Der Argentinien-Krimi, neueste Folge

DER COUNTDOWN LÄUFT

„Es sind noch 23 Tage bis zu dem Zeitpunkt, an dem Argentinien die Zahlungen auf Schuldtitel einstellen könnte/müßte, die nach US- und europäischem Recht ausgegeben wurden.“ (El País, 11.7.)

Das ist die Frist, innerhalb Argentinien seine Schuld bei dem 1% der Gläubiger bezahlen müßte, die vor dem US-Gericht Recht auf die volle Auszahlung der Nominale plus Zinsen der von ihnen gehaltenen argentinischen Schuldtitel erhalten haben. Diese Gläubiger sind dadurch zu Erstgläubigern geworden, ihre Forderungen genießen damit Priorität gegenüber allen anderen. Die ihnen geschuldete Summe beträgt 1,3 Milliarden Dollar. Solange Argentinien diese 1,3 Milliarden nicht bezahlt, können diese Gläubiger alle Vermögenswerte Argentiniens pfänden. Das läßt sich international nicht so leicht durchsetzen, wie die bisherigen Versuche zeigen, dem argentinischen Staat gehörende Flugzeuge oder Schiffe zu beschlagnahmen.

Die bisherigen Vergleiche der argentinischen Regierung mit denjenigen 93 % der Gläubiger, die der Umschuldung zugestimmt haben, haben jedoch als Auszahlungsort die USA, wodurch auch die letzte Tranche der Schuldentilgung, die Argentinien überwiesen hat, vom Gericht beschlagnahmt worden ist. Argentinien kann also seine Schuld bei diesen 93% der Gläubiger nicht abzahlen, solange die 1% bei den Geierfonds – im weiteren der Einfachheit halber GF – nicht bezahlt sind.
Auch das herablassend-großzügige Angebot, das die GF Argentinien gemacht haben – die argentinische Regierung könnte einen Teil dieser Schuld in Staatsanleihen bezahlen – ändert am prinzipiellen Hammer dieser Schuldforderung nichts: Würde Argentinien diese 1,3 Milliarden auszahlen, so würden weitere 15 Milliarden von den restlichen 6% der Gläubiger eingeklagt werden, die den seinerzeitigen Vergleichen nicht zugestimmt haben und ebenfalls die volle Auszahlung der Schuld fordern. Und damit wären auch die Umschuldungen mit den restlichen 93 % der Gläubiger hinfällig und die ihnen gegenüber inzwischen auf 120 Milliarden angewachsene Schuld Argentiniens wäre wieder gültig.

Mit der Auszahlung der 1,3 Milliarden würde Argentinien also eine Schuld von 136,3 Milliarden Dollar anerkennen.
Wenn Argentinien nicht zahlt und dadurch wiederum bankrott ist, würde das die – sehr eingeschränkte, aber doch gegebene – Konvertibilität des Peso beenden. Alles ausländische Kapital, sofern flüssig, würde Argentinien sofort verlassen. Die Reserven der argentinischen Nationalbank sind viel zu gering, um durch Interventionskäufe einen solchen Vertrauensverlust aufzufangen. Damit wäre der ganze Außenhandel dieses – nach rund 20 Jahren IWF-Partnerschaft ziemlich desindustrialisierten – Landes gefährdet: Argentinien könnte nur mehr auf Tauschbasis importieren. Vor allem die Energieversorgung wäre gefährdet.

In ein paar Tagen wird in Brasilien über die Aufnahme Argentinien in die BRICS, die Errichtung einer Entwicklungsbank und eines Währungsfonds entschieden.

An der Behandlung Argentiniens wird weltweit viel Kritik laut, die sich beinahe ausnahmslos auf das Prinzip der Souveränität beruft und im Urteil des amerikanischen Gerichts eine Verletzung desselben erkennt. Das Ideal der Gemeinschaft gleichberechtigter Nationen wird gegen die Wirklichkeit der imperialistischen Weltordnung gekehrt.
Interessanterweise gab es seinerzeit keine Kritik von Menschen- und Völkerrechts-Anhängern, als Argentinien die Dollarparität mit dem IWF vereinbarte und Staatsanleihen mit Gerichtsstand USA auf den Weltbörsen ausgab. Das liegt zum einen an der geänderten Weltlage, aber zum anderen eben daran, daß in einem solchen Schritt niemand die Verletzung des Souveränitätsprinzips erkannte, die ihm innewohnte.

