den Weltraum. Sie erfand die Wasserstoffbombe. Liegt das auch nur an der Rivalität mit dem Westen?

PP: Konfrontation bringt immer viel hervor. Aber wenn Lenin länger gelebt hätte, hätte sich das Land höchstwahrscheinlich mehr in eine konsumorientierte Richtung entwickelt.
Die NEP wäre nicht eingeschränkt worden, viele Leben wären gerettet worden, es hätte nicht so schreckliche Repressionen gegeben.
Andererseits gäbe es keine große Industrialisierung, keine Großindustrie. Russland wäre ein mäßig entwickeltes Land. Und wir wissen nicht, ob es die Randgebiete in seinem Staatsbestand gehalten hätte.

Opfer hätten vermieden werden können

KP: Die UdSSR hatte aber auch viele unerfreuliche Züge. Das Gulag, die totale Gleichmacherei, weitverbreitete Armut. Und all dies führte zum Totalitarismus und der Apathie in der Bevölkerung.

PP: Das ist eben der industrielle Durchbruch, für den unser Staat bezahlt hat. Wenn man in 20 Jahren den Weg zurücklegen muß, der in 50 bis 100 Jahren schrittweiser Reformen zurückgelegt werden müsste, so sind Opfer unausweichlich.
Es gibt ein russisches Modell der staatlichen Führung: Es schwankt ständig wie ein Denkmal, zwischen Stagnation und Akkordarbeit. Die ganze Geschichte des Landes ist so aufgebaut. Peter I. übertraf in seinen Reformen sogar Stalin in Bezug auf menschliche Verluste. Aber Stalins Problem ist, dass dies vor unseren Augen geschah.

Gibt es die Möglichkeit einer Wiedervereinigung?

KP: 1991 fand der Zusammenbruch der UdSSR statt. Aber wurden nicht die slawischen Schwestern – Russland, Ukraine und Weißrussland – künstlich auseinanderdividiert?

PP: Seien wir ehrlich: Die Spaltung zwischen Russland, die Ukraine und Weißrussland fand nicht 1991 statt, sondern im 15. und 16. Jahrhundert, als ein Zweig des russischen Volkes zum Moskauer Zarenreich wurde und die anderen beiden Teil der litauisch-polnischen Republik. Damit war alles entschieden. In der UdSSR und sogar in der späten Zarenzeit versuchte man, die Unterschiede auszugleichen, aber das Vermächtnis eines getrennten Lebens im Laufe von zwei oder drei Jahrhunderten erfüllte seine Aufgabe, vor allem bei den Eliten.
Die Eliten der Ukraine hatte unter den Polen eine lediglich untergeordnete Position – das inspirierte die ukrainischen Intellektuellen, sich als eigene Nation zu emanzipieren.“

Das ist nicht ganz richtig, weil Teile der Ukraine – Sumi, Tschernigow, später Kiew – gehörten zum Zarenreich, und auch dort wurden die Eliten nur dann anerkannt, wenn sie sich assimilierten (=> Emser Dekret).

„KP: Aber warum hat dann die Sowjetunion selbst die Ukrainisierung der Ukraine so heftig propagiert?

PP: Man muß sich vor Augen halten, dass die Westukraine in den 1920er und 1930er Jahren in Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien gelandet ist. Und die Bolschewiki mussten den Menschen, die dort gelandet waren, die »vorbildliche Ukraine« als Beispiel zeigen. »Unterdrücken dich die Polen, lassen dich nicht Ukrainisch sprechen? Aber daneben ist die wunderbare Ukraine, wo die Ukrainer alles haben.«

KP: War das in Weißrussland auch so?

PP: Teilweise. Denn ein Drittel von Weißrussland landete auch in Polen. Bitte beachten Sie, dass es in anderen Republiken der UdSSR keine so aggressive Förderung des Nationalismus’ gab.

Wir erinnern uns an Stabilität

KP: Warum denken so viele Menschen mit Nostalgie an die UdSSR zurück?

AM:  Damals waren die Spielregeln klar und die Menschen konnten ihr Leben planen. Niemand in der UdSSR kannte den chinesischen Fluch: »Mögt ihr in einer Zeit des Wandels leben!« Einer der Verdienste der UdSSR war das Vertrauen in die Zukunft. Und die Menschen werden von Stabilität angezogen.

