Schiffsunglück in Budapest

TOURISMUS 2019 – HÖHER; SCHNELLER; WEITER!
Die Idee der Freizeit und des Urlaubs gehört zur Lohnarbeit und zum Kapitalismus dazu. Frühere Gesellschaftsformen kannten dergleichen nicht. Auch im Kapitalismus dauerte es eine Weile, bis die staatlichen Verwalter der Klassengesellschaft draufkamen, daß die Arbeitskräfte bei halbwegs pfleglicher Behandlung bessere Leistungen erbringen. So konnten sie den Unternehmern gegenüber durchsetzen, den Arbeitstag zu verkürzen, und ihren geschätzten Mitarbeitern Urlaub zu genehmigen – und sogar zu bezahlen!
Während lange Zeit der Urlaub und die Freizeit der Erholung dienten, um sich für die Strapazen des Arbeitsalltags fit zu halten, wurde mit der Zeit beides als Reich der Freiheit entdeckt, gegenüber dem wie immer gearteten Job, der als Reich der Notwendigkeit anerkannt wurde und wird. Der ganze heute übliche Freiheitstreß geht daher einher mit dem Verzicht auf jede Kritik an der Art und Weise, in der heute Waren erzeugt, auf den Markt geworfen und dann gekauft und konsumiert werden.
Ja, der Beruf ist Scheisse, aber er muß sein, damit ich mir dies oder jenes leisten kann, sagen Leute gerade aus besser bezahlten Jobs, die sich auch Arbeit nach Hause nehmen, Überstunden machen, oder Nebenjobs machen.
In einer Welt, in der das einfache Wohnen für breite Bevölkerungsschichten zu einem ernsten Problem wird, wo Menschen auf immer kleinerem Wohnraum einen ständig wachsenden Teil ihres Einkommens für das Dach über dem Kopf aufwenden müssen, und die Obdachlosigkeit steigt, wird das Reisen immer wichtiger. Ob jetzt eine aufwendige Fernreise oder gleich Weltreise die einen von Kontinent zu Kontinent hoppen läßt, oder andere übers Wochenende in eine der vielen überlaufenen Städte der EU ausreißen – wichtig ist, sich mit Billigflügen mindestens ins Ausland zu bewegen, und das dann auch möglichst der Umwelt mitzuteilen, in Form von Fotos in sozialen Medien oder deren Herumschicken auf die Smartphones des Freundeskreises.
Der heutige Bildungsbürger bespiegelt sich nicht mehr über die Kenntnis der Klassiker, toter Sprachen oder irgendwelche Fertigkeiten, sondern darüber, wo er schon überall war. Es gilt als Ausweis von Weltoffenheit und Bildung, Modernität usw., zu zeigen, in welchen Einkaufsmeilen man schon flaniert, welche Stadtzentren man bereits durchwandert und welche Strände man schon belegen hat.
Dazu kommt dann noch die Abteilung Luxus, die mit teuren Hotels oder so etwas wie Kreuzfahrten aufwarten kann, oder exquisiten Reisezielen wie der Antarktis oder Alaska. Die wollen sich dann von den gewöhnlichen „Massentouristen“ abheben, und anderen auf die Nase binden, daß sie sich etwas Besseres leisten können als Krethi und Plethi.
Schließlich gibt es auch noch die Abteilung der Extremsportler und Abenteurer, die mit allen möglichen Fluggeräten in die Lüfte steigen, Wildwässer hinunterfahren, oder hohe oder sehr abgelegene Berge ersteigen wollen, um den besonderen Kick zu haben, daß sie etwas ganz Besonderes gemacht haben und deshalb auch etwas ganz Besonderes sind. Geld braucht man dazu auch einiges, das ist so eine Nebenwirkung. Irgendwie wird das der Umwelt auch zur Kenntnis gebracht, wenn diese Leute von ihren außergewöhnlichen Leistungen erzählen.
Dieses Bedürfnis nach Selbstbespiegelung über das Freizeitvergnügen bewegt inzwischen große Geldmengen und bietet dem internationalen Kapital seit Jahren ein Wachstumspotential, von dem andere Wirtschaftszweige nur träumen können. Kaum kommt wieder ein neues scharfes Vergnügen auf, wird eine neue Weltgegend von findigen Reiseveranstaltern entdeckt, schon locken gute Profitraten. Manche verelendeten Gegenden versuchen ihrerseits etwaige Strände, Palmen, Gebirge oder Höhlen zu Einkommensquellen zu machen.
In den Zeitungen wird manchmal verärgert vermeldet, daß irgendwelche Touristen in der Sahara oder im Senegal oder in anderen eher ungewöhnlichen Urlaubsdestinationen in einen Hinterhalt geraten, ausgeraubt, als Geiseln genommen oder gar umgebracht worden seien.
Skandal!
Die dortigen Staaten haben ihr Territorium und ihre Bevölkerung nicht im Griff! Man kann dort nicht ruhig auf Urlaub hinfahren! Na, selber schuld, wenn die dort ewig arm bleiben … Die nutzen ja ihr touristisches Potential gar nicht richtig aus!
Jetzt sind ein paar südkoreanische Touristen in Budapest ertrunken, weil sie unbedingt Budapest bei Nacht von der Donau aus betrachten wollten und mit dieser Sehnsucht nicht allein unterwegs waren.
Anscheinend sind alle Sonnenauf- und -untergänge an Palmenstränden, alle Berggipfel und sonstigen schönen Aussichten schon ausgereizt, also muß man nach neuen Sensationen Ausschau halten.
Schon geht die Schuldsuche los: Wer hat hier versagt, wen kann man vor Gericht stellen?
Die Tourismusindustrie als Ganze soll natürlich nicht in ein schlechtes Licht geraten, das wollen weder die Tourismus-Unternehmer, noch die auf Devisen scharfen Politiker, und zuallerletzt die Urlaubsgäste selbst, die ihr Recht auf das Bereisen der ganzen Welt täglich zahlungskräftig einfordern.