Ein Beispiel für diese Art von untertäniger Kritik, die sich sehr anklägerisch und rechtsbewußt gibt, liefert die argentinische Menschenrechts-Ikone Adolfo Pérez Esquivel:

„Es ist notwendig, das Gesetz anzuwenden, aber immer auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen »rechtlich« und »rechtmäßig«, zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, und anzuerkennen, daß dem Recht“ (welchem?) „zufolge die Binnenschuld gegenüber dem Volk Priorität hat: der Kampf gegen den Hunger, die Armut und die Ausgrenzung großer Sektoren der Bevölkerung.“ (El País, 11.7.)

Nun ja. Dafür hat er ja auch den Nobelpreis bekommen: für seine Fähigkeit, luftige und durch nichts gedeckte Rechtstitel aus dem Ärmel zu ziehen und unters Volk zu schleudern – und damit den Glauben an die prinzipielle Güte der Weltordnung in „großen Sektoren der Bevölkerung“ aufrecht zu erhalten.

Demokratielehrstunde, Fortsetzung

WAHLEN HIER UND DORT
Neben den Wahlen zum Europaparlament, die ja auch einige Besonderheiten aufweisen, wurde am vergangenen Wochenende in Ägypten und der Ukraine gewählt. Aus der Berichterstattung über diese Events kann man ablesen, welchen Stellenwert solche Urnengänge haben und worüber inzwischen großzügig hinweggesehen wird.
1. Europaparlaments-Wahlen
Die zeichnen sich durch eine extrem niedrige Wahlbeteiligung aus. Obwohl seit Wochen und Monaten von allen Seiten Werbung dafür gemacht wird, lockt diese Wahl immer weniger wahlberechtigte EU-Bürger hinter dem Ofen hervor. In manchen Ländern der EU gehen gerade 20 % der Wahlberechtigten wählen. Dieser Umstand wird aber interessanterweise von den Medien immer weniger thematisiert. Es scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß Bürgers Zustimmung zum Regiertwerden immer weniger wichtig wird, solange die Betreffenden sonst brav ihre Pflicht tun, ihre Arbeit und Steuern abliefern oder sich ohne zu murren im sozialen Netz aufhalten und widerspruchslos von diversen sozialstaatlichen Institutionen drangsalisieren lassen.
Es ist ja in der Tat bemerkenswert, wie wenig Unmut die Verarmung ganzer Landstriche seit dem Ausbruch der Krise bei den Betroffenen hervorgerufen hat. Ein paar Demos, kaputte Fensterscheiben, Vereinigungen von Geschädigten, die brav immer wieder den Führern ihre Unzufriedenheit mitteilen und dabei vielleicht mit Kochlöffeln auf Kochtöpfe schlagen – mehr ist in absehbarer Zeit nicht zu befürchten. Der italienische Häuptling Renzi sieht sich in seinem Kurs bestätigt und verkündet, man müsse sich in Zukunft darum bemühen, den Menschen ihre Illusionen zurückzugeben. Man beachte: nicht Wohlstand, Arbeitsplätze, erschwingliche Wohnungen oder ähnliche materielle Zuwendungen werden versprochen, – lediglich das Nähren von Hoffnungen, daß es um so etwas in der Politik auch ginge, steht damit auf der Agenda.
