Pressespiegel El País, 19.1.: Politische Krise in Peru

„DIE PROTESTE GEGEN DIE PERUANISCHE PRÄSIDENTIN ERREICHEN LIMA MIT DEM AUFRUF ZU EINEM GROSSEN MARSCH

Studentengruppen begrüßten die Demonstranten aus den Regionen auf dem Campus, während die Regierung die Hauptstadt an diesem Donnerstag vor der Mobilisierung abschirmte. Der soziale Ausbruch hat mehr als 50 Tote hinterlassen

Am Tag ihres Jubiläums empfing Lima, die Hauptstadt, die oft außerhalb der Ereignisse steht, die im Rest des Landes vor sich gehen, Tausende von Peruanern, die gehört werden wollten.
Die Ankunft war den ganzen Mittwoch über nicht einfach: In den letzten Tagen hat die Polizei ihre Kontrollen auf den Autobahnen verstärkt und die Demonstranten aus verschiedenen Regionen, hauptsächlich aus den Bergen, an der Anreise gehindert. Das Ziel ist, den Protest zu schwächen, der für diesen Donnerstag unter dem Motto „Großer Marsch der Vier Landesteile“ (1) anberaumt wurde, in Anspielung auf die soziale Mobilisierung, die dem Regime von Alberto Fujimori Anfang der 2000er Jahre ein Ende bereitete.
Die Sicherheitskräfte versuchen, die im Januar 1535 als „Stadt der Könige“ gegründete Hauptstadt abzuriegeln.
»Wir wissen, dass sie Lima einnehmen wollen. Ich fordere sie auf, Lima einzunehmen, aber in Frieden und Ruhe«, sagte Präsidentin Dina Boluarte am Vortag, diesmal mit versöhnlichem Ton“

– wenig glaubwürdig, die Dame, wenn gleichzeitig die Polizei die Landstraßen sperrt und die Hauptstadt abriegelt –

„ – nach ihrer letzten Botschaft an die Nation, in der sie die Bürger des Südens des Landes, die sie seit mehr als vierzig Tagen zum Verlassen des Präsidentenpalastes auffordern, als »Krawallmacher« und »Gewalttäter« bezeichnete.
Die Krise entstand am 7. Dezember, als der ehemalige Präsident Pedro Castillo versuchte, mit der Auflösung des Kongresses, einer der diskreditiertesten Institutionen in Peru, eine Art Staatsstreich durchzuführen.“

Die Bemühung, den Staatsstreich in Peru als einen legalen Akt zur Verhinderung eines Staatsstreichs darzustellen, durchzieht seit 6 Wochen die gesamten westlichen Medien.
Ein guter Teil der Einwohner Perus teilt offenbar diese Sichtweise nicht.

„Seit dem frühen Mittwochmorgen besetzt eine große Gruppe von Studenten der Universidad Nacional Mayor de San Marcos den Universitätscampus mit einem einzigen Ziel: Die anreisenden Abordnungen der Demonstranten aus dem Landesinneren unterzubringen.
»Es gibt bereits mehr als 50 Tote. Dies ist eine Einschüchterungskampagne gegen die Menschen. Wir können nicht gleichgültig bleiben und müssen uns mit unseren Mitkämpfern solidarisieren«, bekräftigte ein Student der Juridischen Fakultät.
Trotz der Warnungen der Rektorin Jeri Ramón Ruffner ist dieses Haus der Höheren Studien zu einem vorübergehenden Zufluchtsort für Menschen aus Ayacucho, Cuzco, Apurímac und Puno geworden, gerade für diejenigen, die am stärksten von polizeilicher Repression betroffen sind.