PP: Das ist ein sehr wichtiges psychologisches Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Wenn man nicht darüber nachdenken muß, ob man morgen seine Familie ernähren kann.

KP: Für welche spezifischen Jahre sind die Menschen so nostalgisch?

PP: Natürlich sehnen sie sich nach der Breschnew-Ära. Die Menschen erinnern sich an die Zeit, in der sie selbst gelebt haben, als es keine großen Kriege und Repressionen gab – das sind die 60er, -70er Jahre, die erste Hälfte der 80er Jahre. Das war die Blütezeit der Sowjetunion. Die Menschen waren überzeugt, dass morgen besser sein wird als heute. Damals gab es diese Überzeugung.

Die letzte Utopie

KP: Was war also die UdSSR? Ein grandioses tragisches Experiment? Oder eine Ära großer Errungenschaften?

PP: Vielleicht war sie die letzte Utopie der Welt, die gut anfing.
Niemand – weder Marx noch Engels und vor allem Lenin – dachten nicht, als sie über den Übergang zum Sozialismus sprachen, daß dieser so viele Opfer fordern würde. Die UdSSR begann zu früh. Sie wurde auf der Grundlage eines sehr armen, analphabetischen Bauernlandes ausgerufen – in eine Gesellschaft, die diese Umgestaltung schwer annahm. Und vieles lief von Anfang an schief. Alles musste laufend geändert werden, man lebte dauernd auf Abruf. Lenins Traum von einer sozialistischen Weltrepublik musste schnell aufgegeben werden. Dann wurde die NEP aufgegeben … Ja, es war ein Experiment. Aber ein großartiges, nicht ohne einen gewissen Zauber.

Die multipolare Welt

EINE UNERFREULICHE PERSPEKTIVE

Über Staatsgewalt, Landesgrenzen und Krieg

Eine Landesgrenze ist ein völliges Kunstprodukt. Nichts ist dümmer als das Geschwätz von „natürlichen“ Grenzen.
Eine Landesgrenze sagt aus, wie weit die Gewalt des einen und des anderen Staates reicht, die sich auf den beiden Seiten befinden. Die Staaten haben sich gegeneinander konstituiert und im Laufe ihres Bestehens und einiger kriegerischer Auseinandersetzungen auf diese Grenze geeinigt – eine Einigung, die jederzeit widerrufen werden kann, wenn ein Staat sich mächtig genug fühlt, ein Stück eines Nachbarstaates zu beanspruchen und diesen Anspruch auch durchzusetzen.
Die Welt ist voller strittiger Grenzen. Auch in Europa gibt es genug Grenzen, über die zwischen den Nachbarstaaten keine Einigkeit herrscht, die nicht international anerkannt sind, usw.
Im Laufe der Zeit haben viele Staaten versucht – mit oder ohne Erfolg – ihre Grenzen zu erweitern und sich Territorium der Nachbarstaaten einzuverleiben.

Auch dann, wenn die Grenze nicht berührt wird, gibt es den Anspruch der Staaten, seinen Einfluß und seine Gewalt auch außerhalb seiner Grenzen zur Geltung zu bringen. Sei es mit kriegerischen, sei es mit „friedlichen“ Mitteln, die auch immer recht gewaltträchtig sind. Dazu später.

Zu Zeiten des Kalten Krieges – als die Welt in Anlehnung an den heutigen Sprachgebrach „bipolar“ war –, wachte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges eine Macht darüber, daß Grenzstreitigkeiten verbündeter Staaten nicht in Kriegen mündeten. Im sowjetischen Einflußbereich war Revanchismus aller Art verboten. Nur die Hauptmacht selber nahm sich Grenzveränderungen heraus, vor allem im Gefolge von Weltkrieg II.
Auch im Westen gab es Grenzkriege, wie den Falkland-Krieg 1982, oder von der NATO im Keim erstickte Auseinandersetzungen wie diejenigen zwischen Griechenland und der Türkei.
Generell aber galt, daß keiner der Blöcke Grenzkriege wollte, weil das die Allianz gegen den Hauptfeind geschwächt hätte.

