Serie „Lateinamerika heute“. Teil 6: Kuba

DER IMMER NOCH REAL EXISTIERENDE SOZIALISMUS

ist ein Ärgernis für die USA, aber auch für alle Marktschreier von Freiheit, Demokratie, Weltmarkt und Profitinteresse.

Kuba zeigt nämlich, daß es bei der nötigen Entschlossenheit auch anders geht.

1. Ökonomisches Gewurstel seit 1990

Daß Kuba es bis heute geschafft hat, seine revolutionären Errungenschaften zu verteidigen, ist beachtlich. Seine Schutzmacht hat sich aufgelöst, und Atomraketen hat es auch nicht. Dennoch hat es seit der Invasion in der Schweinebucht einem weitaus überlegenen Gegner getrotzt. Den USA war stets klar, daß sie mit einer Besetzung Kubas nicht weiterkommen würden, weil die Bevölkerung Kubas hinter ihrer Regierung steht.
Die Kommunistische Partei Kubas ist auch nicht auf die Idee gekommen, ihr politisch-ökonomisches System wegzuwerfen, weil der große Beschützer und Spender es erst fallengelassen und sich dann aufgelöst hat.
Dieser Spiegel-Artikel von 1989 charakterisiert die Abkühlung zwischen der Sowjetunion und Kuba sehr gut. Damals wußte man noch nicht, daß die SU sich auflösen würde, aber die Abkehr vom Sozialismus war in der SU bereits manifest.

Die Kubaner läuteten nach dem Ende der Sowjetunion die „spezielle Periode“ ein, in der sie ohne die Hilfe der SU und des RGW über die Runden kommen mußten. Die Probleme betrafen die Energieversorgung, Futtermittel, Lebensmittel und Maschinen aller Art, auch Transportmittel – an all dem fehlte es auf einmal. Das BIP soll von 1990 bis 1993 um 36 Prozent gefallen sein und erst gegen 2007 wieder den Stand von 1990 erreicht haben.
(Wie das BIP in einem Land wie Kuba gemessen wird, das sowohl nach Einschätzung seiner eigenen Mannschaft und ihrer Anhänger als auch derjenigen ihrer Gegner keine Marktwirtschaft ist, sei dahingestellt. Es handelt sich um bloße Schätzungen. Tatsache ist jedenfalls ein durch Importausfälle bedingter Rückgang der Produktion in allen Sparten.)

Kuba mußte sich also nach neuen Energiequellen und Außenhandelspartnern umsehen.

Kaum hatte sich die kubanische Wirtschaft ein wenig emporgearbeitet, Umstellungen vorgenommen und die Energiekooperation mit Venezuela in Gang gebracht – Öl gegen Dienstleistungen – so geriet es in die nächste „spezielle Periode“, die durch die allgemeine Weltwirtschaftskrise seit 2008 gekennzeichnet ist, weiters durch den Fall der Ölpreise und die Schwierigkeiten, in die Venezuela inzwischen geraten ist.

2. Der Außenhandel und die Außenpolitik

Durch das seit Jahrzehnten währende Handelsembargo durch die USA war Kuba immer genötigt, Alternativen zum dollarbasierten Weltmarkt zu suchen. Nach dem Ende des RGW wurde erstens die Devisenerwirtschaftung wichtiger und Kuba legte einen Turbo beim Ausbau des Tourismus, der Förderung von Investitionen in diesem Sektor und der Bewerbung als Touristenparadies ein.
Zweitens versuchte es einen Tauschhandel mit denjenigen Staaten aufzubauen, die dazu bereit und in der Lage sind, für Kuba notwendige Güter zu liefern. Die wichtigsten Partner auf diesem Gebiet sind Venezuela und China, deren Regierungen sich große Verdienste um den Erhalt der kubanischen Lebensstandards erworben haben. Venezuela durch Lieferung von Energie, und China durch Lieferung von Industriegütern und Textilien, größtenteils durch langfristige Kredite finanziert.
Die kubanische Regierung hat jedoch auch außenpolitische Anstrengungen unternommen, um ihre Sicht der Dinge – eigenständige Entwicklung im Interesse der Bevölkerung anstatt Anbetung des Marktes als Garant des Fortschritts und des Wohlstandes – über seine Grenzen hinaus zu propagieren und zu unterstützen. Viele lateinamerikanische Regierungschefs wurden vor und nach ihrer Wahl oder Revolution von Kuba nach besten Kräften unterstützt.

