DER RUSSISCHE INQUISITIONS-UMHANG
„Das Etikett, das seit 2012 zur Kennzeichnung von NGOs mit ausländischer Finanzierung verwendet wird, ist inzwischen zu einer Hürde für Dissidenten geworden. Die Aktivitäten von bedeutenden Akteuren der russischen Presselandschaft sind von dieser Maßnahme betroffen.
Die Pestglocke, die Spitzkappe und der charakteristische Umhang der von der Inquisition Verurteilten: zu diesen und anderen historischen Methoden zur Kennzeichnung unbequemer Gruppen und potenzieller Quellen physischer oder ideologischer Ansteckung hat Russland seinen eigenen Beitrag geleistet, nämlich die Bezeichnung „ausländischer Agent“.
Das 2012 in die russische Gesetzgebung eingeführte Konzept des »ausländischen Agenten« diente dem von Wladimir Putin gelenkten System dazu, die Rechte politischer Aktivisten einzuschränken, die seine Richtung in Frage stellen oder lästige Träger verschiedener Alternativen zu seiner (…) Politik sind.
Die Gesetzgebung zu „ausländischen Agenten“ begann als eine Möglichkeit, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) öffentlich als solche mit politischen Aktivitäten und ausländischer Finanzierung zu identifizieren.“
Hierzu muß bemerkt werden, daß die meisten NGOs – nicht nur in Rußland – aus internationalen Quellen finanziert werden, die oft nicht sehr transparent sind.
Die Bezeichnung des „ausländischen Agenten“ stammt aus der Gesetzgebung der USA, Rußland hat sich von dort inspirieren lassen und diese Kategorie bzw. diesen Rechtsbegriff schöpferisch weiterentwickelt:
„Im Laufe der Zeit und durch aufeinanderfolgende Änderungen wurde der Geltungsbereich der Gesetzgebung erweitert und heute ist der Begriff »ausländischer Agent« ein verbindliches Zeichen für juristische Personen, natürliche Personen und als solche bezeichnete Medienunternehmen, das nicht nur für Empfänger von ausländischer finanzieller oder materieller Unterstützung gilt (wie gering sie auch sein mag), sondern auch auf diejenigen angewendet wird, die angeblich »unter dem Einfluss des Auslandes« stehen.
Natürliche und juristische Personen sind daher genötigt, sich überall dort, wo sie auftreten, als »ausländische Agenten« zu bekennen (bzw. als solche identifiziert zu werden). Ob sie einen kurzen Kommentar abgeben, einen Artikel oder ein Buch veröffentlichen oder auf der Bühne auftreten, ihre Namen dürfen in der Öffentlichkeit nur mit dem demütigenden Etikett erwähnt werden.
»Ausländische Agenten« haben keinen Zugang zu offiziellen Stellen, dürfen keine Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, keine Mittel vom Staat erhalten oder an Schulen unterrichten.“
Das alles erinnert sehr an den „Radikalenerlaß“ in Deutschland aus dem Jahr 1972 und den vorhergegangenen Adenauer-Erlaß von 1950, die sich allerdings ausdrücklich nur auf den öffentlichen Dienst bezogen. Diese Erlässe hatten allerdings Folgen für die Privatwirtschaft, vor allem für Medien, wo die von diesen Erlässen betroffenen Personen auch keine Jobs fanden.
„Darüber hinaus unterliegen sie einer besonderen Finanzkontrolle und müssen vierteljährlich und halbjährlich Berichte über Finanz- und Verwaltungsangelegenheiten vorlegen sowie über alle ihre öffentlichen Aktivitäten Rechenschaft ablegen.“
Damit wird natürlich auch klargestellt, daß private Spenden oder Finanzierungen innerhalb Rußlands unerwünscht sind, weil ja die etwaigen Finanziers dieser »ausländischen Agenten« offengelegt werden müssen.
„Eine Liste, die jeden Freitag erweitert wird
Auf einer Liste, die jeden Freitag um neue Namen erweitert wird, erscheinen unter anderem Künstler, Journalisten, Nichtregierungsorganisationen und deren Mitglieder, Schriftsteller, Sänger, Politikwissenschaftler.
Mit Stand vom 15. März umfasste das Register, für das das Justizministerium zuständig ist, 781 Namen, von denen 199 als ausgenommen“ (d.h., nicht mehr unter diese Kategorie fallend) „aufgeführt waren, was bedeutet, daß in 582 Fällen die Bezeichnung »ausländischer Agent« in Kraft ist. Bei den aus dem Register entfernten Namen handelt es sich überwiegend (134) um aufgelöste Körperschaften, etwa Schwulen- und Lesbenvereine. Nur in fünf Fällen erkennt das Ministerium seinen Fehler bei der Einstufung als »ausländische Agenten« an.
Ursprünglich verfügten die russischen Behörden über vier verschiedene Register (entsprechend den verschiedenen Kategorien ausländischer Agenten).
Die erste registrierte Organisation (im Jahr 2013) war die Eurasische Antimonopol-Vereinigung (aus Juristen mit Wurzeln in Kasachstan).“
Dieser Verein wurde offenbar verdächtigt, irgendwelche mafiösen Praktiken aus mittelasiatischen Staaten zu decken, bestand aber trotz des Etiketts des „ausländischen Agenten“ bis 2023.
Daraus kann man erkennen, daß diese rechtliche Kategorie ursprünglich keineswegs bloß aus Gründen der Gesinnungskontrolle eingeführt wurde, sondern um jegliche Aktivitäten zu kontrollieren, die der russischen Gesetzgebung verdächtig erschienen.
Man kann daraus auch ersehen, daß der Status des „a.A“ nicht mit einem Verbot dieser Aktivitäten gleichzusetzen ist.
„Im Jahr 2014 folgten die NGO Golos (Stimme) zum Schutz des Wahlrechts und weitere, insgesamt waren es damals 29.
Im Jahr 2015 gab es 80 Neuzugänge, darunter die internationale Organisation Memorial und das Komitee gegen Folter.
