Der letzte, 4. Teil des 3. Kapitels heißt: „ORGANISIERUNG DER EINHEIT DER NATION“
Dieser Titel ist interessant und wichtig, weil viele Anhänger Lenins immer wieder meinen, er sei ein Gegner und Kritiker des Nationalismus’ gewesen. Mitnichten! Er wollte sich den Nationalismus zunutze machen, aus Gründen, die im weiteren zu erläutern sind.
„Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war.“ (S. 62)
Das ist zunächst ein Zitat von Marx aus dem „Bürgerkrieg in Frankreich“. Marx weist darauf hin, daß die Pariser Kommune von der Idee der Nation beseelt war.
Kommt jetzt eine Kritik des Gedankens der Nation?
Wieder einmal natürlich nicht! Sondern es folgt eine Beschimpfung Bernsteins, der angeblich diesen Gedanken fehlinterpretiert hat, indem er ihn mit Proudhons Ideen verbunden hat.
(Es mag ja sein, daß Bernstein hier Unsinn verzapft hat. Dem Inhalt nach wird er jedoch hier nicht kritisiert, sondern wieder einmal als Verräter gebrandmarkt.)
Und Lenin macht aus obigem Zitat eine Frage des Zentralismus gegenüber dem Föderalismus. Das ist in obigem Zitat gar nicht Thema, aber Lenin nimmt das als Ausgangspunkt für diese – ihn offenbar bewegende – Frage.
Er legt einfach, und vollkommen ohne irgendein Argument fest: Wenn sich Kommunen vereinen, um den bürgerlichen Staat zu vernichten, so haben sie sich damit schon der Idee des Zentralismus verschrieben, also dem Prinzip, daß eine zentrale Gewalt entscheidet, was zu geschehen hat.
Dies alles angeblich im Interesse der Einheit der Nation:
„Marx betonte ausdrücklich, als ob er die Möglichkeit einer Entstellung seiner Ansichten vorausgesehen hätte, daß die gegen die Kommune erhobene Anschuldigung, sie hätte die Einheit der Nation vernichten, die Zentralregierung abschaffen wollen, eine bewußte Fälschung ist.“
Für Lenin ist die Idee der Nation das Gleiche wie das Prinzip des Zentralismus: Die Unterordnung unter eine zentrale Gewalt und die Identifizierung der solchermaßen Unterworfenen mit dieser Zentralgewalt, allerdings jetzt unter der Idee der „proletarischen Revolution“ und der „Diktatur des Proletariats“.
Lenins diesbezügliche Position wurde von seinen Anhängern immer gerechtfertigt mit Argumenten wie: Er hätte den Nationalismus für die Idee der Revolution funktionalisieren wollen, im Sinne seiner Einseiferei für die Idee der Revolution. Er sei im Grunde dem Nationalismus nicht aufgesessen.
Alles ein Schmarrn.
Erstens, der Nationalismus läßt sich nicht funktionalisieren für etwas anderes als eben denselben: Wenn man an die freiwillige kollektive Unterordnung unter eine Gewalt gutheißt, so ist man eben dafür. Jeder Appell an den Nationalismus ist eine Bestärkung desselben, er läßt sich nicht für eine Kritik des Nationalismus benützen.
Zweitens, Lenin war doch gerade scharf auf den Nationalismus. Er wollte, daß die Sowjets – die gabs ja 1917 – sich als Nation begreifen, als Teil eines großen Ganzen betrachten und dem Diktat der Partei unterordnen.
„Staat und Revolution“ ist, gerade in diesem Kapitel, eine verhüllte Kampferklärung an die Räte: Ordnet euch der Partei unter, andernfalls seid ihr Verräter! Weil die Bolschewiki sind die legitimen Vertreter der Arbeiterklasse: Sie sind berufen, sie zu führen.
Die Pariser Kommune mußte also in der Interpretation Lenins für quasi das Gegenteil dessen herhalten, was ihre Vertreter erstrebten: Die Selbstorganisation der Gemeinden, oder, im vorliegenden Falle: der Räte. Mit Berufung auf Marx maßt sich Lenin an, die Selbstorganisation von unten für nichtig zu erklären und sie zu einer nationalen Erhebung umzuinterpretieren, die der Führung der Partei bedarf. Der gesamte 5. Punkt dieses Kapitels dient diesem Beweiszweck. Wenn sich die Menschen selbst organisieren, ihre Vertretungen wählen und ihre Entscheidungen treffen, so ist das ein einziger Auftrag an die Partei, diese Organe zu entmachten, und in einem größeren Organismus aufgehen zu lassen, der sich dann – im Interesse der Betroffenen, selbstverständlich! – ihrer Anliegen annimmt und diese nach dem eigenen Gutdünken der Partei, oder der „Diktatur des Proletariats“ wahrnimmt. Damit macht sich natürlich dieses Gremium – Staat, Partei, Verwaltung – von den Bedürfnissen der ursprünglichen Beschlüsse dieser –„unreifen“ – Vertretungen völlig unabhängig.