2004 wurde in Havanna auf Initiative von Hugo Chávez ALBA gegründet, als politisch-ökonomische Organisation zur besseren Zusammenarbeit derjenigen Regierungen, die mehr auf ihre Bevölkerung achten wollten als auf Handelsbilanz, Staatskasse und persönliche Bereicherung. ALBA war ein Gegenprojekt zum 1994 angeregten und 2005 beschlossenen Freihandelsabkommen ALCA zwischen allen lateinamerikanischen Staaten und den USA, das inzwischen mehr oder weniger begraben wurde.
Nach Venezuela und Kuba traten Bolivien, Nicaragua und Ecuador ALBA bei, sowie einige Inseln der Karibik. Honduras wollte unter dem Präsidenten Zelaya beitreten – das dürfte der Hauptgrund dafür sein, warum er 2009 weggeputscht wurde. Ecuador trat dieses Jahr, also 2018, aus. Als Grund gab die Regierung Moreno an, daß Ecuador von venezolanischen Migranten bestürmt wurde.

Das ist natürlich ein Vorwand, weil das Handelsabkommen nichts mit der Migration zu tun hat. Die ecuadorianische Regierung hat heute offenbar anderes im Sinne, als Kooperation mit Kuba und das Wohl der eigenen Bevölkerung.
Kuba hat inzwischen in Bezug auf ALBA schlechte Karten, weil die meisten der mit Kuba und seiner Politik sympathisierenden Regierungen abgewählt wurden.

Um so mehr ist das Moment der Selbstversorgung wichtig.

3. Landwirtschaft und Energie – Kubas Prioritäten

Kuba setzt energiemäßig seit Jahren auf Sonnenenergie – Sonne gibt es wirklich genug in Kuba. Außerdem hat es mit Hilfe Chinas einen Haufen notwendiger Güter, wie stromsparende Eiskästen und sonstige Haushaltsgeräte, sowie die ebenso dringend notwendigen Verkehrsmittel, Busse und Lastwägen erhalten. China liefert diese Waren im Gegenzug für langfristige Kredite – es kreditiert also Kuba.
Kuba hat einiges im Gegenzug zu bieten. Es liefert China Nickel, aus Bergwerken im Osten Kubas.
Außerdem hat die Kommunistische Partei Kubas sich inzwischen der Illusion begeben, daß Landwirtschaft nur mit den fortschrittlichsten Methoden betrieben werden sollte, um der Bevölkerung die Rackerei beim Bestellen des Landes mit Händen und Pflügen und Zugtieren zu ersparen. Immerhin hat Kuba die meiste Zeit des Jahres Temperaturen zwischen 30 und 40 Grad.

In den Richtlinien von 2012 oder 2013 wurde anerkannt, daß sich jeder unter bestimmten Bedingungen in der Landwirtschaft betätigen darf, wenn er/sie dafür Schweiß und Tränen opfern will. Die kubanische Regierung arbeitet an einem Kataster, um das gesamte nutzbare Land zu erfassen. Das brachliegende Land wird seither mit allen Mitteln von Unkraut und Gestrüpp befreit, unter staatlicher Aufsicht, aber auch in Eigeninitiative.
Mit Hilfe vietnamesischer Spezialisten versucht Kuba, bei der Produktion von Reis – dem Hauptnahrungsmittel der Kubaner – so etwas wie genügende Eigenproduktion, also Importunabhängigkeit zu erreichen.

