JUDEN IM PARLAMENT?!
Der Jobbik-Abgeordnete Márton Gyöngyösi hat unlängst – im Zusammenhang mit einer Debatte, wie sich Ungarn zur jüngsten Attacke Israels auf Gaza positionieren sollte – im ungarischen Parlament verkündet, man müßte einmal feststellen, wieviele Juden in Ungarn in Parlament und Regierung sitzen, weil sie die nationale Sicherheit gefährden. Später hat er diese Äußerung dahingehend modifiziert, daß er sich dabei auf Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft, ungarischer und israelischer, bezogen habe.
Diese Äußerung wurde in der internationalen Presse so kolportiert, als ob er eine neuerliche Registrierung aller Juden in Ungarn gefordert habe.
Bei dem internationalen Aufschrei um diesen neuen barbarischen Akt des Antisemitismus ist völlig die Frage untergegangen, in welchem Zusammenhang diese Äußerung mit der parlamentarischen Debatte stand, und was Gyöngyösi eigentlich dabei gemeint hat.
Zunächst ist einmal festzustellen, daß z.B. Österreich die Doppelstaatsbürgerschaft verbietet und ein Abgeordneter im österreichischen Parlament sein Mandat verlieren würde, falls sich herausstellen sollte, daß er noch eine andere Staatsbürgerschaft besitzt. Ebenso gab es vor einigen Jahren eine Debatte in Deutschland um die zweite Generation der türkischen Gastarbeiterkinder: ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten sollten, weil ihre Loyalität gegenüber den „deutschen Werten“ zweifelhaft sei, es aber umgekehrt vom Standpunkt der deutschen Staatsraison ebenso unzweckmäßig wäre, sie als weiterhin als türkische Staatsbürger auf deutschem Boden zu dulden, weil sie dann noch unsicherere Kantonisten wären.
Es ist offensichtlich ein Bedürfnis jeden Staates, seine Bürger in In- und Ausländer zu scheiden und da eine genaue Trennlinie zwischen den „unsrigen“ und den „anderen“ zu ziehen. Die Frage ist dabei, wie sehr sie dem Staat, der Nation dienen – im friedlichen Handel und Wandel ebenso wie bei letzten, höchsten Dienst, die ein Staat seinen Bürgern abverlangt, als Kanonenfutter im Krieg.
Während ein Staat wie Deutschland oder sogar Österreich dieses Bedürfnis in Gesetzesform gießen und exekutieren und diskutieren darf, ist das offenbar einem Staat wie Ungarn verwehrt. Es ist den „neuen“ EU-Staaten mehr oder weniger vorgeschrieben, daß so etwas wie ein nationales Eigeninteresse nur dann zugelassen ist, sofern es den Bedürfnissen des internationalen Kapitals nicht zuwiderläuft. Dazu gehört auch, Ausländer – beileibe nicht nur aus Israel, wie die Jobbik meinen – zu hofieren, gegebenenfalls einzubürgern und ihnen alle Freiheiten zu gewähren, sobald sie sich als Investoren betätigen.
Und da meinte Gyöngyösi offenbar, daß Ungarn sich nicht einmal eine eigenständige Außenpolitik leisten kann, sobald es um die Nahostfrage geht, weil vitale Interessen der ungarischen Ökonomie berührt sind.
Man sieht auch, wie kommod für andere im Parlament vertretene Parteien der Antisemitismus-Vorwurf ist, mit dem man diesen Einwand vom Tisch wischen kann. Es käme sonst zu einer gerade für die Regierungskoalition unangenehmen Debatte darüber, was Ungarns Staatsraison eigentlich ist und welchen Interessen diese Regierung genauso wie die Vorgängerregierung verpflichtet ist – in einem Land, in dem in jedem Winter Leute erfrieren und das inzwischen wieder dort ist, wo es in der Zwischenkriegszeit war – mit 3 Millionen Bettlern, die zwar nicht betteln, aber unter dem Existenzminimum leben und sich mit Hilfe von öffentlichen Ausspeisungen und Kleinkriminalität über Wasser halten.
