Pressespiegel: El País, 20.10. 2016, kommentiert

DAS POST-GHADDAFI-LIBYEN IN ZAHLEN
5 Jahre nach dem Tod des Diktators haben sich die ökonomischen Kennzahlen drastisch geändert …
Die internationale Gemeinschaft wird zum machtlosen Zuschauer der Auflösung – bis hin zur Bedeutungslosigkeit –. der sich die 2015 in Marokko von der UNO ins Amt gehievte Regierung der nationalen Einheit ausgesetzt sieht. Jährlich starten von Libyens Küsten mehr als 150.000 Migranten, die bereit sind, ihr Leben im Mittelmeer zu riskieren. Das Erdöl ist nach wie vor die Haupt-Einnahmequelle des Landes. …
Libyen ist eines der dünnstbesiedelten Länder der Welt (3,5 Bewohner pro Quadratkilometer). Die Bevölkerung wuchs während des ganzen 20. Jhd. konstant und auch noch zu Beginn des 21., um dann zu stagnieren. “
Man fragt sich, wie diese Stagnation gemessen wird? Seit Ghaddafis Ableben gab es weder eine Volkszählung noch die Bedingungen dafür. Dafür bedarf es ja irgendwie geordneter Verhältnisse.
„Bis zur Revolution, die die Diktatur Ghaddafis beendete, war Libyen eines der wenigen afrikanischen Länder, die eine positive Migrationsbilanz aufwiesen. Heute, mit der vierfachen Fläche Spaniens, wird seine Bevölkerung auf etwas über 6 Millionen geschätzt“
Aha. Bei der Bevölkerungsstagnation handelte es sich um einen Schätzwert.
„– weniger als die Gemeinde Madrid-Umgebung.
Die Lebenserwartung ist eine der sozioökonomischen Kennzahlen, die nach 5 Jahren der Kämpfe und des Niedergangs am ehesten intakt geblieben ist. Seit 2003 hält sie bei 71 Jahren“
– auch hier wird seit 2011 vermutlich geschätzt …
„und kann sich damit mit einigen europäischen Ländern wie der Ukraine und Weißrußland messen. In Afrika wird sie nur von den Kapverdischen Inseln und einigen anderen Maghreb-Staaten wie Tunesien oder Marokko übertroffen.
Die derzeitige Zerbrechlichkeit (!) Libyens verwandelt seine Wirtschaft in einer der unbeständigsten des Planeten. “
Eine sehr eigenartige Wortwahl.
„Die verschiedenen um die Macht kämpfenden Gruppierungen, der Anstieg von Gewalt und Verbrechen, und das Fehlen jeglicher Sicherheit für ausländische Investoren haben einen scharfen Rückgang des BIP verursacht. Die Weltbank sagt voraus, daß das afrikanische Land ab 2016 in eine dynamische Wachstumsphase eintreten wird, mit jährlich wechselnden zweistelligen Wachstumszahlen.“
!!!
„2011 war Libyen das afrikanische Land mit dem höchsten BIP pro Einwohner. Tausende von Einwohnern aus Staaten südlich der Sahara wanderten in die Ex-Kolonie Italiens aus, um am Bau zu arbeiten.
Heute hat sich das BIP auf das Niveau von 2003 reduziert. “
Das ist angesichts der Lage in Libyen immer noch eine Überraschung – immerhin wird anscheinend noch etwas produziert!
„In den letzten 3 Jahren hat sich das BIP auf ein Drittel reduziert (von 82 Mrd. auf 29 Mrd.)
Die Erdölproduktion war die wichtigste Einkommensquelle während der mehr als 4 Jahrzehnte andauernden Diktatur Ghaddafis, und sie ist es auch heute noch. Die Instabilität und die Machtkämpfe haben zu großen Beeinträchtigungen der Produktion geführt. Dazu gesellt sich noch der allgemeine Preisverfall fossiler Brennstoffe auf dem Weltmarkt.
Die Produktion sank 2011 drastisch, sie erholte sich im folgenden Jahr, seither geht es kontinuierlich bergab. Libyen produziert heute 25 % der Fördermenge von 2008. “
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Es ist ja schon viel wert, daß El País den trostlosen Zustand Libyens überhaupt zum Thema macht. In deutschsprachigen Zeitungen sucht man dergleichen vergeblich.
Dazu mag beitragen, daß der vorherige Libyen-Vermittler der UNO – Bernardino León – ein Spanier war, der schließlich das Handtuch geworfen hat. Sein deutscher Nachfolger Kobler beharrte darauf, die im Ausland zusammengestellte Regierungsmannschaft in Amt und Würden einzusetzen, auf einer gut bewachten Militärbasis außerhalb Tripolis’.
Die größte spanische Tageszeitung will möglicherweise mit diesem Artikel dezent darauf hinweisen, daß diese ganze Inthronisierung ein Schuß in den Ofen war.
Die Ausführung in dem Artikel – das Original enthält auch noch einige Graphiken zu den angegebenen Zahlen, nach dem Motto: es wirkt wissenschaftlicher, wenn ein paar Kurven dabei sind – läßt allerdings erkennen, daß es um die Ursachen der libyschen Misere auf keinen Fall gehen soll. Der „Diktator“ mußte gehen, die darauf folgenden Machtkämpfe mit Granatwerfern und Maschinengewehren sind „Auseinandersetzungen“ und „Dispute“, die zu „Instabilität“ und „Zerbrechlichkeit“ führen.
Der Artikel ist eine Eigenproduktion der Zeitung und von keinem Autor gezeichnet.
In eine ähnliche Kerbe schlägt ein am gleichen Tag erschienener Artikel des Titels: „Libyen, von der Hölle mit Ghaddafi in den Alptraum ohne ihn“.
Die Botschaft ist klar: Die Lage ist ernst, aber vorher war es auf jeden Fall noch schlimmer!
„Die Diplomaten, die seit 2 Jahren versuchen, die streitenden Parteien zu versöhnen, hätten gerne einen libyschen Nelson Mandela mit einer Vision.“
Bei Mandela und Südafrika ging es zwar um etwas ganz anderes, aber auch hier ist klar, was gemeint ist: Die gleichen Akteure, die vorher alles gemacht haben, um den bösen Diktator mit allen Mitteln über den Jordan zu schicken, hätten jetzt gern einen Deus ex machina, den sie an seiner Stelle einsetzen könnten und der ihnen aus der Hand frißt.
Dazu kommen noch weitere hochkarätige Ansichten der Diplomaten, die sich rund um Libyen wichtig machen:
„Man kann von Islamisten und Anti-Islamisten reden“
– um die Sache weiter zu vernebeln, weil wer wären die eigentlich?
„aber die wahre Schlacht in Libyen spielt sich um Geld und Macht ab.“
Na so was! Wer hätte das gedacht?!
Mit einem Wort, in Libyen nichts Neues, trotz wiederholter Bombardements, einer wohlbehüteten Marionettenregierung und jeder Menge diplomatischer Hektik. Dazu noch luftige Prognosen der Weltbank, die mit Schönwetter winkt und sich dabei völlig lächerlich macht.
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Zur Installierung dieser Regierung, die keine ist:
MACHTLOSE MARIONETTEN (20.1. 2016)
Vorgeschichte:
DIE ABSCHLACHTUNG GADDAFIS (26.10. 2011)
Die Zerstörung Libyens: EIN KOLONIALKRIEG DES 21. JAHRHUNDERTS (29.9. 2011)