Auf der anderen Seite“ (des Lehrkörpers) „steht der Rektor der Nationalen Ingenieuruniversität, Pablo Alfonso López-Chau, der die Demonstranten begrüßte und ihnen den Campus seiner Universität überließ, damit sie die Nacht vor dem Marsch verbringen konnten. »Ich bitte Euch, euch selbst zu organisieren und für die Sicherheit zu sorgen. Das ist euer Haus, kümmert euch um euer Haus. Vermeidet Provokateure«, sagte er.
Auch Studentengruppen der Päpstlichen Katholischen Universität von Peru und der Nationalen Universität Federico Villarreal haben sich angeschlossen.

Am Morgen nahm Präsidentin Dina Boluarte in Begleitung des Bürgermeisters von Lima, Rafael López Aliaga, an der Messe und dem Te Deum zum 488. Jahrestag der Hauptstadt teil.“

Ein Staatsakt zur Glorifizierung der Nation und zur Bekräftigung der eigenen Stellung als deren Vertreterin, gleichzeitig Polizeiaufgebot an allen Ecken zur Niederschlagung von Protesten – eine sehr übliche Mischung der Selbstdarstellung von Staatsoberhäuptern, wenn der Hut brennt.

„Am Nachmittag floß erneut Blut: In Macusani, der Hauptstadt der Provinz Carabaya in der Region Puno starb eine 35-jährige Frau durch eine Kugel. Und ein 30-jähriger Mann wurde ebenfalls durch eine Schusswaffe schwer verletzt und befindet sich in kritischem Zustand. Dieses Ereignis löste die Wut der Bevölkerung aus, und einige Demonstranten zündeten nachts die Polizeistation und das örtliche Hauptquartier der Justiz an.
Darüber hinaus kamen zwei Opfer der (polizeilichen) Straßensperren in der Region La Libertad hinzu: ein 28-wöchiges Frühgeborenes und eine 51-jährige Frau, die einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitt und nicht medizinisch versorgt werden konnte.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) berief eine regelmäßige Sitzung ein, um die Situation in Peru von Washington aus zu bewerten.
Luz Elena Baños, Vertreterin Mexikos, drückte ihre Besorgnis über die »unverhältnismäßige Anwendung öffentlicher Gewalt« aus,“

– die Sprache der Diplomatie erkennt natürlich immer die verhältnismäßige Gewalt im Umgang mit Demonstranten an, –

während Alejandra Solano, ihre Amtskollegin aus Costa Rica, »die Achtung der Menschenrechte« forderte. Luis Almagro (2), Generalsekretär der OAS, meinte seinerseits: »Das Recht auf friedlichen Protest muss respektiert werden; aber auch das Recht des Staates, die Ordnung zu wahren«.
Unterdessen schaffte es Paul Duclos, Generaldirektor für multilaterale und globale Angelegenheiten des peruanischen Außenministeriums, zu verkünden, dass »eine multisektorale Kommission eingerichtet wurde, um sich um die Hinterbliebenen der Verstorbenen zu kümmern«.“

Das wird die Hinterbliebenen vermutlich in Begeisterungsstürme versetzen …

„Bis heute sind 53 Menschen durch den Konflikt gestorben, der am 7. Dezember nach dem“ (angeblichen) „Putschversuch von Pedro Castillo begann: 42 von ihnen durch Zusammenstöße mit der Polizei, zehn durch Straßensperren und ein Polizist. Hinzu kommen nach Angaben der Volksanwaltschaft 722 verletzte Demonstranten und 442 verletzte Polizisten.
Die größte Mobilisierung der letzten Zeit in Lima wird an diesem Donnerstag erwartet.“

Der von den USA und mit diktatorischen Methoden gegen die Landbevölkerung vorgehende Präsident Fujimori wurde im Juli 2000 durch einen ähnlichen Marsch aus allen Landesteilen gestürzt. Fujimori war aber wenigstens gewählt worden und nicht wie Frau Boluarte durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen.

Die Zukunft wird weisen, wie sich die Ereignisse in Peru entwickeln.
Der kürzlich unternommene Staatsstreich in Brasilien ist gescheitert, weil Bolsonaro weder im In- noch im Ausland die nötige Unterstützung erhielt.
Man wird sehen, welche Kräfte gegen die Bevölkerung Perus, die „Krawallmacher“ und „Gewalttäter“, jetzt aufgeboten werden.