Diese einigende Klammer fiel mit dem Zerfall der SU weg. Seither ist das Rennen wieder eröffnet. In den Nachfolgestaaten der SU, auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Nordafrika, im Fernen Osten – überall melden sich „eingefrorene“ Konflikte und Grenzstreitigkeiten, es wird aufgerüstet wie wild und nix ist mehr fix.

Das gehört zu einer multipolaren Welt dazu, und zeugt davon, daß diese bereits fortschreitet. Die verschiedenen „Pole“ wollen eben ihre Grenzen und ihren Einfluß auf Kosten anderer erweitern.

Internationale Spielregeln

Wer sich auf Regeln beruft, vergißt meist, daß es jemanden gibt, der die Regeln setzt, und andere, die sie befolgen.
Bereits beim nationalen Recht gibt es das Mißverständnis, daß das Recht selbst sozusagen natürlich, göttlich oder ähnliches sei und die tatsächliche Staatsgewalt es nur vollstreckt. Man macht sich gerne etwas darüber vor bzw. täucht sich darüber hinweg, daß diese Gewalt es auch setzt, also das Recht überhaupt erst durch Gewalt in die Welt kommt.
Anhänger des Rechts, der Menschenrechte und der internationalen Spielregeln sind daher immer Parteigänger der Gewalt, auch wenn sie sich als das Gegenteil präsentieren und gegen – einzelne, partikulare – Gewalt wettern.

Zu diesen „internationalen Spielregeln“ gehören auch die diversen supranationalen Gerichtshöfe in Den Haag, Luxemburg, Straßburg, die dadurch, daß sie keinem besonderen Staat angehören, dem Trugbild Leben verleihen, daß das Recht über der Gewalt stünde.
Man merkt aber an ihren Rechtssprüchen, daß sie die Interessen bestimmter Staaten bevorzugen und sich auch nicht daran stoßen, daß die USA sich ihrer Jurisdiktion nicht unterwirft. Darin erkennt man ein Bewußtsein dessen, daß die Hegemonialmacht nicht in gleichem Maße zur Rechenschaft gezogen werden kann wie die restlichen Staaten, die sich an die von dieser Macht gesetzten Regeln halten müssen und das meistens auch wollen.

Rußland beklagt die „Privatisierung“ der internationalen Regeln durch EU und USA und möchte gerne seine Rechtssprechung über seine Grenzen ausdehnen. Deshalb erhebt es Anklage gegen ausländische Bürger (der Ukraine), wo eine angebliche Gesetzesübertretung nach internationalem Recht dingfest macht. Damit will sich die russische Regierung als der bessere Vollstrecker des internationalen Rechts präsentieren, das es damit auch anerkennt.
Rußland leistet sich damit den Widerspruch, der Hegemonialmacht ihre Sonderstellung zu bestreiten, aber das von ihr aufrechterhaltene Regelwerk anzuerkennen.

Dieses Regelwerk bezieht sich auch auf die restlichen Interessen, die neben der Machtvollkommenheit der Staaten existieren bzw. die Grundlage ihrer Ambitionen bilden.

Der Weltmarkt

Es müssen einmal klare Verhältnisse geschaffen werden, damit ein US-Unternehmen in Ägypten investieren oder eine deutsche Firma Lieferverträge mit einem Unternehmen in Indonesien abschließen kann. Das fremde Eigentum muß geschützt sein, die Zahlungsmodalitäten gehören abgesichert und die Rechtssprechung muß irgendwie zwischen Herkunfts- und Zielland koordiniert sein. Das ist notwendig, damit sich ein Staat an den Reichtumsquellen eines anderen bedienen kann, unter dem Motto „friedlicher Handel und Wandel“.

Die entsprechende Weltordnung wurde von den USA nach 1945 durchgesetzt, bei dem auch die Kolonialmächte ihre Kolonien aufgeben und damit auf exklusive Handelsbeziehungen verzichten mußten. Unter dem Titel der Souveränität und des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ wurden diese Staaten mit eigenen Regierungen ausgestattet und mit Hilfe von Krediten und Handelsabkommen in den Weltmarkt integriert, was sich bei vielen heute vor allem in Schuldenbergen ausdrückt.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden die Staaten aus dem Orbit der Sowjetunion Schritt für Schritt in den Weltmarkt einbezogen, durch Einrichtung eines Bankennetzes, Zahlungsmodalitäten, nicht zu vergessen die Einrichtung einer Eigentumsordnung, die in vielen Gegenden mit Hilfe von Schußwaffen stattgefunden hat.