Da Kuba durch das USA-Handelsembargo schwer an notwendige Medikamente gelangte, hat es inzwischen eine beachtliche Pharmaproduktion vorzuweisen, die sowohl die einheimischen Bedürfnisse größtenteils deckt, als auch in den Export geht und Devisen in die Staatskasse spült.
Das System der Lebensmittelzuteilung durch die „Libreta“ wurde zwar eine Zeitlang in Frage gestellt, aber dennoch beibehalten. Die Zuteilungen über die Libreta halten zwischen einer Woche und 10 Tagen, den Rest des Monats müssen sich die Kubaner anders behelfen. Das gelingt jedoch irgendwie – in Kuba hungert bis heute niemand.

4. Die Kontinuität der sozialistischen Gesellschaft Kubas

Die Kommunistische Partei Kubas hat ihre alte Garde durch ein Auswahlsystem – durch interne Debatten und durch Wahlen in Gemeinden und Provinzen – erneuert und mit Miguel Diaz Canel einen neuen Präsidenten an die Spitze der Regierung gestellt. Es ist klar, daß auch dieser neue Präsident und die Partei nach wie vor vor Augen haben:
Die Kubaner sollen weiterhin alles erhalten, was sie zum Leben brauchen. Es mag sein, daß sie nicht im Überfluß leben und nicht die feinsten Nahrungsmittel zur Verfügung haben, aber fürs Sattwerden reicht es allemal.
Sie sollen keinen schädlichen Substanzen ausgesetzt werden, weder am Arbeitsplatz, noch durch die Ernährung. Sie sollen Zugang zu Bildung erhalten, und jeder soll sich seinen Interessen gemäß entfalten können.
Wer krank oder sonstwie behindert ist, für den wird alles getan, um damit umgehen zu können und sein Leben im Rahmen des Möglichen zu gestalten.

In Kuba gibt es ein Gesundheitssystem, das nicht nur für die Kubaner alles zur Verfügung stellt, was für den Erhalt der Gesundheit nötig ist.
Kuba stellt auch eine Brigade für weltweite Katastrophen zur Verfügung, die stets vor Ort ist, wenn Hilfe nötig ist: Beim Erdbeben in Haití, bei der Bekämpfung des Ebola-Virus in Afrika, und bei vielen anderen Notlagen rund um die Welt. Diese Leistung der kubanischen Ärzte und Pfleger wird in den Medien kaum gewürdigt.
Außerdem bildet Kuba seit Jahrzehnten Ärzte aus für viele Länder der Welt, die nicht mit ausreichenden Mitteln und Ressourcen gesegnet sind. Viele Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas verfügen nur deshalb über eine – wenngleich für die Bedürfnisse der Bevölkerung sicher unzureichende – medizinische Versorgung, weil manche ihrer Bürger auf der Insel der Jugend in Kuba dafür ausgebildet wurden.
Man kann als Beobachter der Politik Kubas nur eines sagen:

Gut so, Leute!
Weiter so!
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Siehe auch:
Nachrufe auf einen Revolutionär: FIDEL CASTRO RUZ, 1926 – 2016

Ein neuer Mann in Kuba: LATEINAMERIKA, EINE NEBENFRONT
Radiosendung zu Kuba (Gespräch mit Mike Wögerer von der österreichisch-kubanischen Gesellschaft), Dezember 2018
https://cba.fro.at/388407
https://cba.fro.at/390293
https://cba.fro.at/391776

