Der zweite, den Lenin sich vorknöpft, ist Kautsky.
Auch Kautsky war, wir Lenin selbst anmerkt in Rußland sehr populär, viele seiner Schriften waren ins Russische übersetzt worden.
„Besonders bekannt ist Kautsky bei uns, abgesehen von seiner populären Darstellung des Marxismus, durch seine Polemik gegen die Opportunisten, an ihrer Spitze Bernstein.“ (121)
Die Sache ist aber nicht so gut, wie sie aussieht, meint Lenin. In der Frage der Bekämpfung der Kriegshetzerei hat Kautsky keine gute Figur gemacht, aber auch sein Kampf gegen den „Opportunismus“ sei mit Vorsicht zu genießen.
Und dann macht er sich daran, zu „beweisen“, daß Kautsky Bernstein nicht kritisiert hat, als dieser aus dem „Bürgerkrieg in Frankreich“ etwas anderes als Lenin herausgelesen hat. Konkret geht es um Folgendes:
„Besondere Beachtung findet bei Bernstein die Schlußfolgerung von Marx, die er in der Vorrede von 1872 zum “Kommunistischen Manifest” unterstrichen hat und die besagt, daß “die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann”.“ (122)
Aber Bernstein hat das anders ausgelegt als Lenin, und Kautsky hat das nicht kritisiert!
Hier baut Lenin auf auf seiner eigenen Auslegung des Satzes und brandmarkt Bernstein als Fälscher, weil dieser daraus nicht auf Revolution gefolgert hat. Diese Schlußfolgerung ist jedoch aus diesem Satz nicht zu ziehen. Die klassische sozialdemokratische Sichtweise, wonach die Macht im Staat durch Wahlen zu erringen ist – die sich Lenin und die Bolschewiki übrigens später – um 1920 herum – durch Kominternbeschlüsse selbst zu eigen gemacht und anderen vorgeschrieben haben – ist dadurch genauso abzuleiten. Es ist eben einfach verkehrt, sich mit Zitaten die Legitimation für das, was man gerade vorhat, besorgen zu wollen.
Also: Bernstein hat das falsche aus dem Marx-Buch herausgelesen, Kautsky hat das nicht zerlegt – also ist er ein Abweichler, Opportunist, usw.
Wieder wird das, was jemand nicht gemacht wird, zum Gegenstand der Kritik.
Denn
„Marx und Engels haben von 1852 bis 1891, vierzig Jahre hindurch, das Proletariat gelehrt, daß es die Staatsmaschinerie zerschlagen muß.“ (123)
Das stimmt in dieser Einfachheit wirklich nicht. Marx und Engels haben, vor allem nach den Repressionen gegen die Kommunarden, stets gewarnt vor leichtfertig angezettelten Aufständen, die aufgrund des eindeutigen Kräfteverhältnisses erfolglos sein müssen und hohen Blutzoll fordern. Revolutionäres Abenteurertum war ihnen zuwider, das war einer der Streitpunkte mit den Blanquisten und Bakunin und seinen Anhängern. Sie waren gegen jede Form von Insurrektionalismus und vertraten gerade nach 1871 die Ansicht, daß das Proletariat erst mit friedlichen Mitteln, also durch Wahlen, sich einen Platz im Staatsapparat verschaffen müsse, als Vorbedingung einer Revolution.
Man kann das natürlich für verkehrt halten, wie ich es auch tue, aber man muß einmal diese Position zur Kenntnis nehmen. Bernstein lag diesbezüglich nicht so verkehrt in seiner Auslegung der Klassiker.
Lenin wirft Kautsky wieder einmal vor, daß er eine wichtige Frage umgeht. Alles nun Folgende ist wieder eine Wiederholung der vorigen Kapitel, und Kautsky wird vorgeworfen, daß er die Sache anders gesehen hätte. Gegen Kautsky, der als Theoretiker der Sozialdemokratie international anerkannt war, lauft Lenin zu voller Größe auf: Vor allem möglichem verschließt er die Augen, was sich mehr oder weniger angeblich zwangsläufig aus irgendwelchen Zitaten folgern ließe, fehlinterpretiert er – mit einem Wort, der Theoretiker ist keiner, er unterläßt, leugnet, umgeht.
Einen Vorwurf Lenins gegen Kautsky muß man sich richtig auf der Zunge zergehen lassen:
„Kautsky offenbart hier immer noch die gleiche “abergläubische Verehrung” des Staates, das gleiche “abergläubische Vertrauen” dem Bürokratismus gegenüber.“ (127)
Während Lenin abgeklärt weiß, daß es zwar irgendeine Art von Staatsgewalt braucht, und eine Bürokratie auch, nur in den Händen der Arbeiterklasse, so wirft er Kautsky vor, daß er „abergläubisch“ an diesem Zeug hängt …