Heute wird das ein Stück weit rückgängig gemacht. Durch Sanktionen und Embargos werden verschiedene Staaten teilweise oder ganz vom Weltmarkt ausgeschlossen. Es bildet sich ein zweiter Weltmarkt. Die „alten“ Nutznießer desselben – die USA, die EU, anglosächsische Staaten, die Schweiz – drängen sich um die Hegemonialmacht USA, während andere eine „Schattenwelt“, einen Weltmarkt der Ausgeschlossenen mit China als Referenzmacht bilden. Dazwischen bilden sich ambitionierte Regionalmächte, die versuchen, sich in beiden Hemisphären zu betätigen.

Sehr kriegsträchtig, das Ganze: Bereits jetzt laufen mehrere Konflikte um die Aufteilung der Welt, ihre Rohstoffe, ihre strategisch wichtigen Positionen, und es ist anzunehmen, daß deren eher mehr werden als weniger.

Pressespiegel El País, 20.11.: Das befreite Cherson

„DIE UKRAINE SCHLIESST CHERSON, UM RUSSISCHE KOLLABORATEURE ZU IDENTIFIZIEREN

Zeugenaussagen der lokalen Bevölkerung berichten von Fällen von Verschwindenlassen, Raubüberfällen und Folterungen durch Moskauer Truppen

Cherson ist eine offiziell geschlossene, vom Rest der Ukraine abgeschnittene Stadt. Das Betreten und Verlassen ist nur mit Genehmigung des Heeres möglich. Die letzte Woche von der russischen Besatzung befreite Provinzhauptstadt kehrt allmählich zur Normalität zurück, wie die Tatsache zeigt, dass am Samstag der erste Personenzug seit mehr als acht Monaten – während derer sich die Stadt unter dem Joch Russlands befand – ihren Bahnhof erreichte.“

Man fragt sich, wer dann in dem Personenzug saß, wenn die Stadt so abgeschlossen ist? Um welche „Normalität“ geht es hier?

„Aber die Priorität der Militärverwaltung ist es, die Kollaborateure der Besatzer zu finden: Informanten, die Hunderte von Menschen verraten hätten, die mit den ukrainischen Streitkräften in Verbindung stehen. Laut von EL PAÍS gesammelter Zeugenaussagen werden viele dieser Menschen vermisst oder sie wurden von russischen Einheiten gefoltert.“

Vor ihrem Abzug haben die russischen Truppen Cherson größtenteils evakuiert. Nur diejenigen blieben, die unbedingt bleiben wollten. Die Kollaborateure, worin immer sie auch kollaboriert haben mögen, sind wahrscheinlich mit den Russen abgezogen.
Man fragt sich daher, welche Leute die Ukraine jetzt noch sucht? Und was inzwischen wohl alles als „Kollaboration“ gilt?

„Vitali Smirnov wurde zusammengeschlagen, weil er Leben gerettet hatte. Sein Körper ist von den Schlägen gezeichnet, die ihm eine Gruppe russischer Soldaten am 11. November in einem Keller in Cherson versetzt hat.
Smirnov war Techniker im Fernsehturm der Stadt. Am 10. November, einen Tag bevor die russischen Truppen die Stadt und das Westufer des Dnjepr verließen, platzierte das russische Militär Sprengstoff in und um den Turm. Smirnov gelang es seiner Geschichte zufolge, etwa 300 Einwohner der Umgebung zu warnen, die sie daraufhin verließen. Der Turm wurde in der Nacht vom 10. auf den 11. gesprengt.
Am Morgen danach hielt ein Fahrzeug Smirnov auf der Straße an. Die Insassen setzten ihm eine Kapuze auf und brachten ihn in eines der elf Haft- und Folterzentren, die laut ukrainischem Innenministerium von den Russen in der Region genutzt wurden.
Das Ministerium hat angegeben, dass es mindestens 436 mögliche Fälle von Kriegsverbrechen in der Provinz untersucht. »Sie haben mich so geschlagen, dass ich das Bewusstsein verlor. Ich bin Stunden später wieder zu mir gekommen, als sie mich bereits ins Freie gebracht und dort zurückgelassen hatten», sagt dieser Mann, der immer noch unter dem Trauma der Erfahrung steht. »Jemand hat mich verraten«, fügt er hinzu.“