Wahlen haben also immer weniger den Charakter der Stiftung einer Einigkeit von Staat und Volk, einer freiwillig geleisteten Bestätigung der Bürger, daß sie weiter so regiert wollen wie bisher – sie werden zu einem Spektakel, bei dem sich die Regierenden, die Vertreter der politischen Klasse selbst feiern, ein Bad in der Menge nehmen und gleichzeitig klarstellen, daß sie sturzzufrieden mit sich selbst und mit ihren gehorsamen Untertanen sind. Es ist also immer mehr der Wahlkampf als Selbstdarstellung der Machthaber der eigentliche Zweck der Veranstaltung, hinter dem der Wahlakt selbst zu einer gewissen Bedeutungslosigkeit verblaßt.
Kaum ist die Wahl vorbei, kommen natürlich die Analysen und Deutungen. Es wird mit gespielter Besorgnis vermeldet, daß die „europakritischen“ Parteien auf dem Vormarsch sind. Daß deren „Europakritik“ eine matte Sache sein muß, wenn sie gleichzeitig zu Wahlen fürs europäische Parlament antreten, ist dabei natürlich auch den Konkurrenten und Wahlanalysten nicht entgangen. Man kann also geruhsam die Gefahr von „Europaskeptizismus“ an die Wand malen, während die professionellen Deuter des Wählerwillens selber wissen, daß diese Parteien seit geraumer Zeit Teil der Parteienkonkurrenz sind und sich einfach mit diesem oppositionellen Schmäh Stimmen und Sitze sichern, aber keineswegs den Ast absägen würden, auf dem sie sitzen.
Die „Kritiker“ hingegen feiern ihre „Erfolge“. So wird begeistert vermeldet, daß die angeblich so menschenfreundliche und sozial denkende Syriza in Griechenland 26 % erhalten hat. Das ist genau so viel, sogar etwas weniger, als sie bei den letzten griechischen Parlamentswahlen vor 2 Jahren erhalten hat. Wenn man dann noch bedenkt, daß wahrscheinlich weniger als die Hälfte der Griechen zu den Urnen geschritten sind, hat Syriza von etwas mehr als 10 % der Wahlberechtigten ein Kreuzerl erhalten. Wer das als großen Erfolg verbucht, gibt damit kund, daß er keinen ernsthaften Einwand gegen das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem hat.
Die EU-Wahlen brachten also das für alle Politiker befriedigende Ergebnis, daß alles so weitergehen kann wie bisher und niemand die Verhältnisse in Frage stellen will.
2. Wahlen in Ägypten
In Ägypten konnte man sogar 3 Tage hintereinander wählen, die Begeisterung hielt sich aber laut Medien in Grenzen. Um mehr Leute in die Wahllokale zu locken, wurde die Frist per Beschluß ad hoc um einen Tag verlängert.
Erinnern wir uns zurück: 2011/2012 konnten sich die Medien gar nicht beruhigen über die Sensation, daß im volkreichsten Land der arabischen Welt endlich die Demokratie Einzug hält. Die Parlamentswahlen waren zwar schon eine herbe Enttäuschung, als die religiösen Parteien den größten Teil der Stimmen für sich ergattern konnten. Aber die Präsidentschaftswahlen, so die Hoffnung, die würden schon wieder alles ins Lot bringen. Und so wurden auch die zwei Kandidaten, die das Ausland gerne gesehen hätte, als Favoriten präsentiert:
„Dass diese Präsidentenwahl ein Meilenstein in der Geschichte des jahrzehntelang autoritär regierten Landes werden dürfte, zeigt auch der offen und hart geführte Wahlkampf: Erstmals hatten die beiden aussichtsreichsten Kandidaten in einer Fernsehdiskussion Rede und Antwort stehen müssen.“ (Süddeutsche Zeitung, 15. Mai 2012)