Bei den letzten sieben Namen, die am vergangenen Freitag zur Liste hinzugefügt wurden, handelt es sich um einen Wirtschaftswissenschaftler, einen Gemeindevertreter, einen Schauspieler, einen Theaterregisseur, zwei Journalisten und einen ehemaligen Polizisten. In fünf Fällen wird ihnen vorgeworfen, sie hätten sich der »militärischen Sonderoperation« (Krieg) des Kremls in der Ukraine widersetzt, und in mindestens drei Fällen würden sie »unzuverlässige Informationen« über die offizielle Politik verbreiten. Von den sieben neuen Agenten befinden sich sechs außerhalb Russlands.“
Das heißt, diese Leute haben sich ins Ausland abgesetzt und verbreiten ihre Ansichten über das Internet.
„Eine der jüngsten Maßnahmen, die diesen Monat in Kraft getreten ist, verbietet russischen Bürgern die Plazierung von Anzeigen in Medien, die als ausländische Agenten gelten. Dadurch werden große Persönlichkeiten des russischen Journalismus wie Jekaterina Gordejeva (1,64 Millionen Abonnenten auf YouTube) oder Alexej Pivovarov (4 Millionen Abonnenten auf YouTube und mehr als eine Million auf Telegram) ihrer Ressourcen beraubt. Beide Journalisten haben angekündigt, daß sie ihre Aktivitäten einschränken müssen.“
Pivovarov hat eigentlich andere Probleme, er wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.
„Neben dem öffentlichen Register ausländischer Agenten gibt es ein weiteres Register von Personen, die »mit ausländischen Agenten verbunden« sind, das den Verantwortlichen des russischen Wahlsystems über Wahlteilnehmer dient, die mit ausländischen Agenten in Verbindung stehen. Die Kategorie der „Verbundenen« unterliegt nicht den Einschränkungen ausländischer Agenten und wurde bereits bei den Parlaments- und Regionalwahlen 2021 verwendet. Im Jahr 2023 erschienen mehr als 800 Namen in diesem Register.“
Diese Personen unterliegen also der Beobachtung, sind aber nicht mit den Einschränkungen der „a.A“ konfrontiert.
„Das Konzept des »ausländischen Agenten« ist eine der Säulen des gegenwärtigen russischen Regimes und ist mit kulturellen Stereotypen verbunden, die seit der Zeit Ivans des Schrecklichen (16. Jahrhundert) im Land verankert sind, sowie mit der stalinistischen Repression, deren Opfer oftmals der Spionage für ausländische Mächte beschuldigt wurden.“
Nur ein Schritt noch bis zum GULAG.
„Diese historischen Assoziationen haben in Russland großes Gewicht und ein Beispiel dafür war Michail Gorbatschows kategorische Weigerung, als ausländischer Agent bezeichnet zu werden, als die entsprechende Gesetzgebung in Kraft trat.
Um nicht mit dem demütigenden Etikett des »ausländischen Agenten« belastet zu werden, mußte die Stiftung des ehemaligen Präsidenten der UdSSR ihre Pläne zur internationalen Zusammenarbeit aufgeben und ihre Öffentlichkeitsarbeit (…) drastisch einschränken.“
Die rechtliche Kategorie des „a. A.“ wirkt also sowohl im Vorfeld als auch im Nachhinein.
„Im Jahr 2012“ (als dieser Begriff eingeführt wurde) „stellten russische Behörden die verpflichtende Identifizierung von »Agenten« als Maßnahme zur Aufdeckung von Lobbyismus vor und behaupteten, daß es in den USA seit den 1930er Jahren ähnliche Gesetze gebe.“
Das ist keine leere „Behauptung“, sondern stimmt.
„Aber das russische Konzept hatte seine eigene Entwicklung. Zunächst mit sich überschneidenden und verwirrenden Regelungen und ab 2022, nach dem Einmarsch in die Ukraine, systematisch. Das Gesetz, das die Politik gegenüber a.A. klar regelte, trat im Dezember 2022 in Kraft.“
Eine etwas eigenartige Beschreibung. Offenbar war es 10 Jahre lang eine Art Gummiparagraph, lax angewendet und leicht zu umgehen. Erst jetzt ist es eine wirklich einschränkende Maßnahme.
„Bis zu 6 Jahre Gefängnis
Derzeit kann ein »ausländischer Agent«, der seinen Pflichten nicht nachkommt, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 2 Jahren (falls innerhalb eines Jahres 2x gegen Vorschriften verstoßen wurde) oder bis zu 5 Jahren (wegen des Sammelns militärischer Daten, auch wenn diese öffentlich zugänglich sind) bestraft werden. Mit Haft bis zu 6 Jahren wird bestraft, wenn der a.A. die Durchführung von Aktivitäten organisiert, die von der Verwaltung verboten sind.“
Etwas unklar formuliert. Entweder die Aktivitäten sind verboten oder nicht. Was heißt hier „Verwaltung“?
„Im zweiten Fall“ (d.h., Bekanntgabe militärischer Daten, das bezieht sich wahrscheinlich auf Hochrechnungen von Verlusten an Menschen und Material im Zuge des Ukraine-Kriegs, aus Todesanzeigen und Daten von Bestattungsunternehmen) „kann es Journalisten und Analysten betreffen und im dritten Fall Leute, die Organisationen gründen, um sich der offiziellen Politik zu widersetzen (z. B. um sich der Einberufung zum Militär zu entziehen, oder um Menschen zur Teilnahme an Kundgebungen aufzufordern).
Die Gesetzgebung zu ausländischen Agenten kann als Teil einer Politik der „Archaisierung“ (Entwicklung zum Archaischen) betrachtet werden, die darin besteht, einflussreiche und aktive Personen zu neutralisieren, die Verbindungen zu einer unabhängigen Zivilgesellschaft sein könnten.“
Das Fehlen einer demokratisch agitierten „Zivilgesellschaft“ wird von der Autorin offenbar als „archaisch“, also der fernen Vergangenheit, vielleicht sogar der Zeit der Höhlenmenschen angehörig, betrachtet.
„Der andere Teil dieser gerade skizzierten Politik besteht in der Förderung einer neuen Art von Elite im Einklang mit dem militaristischen Modell, das Putin in der Gesellschaft zu etablieren versucht.