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 (1) Der Name des Marsches bezieht sich auf das Inkareich, das in 4 Teile geteilt wurde, um es aufgrund seiner großen Ausdehnung regierbar zu machen.

(2) Der von den USA in diesen Sessel gehievte Mann hat auch den Putsch in Bolivien 2019 als rechtmäßig beweihräuchert.

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda: 100 Jahres-Jubileum der Gründung der Sowjetunion

„EIN LAND GROSSER TATEN ODER EIN TRAGISCHES EXPERIMENT: WAS WAR DIE UDSSR WIRKLICH?

Am 30. Dezember jährt sich die Entstehung der UdSSR zum 100. Mal
Wir kennen die UdSSR als eine der größten Mächte ihrer Zeit. Doch weniger als 70 Jahre sind vergangen, seit das Land, das immer noch Millionen mit Nostalgie erfüllt und das zu einem Symbol für Stabilität und Macht geworden war, zusammenbrach. So schnell wie sie geboren worden war.“

Nun ja. Zur Entstehung waren 2 Revolutionen (die von 1917) bzw. 4 (wenn man die von 1905 und 1912 dazuzählt) und ein mehrjähriger Krieg und Bürgerkrieg vonnöten. Für den Zerfall genügte ein feuchtfröhlicher Abend zu dritt auf einer Datscha in Weißrußland.

„Was war also die UdSSR? Ein großes und tragisches Experiment, das den Schlußstrich unter das Russische Reich zog, oder eine glänzende Zukunft, in der wir lebten, aber sie nicht verstanden, weil wir ihr nicht gewachsen waren?
Wir haben darüber mit dem Historiker Pavel Pryanikov und dem Autor des Buches »Der Geheimcode der UdSSR« Alexander Myasnikov gesprochen.

Mit Austrittsrecht geködert

KP: Für den Umstand, daß die Sowjetunion schließlich zusammenbrach, beschuldigen viele ihre Gründer: Lenin und Stalin.
Sie gewährten jeder Republik das Recht, auf eigenen Wunsch aus der UdSSR auszutreten. Wovon die Republiken 1991 Gebrauch machten. Warum also stimmten sie vor 100 Jahren solchen Bedingungen für die Gründung der Union zu? Wussten sie nicht um die zerstörerische Kraft dieses Austrittsrechtes?

PP: Versetzen Sie sich kurz in die damalige Situation. 1922 hat das Land bereits Finnland, das Baltikum, Polen und die Hälfte Moldawiens verloren. Russland war so schwach, dass es sogar gezwungen war, Esten und Letten einen Teil seines Territoriums (Isborsk) zu überlassen und Reparationen (mehrere Tonnen Gold) zu zahlen. Alles lag in Trümmern. An der Staatsspitze standen Menschen, die noch nie mit Staatsführung zu tun hatten. Der Erste Weltkrieg, dann die Revolution und der Bürgerkrieg hatten die dünne Schicht der Regierungsbeamten – 2 Prozent der Bevölkerung – weggespült.

KP: Und dann beschlossen die verbleibenden Republiken, sie mit einem solchen „Zuckerbrot“ in die gemeinsame Union zu locken?

PP: Natürlich. Sie mussten sie zumindest unter allen Umständen vereinen – mit der Verlockung: Wenn es dir nicht gefällt, kannst du gehen.
Damals war es wichtig, einfach ein einheitliches wirtschaftliches und politisches Gebilde zu schaffen. Denn einige der Republiken waren strategisch wichtig: Ohne die Ukraine hätte Russland nicht überlebt – als Hauptkornkammer plus Kohle und Stahl. Es ging darum, Armut und Hoffnungslosigkeit hinter sich zu lassen. Deshalb kam es zu großen Zugeständnissen.