Die Verdummung und Verhetzung der Bevölkerung durch die Medien

ÜBERBLICK 3.11. 2018
Die heutigen Abendnachrichten im ORF hatten es an sich.
1. Der 12-Stunden-Tag in Österreich
Erst wurde darüber berichtet, daß der inzwischen in Österreich legale 12-Stunden-Arbeitstag und die 60-Stunden-Woche zu „Mißbrauch“ führt und gegen „schwarze Schafe“ gesetzlich vorgegangen werden soll. Das gaben die Häupter der Regierungskoalition kund.
Die Gewerkschaften kündigten Protestaktionen – in Form von Demos – an und verlangten, daß „der 12-Stunden-Tag neu verhandelt“ werden müsse.
Daß – in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit – die in Arbeit Stehenden ausgequetscht werden, wie eine Zitrone, ruft keinen Sturm der Entrüstung hervor.
Das ist beachtlich angesichts der Tatsache, daß seinerzeit – und auch lange danach – der 8-Stunden-Tag als große Errungenschaft gegen die Ausbeutung gefeiert wurde, daß es für seine Erkämpfung in zahlreichen Ländern zu Toten kam und daß die Regierungen selber anerkannten, daß eine solche Strapazierung der arbeitenden Menschheit den Erhalt – und die Benützung! – ihrer Bevölkerung gefährdete. Leute, die 12 Stunden von 24 arbeiten müssen, halten nicht lange. Die menschliche Physis gibt dergleichen nicht her. Das sind offenbar Wegwerf-Arbeitskräfte, deren Verschleiß inzwischen von der Politik in Kauf genommen wird, in der Überzeugung, daß für jeden kranken, invaliden oder toten Arbeiter sowieso ein paar weitere schon Schlange stehen, um an einen solchen tollen Arbeitsplatz zu kommen.
Gleichzeitig wird sich über „Facharbeitermangel“ beklagt und herumproblematisiert, wie es eigentlich dazu kommen konnte und wie dem beizukommen sei.
Die Gewerkschaften, also die institutionellen Vertreter der arbeitenden Menschheit, haben offensichtlich auch ihren Frieden mit der Vertretung der solchermaßen Benutzten gemacht. Sie fordern keine Rückkehr zum 8-Stunden-Tag, sondern wollen nur den 12-Stunden-Tag „neu verhandeln“.
Man merkt hier, wie staats- und kapitalnützlich diese Art von Interessensvertretung der Arbeiterschaft ist, die zwar alles Mögliche vertreten mögen, – die Interessen der arbeitenden Menschen jedenfalls nicht. Ihnen ist nur wichtig, die Arbeiterschaft ruhigzustellen und mit Alibi-Aktionen bei der Stange zu halten. Hauptsache, sie werden von der Staatsführung weiter – als Kontrollorgan über die Arbeiter – als Institution und Verhandlungspartner anerkannt. Alle Aktionen, die sie starten, dienen einzig und allein diesem Zweck. Gegen Ausbeutung haben sie auf jeden Fall nichts – die ist vielmehr die Geschäftsgrundlage dieser „Arbeitnehmervertreter“.
Die hochoffizielle Drohung von Kurz und Strache, gegen „schwarze Schafe“ vorzugehen, versetzt in der Unternehmerschaft niemanden in Angst und Schrecken. Wenn die Ausnutzung eines Beschäftigten 12 Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche legal ist, worin soll denn dann bitte der „Mißbrauch“ bestehen? Diese Regelung wurde doch getroffen, um sie zu nutzen!
Österreich will sich hier sichtlich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Staaten verschaffen, die strengere Arbeitsrecht-Vorschriften haben.
Wer nichts hat im Kapitalismus, ist heute mehr angeschmiert denn je. Haben Leute keine Arbeit, so werden sie medial als „Sozialschmarotzer“ beschimpft und von den Behörden drangsalisiert.
Haben sie jedoch einen Job, so müssen sie sich benützen lassen bis zum Umfallen.
Darin sind sich offenbar Staat, Unternehmer und Gewerkschaften, zumindest in Österreich, einig.
Leider gibt es noch einige ärgerliche Beispiele, daß man auch anders kann.
2. Großbritannien verabschiedet sich vom Sparkurs!
Der britische Finanzminister verkündet, daß Großbritannien die Sparerei nicht als Königsweg betrachtet und fest in den Sozialstaat investieren wird.
Gesundheitswesen, Bildungssektor und Soziales sollen ordentlich Kohle bekommen. Außerdem wurden Steuererleichterungen für alle Bevölkerungsschichten ins Auge gefaßt.
Großbritannien hat eine eigene Währung, es kann sich dergleichen Schritte leisten.
Unerhört!
Die wollen die EU verlassen und gleichzeitig in den Sozialstaat investieren! Obwohl hierzulande und EU-weit doch überall herumtrompetet wird, daß das nicht geht und „wir“ uns das nicht leisten können!
Und diese unverschämten Italiener das auch machen wollen und damit den Euro gefährden!
Sowohl Nachrichtensprecher als London-Korrespondentin ergingen sich in unverhüllten Drohungen, daß das nicht gutgehen kann und die Briten für den Brexit fest zahlen werden müssen. Der Brexit wird teuer! Das nächste Sparpaket kommt auch in GB ganz sicher!
Der Ärger war unverhüllt, daß die britischen Politiker praktisch machen können, was sie wollen, und nicht an EU- und Euro-Vorgaben gebunden sind.
Ebenfalls ärgerlich ist, daß die EU kaum etwas in der Hand hat, um diese Drohungen gegenüber GB wahrzumachen. Die EU ist auf den britischen Markt und die City nach wie vor angewiesen.
Sogar der Labour-Führer Corbyn, der sonst als Schreckgespenst verwendet wird, weil er eine Kritik am derzeitigen Verhältnis von Kapital und Arbeit hat (oder zumindest zu haben vorgibt), wurde als Kritiker dieses Budgetplans präsentiert.
Da ist es dann schon gleichgültig, daß er die wohltuende Wirkung dieser Maßnahmen anzweifelte. Corbyn meinte, es würde nicht genug in die Gesellschaft investiert, sondern immer noch zu viel gespart. Er hatte also die umgekehrte Kritik der ORF-Fuzis. Sie meinten: Viel zu viel! Er meinte: Viel zu wenig!
Als dritten Punkt brachten die Nachrichten, grün vor Neid, eine Meldung über den Erfolg Chinas.