14 Gedanken zu “Pressespiegel: El País, 20.10. 2016, kommentiert

  1. Hauptmission von Martin Kobler bis 2015 im Kongo war anscheinend,
    die Regierung an die Durchführung der ehemals versprochenen Wahlen zu erinnern.
    (Damit ließ er sich letztens als Person auf Kabel 1 bebauchpinseln.)
    http://www.taz.de/!5065152/
    Und damit hat er sich ja vorzüglichst für die deutsche Außenpolitik und für Libyen qualifiziert.
    (Der Mann weiß einfach, was wichtig ist…)
    http://www.taz.de/70-71-Tag-FDLR-Unterstuetzerprozess/!5028861/
    http://www.taz.de/UNO-in-Libyen/!5226920/
    (…Und wird unter Angela Merkel demnächst [2017, Herbst] vermutlich noch der erste grüne Verteidigungsminister…)

  2. Italien scheint sich in Libyen stärker einmischen zu wollen
    (vermutlich, um die Flüchtlingszahlen nach Italien zu senken).
    http://de.euronews.com/2016/10/21/migrationsabkommen-zwischen-italien-und-libyen
    [Gut möglich, dass so die Schlagzeilen von heute zu erklären sind, dass “Bewaffnete” Flüchtlingsschiffe aufhalten und Flüchtlinge getötet haben.]
    http://www.tagesspiegel.de/politik/libyen-vier-tote-bei-angriff-auf-fluechtlingsboot/14721478.html
    Bis vorletzte Woche galt noch dieser Stand:
    https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/libyen-lehnt-von-der-eu-unterhaltene-fluechtlingslager-ab/

  3. Bei all den „Abkommen“ ist doch die Frage, mit wem die abgeschlossen wurden.
    Mit der libyschen Marionettenregierung? Dann sind sie Makulatur.
    Italien scheint seinen Deal mit den Milizen von Misrata gemacht haben – die werden sich über die Jeeps und Schlauchboote freuen, die sie kriegen, um ihr Geschäft besser betreiben zu können.
    Um in Libyen zu intervenieren, bedarf es keines Vorwands. Es will einfach keiner machen, weil jedem klar ist, daß eine Intervention und Besatzung eine kostspielige und blutträchtige Ende-Nie-Aktion wäre.