Die Jobbik als tatsächlich „neue Kraft“ machen es sich natürlich auch leicht, indem sie in typisch bürgerlicher Manier auf Schuldsuche gehen und für die Übel Ungarns regelmäßig ein sehr unbestimmtes „Ausland“, meistens Israel oder Brüssel, verantwortlich machen und im Inneren jede Menge „Andersartige“ dingfest machen, die sich in der einen oder anderen Form als Agenten volksfremder Interessen betätigen.
Die in den Medien praktizierte Art von Umgang mit einer Äußerung wie der Gyöngyösis ist allerdings ein sicheres Mittel, den Jobbik in Ungarn weitere Sympathisanten zu schaffen und ihrer Sichtweise populär zu machen.
Antikapitalismus/Die Marktwirtschaft und ihre Unkosten/Ideologie/Imperialismus/Nationalismus/Postsozialismus
doppelstaatsbürgerschaft ist in ö nicht verboten, sondern möglich – wenn bestimmte anforderungen erfüllt werden. alleine in meiner familie hab ich 3 personen mit doppelter (ö / usa bzw. ö / ch).
den paragrafen, der besagt, dass man mit doppelter staatsbürgerschaft aus dem parlament fliegt, hätte ich gerne genannt.
“Es ist den „neuen“ EU-Staaten mehr oder weniger vorgeschrieben, daß so etwas wie ein nationales Eigeninteresse nur dann zugelassen ist, sofern es den Bedürfnissen des internationalen Kapitals nicht zuwiderläuft.”
komischer gegensatz, den du da aufmachst. vllt ist das nationale interesse auch dann bedient, wenn man sich den spielregeln des kapitals unterwirft, weil es einem nämlich als hebel dient.
siehe zb
http://www.format.at/articles/1244/941/345367/ungarische-staatsbuergerschaft-einfach-anleihen
Also ich mußte eine Rücklegungserklärung der meinigen Staatsbürgerschaft vorlegen, um die österreichische zu erhalten. Meiner Schwester haben die Behörden 8 Jahre später das gleiche gesagt. Als die ungarische Regierung den ethnischen Ungarn außerhalb der Landesgrenzen die ungarische Staatsbürgerschaft in Aussicht gestellt und die Slowakei dagegen protestiert hat, so wurde in Österreich lässig abgewinkt: das ist hier sowieso verboten.
Es steht auch im Staatsbürgerschaftsgesetz, aber das ist mir jetzt zu mühsam, da nachzuschauen.
Natürlich gibt es jede Menge Leute mit Doppelstaatsbürgerschaft: erstens solche, die sie ganz legal besitzen, weil ihre Einbürgerung im “nationalen Interesse” war. Sportler, Künstler, Geschäftsleute. Zweitens solche, die sie illegal besitzen, weil die österreichischen Behörden nix davon wissen, daß sie noch andere haben. Das ist auch in den meisten Fällen wurscht. Aber wenn es wer in der Politikt zu etwas bringt und ihm wer anderer einen Strick draus drehen will, so könnte eine verheimlichte Zweitstaatsbürgerschaft schon ein solcher sein.
Den Gegensatz “mache” ich nicht “auf”, der ist ja da. Du schreibst ja selber verschämt “vielleicht”. Der Erfolg des Kapitals, das sich auf einem Territorium tummelt, und derjenige des Staates, der dieses Territorium verwaltet, fallen nicht unbedingt zusammen. Dieses stellt in der globalisierten Welt eher die Ausnahme dar.
Die ehemals realsozialistischen Staaten, die ohne einheimisches Kapital auf den fertigen Weltmarkt getreten sind, werden vom internationalen Kapital eher als Markt denn als Standort genutzt, und das stört natürlich Patrioten. Man vergesse auch nicht, daß Ungarn, Rumänien und Lettland vom IWF vor der Zahlungsunfähigkeit “gerettet” werden mußten, bevor die ganze Euro-Krise losging.
Ungarn ist definitiv ein Land ohne Perspektive, es jemals unter die Sieger der Konkurrenz der Nationen zu schaffen, was für einen ungarischen Nationalisten umso schwerer wiegt, als gerade die ungarische Staatspartei den Systemwechsel am alleraktivsten unter allen Ostblockparteien vorangetrieben hat. Da werden natürlich jetzt besonders gern Verratstheorien aller Art gebastelt.