3. Chinas Weg zur Marktwirtschaft – ärgerlich bis zum Geht-Nicht-Mehr

China feiert seine Reformen zur Marktwirtschaft als eine einzige Erfolgsgeschichte, und ehrt Deng-Hsiao-Ping als deren Initiator.
Gezeigt wurde die Metropole Shenzen – am Festland neben Hongkong –, eine moderne Riesenstadt mit vielen Wolkenkratzern. Dort nahmen die marktwirtschaftlichen Reformen ihren Anfang, zunächst als Experiment. Heute ist es eine der vielen Boom-Regionen Chinas.
Zufriedene junge Chinesen wurden interviewt, die meinten, bei ihnen ist alles ganz super. Dauernd entstehen neue Unternehmen, und kommen gut voran.
Der Korrespondent vor Ort gab am Schluß zum Besten: wirtschaftliche Reformen schön und gut, und daß sie erfolgreich waren, wollte er auch nicht so recht beanstanden. Die Marktwirtschaft in China ist 1A. Was will man denn dagegen sagen? Aber wo bleibt die politische Reform?! Sie sucht man vergebens!
Man fragt sich, was die Politiker in China denn reformieren sollten, wenn ohnehin alles gut läuft?
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Ich hoffe, daß es vielen Betrachtern dieser Nachrichtensendung so gegangen ist wie mir: Daß ihnen die Galle hochgekommen ist
1. gegen dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, wo die arbeitende Menschheit ausgequetscht wird bis sie umfallt,
2. gegen die Politiker, die dieses System verwalten,
3. gegen die Gewerkschaften, die dem – kritisch, aber doch – ihren Segen geben, und
4. gegen die medialen Herolde, die die Ausnutzung und Verarmung der Bevölkerung gut und selbstverständlich finden, und mit der eigenen Gewalt einen Schulterschluß machen gegen Staaten, die es anders machen – oder das Gleiche machen, aber erfolgreicher.
Das ist nämlich nicht nur nieder-, sondern auch kriegsträchtig.

Pressespiegel: El País, 24.10.