Am 29. Februar kündigte der Präsident in seiner Rede vor dem Parlament den Start eines von ihm erfundenen Programms an, das er »Heldenzeit« nennt, um die Leistungen von Kriegsveteranen im Ukraine-Krieg zu glorifizieren. Die Konzepte für dieses Projekt, das an die chinesische Kulturrevolution erinnert, werden »in den kommenden Monaten« gebildet, wie der russische Führer ankündigte.“
Man muß da nicht nach China gehen. Solche Programme von Helden der Arbeit, der Kollektivierung oder des Großen Vaterländischen Krieges gab es in der Sowjetunion mehrere.
Generell ist der Artikel zwar eine Beschreibung der fortschreitenden Gesinnungskontrolle in Rußland, wirkt aber für ein Land, das sich immerhin im Krieg befindet, relativ gemäßigt.
EINIGES INTERESSANTES IN DER TAZ ZU WESTLICHEN ZENSURBEMÜHUNGEN (AUS BERUFENEM MUNDE!):
„Desinformation auf Messengerdienst:
Wer kontrolliert Telegram?
Hier dürfen alle alles schreiben. Mit diesem Versprechen wurde der Messengerdienst Telegram zur wohl wichtigsten Plattform für Hetze. Die einzudämmen, ist nicht so leicht.“
Es ist praktisch unmöglich.
„Es war der 26. März, gegen 1.30 Uhr morgens, als der Frachter „Dali“, beladen mit Tausenden Containern, die Francis-Scott-Key-Brücke in Baltimore rammte. Einer der wichtigsten Häfen der USA ist nun unbefahrbar, der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Zum Zeitpunkt des Unglücks tobte in den USA der politische Streit um ein von den Republikanern blockiertes Ukraine-Hilfspaket für 60 Milliarden Dollar.
Wer wissen wollte, wer hinter dem Unglück steckte, der bekam die heißesten News beim Messengerdienst Telegram. Nur Stunden nach dem Vorfall kursierte auf vielen Social-Media-Plattformen die Falschmeldung, dass – »BREAKING« – der Kapitän der »Dali« ein Ukrainer war. Selbst auf Musks Plattform X gab es allerdings schnell Warnhinweise, dass der fragliche 52-jährige ukrainische Kapitän die »Dali« nur bis 2016 steuerte. Auf Telegram aber übernahm scheinbar der ukrainische Widerstand die Verantwortung: Unter einem Bild der eingestürzten Brücke, mit stolzem Bizeps-Emoji, hieß es: »Wir werden euch noch beibringen, wie man die Demokratie verteidigt.« Die Gruppe mit einem Banner der ukrainischen Armee im Profil bejubelte den angeblichen gelungenen Sabotageakt.
Solche Posts waren Wasser auf die Mühlen der Gegner der Ukraine-Hilfen. Die Falschmeldung konnte sich auf Telegram ungehindert verbreiten und von dort immer wieder auf andere Plattformen gelangen. Denn Telegram, das auf eine Milliarde Nutzer:innen weltweit zusteuert, kennt keine Regeln. Kein Portal dieser Größe verzichtet so konsequent auf die Moderation von Inhalten und Faktenchecks.“
An diesem verärgerten negativen Urteil merkt man, wie gerne Medienverantwortliche im Freien Westen Zensur ausüben.
„Mit nur 50 Beschäftigten, darunter 30 Programmierern, betreibt der Gründer und Alleininhaber Pawel Durow, ein russischer Software-Entwickler, die Plattform aus Dubai.
Die Freiheit, in den Gruppen mit bis zu 200.000 Nutzern und in Kanälen von unbegrenzter Größe alles zu verbreiten, hat Durow zum Markenkern erhoben. Telegram kämpfe für die Redefreiheit, heißt es in der Selbstdarstellung. Es habe so eine »prominente Rolle« in prodemokratischen Bewegungen etwa in Iran, Russland, Belarus, Myanmar und Hongkong gespielt.“
In dieser Eigenschaft wird es von den Entscheidungsträgern und Medien im Westen durchaus geschätzt …
„Die zwei Gesichter von Telegram
Das ist nicht falsch. An Orten, an denen freie Meinungsäußerungen kaum möglich sind, bietet Telegram einen offenen Raum. Doch gleichzeitig ist es heute die global womöglich wichtigste Plattform für Fake News, Verschwörungsideologie und Online-Hetze.
Unter den heute zehn größten Telegram-Channels in Deutschland etwa sind mindestens acht rechtsextrem, offene Kreml-Propaganda oder verschwörungsideologisch. Ihre jeweils sechsstellige Reichweite lässt dabei jene großer Tageszeitungen locker hinter sich. Die Plattform entwickle sich »zunehmend zu einem Medium der Radikalisierung«, schrieb das Bundeskriminalamt (BKA) schon 2022 und beklagte unter anderem die Zunahme von Mordaufrufen.
»Die auf der Plattform geteilten prorussischen Desinformationen schaffen es weit über die Chatverläufe hinaus, tief in die politischen Diskurse und Einstellungen Einfluss zu nehmen«, heißt es in einer Analyse des Berliner CeMAS-Instituts. Rechtsextreme »Alternativmedien« erreichen über Telegram ein sechsstelliges Publikum und schaffen es so, selbst größere Redaktionen zu finanzieren, so CeMAS.“
Offenbar so, daß sie mit Verweis auf eine große Leser- bzw. Hörerzahl Geld über Werbung an Land ziehen können.
Das in Zeiten, wo die traditionellen Medien mit Leser/Hörerschwund kämpfen und deshalb große Finanzierungsschwierigkeiten haben.
Telegram ermöglicht daher eine Vielfalt der Medienlandschaft und durchbricht das ersehnte Meinungsmonopol der Leitmedien.
„Weltweit verbreiten sich zweifelhafte Inhalte über die Plattform: Hamas, der IS, organisierte Kriminelle, Neonazis, sie alle nutzen die Freiheit von Telegram. Hier gibt es Bombenbauanleitungen, Todeslisten, Drogen, Waffen.