10 Gedanken zu “Schiffsunglück in Budapest

  1. “In einer Welt, in der das einfache Wohnen für breite Bevölkerungsschichten zu einem ernsten Problem wird, wo Menschen auf immer kleinerem Wohnraum einen ständig wachsenden Teil ihres Einkommens für das Dach über dem Kopf aufwenden müssen”
    Wieso “wird”?? Solange es Arbeiter in Großstädten gibt, also schon seit rund 200 Jahren, hatten sie die allergrößte Mühe, für sich und ihre Familien bezahlbaren Wohnraum zu finden. Zwar gab es immer wieder Staaten oder Zeitperioden, wo das nicht so ein drückendes Problem war wie zur Zeit als Engels seinen berühmten Bericht “Die Lage der arbeitenden Klasse in England”, aber grundsätzlich gilt in vielen Staaten und in der Tat zunehmend mehr für immer größere Teile der vom Lohn leben müssenden Menschen, daß sie vom Elend nur eine Gehaltsüberweisung entfernt sind.

  2. Anlässlich des erstaunlich leeren Kommentars von angeblich Neoprene…
    Wem solcherlei eher von Krim bekannte murxologische Einsortiererei der Härten des Sozialstaates und der dazugehörigen der Freizeitindustrie, wovon ja im Text von Nestor die Rede ist, (denn was weiß man mehr, wenn man weiß, dass auch die Wohnungsfrage nebst deren kritischer Darstellung selbstverständlich irgendwie eine Tradition hat…) nicht das Gelbe vom Ei ist (noch nicht mal das Weiße..), dem sei empfohlen die Lektüre des neuen Protokolls zum Jour fixe München vom 20.05.2019
    Sozialversicherung: I. Rentenversicherung (GS 1-19)
    An der Art, wie die Sozialversicherungen konstruiert sind, wie Ein- und Auszahlungen geregelt sind, kann man einiges über die Lebenslage der Leute, die Sozialversicherungen brauchen, und über das ökonomische System, das dieser Lebenslage zugrunde liegt, erfahren. Die zwei Eck- punkte der Rente sind: 1. es gibt eine Regelaltersgrenze, die aktuell bei 67 Jahren liegt, 2. die durchschnittliche Rente liegt bei 48% des durchschnittlichen Lohns…
    https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/jf-protokolle/jf190520-sozialversicherungen.pdf
    Vgl. dazu auch den diesbezüglichen Artikel im GS 1-19
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/stichwort-sozialversicherungen
    nix für ungut

  3. P.S. Falls im Post von N. Aufkärerisches über die Freizeitindustrie oder über den Sozialstaat zu lesen war, dann möge er dieses verdeutlichen …

  4. @Neoprene
    Ich bin halt aus dem glücklichen Österreich, wo es früher den Friedenskronenzins gab – eine Mietzinsbindung für den reichlich vorhandenen Altbau, die Wohnungen erschwinglich machte und vor allem unbefristete Mietverträge vorschrieb. Außerdem war bei uns jahrzehntelang der soziale Wohnbau relativ aktiv. So konnte Österreich bis 1990 als Billiglohnland existieren, und die arbeitende Menschheit hatte doch ein bezahlbares Dach über dem Kopf.
    Bei uns ist es in den letzten 10-15 Jahren so richtig heavy geworden mit dem Mietwucher und den Wohnungspreisen. Aber du hast natürlich recht, woanders ging es schon länger so zu, wie du anmerkst.
    Ansonsten, und so habe ich auch Lesetipp verstanden, war die Wohnungsfrage ja nicht das Thema dieses Beitrags.