DIE TÜRKEI NÜTZT DEN FALL KASHOGGI, UM SAUDI-ARABIEN GEGENÜBER AN EINFLUSS ZU GEWINNEN
Andres Mourenza
Eine der Fragen, die angesichts des Falles Kashoggi hinter den Kulissen debattiert werden, ist die der Machtverhältnisse im Nahen Osten, wo die Türkei die Führungsrolle gegenüber anderen Mächten beansprucht, die diese traditionell innegehabt haben, wie dem Iran, Ägypten und vor allem Saudi Arabien. Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat ihre Arme für die Dissidenten dieser Länder geöffnet, während bei sich zu Hause innerhalb der letzten 2 Jahre 60 000 Personen unter der Anklage der Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen im Gefängnis gelandet sind, darunter 150 Journalisten.
Am 8. Oktober, nach 6 Tagen ohne Nachrichten vom saudischen Journalisten Jamal Kashoggi, und angesichts der Hypothese einer möglichen Ermordung, versammelten sich Mitglieder verschiedener Vereinigungen vor dem Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul. Sie verlangten rechtliche Schritte. Da waren ägyptische Anwälte, syrische Journalisten, irakische und libysche Aktivisten und auch die jemenitische Nobelpreisträgerin Tawakul Kerman. Für sie alle bedeutete nämlich das Verschwinden Kashoggis nicht nur den Verlust eines Freundes und einer Person gewissen Bekanntheitsgrades, sondern erzeugte auch Ängste, daß die Tentakel derjenigen autoritären Regimes, denen sie entkommen waren, sie auch im Exil erreichen könnten.
„Obwohl die türkische Regierung gegen ihre eigene Opposition mit seit Jahrzehnten nicht gekannter Härte vorgeht, hat sie Dissidenten aus dem Nahen Osten mit einer politischen oder religiosen Profilierung willkommen geheißen“, erklärt Aaron Stein vom Think Tank Atlantic Council.
„Bis in die 90-er Jahre ließen sie (Regimekritiker aus dem Nahen Osten) sich in Paris, London oder den USA nieder, weil diese Staaten eine Politik der Offenen Tür gegenüber Dissidenten in den Tag legten. Aber die seit 2 Jahrzehnten geführten Debatten um die Migration haben es sehr erschwert, sich dort niederzulassen. Es ist inzwischen sogar sehr schwierig, irgendeinen Oppositionellen aus dieser Weltgegend zu einer Konferenz nach London oder Washington einzuladen, aufgrund des verschärften Visa-Regimes“, versichert Mohammed Okda, Politberater aus Ägypten und persönlicher Freund Kashoggis. „Die Türkei hingegen ist in Sachen Aufenthaltsgenehmigung sehr großzügig, und angesichts einer wachsenden arabischen Bevölkerung ist es leichter, sich in einem ohnehin muslimischen Land zu integrieren.“
Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten nimmt die Türkei die uigurische Diaspora auf, die eine verwandte Sprache spricht, trotz des guten Verhältnisses zwischen Ankara und Peking. Ebenso geben sich Oppositionelle aus Zentralasien und dem russischen Kaukasus in der Türkei ein Stelldichein. Im Osten, in Van ist es nicht schwierig, politische oder religiöse Flüchtlinge aus dem Iran zu treffen. Was sich seit dem Regierungsantritt Erdogans verstärkt hat, sind die Beziehungen mit Oppositionellen aus dem arabischen Raum, vor allem nach dem gescheiterten „Arabischen Frühling“, den die Türkei zu nutzen versuchte, um an Einfluß zu gewinnen, indem sie sich als Modell für eine Umgestaltung präsentierte.