Als die Wahlen dann stattgefunden hatten und weder Amr Mussa noch der als „gemäßigt“ gehandelte Abul Futuh in die Stichwahl kamen, so waren lange Gesichter angesagt. Die Regierung der Muslimbrüder befriedigte schließlich niemanden im In- und Ausland: Weder wurden die materiellen Bedrängnisse derer erleichtert, die sich von der Muslimbrüderschaft so etwas erwartet hatten, noch wurden die Forderungen der säkulären Opposition erfüllt, und die ganz radikal-islamischen Ägypter fanden, daß die Muslimbrüder den Kampf gegen den Verfall der Sitten zu lauwarm angingen.
Ökonomische Probleme Ägyptens, drohende Zahlungsunfähigkeit, Unruhen und Aufstände, die Toten von Port Said, Anschläge auf Kopten – all das führte dazu, die Begeisterung für die demokratisch gewählte Regierung auch jenseits der Grenzen sehr schnell abkühlen zu lassen. Als das Militär voriges Jahr putschte und die bisherige Regierungsmannschaft einsperrte, waren die Zeitungs- und Rundfunk-Redaktionen in der schwierigen Lage, den Putsch zwar zu begrüßen, aber dies nicht ganz offen zugeben zu dürfen. Also wurde ein komisches Blabla mit den Vokabeln „problematisch“, „notwendig“, „bedenklich“, „verständlich“, „leider!“ usw. veranstaltet. Man erinnerte an Algerien und machte sich Sorgen, ob das Militär überhaupt noch in der Lage sei, das Land in den Griff zu kriegen.
Ein paar hundert, vielleicht auch tausend Tote und drakonische Gerichtsurteile später kann die Welt beruhigt aufatmen: die Militärs sitzen offenbar fest im Sattel. Um dem ganzen aber doch noch den Schein zu verleihen, es ginge beim Regieren in Ägypten um irgendeinen Konsens zwischen Militär und Volk, wurden Präsidentschaftswahlen veranstaltet. Außer dem Kandidaten des Militärs war ein einziger anderer zugelassen, die Muslimbrüder sind verboten, die Salafisten auch, mit Lautsprecherwagen wurden hohe Geldstrafen für Nichtwähler angedroht.
Die „Zeit“ äußert sich hämisch über diese Veranstaltung:
„Alle Tricks haben wenig gefruchtet: eine überzeugende Zustimmung zu Sissi blieb aus. Zwar erhielt Sissi ein prozentuales Ergebnis, wie man es sonst nur aus Nordkorea kennt: Für ihn stimmten laut Staatsfernsehen 96,2 Prozent der Wähler. Entscheidend aber war die geringe Wahlbeteiligung: Zuerst wurden 35 Prozent genannt, dann zauberte die Wahlkommission Millionen zusätzliche Wählerstimmen hervor, sodass offiziell die Wahlbeteiligung am Ende bei etwa 46 Prozent lag. Ob das stimmt, darf bezweifelt werden: … so lag der reale Zuspruch wohl eher in der gleichen Größenordnung wie beim Verfassungsreferendum im Januar, als sich offiziell 38,2 Prozent der Ägypter beteiligten.“
(Ungefähr so viel wie bei der Europa-Wahl … )
Der neuen Regierung in Ägypten wird von den europäischen Medien alles Mögliche vorgeworfen: politische Justiz, willkürliche Festnahmen, Folter, Korruption, Verstoß gegen die Menschenrechte. Dennoch ist klar: diese Regierung wird so schnell nicht als Feind ins Visier der EU oder der USA gelangen, weil sie vertritt deren Interessen, ist deren Statthalter und verhindert Schlimmeres.