In autoritären Gesellschaften ist Telegram ein Werkzeug des Kampfes für Rechte und Demokratie. Wo die Gesellschaften liberal verfasst sind, schafft sie hingegen einen Raum für Lügen und Hass. Wer sich dem zu lange aussetzt, wendet sich von der Demokratie ab.“
Daraus ergibt sich das Problem: Wie bei uns Zensur effektiv einsetzen und sie in mißliebigen Staaten unterlaufen?
Obwohl Rußland selbst unzufrieden ist mit Telegram – die Crocus-Attentäter wurden über Telegram angeworben und organisierten sich darüber – verwenden es doch wichtige Personen wie Margareta Simonjan, wenn sie ein großes Publikum erreichen will, und auch für den Ukraine-Krieg ist es eine wertvolle Informationsquelle, was diverse ukrainische Blogger auf Telegram veröffentlichen.
„Ein EU-Gesetz soll helfen
Seit dem 17. Februar ist nun in der EU ein Regelwerk in Kraft, das die Plattformen regulieren soll: das Gesetz über digitale Dienste. Der Digital Service Act (DSA) werde eine »sicherere und transparentere Online-Welt gestalten«, sagte Digital-Kommissarin Margrethe Vestager. Wer in Brüssel und Berlin heute herumfragt, wie die Politik gegen Hass und Desinformation auf Telegram und den anderen Plattformen vorzugehen gedenkt, bekommt fast immer die gleiche Antwort: mit dem DSA.
2020 hatte Vestager dessen ersten Entwurf vorgelegt. Sie stand vor der Schwierigkeit, jeden Eindruck staatlicher Zensur vermeiden zu müssen und gleichzeitig ein wirksames Instrument gegen Desinformation und Hetze zu schaffen.“
Allerdings ein schwieriges Unterfangen, da ja die Propaganda, also systemkonforme Desinformation und Hetze weiter bestehen, sogar gefördert werden sollen.
„Vestager präsentierte eine kluge Lösung. (!!!) Der DSA listet »systemische Risiken« auf – Bereiche in denen ein unkontrollierter Informationsfluss der Gesellschaft schaden kann: Grundrechte, Privatsphäre, Kinderrechte, Diskriminierung, öffentliche Gesundheit, Wahlen, öffentliche Sicherheit und der »zivile Diskurs«.
Die großen Onlineplattformen müssen gegenüber der Kommission darlegen, was sie gegen diese Risiken tun. Eine eigens aufgebaute Abteilung der EU-Kommission unter Leitung des Deutschen Prabhat Agarwal“ (Inder statt Kinder?) „prüft, ob die Anstrengungen ausreichend sind. Sind sie es nicht, drohen Bußgelder von bis zu 6 Prozent des jährlichen Konzernumsatzes.
Diese Verpflichtung greift aber erst ab einer Nutzerzahl von 45 Millionen in der EU. Telegram behauptete im Februar 2024, nur 41 Millionen Nutzer zu haben. Fachleute bezweifeln dies, der EU reicht die Selbstauskunft aber vorerst. »Wir beobachten die Marktentwicklung«, sagt ein Sprecher der Kommission auf Anfrage der taz. Telegram jedenfalls kann so bisher dem »Risikomanagement« entgehen.“
Wie sich im Weiteren herausstellt, sind diese 45 Millionen und das Risikomanagement Schall und Rauch, da Telegram rechtlich und geographisch nicht greifbar ist:
„Bislang nur Verluste
Das muss nicht so bleiben. Telegram ist kostenlos, Werbung gibt es kaum. Der Eigner Pawel Durow rechnet damit, bis 2025 weiter Verluste zu machen. Bisher sponsert er den Betrieb aus seinem Privatvermögen.“
Wers glaubt, wird selig.
„Mitte März aber dachte Durow laut darüber nach, Telegram an die Börse zu bringen. Auf einen Wert von 30 Milliarden Euro schätzen Analysten den Unternehmenswert. Die US-Börsenaufsicht dürfte sich indes kaum mit so vagen Auskünften abspeisen lassen wie heute die EU. Gut möglich, dass Telegram einräumen wird, die 45-Millionen-Schwelle überschritten zu haben, und »Risikomanagement« betreiben muss.“
Dann bringt er es vielleicht an eine andere Börse? Es ist die US-Börse ja nicht die einzige. Börse auf der Welt.
„Noch aber ist es nicht so weit. Das Unternehmen ist bekannt dafür, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen. In Dubai »lässt die Regierung uns in Ruhe«, sagte Durow kürzlich. Das Emirat sei »neutral«.“
Saudi-Arabien als Vorsitzender der Menschenrechtskommission, Dubai als Hort der Meinungsfreiheit – es ist beachtlich, wer jetzt inzwischen zum Hüter westlicher Werte aufgestiegen ist.
„Während der jahrelangen Beratungen zum DSA schickte Telegram als einzige Plattform keine Lobbyisten nach Brüssel – eine absolute Ausnahme für Unternehmen dieser Größe, die sonst praktisch alles tun, um Gesetzgebungsverfahren in ihrem Sinne zu beeinflussen.“
Knirsch, grummel.
Dem ist die EU-Gesetzgebung schlichtweg wurscht.
„Jahrelang war Telegram für Regierungen schlichtweg nicht erreichbar. Nur sieben Administratoren sollen für die mehr als 80.000 verschlüsselten Server zuständig sein, die weltweit verteilt sind. Einzelne Regierungen können schon rein technisch kaum darauf zugreifen. Vergeblich versuchte etwa das deutsche BKA lange, Nutzerdaten wegen Verdachtsfällen von Kinderpornografie und Terrorismus zu bekommen. Erst 2022 verkündete Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stolz, es sei gelungen, »Kontakt zur Konzernspitze von Telegram herzustellen«.
