Überlegungen zum Coronavirus – 3.: Die Serenissima

WARUM ITALIEN? – TEIL 3
Hier wird die Serie der Erklärungen fortgesetzt:
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut.
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander

3. Venedig

a) Eine besondere Stadt
Seiner Rolle als Seehandelsmetropole verdankt Venedig sowohl seine Anlage überhaupt, auf den Inseln der Lagune – der Lido war ein Schutz gegen Überfälle, und die Lagune bot genug Anlegeplätze für Schiffe aller Größen – als seine besondere Architektur, mit der sich die Kaufleute von Venedig ein persönliches Denkmal setzten. Dieses Ensemble macht es schon lange zu einem Ziel für Kunst- und Kulturbeflissene, als Konsumenten oder Produzenten derselben.
Die Bedeutung als Handelsplatz verlor es jedoch im 18. Jahrhundert, weil sich die Handelswege änderten und andere Handelszentren Venedig verdrängten. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß in den fast 2 Jahrhunderten der Stagnation die Bausubstanz erhalten blieb und nicht modernen Zweckbauten Platz machen mußte.
Nach der Einigung Italiens, Ende des 19. Jahrhunderts machten sich einige venezianische Lokalpolitiker und finanzkräftige Unternehmer und Bankiers daran, diese etwas verschlafene Ecke Italiens aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken und an vergangene Größe anzuknüpfen. Damals wurde die Biennale ins Leben gerufen, als Kunstmesse. Es folgten Investitionen in Infrastruktur – Elektrifizierung und Straßenbau und schließlich der Ausbau der Industrie in Orten auf dem Festland.
Während die Bausubstanz der Inseln erhalten bleiben und dem Geschäft mit der Kultur und dem Tourismus dienen sollte, wurde Marghera und Umgebung ausgebaut und im Laufe der Jahrzehnte zu einem wichtigen Industriezentrum und Hafen vergrößert.
An dieser Zweiteilung entwickelte sich Venedig eigentlich das ganze 20. Jahrhundert entlang. Die Biennale entwickelte sich zur wichtigsten Kunst- und Architekturmesse Europas. In den 30-er Jahren kam noch das Filmfestival dazu, im Rahmen der entstehenden italienischen Filmindustrie. Produziert wurde in den Studios in Rom, gezeigt in Venedig.

b) Tourismus
Die Art von kulturbeflissenen Touristen aus dem In- und Ausland, die Venedig anzog, fügten sich gut ins Bild und diese Leute waren auch zahlungskräftig. Luxushotels wurden gebaut, es wurde ein mondäner Treffpunkt des Adels und der Kunstszene.
Mit der Zeit und der Entwicklung des Tourismus zu einem breiter gestreuten Vergnügen wurde Venedig zu einem Ort, den jeder einmal gesehen haben mußte, und sei es auch nur für einen Kurzausflug von billigeren Urlaubsorten der nördlichen Adria.
Die Situation änderte sich graduell mit dem Niedergang der italienischen Industrie und des Hafens von Marghera. Auf einmal wurde der Tourismus zu einem Rettungsanker für ein in die Jahre gekommenes und von den neueren Technologien überflüssig gemachtes Entwicklungsmodell. Die ganzen Ortschaften an der Lagune leben inzwischen direkt oder indirekt von den Menschenmassen, die Venedig zu allen Jahreszeiten be- bzw. heimsuchen.
Der Tourismus in Venedig hat heute etwas von einem Tanz auf dem Vulkan. Während die Altstadt langsam versinkt – die Fundamente geben nach und der Meeresspiegel steigt – und die Stadtverwaltung kein Geld hat für nötige Renovierungen, und sich sogar die Fertigstellung des umstrittenen Schleusenprojekts immer wieder verzögert, ist in der Stadt ständig das Geratter der Rollkoffer zu hören. Züge, Vaporettos und Kreuzfahrschiffe speien in einem fort Touristen aus, die dann in AirB&Bs, Hotels und Alberghi rattern, über den Markusplatz flanieren und in Gondeln steigen. Venedig hat sich in eine Art Kulisse verwandelt, deren noch arbeitsfähige Bewohner die ständig wechselnden Schauspieler verschiedener Wichtigkeit bedienen und ansonsten ihr Leben in überteuerten und feuchten Absteigen fristen oder täglich von Quartieren am Festland in die Altstadt pendeln.
Dazu kommen riesige Kreuzschiffe, die Venedig als ein Muß in ihrem Programm führen und sich wie Elefanten an der Tränke an die Altstadt schmiegen, die Kais der Stadt und den Untergrund der Lagune ruinieren und durch ihre Größe, Gestalt und Nähe einen völlig absurden Kontrast zu den verzierten Palästen des 15 und 16. Jahrhunderts darstellen, wie Walfische neben einer Puppenstadt.
Auf den Kreuzfahrtourismus will aber Venedig auf keinen Fall verzichten.
Erstens war einst viel italienisches Kapital in der Kreuzfahrbranche tätig, die inzwischen zwar von internationalen Konkurrenten aufgekauft wurde, aber dennoch weiter an dem Kuchen mitnascht. Mit dem Unfall der Costa Concordia 2012 ist diese Branche zwar ein wenig ins Zwielicht geraten, aber die Delle bei den Reservierungen war von kurzer Dauer. Kreuzfahrten sind beliebt wie eh und je. Sie bieten nämlich auch Leuten eher bescheidenen Einkommens das Gefühl von wahrem Luxus.
Zweitens hängen an dieser Laufkundschaft Imbißstuben, Konditoreien, Souvenirgeschäfte und dergleichen in Venedig selbst, deren Betreiber aufgrund geringer Gewinnspannen auf große Umsätze angewiesen sind.
Drittens schließlich ist einer der wenigen Betriebe von Marghera, der noch funktioniert, die Fincantieri-Werft, die auf den Bau von Kreuzfahrschiffen spezialisiert ist. Das ginge nicht: Einerseits diese Riesendinger herstellen – die Werft von Marghera ist eine der weltweit bedeutendsten für diese Art von Schiffen – und gleichzeitig die Einfahrt beschränken.
Um ja keine Möglichkeit von Zusatzeinnahmen einzubüßen, bemüht sich Venedigs Verwaltung auch ständig um Events aller Art, auch um das Biennale-Gelände möglichst auszulasten.
Einer dieser Events ist der Karneval.

