Serie „Lateinamerika heute“. Teil 16: Brasilien 1

HINTERHOF-ÜBERGRÖSSE

1. Historisches

Brasilien verdankt seine Größe – es ist nach Territorium das 5-t-größte Land der Welt – einigen historischen Zufällen.

Der erste davon fand zur Zeit der Eroberungen im 16. Jahrhundert statt. Der von einem spanischen Papst vermittelte Vertrag, der die Welt in zwei Hälften teilte, sollte die überseeischen Beziehungen Spaniens im heutigen Lateinamerika gegen portugiesische Ansprüche absichern und letztere auf Afrika und Indien beschränken.

Die Linie ging so, wie sie festgelegt worden war, durch Südamerika. Damals, 1494, war jedoch das amerikanische Festland den Vertragsparteien unbekannt. Kolumbus hatte auf seinen ersten zwei Reisen nur Inseln der Karibik betreten. Erst auf seiner 3. Reise sichtete und betrat er das Festland im heutigen Venezuela. Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr im November 1500 hatten die Portugiesen bereits den Seeweg nach Indien entdeckt.
Außerdem, aber das stellte sich erst im nächsten Jahr, bei der Rückkehr einer anderen portugiesischen Flotte heraus, hatte diese einen Küstenstreifen des heutigen Brasilien entdeckt und in Besitz genommen.

Zunächst war die brasilianische Küste eher eine Nebenfront des portugiesischen Kolonialismus. Der Gewürzhandel mit Indien hatte Vorrang. Mit dem Aufkommen des Zuckerrohranbaus und des Sklavenhandels gewann die Gegend jedoch an Bedeutung. Auf der Suche nach Gold und nach Bevölkerung, die man versklaven konnte, drangen die portugiesischen Glücksritter, die Bandeirantes, weit ins Innere des Subkontinentes vor. An der Küste wurden in beide Richtungen Forts und Siedlungen angelegt, um die Kolonie gegen Korsaren und konkurrierende Kolonialmächte abzusichern. Die Ausdehnung des portugiesischen Einflußbereiches war auch beeinflußt von der Erschöpfung der Humanressourcen Spaniens, sein großes Territorium zu befestigen, verteidigen und verwalten. Schließlich waren es die Jesuiten, die mit ihren Siedlungen wie Wehrdörfer funktionierten und der portugiesischen Expansion Einhalt gboten.

Der zweite historische Zufall war die besondere Art, wie die Entkoppelung der Kolonie vom Mutterland von sich ging. Sie wurde nämlich nicht in langen und blutigen Heerzügen und Schlachten in unzugänglichen Gegenden bewerkstelligt, wie im Falle Spaniens, sondern von der Chefität selbst ausgerufen: Der von den französischen Truppen vom Thron gestoßene portugiesische Monarch entwich in die Kolonie und wertete diese durch seine Anwesenheit zum neuen Zentrum des Reiches auf. Später wurde dann noch ein Kaiserreich draus, was der Größe des Territoriums angemessen war und die dortige Oberschicht befriedigte. Separatismus und Kleinstaaterei, gar Staatsgründungskriege wie im restlichen Teil Lateinamerikas erübrigten sich daher.

Diese Übergröße war ein wichtiger Faktor im Verhältnis zu den USA, die Lateinamerika im Sinne der Monroe-Doktrin zu ihrem Hinterhof machten, anfänglich von Nord nach Süd und unter Hinausdrängung des britischen Empire.

Das daraus resultierende Spannungsverhältnis zwischen brasilianischen Präsidenten, die meinten, ihre große Nation sei zu Großem berufen und den USA, die meinten, jede brasilianische Ambition hätte an US-Interessen Maß zu nehmen, hat im 20. Jahrhundert drei von ihnen das Leben gekostet, Brasilien eine Militärdiktatur beschert und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes stark geprägt.