Eine seltsame Geschichte. Am letzten Tag, wo die Russen schon abgezogen sind, verhaften und verprügeln sie noch Leute? Hatten die nicht da anderes zu tun?
Auch die Geschichte mit dem Fernsehturm und der Umgebung ist eigenartig. 300 Leute konnten ihre Häuser verlassen? Wären die überhaupt durch die Sprengung gefährdet gewesen?
Irgendwie entsteht der Eindruck, daß dieser Mann dafür von ukrainischen Truppen dafür verprügelt worden ist, weil er während der russischen Besatzung im Fernsehturm gearbeitet hat und die Prügel dazu dienten, die Namen weiterer „Kollaborateure“ dieser Art von ihm zu erfahren.

„Cherson wurde am 2. März (von der russischen Armee) eingenommen, nur sechs Tage nach Beginn der russischen Offensive, praktisch ohne militärischen oder zivilen Widerstand. Die Regierung hält eine offene Untersuchung aufrecht, um das Ausmaß der internen Zusammenarbeit zu klären, die Moskau bei seinem blitzschnellen Vormarsch in der Südukraine hatte. Die prominentesten Personen der ukrainischen Zivilverwaltung, die Russland unterstützt haben, sind mit den Besatzungstruppen auf die andere Seite des Dnjepr geflohen. Diejenigen, die nicht geflohen sind, werden jetzt von den Kiewer Geheimdiensten gesucht. »Vorrangig gilt es, die Stadt zu sichern, damit keine Informationen an den Feind durchsickern«, sagt ein Sprecher des ukrainischen Militärkommandos in der Provinz Cherson. Die Armee schränkt die Arbeit der Medien in der Region unter dem Vorwand von Sicherheitsgründen stark ein.“

Rußland hat ja angekündigt, Cherson irgendwann wieder zurückerobern zu wollen. Die ukrainischen Behörden wollen jetzt offenbar sicherstellen, daß das nicht so einfach gelingt.
Dabei muß erwähnt werden, daß es nach der Einnahme durch die russischen Truppen schon einigen zivilen Protest gab und Cherson nie in dem Maße prorussisch war wie die Ortschaften des Donbass.
Aber jetzt werden alle Bewohner Chersons, die nicht mit den Russen abgezogen sind, unter den Generalverdacht gestellt, mögliche Kollaborateure einer möglichen Wiedereinnahme zu sein.
Eine sehr ungemütliche Situation für die Einwohner der befreiten Stadt, die uns blaugelbe Fähnchen schwingend und jubelnd in die Wohnzimmer geliefert wurden. Viel von der Euphorie könnte auch durch die Angst beflügelt worden sein, ansonsten in einem der Keller zu verschwinden, die angeblich von den Russen als Folterkammern benützt und jetzt wahrscheinlich zu ukrainischen Säuberungszellen umgeflaggt wurden.

„»75.000 Menschen bleiben in der Stadt, 25% derjenigen, die sie vor dem Krieg bewohnt haben«, so Jaroslaw Januschewitsch, Leiter der Militärverwaltung von Cherson. Tausende von ihnen drängen sich dieser Tage auf der Platz der Freiheit, um die von den Behörden und NGOs verteilte humanitäre Hilfe einzusammeln.
Kurz vor ihrem Abzug sabotierten die Besatzer nämlich die Strom- und Wasserversorgung.
Außerhalb des Platzes und der Uschakova-Allee ist Cherson eine wenig befahrene Stadt, die von Sicherheitskräften patrouilliert und vom Donnern der ukrainischen Artillerie begleitet wird: Russische Stellungen sind nur einen Kilometer von der Stadt entfernt, auf der anderen Seite des Dnjepr.
Vladislav Nedostup ist ausgebildeter Soziologe, leitete aber in seinem Vorkriegsleben ein Unternehmen, das Autoersatzteile online verkaufte. Am Freitag wartete er auf dem Platz der Freiheit darauf, dass Journalisten ihm einige Flaschen Zhyvchyk“ (ein Birnen-Sprudelgetränke aus einer Kiewer Getränkefabrik), „ein ukrainisches Erfrischungsgetränk, sein Lieblingsgetränk, aus Odessa brachten.
Menschen kamen, um sich mit ihm fotografieren zu lassen: Nedostup war Mitglied des Netzwerks von Partisanen, die während der Besatzung ihr Leben riskierten, um den ukrainischen Streitkräften alle möglichen Informationen über die Bewegung der Besatzungseinheiten sowie über die mit den Russen kollaborierenden Ukrainer zu geben. »Unter Kollaborateur verstehen wir eindeutig diejenigen, die Informationen an die Russen weitergegeben haben, oder die Unternehmen, die mit ihnen zusammengearbeitet haben, um sich bei ihnen einzuschmeicheln«, erklärt Nedostup, »aber nicht die kleinen Unternehmen, die vorankommen mussten.«“