Die Alternativen und die Kompromißformel

KP: Wer hat die Gründung der Union in dieser Form initiiert? Haben Stalin und Lenin verstanden, dass nationale Republiken eine schlechte Option sind?

AM: Lenin hatte eine Ansicht darüber, wie der neue Staat eingerichtet werden sollte, Stalin hatte eine andere.
Laut Lenin sollte dies die UdSREuA sein – die Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens. Diese Konstruktion unterstützte Leo Trotzki. Sie entsprach den Zielen der Komintern, also der künftigen Weltrevolution.
Stalin schlug eine alternative Option vor: Alle Republiken sollten als autonom Regionen Teil Rußlands werden, ohne Austrittsrecht.
Das heißt, die UdSSR erwies sich als Kompromiss zwischen der UdSREuA und der RSFSR.“

Die Leninsche Konstruktion bleibt in diesem Gespräch unklar. Es scheint, daß er noch mehr Teilrepubliken vorgesehen hätte, wobei Rußland noch weniger Gewicht gehabt hätte, und alles mit Austrittsrecht.
Demzufolge ist es nur Stalin zu verdanken, daß die UdSSR überhaupt 70 Jahre bestehen konnte.
Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, daß dieser Unions-Gründungsvertrag der SU zum Vorbild für die Verfassungen Jugoslawiens (von 1974) und der Tschechoslowakei wurde.

„PP: Lenin war Maximalist, er glaubte, dass wir weiter expandieren würden, dass es eine »Republik Zemshara« (= Erdkugel) geben würde. Stalin bewegten eher taktische Überlegungen.
Ende der 1930er Jahre gestand er: »Was bin ich im Vergleich zu Lenin? Ein bloßes Insekt.« Das sagte er in seinem berühmten Trinkspruch am 7. November 1937 in Woroschilows Wohnung.

Im Kaukasus rumorte es

KP: Die Grenzen der Unionsrepubliken – wer zog die?

PP: Formal das Ministerium für Nationalitäten. Das unterstand Stalin. Aber die Koordination ging immer noch über Lenin, über das Zentralkomitee. Es war eine schwierige Aufgabe. Damals wußte niemand, wie man das anstellen sollte.“

Das ist heute noch genauso, nicht nur in Rußland.

„Sie zogen sie ungefähr dort, wo die ethnische Mehrheit war. Und später wurden die Grenzen noch ein paar Mal geändert.

KP: Damals gab es noch die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (TSFSR). Es umfasste Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Abchasien.

AM: Ja. Sie gehörte zusammen mit Weißrussland, der Ukraine und der RSFSR zu den vier Gründern der UdSSR. Die Bolschewiki glaubten, dass die Vereinigung Transkaukasiens in der TSFSR notwendig sei, um dort nationalistische Aufstände zu verhindern. Dies war die unruhigste Region. Der armenisch-aserbaidschanische Krieg von 1918 bis 1920 bereitete große Sorgen. Damals gab es Massaker und ethnische Säuberungen.

Lenin blendete die Ukraine

KP: Wie kamen sie auf die Idee, ganz Neurußland an die Ukraine zu übergeben?

AM: Auf Beschluss Lenins. Die Ukrainische SSR wurde 1919 auf einem Kongress in Charkow (der Hauptstadt der damaligen Republik Donezk-Kriwoj Rog) proklamiert. Es wird traditionell so angesehen, dass sie auf dem Territorium von Kleinrußland gebildet wurde. Aber in Wirklichkeit umfasste sie auch den größten Teil von Neurußland – das Gebiet von Chisinau bis Lugansk, d.h. die gesamte Schwarzmeerküste und die Küste des Asowschen Meeres.“

Hier ist natürlich auch eine gewisse Geschichtsklitterung bzw. Verlegenheit zu beobachten, denn dieses Gebiet war damals umstritten zwischen den Machnowzy, Kosaken und den Interventionsarmeen. Die Kongreßdelegierten in Charkow vertraten also ein Territorium, das sie nicht kontrollierten.