Sodaß nach einigen kritischen Bemerkungen zu der Wahlfarce doch wieder Beruhigung eintritt und die Kamera der Weltöffentlichkeit von Ägypten wegschwenkt.
3. Wahlen in der Ukraine
Bei denen war es schon einmal sehr günstig, daß sie am gleichen Tag waren wie die Wahlen zum Europäischen Parlament. Dadurch fiel es gar nicht weiter auf, wie kümmerlich die Medien dort präsent waren und wie wenig man eigentlich über den Ablauf dieser Wahl erfuhr.
Obwohl in diversen Landesteilen nicht gewählt werden konnte, soll es eine „Rekord-Wahlbeteiligung“ von mehr als 60 % gegeben haben – nach Auskunft der ukrainischen Behörden. Die Zahl, genauso wie die, daß Poroschenko mit ca. 54 % gewonnen habe, kam erstaunlich schnell – für ein Land, das sich teilweise im Bürgerkrieg befindet und einige Tage vorher bekanntgab, daß der zentrale Server der Wahlkommission gehackt worden sei.
Die OSZE- und sonstigen Beobachter – unter ihnen so hochkarätige und um die Sache der Demokratie verdiente Personen wie Madeleine Albright – bestätigten die Fairness der Wahl. Alle diese Beobachter/Persilschein-Aussteller scheinen aber über Kiew nicht hinausgekommen zu sein. Alle Angaben über den Rest der Ukraine stammen von den ukrainischen Behörden.
In Kiew soll der Andrang groß gewesen sein. Im Unterschied zu leeren ägyptischen Wahllokalen wurden die angeblich vollen in Kiew und die langen Schlangen davor der Öffentlichkeit jedoch nicht optisch präsentiert.
In Kiew selbst durften viele Leute wählen, die woanders angeblich nicht konnten. Wie sehr wurde deren Berechtigung überprüft? Es ist zumindest möglich, daß manche Leute mehrmals gewählt haben. So kann natürlich auch ein guter Eindruck entstehen über den „Andrang“, indem man eine Truppe von einem Wahllokal zum anderen schickt. (Es sei nur am Rande bemerkt, daß die Ukraine Erfahrung mit Wahlfälschung hat, weil selbige seit der Unabhängigkeit praktiziert wurde.)
In Odessa waren angeblich 30 % der abgegebenen Wahlzettel ungültig, weil die Leute „Diebe!“ „Räuber!“ „Schweine!“ und Ähnliches draufgeschrieben hatten.
Gingen alle, die tatsächlich gewählt haben, freiwillig hin, oder wurde Druck ausgeübt?
Wieviele der abgegebenen Wahlzettel waren, wie in Odessa, ungültig?
Ein Schelm ist, wer schlecht denkt. Aber vermutlich war die tatsächliche Wahlbeteiligung in der Ukraine noch niedriger als bei der Europa-Wahl und der ägyptischen. Alle Zahlen waren, wie’s ausschaut, schon vorher vorbereitet, genauso wie die Jubelmeldungen über die hohe Wahlbeteiligung.
Ach ja, und so nebenbei, als Mitläufer, wurde auch noch Klitschko zum Bürgermeister von Kiew gewählt, angeblich auch mit überwältigender Mehrheit.
Es ist schon beachtlich, wie die Öffentlichkeit bezüglich eines Landes, das gar nicht weit weg ist, an der Nase herumgeführt werden kann, wenn das im Interesse der Politik ist.
So ist der neue Hampelmann in Kiew jetzt demokratisch legitimiert, und alle Toten, die in Zukunft auf das Konto dieser Regierung gehen, ebenfalls. Sie werden völlig rechtmäßig abgemurkst.