  4. Einerseits sind die Flüchtlingslager in Libyen ein Ärgernis für die EU, und daher gibt es eine permanente Beobachtung der Situation in und um Libyen
    https://www.proasyl.de/news/neues-aus-italien-zwischen-kriminalisierung-der-seenotrettung-und-libyschem-buergerkrieg/
    Andererseits geht der Blick viel weiter nach Süden – und die heute beginnende Konferenz der EU mit afrikanischen Staatsoberhäuptern will EU-Zuständigkeiten bis tief hinein nach Afrika vorverlagern.
    Dazu werden bekanntlich diverse ideologische und finanzielle Titel umgewidmet. Gab es früher eine Förderung der EU-Exportinteressen, mit dem Titel “Entwicklungshilfe” verkleidet (und obendrein mit dem der Satirezeitschrift Titanic anscheinend entlehnten schönfärberischen Titel ‘Hilfe zur Selbsthilfe’ ummäntelt), so werden diesbezügliche Peanuts nunmehr zum Aufbau von KZ-ähnlichen Internierungslagern der EU mitten in Afrika umgewidmet.
    Dafür sollen die dortigen Staatschefs Beifall klatschen.
    (Und dafür wird sicherlich auch gesorgt sein…)

  5. Es gab ja in den letzten Tagen einige Aufregung um Sklavenmärkte in Libyen, wo schwarze Migranten versteigert werden.
    Dieser neue Sklavenhandel ist offenbar ein unmittelbares Ergebnis der italienischen (oder EU-)Politik, dort den Milizen etwas zu zahlen, um das Einschiffen der Flüchtlinge an Libyens Küste zu verhindern.

  6. Zum Sklavenhandel in Libyen
    “Bisher scheinen die Schreckensberichte aus Libyen Europa wenig zu beeindrucken. Die Programme zur Abdichtung der afrikanischen Mittelmeerküste sollen im Gegenteil ausgeweitet werden. In einem inoffiziellen Papier (“Non-paper”) aus der EU-Kommission, das dem Tagesspiegel vorliegt, ist von 337,5 Millionen Euro zusätzlichem Finanzbedarf die Rede, darunter auch für „rechtebasiertes Migrationsmanagement“ und die dafür nötige Unterstützung „libyscher Institutionen auf nationaler wie lokaler Ebene“.
    Der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko, der letzte Woche von der Bundesregierung wissen wollte, ob sie den Datenaustausch über Flüchtlingsboote mit Libyens Küstenwache angesichts der Berichte aus den Lagern noch für verantwortbar halte, erhielt die Antwort, dass „grundsätzlich alle in Frage kommenden Akteure beteiligt werden, die Hilfeleistung geben und Seenotrettungsmaßnahmen einleiten können, um das Leben von auf dem Mittelmeer in Seenot geratenen Menschen zu retten“. Dies schließe „auch die libysche Küstenwache ein“. Hunko nannte das “infam”. Trotz der “mörderischen Einsätze gegen Retter und Geflüchtete” rede das Auswärtige Amt die libyschen Grenzer “als willkommene Seenotretter schön”. In Wirklichkeit seien sie “brutale Milizen die sogar selbst in das Schleusergeschäft verwickelt sind” und die mit Geld aus dem EU-Hilfefonds für Afrika finanziert würden.”
    http://www.tagesspiegel.de/politik/sklavenhandel-in-libyen-starke-jungs-fuer-400-dollar/20636252.html

  7. Mal abgesehen von dem ganzen Gedöns und Klimbim der Diplomatie.
    Ökonomisch ist Afrika doch nur interessant, weil man dort die Überschüsse der EU-Agrarpolitik billig unterbringen kann; dafür sollen die Afrikaner “Ja und Amen” sagen. Obendrein gibt es diese oder jene Bodenschätze, deren Zugriffsrechte man exklusiv für sich als europäischen Markt absichern will.
    Das zweite Interesse ist: die Afrikaner sollen gefälligst in Afrika bleiben. “Fluchtursachen bekämpfen” heißt, dass die afrikanischen Staaten es begrüßen sollen, dass die EU ihre Länder darin kolonisiert, dass die EU dort externe Auffanglager für Flüchtlinge hinstellen kann, – und das möglichst weit weg von europäischen Grenzzäunen.
    Als drittes werden die Bewohner Europas in der Weihnachtszeit dazu angestiftet, Almosen für die armen Verhungernden Afrikas bei den NGOs der europäischen Regierungen abzuliefern. Und so die Unkosten der europäischen Regierungen dafür zu übernehmen, damit die EU-Regierungen ihre staatlichen Gelder stattdessen für wirklich wichtige kapitalistische Vorhaben einsetzen können. Obendrein kriegt das leichenträchtige Geschäft so ein freundliches Antlitz. Als ginge es dort um “Humanität”. Und dass es darum eigentlich geht, – das bezeugt dann jeder Spendencent…