c) Fasching
Die ausgelassene Zeit zwischen Weihnachten und der Fastenzeit ist ein europäisches Phänomen, das anderen Kulturen fremd ist. Auch in die Neue Welt kam es erst mit den Kolonisatoren.
Erstens sollen damit lange Winternächte und Finsternis überwunden werden. Das ist jener Teil des Faschings oder der Saturnalien, der sich auf die Natur bezieht. Die Feldarbeit ruht, der Geist ist müßig, man kommt da auf viele dumme Gedanken. Das Beste ist, sich durch ausgiebiges Feiern, Rausch und Ähnliches ins Frühjahr durchzuhangeln.

Zweitens aber stellt er eine Reparaturmethode für brüchige Klassengesellschaften dar. Herr und Knecht, Patrizier und Bettler, Kaufmann und Fischer, König und Page begegnen sich auf gleicher Stufe und verbrüdern sich, wenn auch nur für einen Tag oder eine Nacht. Dieser Aufhebung der Standesunterschiede und Außer-Kraft-Setzen von Geboten dient auch die Verkleidung. Viele bedeutungslose Personen werden zu weisen Hofnarren, Mönche und Nonnen verlassen die Mauern ihrer Klöster und vergnügen sich in anderen Örtlichkeiten, Reiche lassen andere an ihrem Reichtum teilhaben, und wichtige Personen des öffentlichen Lebens mischen sich wie Harun Al-Raschid unters Volk, um einmal die Bürde ihrer Verantwortung los zu sein und dem Volk aufs Maul zu schauen.
Der russische Denker Michail Bachtin sah den Karneval als ein Fenster der Freiheit, wo die Strenge der christlichen und bürgerlichen Normen ein Stück weit aufgehoben wird, um die Unfreiheit und das Gesetz des übrigen Jahres zu ertragen.

Eine weitere Dimension erhält der Karneval heute in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft, wo die Heuchelei und das Vorspiegeln falscher Tatsachen vielen Menschen selbstverständlich geworden sind. Die Überschätzung der eigenen Bedeutung und der Wunsch nach Anerkennung werden im Fasching ein Stück weit befriedigt. Mit Kostümen und Masken verläßt man die Enge des gewöhnlichen Ich und genießt sich in einer anderen, selbstgewählten Rolle. Narrenkönige und gewöhnliche Narren verwandeln sich in Politikberater, die es den Mächtigen so richtig reinsagen, während sie ansonsten nur den Stammtisch mit ihren Weisheiten beglücken können. Die durch den Kakao gezogenen Politiker machen gute Miene zum bösen Spiel und lachen mit – im Bewußtsein, daß genau diese Art von plumpen Scherzen sie in ihrer Stellung bestätigt.