„Sehen wir die Fakten an: Im Januar 1918 unterzeichneten Vertreter der ukrainischen Zentralrada einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland und Österreich. Die Besetzung der Ukraine begann. Bis Mai besetzten sie das Territorium der Sowjetrepublik Donezk-Krivoy Rog, Teile von Taurien und der Volksrepublik Odessa vollständig. Aber als nach der Kapitulation Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg die Gebiete befreit wurden, verbot Lenin kategorisch ihre Rück-Eingliederung in das Territorium Rußlands. Er bestand darauf, sie der Ukraine anzuschließen.
Und sobald die Ukrainische SSR gegründet wurde, begann das, was als Politik der Ukrainisierung („Verwurzelung“) in die Geschichte eingegangen ist. Das heißt, die übereilte Schaffung der „ukrainischen Sprache“ und ihre gewaltsame Einführung.
Charkow blieb übrigens bis 1934 Hauptstadt der Ukraine.

Die nationale Frage

KP: Wer zog die Grenzen innerhalb der Russischen Föderation?

AM: Am Tag, nachdem die Welt von der Gründung der UdSSR erfahren hatte, schrieb Lenin in sein Notizbuch:
»Internationalismus … sollte nicht nur in der Einhaltung der formalen Gleichheit der Nationen bestehen, sondern auch in einer solchen Ungleichheit, die seitens der Unterdrückernation, einer großen Nation, die im Leben tatsächlich entstehende Ungleichheit kompensieren würde.«“

Das heißt also als Antwort auf die eigentlich unbeantwortete Frage: Die anderen Republiken wurden auf Kosten der russischen Föderation bevorzugt, in strittigen Fragen entschied man gegen russische Bevölkerungsmehrheiten.

„KP: Hat die nationale Frage als Ergebnis die UdSSR zum Einsturz gebracht?

AM:  Stalin hat vor dieser Gefahr gewarnt. Er wies darauf hin, dass es notwendig sei, dem Spiel der »nationalen Unabhängigkeit« ein Ende zu setzen, alle Republiken fest Moskau unterzuordnen und sie in Zukunft insgesamt zu liquidieren und einen einheitlichen Sowjetstaat zu schaffen.
Lenin kritisierte diesen »stalinistischen Plan«. Und sehr scharf …

KP: Wieso denn?

PP: Lenin hatte wirklich Angst vor russischem Großmachts-Chauvinismus. Deshalb wurden nicht nur angestammte Territorien Rußlands abgetrennt, sondern Rußland war auch das einzige Mitglied der Föderation, das im Gegensatz zu anderen Republiken weder eine eigene Kommunistische Partei noch eine Akademie der Wissenschaften erhielt.

Was wäre geschehen, wenn es keinen (II. Welt-)Krieg gegeben hätte?

KP: Die UdSSR hatte eine Vielzahl großartiger Errungenschaften. Hätten wir ohne diese den Großen Vaterländischen Krieg gewinnen können?

PP: Ohne sie hätte es keinen Krieg gegeben. Denn statt eines riesigen Landes hätte es 30-40 kleine Staaten gegeben. Russland wäre in verscheidene Gebiete zerrissen worden, die Satelliten anderer Mächte gewesen wären. Die Ukraine oder Georgien wären wie Rumänien oder Ungarn unter deutschen Einfluß geraten.
Der Ferne Osten wäre den Amerikanern und den Japanern zugefallen. Der Kaukasus wäre pro-türkisch und Karelien gehörte zu Finnland. Weißrussland wäre Teil Polens geworden. Mit einem Wort, es hätte niemanden gegeben, der (durch Deutschland) zu bekämpfen gewesen wäre.

KP: Und was wäre von Russland übrig geblieben?

PP: Das großrussische Kernland. Wie unter Iwan dem Schrecklichen – bis zur Wolga. Rundherum 30 bis 40 Staaten. Zentralasien wäre unter britischen Einfluss geraten. Nun, mit wem soll man kämpfen? Es wäre eingenommen worden, ohne daß es jemand bemerkt hätte.
Die Sowjetunion hingegen schuf einen Superstaat.