In einer Videkonferenz habe es das »erste konstruktive Gespräch zur weiteren Zusammenarbeit« gegeben, man habe »vereinbart, den Austausch fortzusetzen«, so Faeser. Die Strafverfolgungsbehörden traten Telegram als Bittsteller entgegen. Allerdings nicht ohne Erfolg: Das Unternehmen rühmt sich zwar bis heute »0 Byte Nutzerdaten an Dritte einschließlich aller Regierungen« weitergegeben zu haben. Nach Recherchen des Spiegels rückte Durow an das BKA aber sehr wohl vereinzelt Daten heraus.“
Spiegel weiß mehr als andere! – hier wird eine versteckte Werbung für den Spiegel geschaltet …
„Der DSA verpflichtet die Plattformen nun, einen Repräsentanten in der EU zu benennen, an den die Behörden sich wenden können. Telegram beauftragte dafür einen externen Dienstleister, eine neu gegründete Brüsseler Briefkastenfirma namens EDSR. Deren Geschäftsmodell ist es, für Plattformen aus Nicht-EU-Staaten die vom DSA geforderte Repräsentanz darzustellen. Inhaberin ist die kanadische Anwältin Jane Murphy, die das Geschäft pünktlich zum Inkrafttreten des DSA startete.
Image maximaler Staatsferne
Kann sich künftig an sie wenden, wer etwa auf Telegram mit dem Tod bedroht oder wessen Privatadresse veröffentlicht wird? Man sei »bedauerlicherweise nicht in der Lage, irgendetwas über die Klienten oder ihre Geschäftstätigkeit preiszugeben«, schreibt ein Sprecher Murphys auf taz-Anfrage.
Vor einem Interview bittet er um ein Vorab-Gespräch per Videokonferenz, danach um einen vollständigen Fragenkatalog. Schließlich sagt er, Murphy befinde sich »in einer sehr arbeitsreichen Zeit« und werde »in naher Zukunft nicht in der Lage sein, einen sinnvollen Beitrag zu einem Artikel zu leisten«. Viel gesprächiger ist Telegram selbst auch nicht, und das ist zweifellos der Sinn des Ganzen: Telegram weiterhin so weit abzuschotten, wie das Gesetz es zulässt.
Denn Durow pflegt mit Hingabe das Image maximaler Staatsferne. Auch wenn Telegram heute als globales Vehikel russischer Propaganda gilt, “
– auch nur für die taz und ähnlich gestrickte Möchtegern-Zensoren –
„weist Durow jede Verbindung zum Kreml strikt zurück. Tatsächlich musste er 2014 Russland verlassen, nachdem es Ärger mit seiner ersten Plattform, dem russischen Facebook-Pendant VKontakte (VK) gab. Durow hatte sich geweigert, Daten an den russischen Geheimdienst FSB weiterzugeben und Inhalte zu löschen.
Er musste seinen VK-Anteil kremlfreundlichen Oligarchen verkaufen. 2018 verweigerte Durow der Regierung auch Telegram-Nutzerdaten, woraufhin der Messenger in Russland verboten wurde. Doch Durow vermochte den Bann technisch zu umgehen. Seither gilt er als aufrechter Kämpfer für die freie Meinungsäußerung.
Durow kommt heute zugute, dass den Plattformen, die demokratiezersetzender Propaganda Raum geben, im Westen mit Sanftmut begegnet wird. Statt auf Härte setzt die EU auf Kooperation. Das kann funktionieren, solange die Konzerne halbwegs mitziehen. Aber die Tech-Milliardäre haben die Wahl, kooperativ zu sein, wenn es ihnen passt – wie derzeit Mark Zuckerberg mit Meta – oder eben nicht, wie eben Durow.“
Diese „Sanftmut“ und „Kooperation“ fußt auf der Tatsache, daß es keine andere Option gibt – außer eben das Ausschalten des Internets, wie in Kasachstan.
„Dabei könnte etwa die EU-Kommission Apple und Google anweisen, die Telegram-App in der EU aus dem App-Store zu verbannen.“
Könnte sie das?
„Die Plattform ließe sich in der EU technisch blockieren, ein Zugang wäre dann nur noch aufwändig per VPN-Tunnel möglich.«
Gar so aufwendig ist das nicht.
„Doch die Fake News würden sich andere Plattformen suchen – und der Westen stünde als Zensor da.“
Mit Letzterem kann er leben, wie die Behandlung von „Russia Today“ zeigt. Aber das Ärgernis ist eben die andere Seite – daß sich Telegram nicht zensurieren läßt.
„Hybride Bedrohungen
Dabei ist Telegram heute auch ein Instrument in Kriegen geworden. Die Plattform sei »fester Bestandteil der Kommunikations- und Informationskriegsführung der Hamas«, schreibt der israelische Analyst Tal Hagin. Ähnlich beim Ukrainekrieg. Am 19. Februar hörte Russland ein Gespräch deutscher Militärs zu möglichen Lieferungen von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ab.
Zehn Tage später veröffentlichte Margarita Simonjan, die Chefredakteurin des russischen Staatsmedienkonglomerats Rossija Sewodnja, als Erste den Mitschnitt – nicht etwa in eigenen Sendern wie Russia Today, sondern auf ihrem Telegram-Kanal. Für »hybride Bedrohungen« – etwa echte Informationen, die mit falschen gemischt und als Waffe eingesetzt werden – ist Telegram, wie der Taurus-Leak erneut zeigte, heute eine der ersten Adressen.
Die EU hat einen Chefdiplomaten, der für »Foreign Information Manipulation and Interference«, für hybride Bedrohungen also, zuständig ist. Es ist der Deutsche Lutz Güllner. Nach dem Taurus-Leak reist er nach Berlin, um zu erklären, was die EU Russlands Info-Attacken entgegensetzt. An einem sonnigen Dienstag im März sitzt er in den Räumen der EU-Kommission in Berlin und spricht über den »schleichenden Prozess der Destabilisierung«, mit dem der Westen es zu tun habe.
Die Kommission beobachte den »gezielten, langfristigen Aufbau von Netzwerken zur Manipulation von Informationen«, so Güllner.“
Netzwerke!
Gewöhnlich heißen diese Unternehmen „Massenmedien“.
„Desinformation sei alt, neu seien die technischen Möglichkeiten zur »Ampflizierung«: Geheimdienst-Operationen auf Plattformen bis hin zu Netzwerken von Usern mit falschen Identitäten. Russland sei einer der aktivsten Akteure. »Hier gibt es die größte Evidenz der Beteiligung staatlicher Stellen und ihrer Dunstkreise.«“
Netzwerke! Dunstkreise! Geheimdienst!
Feuer am Dach!