Der Karneval in Venedig diente jahrhundertelang auch der Zurschaustellung des Reichtums der Serenissima. Mit Samt und Seide wurden aufwendige Kostüme geschneidert, um aller Welt zu zeigen, wie die Handelsstadt zu feiern versteht.
Während der Zeit der Stagnation nach dem Frieden von Passarowitz und unter der österreichischen Herrschaft schlief diese Tradition ein. Venedig hatte weder Grund noch Geld, ausgiebig zu feiern. Und sogar im 20. Jahrhundert besann sich lange niemand auf dieses römisch-italienische Erbe.
Die Wiederentdeckung des Karnevals mit Fellinis „Casanova“ Ende der 70-er Jahre war eine Mischung aus Zufall und Berechnung. Fellini hatte vermutlich nicht die Absicht, eine Tourismusattraktion herzustellen, als er sich für diesen Film der venezianischen Tradition bediente. Aber für Künstler, Lokalpolitiker und Tourismusunternehmen in Venedig war der Anlaß gegeben, ihre Stadt um einen Anziehungspunkt reicher zu machen.

Der venezianische Karneval ist heute eine Art große Show, für die viel Geld locker gemacht wird und wo sich Unterhaltungsbedürfnis mit Bildungsbürgertum paart. Eine Art Mißwahl, Preise für die besten Kostüme, ein akrobatischer Akt vom Markusturm und andere scharfe Vergnügungen können immer mit dem Bewußtsein genossen werden, daß man dabei auf Tradition und Stil Wert legt. Ballermann in Mallorca oder sonstwo ist für Proleten – der Mensch mit gehobenen Bedürfnissen geht nach Venedig zum Karneval, läßt ordentlich was springen und schwelgt dann daheim in seinen Erinnerungen bzw. stellt seine Fotos aufs Facebook.

Ein paar Zahlen:
„So konnten am Sonntag nicht mehr als 23.000 Besucher gleichzeitig Zugang zum wichtigsten Platz der Stadt haben, berichteten lokale Medien. …
Täglich tummeln sich bis zu 100.000 Besucher in Venedig, während der Faschingszeit sind es sogar 130.000. Der Karneval zählt mit seinen Maskenbällen, Gondel-Paraden und Feuerwerken zu den wichtigsten Festen von Venedig. 40.000 Menschen leben in der Lagunenstadt nur vom Tourismus.“
(Salzburger Nachrichten, 24.2. 2019)

Für dieses Jahr wurden offenbar keine Besucherzahlen ermittelt, weil der Virus dazwischengekommen ist. Es waren aber wahrscheinlich eher mehr als weniger.

Wikipedia gibt die Einwohnerzahl Venedigs mit 259.809 Personen an. Das bezieht sich auf Groß-Venedig, also auch Mestre, Marghera und andere Ortschaften auf dem Festland, die zur Gemeinde Venedig gehören. Die eigentliche Altstadt auf den Inseln zählt jedoch nur 54.000 Einwohner – nur damit man die 23.000 Leute auf dem Markusplatz und die 100.000 „Normal“-Besucher in ein Verhältnis setzen kann. Zu der Masse muß man noch die Fluktuation berücksichtigen – diese Menschenmengen befinden sich in einem beständigen Kommen und Gehen mit allen zur Verfügung stehenden Transportmitteln.
Das bunte Treiben in Venedig hat also sicher zu der Verbreitung des Coronavirus beigetragen – nicht nur für Italien, sondern für die ganze Welt, die dort, wie man sieht, in nicht geringer Menge aus und ein geht. Der Faschingsdienstag fiel auf den 25. Februar. Zu diesem Zeitpunkt war der Coronavirus in Italien zwar schon aufgetreten, aber niemand hatte eine Vorstellung vom Ernst der Lage. Außerdem wäre es sowieso unmöglich gewesen, dieses Spektakel von einem Tag auf den anderen zu stoppen.
„Die Bevölkerung der Stadt hat seit Jahren eine negative Bilanz (-6,4 ‰ im Jahr 2018), die viel stärker ist als im Großraum Venedig (-4,2 ‰) und der Region Veneto (-2,8 ‰). Auch im Vergleich zu den anderen italienischen Großstädten gehört Venedig zu denjenigen, die am stärksten vom Phänomen des Alterns betroffen sind, nur noch hinter Genua.“ (ebd.)

Fortsetzung: Die überalterte Gesellschaft, oder: „De oidn Leit“

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