  5. “Bei uns ist es in den letzten 10-15 Jahren so richtig heavy geworden mit dem Mietwucher und den Wohnungspreisen.”
    Ja, hier in Berlin natürlich auch. Mir stößt das nur deshalb schnell auf, weil es eine tiefsitzende linke Unsitte ist, bei Allem, was heutzutage schlecht ist – und in der Wohnungsfrage geht es ja allenthalben Vielen in der Tat viel schlechter – auf die vergleichsweise guten alten Zeiten zu verweisen, als wäre es das Tollste, wenn man die wiederkriegen könnte irgendwie.
    Was an solch einem kleinen Hinweis “leer” sein soll, habe ich übrigens nicht verstanden. Erst recht verstehe ich nicht, wie dieser vermutliche GSP-Freund von mir jetzt eine Kritik der Freizeitindustrie erwartet, wo ihm selber das Thema ja am Arsch vorbei geht.

  6. Die guten alten Zeiten kann man schon erwähnen. Soweit ich das mitbekomme, scheiden sich die Geister vor allem über die Gründe, warum seinerzeit ein etwas anderer Umgang zwischen Staat und Volk im Allgemeinen und zur besitzlosen Klasse im Besonderen herrschte. Wiederaufbau und Kalter Krieg führten zu Vollbeschäftigung, Löhnen, von denen die Leute leben konnten, und einem gut ausgebauten Sozialstaat.
    Heute hingegen ist imperialistische Konkurrenz angesagt und die Erfolge des Kapitals in den guten alten Zeiten – nicht zu vergessen die Mitarbeit der Arbeiterklasse, vor allem der Gewerkschaften, was den “sozialen Frieden” angeht – haben dazu geführt, daß es heute jede Menge überflüssige Bevölkerung gibt, die das Kapital nicht mehr gewinnbringend anwenden kann.
    Aber all das ist doch keine Erklärung dafür, warum Scharen von Menschen unbedingt auf den Everest wollen, usw.
    Der Urlaubs- bzw. Freizeitstress ist auch mit dem etwas abgenützten Schlagwort vom “Massentourismus” nicht erfaßt, wo sich irgendwelche Kosmopoliten aufregen, daß man auch im Louvre Schlage stehen muß, oder Abenteuerurlauber griesgrämig werden, wenn sie mitten in der Sahara aus dem Nichts aufgetauchte Landsleute nach dem kürzesten Weg nach Timbuktu fragen.
    Also ich mag hier jetzt keine Sozialstaatsdebatte haben, das sollen doch bitte Renate und Ari erledigen.
    Für die, die es noch nicht wissen, es gibt ein super-über-drüber neues Buch zu dem Thema:
    https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/der-soziale-staat/

  7. Laut einer von der Europäischen Kommission im April 2018 veröffentlichten Studie wuchs der Schiffsverkehr auf der Donau nur an der deutsch-österreichischen Grenze im Zeitraum von 2002-2017 um 89 %. In dieser Zeit verdoppelte sich die Zahl der Flußkreuzfahrschiffe. 2017 befuhren 346 dieser Schiffe den Fluß, die 50.616 Passagiere beförderten.
    https://444.hu/2019/06/13/ket-jelentes-is-figyelmeztette-a-budapesti-varosvezetest-a-duna-tulzsufoltsagara?fbclid=IwAR0ksynUQ3HeeRRXzcNsL-xNj4w0DW0bZ26zaAEfr4LAGSqKfGqCIvWXLEU

  8. Es ist schon beachtich, was über diese gekrachte Thomas Cook-Firma an Dimensionen über das Tourismus-Geschäft herauskommt.
    Im Jahr 2018 hat die Firma nur in ihren eigenen Flugzeugen 3,6 Millionen Touristen nach Spanien gebracht. Sie benützte aber auch die Flugzeuge anderer Linien für ihre Kunden. Sie hatte 20.000 Angestellte in Spanien, davon 3,600 auf den Balearen. Die alle werden ihre Jobs verlieren, und noch viel mehr Leute, weil durch den Konkurs wurden 700.000 Reservierungen hinfällig. Auf den Kanarischen Inseln zittern alle Hoteliers, und auch deren Angestellte.
    (El País, 11.10.)
    Und das ist nur Spanien.
    Thomas Cook war ja woanders auch tätig.

  9. in der Wikipedia wird eine Mitarbeiterzahl von 21 263 angegeben. Also können die 20 000 nur nur für Spanien nicht ganz stimmen.
    “Thomas Cook organisierte 1845 die ersten Reisen nach Liverpool und 1855 die erste Europa-Rundreise für britische Touristen und begann damit die Ära des Pauschaltourismus. Sie führte über Brüssel, Köln, Heidelberg, Baden-Baden, Straßburg und Paris zurück über Le Havre oder Dieppe nach London.”

  10. Du hast recht. Die 20.000 sind nicht nur in Spanien, das habe ich falsch dargestellt.
    Es war allerdings auch im Ursprungstext so formuliert, daß es für dieses Mißverständnis Anlaß geboten hat.

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