Noch etwas kann man diesem Kapitel entnehmen: Der „Staat“ ist für Lenin ausschließlich die Exekutive, der Gewaltapparat: Polizei, Heer. Andere Teile des Staatsapparates, die Rechtspflege, das Unterrichtswesen, die Gesetzgebung und die Volksvertretung in Form des Parlaments, sind nicht „Staat“, sondern „Verwaltung“ – sie werden zu einem Teil der „Gesellschaft“, den man durchaus übernehmen und fortführen kann. Ihre Stellung im Rahmen des kapitalistischen Systems ist nicht Gegenstand seiner Analyse, wenn man diese Schrift überhaupt als Analyse bezeichnen will. Mit dieser Scheidung ist auch klar, daß „Zerschlagen des Staatsapparates“ sich bloß auf die Zerstörung und Neukonstituierung von Heer, Polizei – und Geheimdienst!” – bezieht, nicht auf die „zivile Sphäre“ ebendieses Staatsapparates.
Deine These
würde wohl von dem einen oder anderen Leninisten vielleicht sogar zurückgewiesen. Was mich an Lenins Funktionalisierungsversuch stört, ist damals als unbezweifelbar wahrgenommene Sichtweise, daß zwar der Nationalismus als Ideologie schlecht sein mag (jedenfalls der der “Unterdrückernationen”), aber doch nicht die Nation als behauptetes Faktum als solche. Da wurden doch rauf und runter Kriterien genommen, um der Nation habhaft zu werden und daß die so identifizierten Nationen zu verteidigende “Rechte” hätten, das war auch geläufig (“nationale Befreiung”). Ist es bei heutigen Leninisten ja immer noch.
Die Denkweise der Bolschewiki drückt wohl recht gut folgender Abschnitt aus der Einleitung von Stalins Standardschrift zum Thema (Marxismus und nationale Frage von 1913)
zitiert nach http://www.marxists.org/deutsch/referenz/stalin/1913/natfrage/einleit.htm
Wenn Stalin dann den Begriff der Nation definiert:
dann beschreibt er eigentlich nur, was der Kapitalismus in den jeweilgen Staaten zustande gebracht hat. Warum Kommunisten sich positiv darauf beziehen müssen “Sie (die Sozialdemokratie/die Bolschewiki) kann nur mit wirklichen Nationen rechnen, die handeln und sich bewegen und darum auch erzwingen, daß man mit ihnen rechnet.” ist damit ja noch gar nicht begründet.
zum “Ausnutzen des Nationalismus” noch die Standardformel von Stalin:
So ganz gehalten an diese hehre Verteidigung der Nation haben sich die Bolschewiki nach der Revolution übrigens nicht. Und das zum Teil ja auch aus gutem Grund, schließlich waren viele Sitten und Gebräuche im weiten Zarenreich einfach nur barbarisch.
Übrigens: Das von Neoprene zitierte bahnbrechende Werk des Genossen Dschugaschwili wurde in Wien verfasst:
http://de.wikipedia.org/wiki/Stalin-Gedenktafel_(Wien)
Nestor, du magst ja was gegen das Wien vor dem Ersten Weltkrieg haben, und vielleicht oder dann wohl eher sicherlich auch gegen das heutige Wien, ein paar Gründe fielen mir da auch ein, aber Wien heute auch noch ex post die Bolschewiki anzuhängen, ist mir doch zu historisch ungerecht!
Nein, ich wollte Wien nicht schlechtmachen, sondern es als den Nabel der Weltgeschichte hinstellen, als den es seine Bewohner gerne sehen!
Außerdem ist die Gedenktafel ja wirklich ein Kuriosum, weil wo gibts denn heute noch sowas?! Nicht einmal in Gori wird sein Andenken richtig gepflegt:
http://derstandard.at/1277336737736/Nachteinsatz-in-Georgien-Stalin-Statue-in-Gori-gestuerzt
Dagegen der Trotzki, der hat ja – völlig unverdienterweise, in meinen Augen – sicher jede Menge Kultstätten und Verehrer!
(Oder täusche ich mich da?)
Also, auf Facebook hat Lenin 3.874 Follower, Trotzki nur 480. Stalin kommt auf 40, Nestor Machno immerhin auf 1!
Westerwelle hat über 8.000, Kohl nur über 2.000. Fidel Castro hat 35 Fans auf Facebook. “Kann dieser seelenlose Ziegelstein mehr Freunde haben als H.C. Strache?” brachte es immerhin auf über 174.000 Fans.
Allgemein schneiden Politiker auf Facebook aber vergleichsweise (Michael Jackson mit 18.924.583 Fans!) schlecht ab.
Endlich würdigt mal jemand den Gebrauchswert dieses Blogs:
stalin: 2910000 results
lenin: 3180000 results
(zitiert nach http://www.googlefight.com)