  8. Es gibt doch auch eine Menge Agrarprodukte, die von dort kommen, und die von den dortigen oft gar nicht verzehrt werden. Man denke an den Victoria-Barsch, die Baumwolle, Kakao, Kaffee oder Zitrusfrüchte. Also so gar „ein paar Rohstoffe“, sonst eh nix ist Afrika auch nicht. Und die Rohstoffe habens auch in sich, weil die braucht man für das ganze Elektronik-Klump, für Batterien usw.
    Schon die Vorgänger-Organisation der EU, die EG, legte viel Wert drauf, mit den Abkommen von Lomé und den Folgeverträgen die Hand auf alles zu legen, was in Afrika brauchbar ist. Wie Südamerika für die USA, ist Afrika für Europa der Hauptlieferant von Rohstoffen und Lebensmitteln, die es hier nicht gibt.
    Das ist ja einer der Gründe für den Hunger in Afrika, daß die guten Boden für Cash Crops verwendet werden und für die einheimischen Lebensmittel nur schlechtere Böden überbleiben, die dann noch zusätzlich durch Überweidung oder Überbeackerung versteppen, oder sonstwie verkommen. Und auch die weltmarktfähigen Produkte machen den Boden kaputt, oder verbrauchen zu viel Wasser.
    Afrika ist heute der EU ökonomisch derartig ausgeliefert, daß es keine besonderen Anstrengungen braucht, um die Ablieferung von allem Benötigten sicherzustellen. Es ist völlig in den Weltmarkt eingegliedert, Subsistenz gibt es nur noch in ein paar Rückzugsgebieten, die dem internationalen Kapital und den Land Grabbern zu schäbig sind.

  9. Soll jetzt auf einmal Sarkozy dafür verantwortlich gemacht werden, was damals Konsens der westlichen Welt war (wenngleich bei einigen zähneknirschend), der Sturz Gaddafis nämlich?

    „Französische Justiz ermittelt gegen Sarkozy zu Zeugenbestechung

    In der Affäre um illegale Wahlkampfspenden gibt es neue Vorwürfe gegen Sarkozy: Er soll Zeugen beeinflusst haben. Erhärtet sich der Verdacht, folgt ein Strafprozess.

    (…)“

    (Zeit, 6.10.)

    Das ist ein Folgeprozeß von diesem:

    „Sarkozy muss wegen Wahlkampfspenden vor Gericht

    Er wurde bereits wegen Bestechung verurteilt und soll nun erneut vor Gericht: Frankreichs Ex-Präsident Sarkozy. Diesmal geht es um den Vorwurf, er habe illegale Wahlkampfgelder von Libyens damaligen Diktator Gaddafi bekommen.

    In der Affäre um eine angebliche Wahlkampffinanzierung durch Libyen soll Frankreichs früherer Präsident Nicolas Sarkozy auf die Anklagebank. Ermittlungsrichter ordneten einen Prozess gegen ihn und zwölf weitere Verdächtige an, wie die Finanzstaatsanwaltschaft mit Sitz in Paris mitteilte.

    (…)

    (Tagesschau, 25.8.)

    Hintergrund dazu:

    Libyen-Affäre (Frankreich)

    „Im ersten Halbjahr 2021 versuchten mehrere Personen, ein vom Digitalmedium Mediapart veröffentlichtes libysches Dokument zu fälschen, das nachwies, dass Sarkozy rund 50 Millionen Euro von Gaddafi erhalten hatte.
    Um dies(e Fälschung) zu erreichen, so der Vorwurf, versuchten Sarkozys Agenten, das Justizpersonal im Libanon zu korrumpieren, wo sich einer der Söhne des verstorbenen libyschen Diktators in Haft befindet, um seine Freilassung zu erreichen, um den Preis, die Vorwürfe gegen den ehemaligen Präsidenten zu widerlegen.“

    (El País, 6.10.)

    Und bei all dem weiß noch immer niemand, wo das Geld des Libyschen Nationalfonds gelandet ist, das in verschiedenen europäischen Staaten angelegt war …

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