Ein Kind erwartet Brot in der Menge auf dem Freiheitsplatz in Cherson.

Der ukrainische Kollaborateur wird weiterhin Informationen über angebliche Russen-Kollaborateure an die ukrainischen Sicherheitskräfte weitergeben. Er ist ja eine bereits bewährte Quelle.
Möglicherweise kann man sich gegen etwas Bakschisch von dem auf ganz Cherson lastenden Generalverdacht bei ihm freikaufen und damit einen Persilschein erhalten.
Eine neue Geschäftssphäre tut sich hier in der befreiten Stadt auf …

„Igor Otschorski verließ seine Wohnung fast nie, aus Angst vor einer Verhaftung. Er habe Glück gehabt, sagt er, weil ihn kein Nachbar verraten habe und weil er nicht in der Volkszählung der Regionalregierung auftauchte, weil er in Kiew registriert war: Otschorski diente 2016 in der ukrainischen Armee im Donbass, während des Krieges gegen prorussische Separatisten. Hunderte dieser Cherson-Veteranen sind laut Nedostup in den Monaten unter russischer Kontrolle verschwunden. »Die wahren Kollaborateure sind die, die hier das Sagen hatten und noch haben«, sagt Otschorski und fährt mit einer zum Nachdenken anregenden Frage fort: »Kann man dem kleinen Bürger, der arbeitslos und hungrig war, und eine Familie zu erhalten hat, Kollaboration vorwerfen?«“

Vermutlich sind das genau die, die der Kollaboration bezichtigt werden werden, weil sie nicht das Geld haben, sich bei Herrn Nedostup und anderen Patrioten freizukaufen.

„Als Wladimir Putin am 24. Februar den Beginn der Invasion der Ukraine befahl, meldeten sich Nedostup und sein Vater freiwillig zu den Territorialverteidigungskräften (TVK), den paramilitärischen Einheiten, die von Zivilisten auf Befehl der Regierung gebildet wurden. Etwa 600 Männer aus Cherson bildeten laut Nedostup die lokale Territorialverteidigung. »Am 1. März, als die Russen die Stadt umzingelten und wir bereits den Rückzug der 59. (motorisierten) Brigade an der Antonov-Brücke verteidigt hatten, erhielten wir den Befehl zur Demobilisierung, dann begann das Überleben«, erzählt Nedostup.

Tägliche Verhaftungen

Nedostup erklärt, daß es eine Regel der Partisanen war, möglichst wenig über ihre Kameraden zu wissen, für den Fall, daß sie von den Russen gefangen genommen würden. Während des Besuchs dieser Zeitung war der 28-Jährige auch mit der Übermittlung von Nachrichten an Agenten des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) aus. Der SBU verhörte einen seiner Kollegen von den TVK: »Er ist eine Person, die die Russen festgenommen und freigelassen haben, und der SBU will wissen, warum – ob er Informationen geliefert hat.« Nedostup bestätigt, dass es jeden Tag Verhaftungen wie die seines Kollegen gibt. »Die Polizeiarbeit zur Gewährleistung der Sicherheit der Stadt hat gerade erst begonnen«, erklärte Gouverneur Januschewitsch.“

Nicht einmal die Mitglieder der TDK entkommen dem Generalverdacht, Kollaborateure gewesen zu sein. Und wenn man von den Russen nicht mißhandelt wurde, so ist das schon ein schwerwiegendes Indiz.