Der Westen zwang uns, Großmacht zu werden

KP: Die Industrialisierung, der GOELRO-Plan (des Staatlichen Elektrifizierungs-Ausschusses) gilt als Errungenschaft der Sowjetunion.

PP: Die UdSSR hat hier nichts erfunden. Alle großen Infrastrukturprojekte der Welt wurden unter der Führung des Staates oder durch die Streitkräfte des Staates durchgeführt. Nur der konnte es tun.

KP: Sind Sozialleistungen auch ein Verdienst des Sowjetstaates? Schulen, Kliniken, ein Achtstundentag…

PP: Die Sowjetunion übernahm das deutsche System, dass der Staat eine strenge Bildungs-, Gesundheits-, Sanitärpolitik betreiben sollte …
Lenin verstand, dass Fabriken gebildete Arbeiter brauchen, Armeen gebildete, gesunde Soldaten brauchen.

KP: Die Monarchisten behaupten, dass sowohl GOELRO als auch die allgemeine Alphabetisierung Pläne von Nikolaus II. waren, die die Bolschewiki einfach kopiert haben.

PP: Alles hat seine Zeit. Vielleicht hatte dieser Zar Pläne, aber er war zu spät dran.
In Deutschland begann die Zentralisierung von Bildung und Gesundheit in den 1870er Jahren. Rußland war genötigt, dies in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts durchzuführen. Die Transsibirische Eisenbahn war eine gute, richtige Idee. Aber es hätte in den 1870er Jahren geschehen sollen, nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir hätten Millionen von Bauern aus Zentralrussland umsiedeln und eine Revolution vermeiden können. Die verschiedenen Zaren dachten sich viel aus, aber alles war 20–30 Jahre zu spät.

KP: Die UdSSR war doch bei vielen Dingen Pionier. Sie schickte einen Menschen in den Weltraum. Sie erfand die Wasserstoffbombe. Liegt das auch nur an der Rivalität mit dem Westen?

PP: Konfrontation bringt immer viel hervor. Aber wenn Lenin länger gelebt hätte, hätte sich das Land höchstwahrscheinlich mehr in eine konsumorientierte Richtung entwickelt.
Die NEP wäre nicht eingeschränkt worden, viele Leben wären gerettet worden, es hätte nicht so schreckliche Repressionen gegeben.
Andererseits gäbe es keine große Industrialisierung, keine Großindustrie. Russland wäre ein mäßig entwickeltes Land. Und wir wissen nicht, ob es die Randgebiete in seinem Staatsbestand gehalten hätte.

Opfer hätten vermieden werden können

KP: Die UdSSR hatte aber auch viele unerfreuliche Züge. Das Gulag, die totale Gleichmacherei, weitverbreitete Armut. Und all dies führte zum Totalitarismus und der Apathie in der Bevölkerung.

PP: Das ist eben der industrielle Durchbruch, für den unser Staat bezahlt hat. Wenn man in 20 Jahren den Weg zurücklegen muß, der in 50 bis 100 Jahren schrittweiser Reformen zurückgelegt werden müsste, so sind Opfer unausweichlich.
Es gibt ein russisches Modell der staatlichen Führung: Es schwankt ständig wie ein Denkmal, zwischen Stagnation und Akkordarbeit. Die ganze Geschichte des Landes ist so aufgebaut. Peter I. übertraf in seinen Reformen sogar Stalin in Bezug auf menschliche Verluste. Aber Stalins Problem ist, dass dies vor unseren Augen geschah.

Gibt es die Möglichkeit einer Wiedervereinigung?

KP: 1991 fand der Zusammenbruch der UdSSR statt. Aber wurden nicht die slawischen Schwestern – Russland, Ukraine und Weißrussland – künstlich auseinanderdividiert?