Und keine Feuerwehr in Sicht …
„Desinformation müsse dabei nicht faktisch falsch sein. Entscheidend sei die manipulative Absicht – etwa bei den Bauernprotesten. »Die sind nicht per se orchestriert von Moskau und niemand wird behaupten, dass da nicht auch tatsächliche Sorgen dahinterstehen, ob man das nun teilt oder nicht.« Doch Desinformations-Netzwerke »springen ganz opportunistisch auf solche Konflikte auf und verstärken sie«.“
Uns täte das ja nie in den Sinn kommen, bei Protesten in Teheran oder Moskau auf etwas „draufzuspringen“.
„Tatsächlich hatten während der Bauernproteste etwa die Putin-begeisterten rechtsextremen Medien Auf1 – ein österreichischer TV-Sender – und das Compact-Magazin sich als Sprachrohr der Proteste inszeniert.
Auf1 hatte dabei vor allem auf seinem Telegram-Kanal – 270.000 Abonnenten – von »tatsächlichen Geheimplänen« der »globalistischen Eliten« geraunt, die „groß angelegten Bevölkerungsaustausch« anstrebten.
Compact hatte während der Proteste auf Telegram – 60.000 Abonnenten – unter anderem behauptet, Moskau habe »die Nase gestrichen voll von der deutschen Kriegstreiberei«, weshalb die »Legitimation für die deutsche Wiedervereinigung« infrage gestellt sei. Das ist zweifellos manipulativ. Doch wer »nur auf die Inhalte schaut, kommt auf die schiefe Ebene, verheddert sich in Fragen, was gesagt werden darf«, sagt Güllner. «Wer sollte denn entscheiden, was irgendwo runtergenommen wird?« (…)
Ja, wirklich schwierig …
(taz, 13.4.)
Der Artikel geht noch weiter und wälzt ziemlich breit das Problem aus, wie das ist, wenn man gerne Zensur üben wollte, es aber erstens nicht kann und zweitens auch nicht so nennen darf.
Hier ein Portrait der Russischen Kommunistischen Partei, die den Schulterschluß mit der Macht perfekt beherrscht:
https://www.autonomie-magazin.org/blog/2024/04/09/linke-kriegsbefuerworter-im-portraet-die-kprf-wahlen-verlieren-krieg-gewinnen/
Dieses Gesetz, dessen Vorbild ja ein US-Gesetz ist, macht jetzt auch innerhalb der EU Brösel:
„EU-Kommission droht der Slowakei wegen des Gesetzes über ausländische Agenten mit Konsequenzen
Es handelt sich um ein Verfahren zur Behebung von Verstößen, bei dem die U-Kommission einem EU-Land rechtliche Verpflichtungen auferlegen kann, um Verstöße gegen EU-Normen innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu korrigieren
Die EU-Kommission wird ein offizielles Verfahren zur Behebung von Verstößen gegen die Slowakei einleiten, wenn der Prozess der Verabschiedung des slowakischen Gesetzes über den Status ausländischer Agenten für Nichtregierungsorganisationen (NGO), die ausländische Mittel erhalten, dort weitergeht, sagte die EU-Kommissarin für Werte und Transparenz, Vera Jourova, auf einer Pressekonferenz in Brüssel.
»Wenn die Slowakei dem Weg Ungarns folgt, ein NGO-Gesetz zu verabschieden, werden wir sofort ein Verfahren einleiten, um den Verstoß zu beheben«, sagte sie.
Bei diesem Verfahren fordert die EU-Kommission ein EU-Land auf, innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens Verstöße gegen die von der EU-Kommission überwachten EU-Normen zu beheben. Die Nichteinhaltung würde zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof führen, mit der Möglichkeit der Verhängung von Geldstrafen gegen das verstoßende Land.
Das slowakische Parlament prüft derzeit ein Gesetz, das jeder NGO, die mehr als 5.000 Euro pro Jahr aus dem Ausland erhält, den Status einer »Organisation mit ausländischer Unterstützung« verleihen würde.“
Das Pikante an der Sache ist auch, daß hiermit ja die restlichen EU-Staaten zu „Ausland“ erklärt würden, was dem ganzen EU-Gedanken widerspricht.
„EU-Kommissarin Jourova ist eine der Initiatorinnen der europäischen Richtlinie über ausländische Agenten, die als »Demokratieschutz-Paket« bezeichnet wird und im vergangenen Dezember verabschiedet wurde.
Sie verpflichtet alle Lobbyisten und Organisationen, die die Interessen von Nicht-EU-Ländern vertreten, sich in das EU-Transparenzregister einzutragen und alle Zahlungen anzugeben, die sie von einem anderen Staat erhalten.
Im Rahmen des »Demokratieschutz-Paketes« muss jedes EU-Land seine eigenen nationalen Transparenzregister einrichten, aber das darf nur im Rahmen der von der EU-Kommission angenommenen Regeln geschehen.“
(Anti-Spiegel, 24. Juli)
In der Slowakei ist dieses Gesetz als Konsequenz auf das Fico-Attentat auf die Tagesordnung gekommen, weil damit der dort sehr verbreiteten Medienhetze ein Riegel vorgeschoben werden soll.
Die „von der EU-Kommission angenommenen Regeln“ richten sich offenbar vor allem gegen Rußland, wohingegen der slowakische Gesetzesentwurf vor allem westliche NGOs und Medien im Visier hat.
„Gefangenenaustausch
»Buenas noches« in Moskau: Putins »Illegale« zurück in der Heimat
Beim großen Gefangenenaustausch mit Russland kam auch ein vermeintlich argentinisches Ehepaar frei, das jahrelang undercover in Slowenien operiert hatte. Dessen Kinder ahnten nichts
Der russische Machthaber Wladimir Putin nennt sie seine »Wunderkinder«: Die sogenannten Illegalen zählen zur Elite des russischen Geheimdiensts und sind global im Einsatz – so auch Anna und Artem Dulzew. Mit ihren zwei Kindern lebten sie fünf Jahre lang als Argentinier getarnt in Slowenien, bis sie 2022 entlarvt und verhaftet wurden. Denn anders als jene Geheimdienstler, die unter verschiedensten Tarnberufen in russischen Vertretungsbehörden arbeiten, genießen die »Illegalen« keinen diplomatischen Schutz und können jederzeit inhaftiert werden. Die zwei Kinder des Paares kamen nach der Festnahme ihrer Eltern zu Pflegefamilien. Am vergangenen Donnerstag folgte als Teil des großen Gefangenaustauschs zwischen Russland und mehreren westlichen Ländern die Heimführung der Familie nach Moskau.