„Plötzlich taucht auf dem Freiheitsplatz eine alte Frau auf, tadelt die ukrainischen Soldaten, beschuldigt sie, »Nazis« zu sein, wie die russische Propaganda wiederholt: »Ich bin 1943 geboren und in der Sowjetunion hatten wir alles, nicht wie jetzt«“, schreit die Frau: »Ihr bombardiert unsere Leute im Donbass, in Russland gibt es eine Zukunft und hier nur Elend, die Mädchen der Ukraine erwarten nur, in Europa Prostituierte zu sein.« Niemand tadelte die Frau und Nedostup erinnerte den Journalisten daran, dass so etwas im umgekehrten Fall während der russischen Besatzung bedeutet hätte, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.“

Seltsam. Wenn jemand unter den Russen die russische Propaganda auf dem Freiheitsplatz verkündet hätte, wäre er/sieliquidiert worden?
Oder, was heißt „umgekehrter Fall“? Wenn man behaupten würde, in der Sowjetunion hätte man nichts gehabt und in der Ukraine alles? Prostitution für Ukrainerinnen? Niemals! (Wobei derzeit in Polen die Behörden damit beschäftigt sind, zu verhindern, daß ukrainische Frauen von Prostitutions-Netzwerken einkassiert werden, deren Kunden angeblich schon auf sie warten …) Der Donbass würde nicht bombardiert?
In diesem Falle hätte die Frau vermutlich von den Umherstehenden ein paar Ohrfeigen bekommen. Dergleichen kann man nur in geschützten Rundfunkanstalten verbreiten, nicht auf belebten Plätzen.
Was hingegen mit der jetzigen Frau passiert, wenn sie die schützende Öffentlichkeit verläßt, wissen wir nicht.

„Oleg Timkov, Journalist und Dichter, berichtete letzten Montag vom Platz der Freiheit, dass mehrere Veteranen der ukrainischen Armee im Donbass in seinem Gebäude“

Um welches Gebäude es sich wohl handelt? Anscheinend geht es um ein mehrstöckiges Wohnhaus, aber es könnte sich auch um einen Arbeitsplatz handeln

„festgenommen wurden, ohne dass jemand weiß, wo sie jetzt sind.“

Wann wurden die eigentlich verhaftet?

„Timkov versorgte EL PAÍS auch mit Einzelheiten über einen Mord, der um die Welt ging, nämlich den von Jurij Kerpatenko, dem Dirigenten des Cherson-Orchesters. Kerpatenko, der sich öffentlich gegen die Invasion ausgesprochen hatte, weigerte sich, bei einem von den Besatzern organisierten Konzert mitzuwirken. »Russische Soldaten gingen zu seinem Haus, um ihn zu verhaften, und er weigerte sich, die Tür zu öffnen«, erklärt Timkov: Das Militär eröffnete das Feuer, um die Tür aufzubrechen, und verletzte ihn tödlich. Wo sich seine Leiche befindet, weiß niemand.“

Kerpatenko war russischsprachiger Ukrainer, seine Weigerung scheint die von Rußland eingesetzte Zivilverwaltung besonders provoziert zu haben, weil man ihn nicht als ukrainischen Nazi diffamieren konnte.

„Geplünderte Schulen

Anja Alexandrovskaja unterrichtete ihre Schüler an einer Grundschule in Cherson heimlich im Zeichenunterricht. Der Unterricht war online. Sie zeigte uns den Ort in ihrem Haus, an dem sie die Schulsachen versteckt hatte. »Für die ukrainische Verwaltung zu arbeiten bedeutete, verhaftet zu werden. Niemand in meinem Gebäude wusste, dass ich immer noch Unterricht gebe – für alle Fälle. Hier gibt es viele Leute, die in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen sind, Sie wissen, was ich meine,«, erklärt Alexandrovskaja.

Frau Alexandrovskaja erklärt hier die vorherige SU zu einem einzigen Spitzelstaat, wo jeder jeden verriet – zum Unterschied von der heutigen unabhängigen Ukraine, wo dergleichen nie vorkommen würde.