PP: Seien wir ehrlich: Die Spaltung zwischen Russland, die Ukraine und Weißrussland fand nicht 1991 statt, sondern im 15. und 16. Jahrhundert, als ein Zweig des russischen Volkes zum Moskauer Zarenreich wurde und die anderen beiden Teil der litauisch-polnischen Republik. Damit war alles entschieden. In der UdSSR und sogar in der späten Zarenzeit versuchte man, die Unterschiede auszugleichen, aber das Vermächtnis eines getrennten Lebens im Laufe von zwei oder drei Jahrhunderten erfüllte seine Aufgabe, vor allem bei den Eliten.
Die Eliten der Ukraine hatte unter den Polen eine lediglich untergeordnete Position – das inspirierte die ukrainischen Intellektuellen, sich als eigene Nation zu emanzipieren.“

Das ist nicht ganz richtig, weil Teile der Ukraine – Sumi, Tschernigow, später Kiew – gehörten zum Zarenreich, und auch dort wurden die Eliten nur dann anerkannt, wenn sie sich assimilierten (=> Emser Dekret).

„KP: Aber warum hat dann die Sowjetunion selbst die Ukrainisierung der Ukraine so heftig propagiert?

PP: Man muß sich vor Augen halten, dass die Westukraine in den 1920er und 1930er Jahren in Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien gelandet ist. Und die Bolschewiki mussten den Menschen, die dort gelandet waren, die »vorbildliche Ukraine« als Beispiel zeigen. »Unterdrücken dich die Polen, lassen dich nicht Ukrainisch sprechen? Aber daneben ist die wunderbare Ukraine, wo die Ukrainer alles haben.«

KP: War das in Weißrussland auch so?

PP: Teilweise. Denn ein Drittel von Weißrussland landete auch in Polen. Bitte beachten Sie, dass es in anderen Republiken der UdSSR keine so aggressive Förderung des Nationalismus’ gab.

Wir erinnern uns an Stabilität

KP: Warum denken so viele Menschen mit Nostalgie an die UdSSR zurück?

AM:  Damals waren die Spielregeln klar und die Menschen konnten ihr Leben planen. Niemand in der UdSSR kannte den chinesischen Fluch: »Mögt ihr in einer Zeit des Wandels leben!« Einer der Verdienste der UdSSR war das Vertrauen in die Zukunft. Und die Menschen werden von Stabilität angezogen.

PP: Das ist ein sehr wichtiges psychologisches Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Wenn man nicht darüber nachdenken muß, ob man morgen seine Familie ernähren kann.

KP: Für welche spezifischen Jahre sind die Menschen so nostalgisch?

PP: Natürlich sehnen sie sich nach der Breschnew-Ära. Die Menschen erinnern sich an die Zeit, in der sie selbst gelebt haben, als es keine großen Kriege und Repressionen gab – das sind die 60er, -70er Jahre, die erste Hälfte der 80er Jahre. Das war die Blütezeit der Sowjetunion. Die Menschen waren überzeugt, dass morgen besser sein wird als heute. Damals gab es diese Überzeugung.

Die letzte Utopie

KP: Was war also die UdSSR? Ein grandioses tragisches Experiment? Oder eine Ära großer Errungenschaften?

PP: Vielleicht war sie die letzte Utopie der Welt, die gut anfing.
Niemand – weder Marx noch Engels und vor allem Lenin – dachten nicht, als sie über den Übergang zum Sozialismus sprachen, daß dieser so viele Opfer fordern würde. Die UdSSR begann zu früh. Sie wurde auf der Grundlage eines sehr armen, analphabetischen Bauernlandes ausgerufen – in eine Gesellschaft, die diese Umgestaltung schwer annahm. Und vieles lief von Anfang an schief. Alles musste laufend geändert werden, man lebte dauernd auf Abruf. Lenins Traum von einer sozialistischen Weltrepublik musste schnell aufgegeben werden. Dann wurde die NEP aufgegeben … Ja, es war ein Experiment. Aber ein großartiges, nicht ohne einen gewissen Zauber.