Der Pinochet des Ostens?

WOJCIECH JARUZELSKI, 1923– 2014
Der Vergleich war in der Feindbildpflege des Kalten Krieges durchaus populär, vor allem wegen der Sonnenbrillen, die beide gerne trugen.
Gerade in Polen selber und unter seinen politischen Gegnern gab es jedoch stets einen Konsens, daß er mit seinem Staatsstreich und der Verhängung des Kriegsrechtes gewisse Dienste um die Nation erworben hatte.
Man rekapituliere: 1980 war Polen praktisch zahlungsunfähig. Der Schuldendienst für die im Westen aufgenommenen Kredite überstieg die Exporterlöse bei weitem. Gleichzeitig war ein großer Teil der polnischen Industrie von Westimport abhängig. Die Unfähigkeit, weitere Kredite zu erhalten und die alten zu bedienen, stellte also den Bestand der polnischen Wirtschaft in Frage. Während Polen Kohle und Lebensmittel exportierte und im Inneren die Preise erhöhte und ernsthafte Versorgungsmängel hervorrief, ging die polnische Regierung im westlichen Ausland um Kredite betteln. Die „brüderliche Hilfe“, um Polen vor dem Zusammenbruch zu bewahren, führte zu Versorgungsmängeln in den anderen Staaten des RGW. Streiks weiteten sich aus, Solidarnosc wurde gegründet … Die Kreditwürdigkeit, der Schuldendienst, die innere Versorgung stand auf dem Spiel. Polen war praktisch unregierbar geworden.
Der Parteivorsitzende Gierek wurde als Hauptverantwortlicher der Misere im September 1980 abgesetzt, sein Nachfolger Kania ein Jahr später. Sein Nachfolger wurde Jaruzelski, der im Dezember 1981 das Kriegsrecht über Polen verhängte.
Zum Unterschied von reifen Demokratien, die allesamt in der Verfassung die Verhängung des Ausnahmezustandes für den Fall des Staatsnotstandes verankert haben, besaß die polnische Verfassung eine solche Klausel nicht. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei glaubte fest genug an ihre Ideologie, die Partei des ganzen Volkes zu sein, daß ihr eine solche Entfremdung von den von ihr angeblich vertretenen Massen ganz unvorstellbar erschien. So sah weder der ursprüngliche Verfassungstext von 1952 noch die späteren Novellierungen so etwas wie einen Staatsnotstand vor. Man kann auch umgekehrt sagen: Hätte die Partei so etwas für möglich gehalten, so hätte sie damit ihren Führungsanspruch in Frage gestellt. Es lag also diesem Mangel der Verfassung eine gewisse Notwendigkeit zu Grunde, die mit dem System des Realen Sozialismus und dem Führungsanspruch der dortigen Staatsparteien zusammenhing.
Also verhängte Jaruzelski das Kriegsrecht. Von der Bevölkerung wurde dieser Schritt – zu Recht – so aufgefaßt, als ob die Regierung der eigenen Bevölkerung den Krieg erklärt, sie also als ihren Feind betrachtet hätte. Die Zeit des Kriegsrechts, das 1983 wieder aufgehoben wurde, bezeichneten die Polen als „den Krieg“.
Jaruzelski hat diesen Schritt immer wieder damit begründet, daß er damit einen sowjetischen Einmarsch, wie in Ungarn 1956 oder in der CSSR 1968, verhindert hätte. Er habe also das Vaterland vor einer Invasion bewahrt.
Russische Politiker behaupteten später, nach der Wende, es hätte keine Einmarschpläne gegeben. Jaruzelski konterte das damit, daß diese eben gar nicht erst ausgearbeitet worden seien, weil er und seine Mannschaft rechtzeitig gehandelt hätten.
Die Erignisse in Polen von 1980 an: Versorgungsmängel, Streiks, Flüchtlingswellen, Kriegsrecht, Einreiseverbot von polnischen Bürgern in andere RGW-Staaten, usw. trugen jedenfalls ihren Teil dazu bei, daß die Zweifler in den Reihen der sozialistischen Staatsparteien mehr und stärker wurden und daß die sowjetische Führung sich 1985 nach dem Tod ihres vorigen Vorsitzenden für einen Reformer entschied, der dann zum Totengräber des Realsozialismus werden sollte.
Jaruzelski war auch der Präsident des Überganges, der die Wende in Polen 1989/90 unspektakulär und in Form einer historischen Notwendigkeit über die Bühne gehen ließ.
Als sein Landsmann Wojtyla 2005 das Zeitliche segnete, betonte Jaruzelski noch einmal, wie gut die Zusammenarbeit seines Regimes mit der katholischen Kirche gewesen sei und wie sehr die Vereinigte Arbeiterpartei Polens und die Mannschaft des Pontifex zusammengeholfen hatten, um den Burgfrieden in Polen wiederherzustellen und die Aufmüpfigkeit der arbeitenden Massen im Zaum zu halten. (Wie anders dagegen die Sichtweise des geweihten Priesters Ernesto Cardenal, der über Johannes Paul II. die Aussage traf: „Dieser Papst war eine Katastrophe für Lateinamerika und ein Unheil für die ganze Welt!“)
Jaruzelski stand also für einen Staatsmann, der im Grunde ganz im Sinne der Demokratie und des Freien Westens handelte: Er trat dafür ein, dem Staat zu geben, was des Staates ist, und Gott, was Gottes ist: für den sozialistischen Staat (und die Bedienung von dessen Auslandsschuld) Arbeitsleistung, und als Erbauung in der Freizeit jede Menge Maria im Fernsehen.
In dieser Eigenschaft wird er sicher auch in den Medien gewürdigt werden.
Lesetipp:
Karl Held: Abweichende Meinungen zu Polen. Resultate Verlag 1982. Vergriffen, aber m Gebrauchtbücher-Handel erhältlich, z.B. hier.
Online zu lesen hier.