Vieles erinnerte an den Serienschlager The Americans, der das Leben einer sowjetischen Illegalen-Familie in den USA der 1980er-Jahre beschreibt. Nach der Landung auf dem Flughafen Scheremetjewo umarmte Anna Dulzewa den russischen Präsidenten. Er überreichte der Agentin Blumen und begrüßte ihre Kinder, eine zwölfjährige Tochter und einen neunjährigen Sohn, mit einem spanischen »buenas noches«. Die Eltern sollen mit den Kindern nämlich nur Spanisch und Englisch gesprochen haben, um sämtliche Verbindungen zu Russland zu verschleiern. Von ihrer russischen Herkunft haben die Kinder, die in Argentinien geboren wurden, demnach erst auf dem Flug von Ankara nach Moskau erfahren. Nach der Begrüßung hätten die zwei dann sogar gefragt, wer denn der Mann gewesen sei, der sie da begrüßt habe, erzählte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am nächsten Tag: »Sie wussten nicht einmal, wer Putin ist.« Peskow hob auch hervor, dass dies zeige, wie diskret sie operiert hätten und welche »Opfer zugunsten ihrer Arbeit« sie gebracht hätten.
Leben in der slowenischen Vorstadt
Die geheime Arbeit der Dulzews begann 2017, als sie mit argentinischen Pässen nach Slowenien kamen und sich in Črnuče, einem Vorort der Hauptstadt Ljubljana, in einem pastellfarbenen Haus mit kleinem Garten niederließen, wie der Guardian und das Wall Street Journal berichteten. Unter Nachbarn waren sie akzeptiert, galten aber als sehr zurückgezogen. Er gab sich als Argentinier aus, der in Namibia geboren war, und betrieb als »Ludwig Gisch« eine Softwarefirma. Sie nannte sich »Maria Rosa Mayer Muñoz«, behauptete, Kunsthändlerin zu sein, und baute eine Onlinegalerie auf, wo sie Kunstwerke aus aller Welt ausstellte. Tochter und Sohn besuchten die British International School, deren Schulgebühren bei mehr als 10.000 US-Dollar pro Jahr und Schüler lagen und damit deutlich das Budget überschritten, das sich die Familie laut ihren offiziellen Angaben hätte leisten können.“
An solchen Ungereimtheiten fliegen Spione schließlich auf, weil das weist darauf hin, daß sie andere Einkommensquellen haben müssen.
„Trotzdem schien die Tarnung perfekt: Nie stach die angeblich argentinische Familie in der Nachbarschaft heraus oder fiel gar negativ auf – zumindest bis zur Hausdurchsuchung durch die slowenischen Behörden, die erfolgte, nachdem Slowenien einen Hinweis eines ausländischen Geheimdiensts erhalten hatte. Mehrere Hunderttausend Euro in bar wurden, versteckt im Kühlschrank, sichergestellt. Möglicherweise wurden damit andere Spione oder auch Quellen bezahlt. Auch diverse Reisen des Ehepaars nach Italien und Deutschland sowie in weitere EU-Länder werden untersucht. Laut dem Wall Street Journal macht – abgesehen von der schwachen Spionageabwehr – besonders der visumfreie Zugang zum Schengen-Raum Slowenien als Ausgangsbasis für russische Agenten, allen voran die »Illegalen«, attraktiv.
»Illegale« werden auch »Schläfer« genannt, da sie oft jahrzehntelang unter falscher Identität im Ausland leben und ein gutbürgerliches Leben vortäuschen: Sie besuchen Universitäten, üben normale Berufe aus und gründen Familien. Meist wissen auch die eigenen Kinder nichts über die strenggeheime Tätigkeit der Eltern, die im Hintergrund abläuft. Das Ziel der »Illegalen« ist es dabei oft, wichtige Personen in Führungspositionen kennenzulernen und diese für ihre Zwecke zu korrumpieren oder sogar als Quelle zu rekrutieren, um so an wichtige Informationen zu gelangen. Oft werden Agenten auch erst nach einem globalen Ereignis wie dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Kreml aktiviert. Direkter Kontakt besteht in der Regel nicht. Der Austausch mit der Geheimdienstzentrale erfolgte zumindest in der Vergangenheit meist via verschlüsselten Kurzwellenfunk oder tote Briefkästen.
Überbleibsel des sowjetischen KGB
Das Programm der »Illegalen« wurde im Jahr 1922 kurz nach der Gründung der Sowjetunion ins Leben gerufen, als das Land nur eingeschränkt über diplomatische Verbindungen verfügte. Die wenigen Spione, die unter dem Diplomatenschutz operieren konnten, reichten der sowjetischen Geheimpolizei nicht aus, und so wurden immer mehr »Illegale« vom KGB, dem sowjetischen In- und Auslandsgeheimdienst, rekrutiert, ausgebildet und mit fremden Identitäten ausgestattet.“
Im Rahmen dieses Programms wurde auch der Mörder Trotzkis, Ramón Mercader, ausgebildet und losgeschickt.
„Die Beschaffung der Identitäten verläuft heute vermutlich ähnlich wie damals: In Ländern vor allem in Südamerika, aber auch in Afrika waren und sind die Geburtsdatenbanken teilweise nicht mit den Datenbanken der Todesfälle verbunden. Das mache es leicht, auf dortigen Friedhöfen nach Grabsteinen von jung verstorbenen Personen zu suchen und deren Identität anzunehmen, erklärte ein früherer KGB-Oberst dem Magazin Focus vor einigen Jahren in Moskau. Die Geburtsurkunde lässt sich daraufhin einfach bei den öffentlichen Ämtern beantragen, und mit dieser können wiederum echte Ausweispapiere beschafft werden. So ausgestattet, treten die Spione schließlich ihren Dienst im Zielland an.