„Die Einrichtungen ihre auf Kinder mit Körperbehinderung spezialisierten Schule wurden geplündert und ukrainische Bücher vernichtet.
Alexandrovskaja hat einen Zweitwohnsitz am Ostufer des Dnjepr. Eines Tages Anfang November ging sie hin, um den Zustand des Hauses zu überprüfen, und was sie sah, wird sie nicht vergessen: »Meine Datscha liegt auf der Straße, die zur (von Russland 2014 illegal annektierten Halbinsel) Krim führt. Dort verkehrten in einem fort Konvois eskortierter Lastwagen mit allerlei aus Cherson gestohlener Fracht, von Metall für öffentliche Arbeiten bis hin zu Tonnen von Getreide.« EL PAÍS bestätigte auch am vergangenen Donnerstag die Plünderung der wichtigsten Sammlungen des kulturellen Erbes von Cherson, die auf die Krim gebracht wurden.
Alexandrovskajas Überlebensregeln waren einfach, aber grundlegend: Lassen Sie sich auf der Straße nicht mehr als notwendig sehen, und niemals nach zwei Uhr nachmittags, um willkürliche Verhaftungen zu vermeiden.
Tragen Sie Ihr Handy niemals bei sich, um dessen Beschlagnahmung zu vermeiden. Ukrainische Symbole oder andere Erkennungsmerkmale sind zu vermeiden.
Eines der detailliertesten Folterzeugnisse, die in den ukrainischen Medien erschienen sind, ist das eines Sympathisanten des Rechten Sektors, einer politischen Gruppe mit Ursprüngen in der extremen Rechten, die heute als Bataillon in die ukrainischen Streitkräfte eingegliedert ist.“

Nazis in den ukrainischen Streitkräften?! Niemals!

„Diese Person wurde möglicherweise verraten und in seinem Haus wurden Symbole des Rechten Sektors gefunden. Er wurde in einem Gebäude in der Teploenergetikiv-Straße eingesperrt und erlitt zusammen mit einem weiteren Dutzend Gefangenen, mit denen er die Haft teilte, brutale Misshandlungen.
Dmitro Lubinetz, der Ombudsmann in der Ukraine, hat diese Woche angeprangert, dass es in den von den Russen in Cherson eingerichteten Haft- und Strafzentren sogar Zellen für Jugendliche gibt.“

Worin sich die wohl von denen für Erwachsene unterscheiden?

„Am nördlichen Stadtrand von Cherson gibt es einen Supermarkt, in dem Dutzende von Einwohnern Schlange stehen und darauf warten, Wasserkrüge zum Trinken und Waschen nachzufüllen. Unter ihnen teilten sie am Freitagmorgen Terrorerfahrungen, insbesondere psychologische, die sie erlitten hatten. Der 30-jährige Jevhenij Babitsch, vermißt 2 Freunde: Einer ist ein Ex-Polizist, sein Name wurde als solcher in die Akten des Rathauses aufgenommen; der andere war ein Aktivist, der in den ersten Tagen der Kapitulation der Stadt auf der Straße gegen die russischen Soldaten demonstrierte. »Unser Leben war in den Monaten der Besatzung wertlos«, sagt Babitsch.

Sascha Medvedjev, 33, wartet im Supermarkt, um jemandem zu helfen, der es brauchte. Er ist ein Flüchtling aus einem Dorf in der von Rußland besetzten Provinz Saporischschja. »Ich kenne niemanden, der verschwunden ist, aber sie könnten dich ohne Vorwarnung erschießen, das weiß ich aus erster Hand«, sagt Medvedjev. Auf die Frage nach dem Risiko einer erneuten Invasion von Cherson mit lokaler Unterstützung macht Medvedjev darauf aufmerksam, dass viele Kollaborateure aus der Stadt geflohen seien, »und viele andere von den Partisanen getötet wurden«.“

Mit „Partisanen“ werden diejenigen bezeichnet, die mit den ukrainischen Sicherheitskräften kollaborieren.
Es gab also rund um den Abzug der Russen und dem Einmarsch der Ukrainer eine Art freies Abrechnungswesen, das sicher von vielen genutzt wurde, die offene Rechnungen mit Nachbarn und Konkurrenten zu begleichen hatten.