„Die alten Kolonialmächte sind mehr an Stabilität interessiert, und deshalb haben sie oft die Autokraten des Nahen Ostens unterstützt. Erdogan hingegen hat sich in dieser Region als Beschützer der Schwachen dargestellt, was ihm in den arabischen Gassen viel Bewunderung eingebracht hat“, fügt Okda hinzu. Seit dem Anfang des „Arabischen Frühlings“ haben sich Vertreter der Muslimbrüder verschiedener Länder in Istanbul die Klinke in die Hand gegeben, und auch mit Regierungsvertretern verhandelt, und als er scheiterte, nahm die Türkei diejenigen auf, die vor Verfolgung flüchteten. Weiters hat die Syrische Nationale Koalition, eine Dachorganisation von Gegnern des Assad-Regimes, ihren Sitz in Istanbul. Andere türkische Städte in Grenznähe zu diesem kriegsgeschüttelten Land haben Anführer diverser Rebellenfraktionen aufgenommen.
Der türkische Islamismus hat andere Wurzeln als derjenige der Muslimbrüder und unterscheidet sich von ähnlichen Strömungen durch Betonung auf dem nationalen Interesse. Vor 2 Jahren erklärte mir der Experte Rusen Çakir, daß die türkischen Islamisten zwar Wert auf die muslimische Umma (Gemeinschaft) legen, aber bitte unter ihrer Führung, im Anklang an das seinerzeitige Osmanische Reich. Diese Idee findet sich auch in den Äußerungen Erdogans. Zuletzt betonte er am 15. Oktober: „Die Türkei ist das einzige Land, das die islamische Welt anführen kann.“
Im Wechsel der Verbündeten (…) hat die Türkei in jüngerer Vergangenheit Partei gegen das Ägypten Marschalls Al Sisis ergriffen, nimmt Anhänger des gestürzten Präsidenten Morsi auf und erlaubt ihren Radioprogrammen, aus Istanbul zu senden. Katar hat es gegen die von Riad angeordnete Blockade verteidigt.
(Darin ist die Unterstützung für Katar sehr verkürzt zusammengefaßt. Die türkische Regierung hat eine Luftbrücke zur Sicherstellung der Versorgung mit Katar errichtet und eigenes Militär hingeschickt, um Saudi-Arabien von einem Einmarsch abzuhalten. Ohne die Türkei hätte Katar das nicht durchgestanden.)
Die Beziehungen zu Saudi-Arabien haben sich seit dem Aufstieg des Kronprinzen Mohammed Bin Salman und dessen aggressiver Außenpolitik verschlechtert. Im Zuge dessen kam es zur engen Verbindung mit Ägypten und den Vereinigten Emiraten, mit denen die Türkei seit geraumer Zeit über Kreuz ist. Dort machte übrigens – ganz zufällig – die 15-köpfige Truppe der vermutlichen Kashoggi-Mörder eine Zwischenlandung bei ihrer Rückkehr nach Riad in 2 Privatflugzeugen.
„Der Nahe Osten hat sich in einen Dschungel verwandelt, in dem jedes Land nach Mitteln zur Gewinnung von Einfluß sucht. Und die Türkei nutzt den Fall Kashoggi, um zu zeigen, daß sie Macht hat und viel bewirken kann“, meint Ilke Toygur, eine türkische Mitarbeiterin des Real Instituto Elcano. Ein Ziel der türkischen Regierung, die an die Medien Details über seine Ermordung durchsickern ließ, ohne sie offiziell zu behaupten, besteht darin, „den Druck auf die USA zu erhöhen, damit Washington Druck auf Saudi Arabien ausübt, um Bin Salman zu schwächen und Riad zur Änderung seiner Außenpolitik zu bewegen.
Während der jüngsten Krise hat Erdogan zweimal mit Salman Bin Abdulaziz, dem Vater von Prinz Mohammed telefoniert, und dadurch erreicht, daß die Angelegenheit jetzt von ihm gehandled wird. Er hat den vorher aggressiven Ton Riads gemildert und den Mord zugegeben. Falls sich die Türkei doch irgendwann mit der Version Saudi-Arabiens zufriedengeben sollte, so würde das bedeuten, daß Erdogan etwas dafür erhalten hat, politisch oder wirtschaftlich.
(Angeblich soll die kürzliche Erholung der türkischen Lira auf Interventionskäufe aus Saudi-Arabien zurückzuführen sein.)