Putin wird nachgesagt, stolz auf die russischen Spione zu sein. Harvard-Geheimdienstexperte Calder Walton sagte der New York Times, Putin sei regelrecht besessen von "Illegalen", war er doch selbst lange Zeit beim KGB tätig und in Ostdeutschland stationiert.
Als nach Ende des Kalten Krieges der KGB in seine Nachfolgeorganisationen überging, wurde das Programm der "Illegalen" bis heute vom russischen Außenministerium weitergeführt. Zudem wird mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen, dass der russische Militärgeheimdienst GRU ein ähnliches Spionageprogramm aufgebaut hat. Mindestens zwei der beim Austausch am vergangenen Donnerstag freigekommenen Personen waren für ihn tätig: Ein angeblicher Brasilianer wurde deswegen in Norwegen, ein angeblicher Spanier in Polen verhaftet.“
(Standard, 7.8.)
Der „angebliche Spanier“ Pablo González war allerdings der Nachfahre von „Kriegskindern“, das während des spanischen Bürgerkrieges in die Sowjetunion evakuiert worden waren, seine Identität war echt.
Die Behauptung, er sei ein Spion, wurde von den polnischen Behörden, die ihn nach seiner Verhaftung mehr als 2 in Isolationshaft hielten, nie mit Beweisen untermauert, weil sie diese als „Staatsgeheimnis“ qualifizierten.
„Am 28. Februar 2022, dem fünften Tag des umfassenden Krieges Russlands gegen die Ukraine, wurde Pablo González in einer polnischen Kleinstadt nahe der Grenze zur Ukraine festgenommen. Warschau vermutete, dass es sich bei dem Festgenommenen, der als Journalist für mehrere spanische Medien arbeitete, um einen Kreml-Spion handelte. Die polnischen Geheimdienste, die mit anderen westlichen Behörden zusammenarbeiteten, hätten ihn schon seit einiger Zeit verfolgt, versichern zwei Geheimdienstquellen gegenüber EL PAÍS. Pablo González oder Pável Rubtsov, der Name, den er bei seiner Geburt vor 42 Jahren in Moskau erhielt und der in seinem russischen Pass steht, hat zwei Jahre und fünf Monate in einem polnischen Gefängnis verbracht, weil er der Spionage beschuldigt wurde.
Seine Familie in Spanien, wo er eine Frau und drei Kinder hat, bestreitet, dass er ein russischer Agent sei. Er versichert, er sei Teil des Austauschs gewesen (…), weil die spanischen Behörden ihn »im Stich gelassen« hätten, während Russland aktiv geworden sei. »Pablos Vater hatte die russische Regierung schon seit einiger Zeit gebeten, sich zu engagieren«, sagt einer seiner Anwälte, Gonzalo Boye. (…)
In Polen hat kein Verfahren stattgefunden.
González (oder Rubtsov) … ist der Enkel eines spanischen Kriegskindes, das während des Bürgerkriegs in Russland aufgenommen wurde. Er wurde in Rußland geboren und lebte dort, kehrte aber im Alter von 9 Jahren nach Spanien zurück mit seiner Mutter, als sich seine Eltern trennten. Sein Vater blieb in Rußland.“
Das Wort „Rückkehr“ ist in diesem Zusammenhang möglicherweise unangebracht. Auch seine Mutter war in Rußland aufgewachsen.
„Die spanische Regierung weigerte sich, sich zur Freilassung von González zu äußern.
Ihre offizielle Position in diesem Fall weicht jedoch von der ab, die sie gegenüber anderen spanischen Gefangenen im Ausland vertreten hat. So forderte der Chef der spanischen Diplomatie, José Manuel Albares, die sofortige Freilassung von Santiago Sánchez Cogedor und Ana Baneira Suárez, die im Iran inmitten der Proteste gegen den Tod des jungen Mahsa Amini festgehalten wurden und verteidigte deren Unschuld (…).
Im Fall von Pablo González hingegen beschränkte Albares sich darauf, eine Beschleunigung des Prozesses zu fordern und Spanien die Gewährung konsularischer Unterstützung zu gestatten, ohne auf die Beurteilung seines Falles einzugehen.“
(El País, 4.8.)
"Die Militarisierung der Gesellschaft ist so weit vorangeschritten, dass ein lautes Zweifeln, ein Nachdenken kaum mehr möglich ist, ohne dass darin eine Waffe gesehen wird, eine Parteiergreifung für eine „Seite“ in diesem Krieg. Zweifel dienen Russland…"
– so kennzeichnet der linksliberale "Freitag", dass er es als Publikation auf die veröffentlichten Seiten deutscher Verfassungsschutzbehörden geschafft hat …
https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/russische-narrative-verfassungsschutz-aendert-bericht-nach-protest-des-freitag
(Und dass allenthalben neben der CSU die Grünen als größte Hetzer sich hervortun, das gehört inzwischen längst auch zum deutschen Kriegs-Wahnsinn.). https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/gruene-glaubwuerdigsten-repraesentanten-deutscher-stellvertreterkriegsmoral
[Übrigens: auch zum Kapitalismus gibt es inzwischen von den GRÜNEN nur noch althergebrachte staatsbürgerliche Allgemeinplätze: Die Reichen reicher, die Armen ärmer! – A bissl elaborierter vom Herrn Habeck: https://www.contradictio.de/blog/archives/9915 ]
https://archive.org/details/Httpwww.argudiss.denode67
Vgl. zur deutschen Kriegsmoral – ein neues Buch von Renate Dillmann über die Presse ….
https://www.contradictio.de/blog/archives/9907
… und eines über den Ukraine-Krieg …
https://www.labournet.de/interventionen/kriege/militarisierung-bw/buch-von-renate-dillmann-zum-download-im-labournet-abweichendes-zum-ukraine-krieg/
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Das BSW hat dabei die interessante Perspektive vor sich, immerzu vor die Wahl gestellt zu werden, ob sie sich nicht doch ins Kriegsgeschrei eingemeinden lassen wollen. Caren Miosga lieferte letztens dafür ein herausragendes Beispiel für parteilichen Journalismus des Niedermachens, den Lisa Fitz satirisch kaum noch aufspießen konnte ….
https://www.nachdenkseiten.de/?p=121266