Sogar ein Präsident wir Jair Bolsonaro, der zu Beginn seiner Amtszeit sozusagen Liebkind der USA war, fiel bis zum Ende hin in Ungnade, weil er den Warenaustausch innerhalb des BRICS-Staatenbundes schätzte und nicht bereit war, sich wegen des Ukraine-Kriegs Sanktionen anzuschließen, die er als schädlich für Brasilien ansah.

2. Schwellenland

Brasilien gilt als klassisches Schwellenland, ähnlich wie andere seiner BRICS-Kollegen Indien und Südafrika.

Was ist mit diesem Begriff eigentlich ausgesagt? Um welche „Schwelle“ handelt es sich?

Gegenüber dem Begriff „Entwicklungsland“, der irgendwie die armen Hinterwäldler in Afrika, Asien oder der Karibik bezeichnet, die noch einen weiten Weg vor sich haben, soll es das Schwellenland weiter gebracht haben.

In beiden Fällen werden jedoch die erfolgreichen Staaten Euroas und Nordamerikas als Ziel verstanden, zu dem sich andere hinbewegen sollten, sogar eigentlich in einer Art Geschichtsteleologie müssen. Es gibt kein Entrinnen, alle müssen sich zu marktwirtschaftlich begründeten Konkurrenzgesellschaften wandeln, dann dürfen sie sich auch an den gedeckten Tisch setzen – so die Vorstellung, die die Grundlage von Begriffen wie Entwicklungs- und Schwellenland ist.

Macht schön, was der IWF und ähnlich gelagerte Institutionen und unsere diversen „Berater“ euch sagen, und dann kommt ihr auch so weit – das ist die Vorstellung, mit der diese Staaten und ihre Regierungen „im globalen Süden“, wie sie inzwischen heißen, im Grund schon seit 1945 am Gängelband gehalten werden.

Klappt es nicht, so sind sie selber schuld, weil ihre Bevölkerung lernunfähig ist, ihre Eliten korrupt und geldgierig, und so weiter.

Klappt es aber einmal schon, wie bei China – so ist es auch nicht recht und der glücklich im Entwicklungsparadies angekommene Kandidat wird als Spielverderber und Bösewicht schlecht gemacht, der sich nicht an die Regeln gehalten hat.

Die ewigen Schwellenländer sind dem Wertewesten weitaus lieber, weil sie sind klein genug, um weiter nach der Entwicklungs-Karotte zu schnappen, und groß genug, daß man mit ihnen gute Geschäfte machen kann.

Der Zusammenschluß von solchen Staaten mit Rußland und China ist den USA und Europa überhaupt nicht recht. Das war der Grund für das Mißtrauensvotum, das die Regierung von Dilma Rousseff gestürzt hat, und die Unterstützung des Sieges von Bolsonaro.

Bis dahin war aber ein holpriger Weg.

Fortsetzung folgt: Der Weltmarkt

Pressespiegel El País, 5.3.: Griechenland erntet die bitteren Früchte der Kürzungen im öffentlichen Dienst

KOSTEN DER EURORETTUNG

„Das Zugunglück in Tempe am Dienstag – die größte Eisenbahntragödie in der griechischen Geschichte, bei der 57 Menschen ums Leben kamen – hat den prekären Zustand der griechischen öffentlichen Dienste deutlich gemacht.
Gewerkschaften und Opposition führen die Verschlechterung auf mehr als ein Jahrzehnt Sparpolitik zurück. Die konservative Regierung von Kyriakos Mitsotakis hingegen definiert sie als „chronische Pathologien“.

Griechenland wurde ganz offiziell gezwungen, von 2010 bis August 2022 Sparmaßnahmen zu ergreifen.
2009, nachdem die wichtigsten Ratingagenturen das Schuldenrating des Landes herabgestuft hatten, brach der Athener Aktienmarkt ein. Im Jahr 2010, kurz vor dem Bankrott, nahm das Land einen Kredit der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds (IWF) an, als Gegenleistung dafür, dass die griechische Regierung eine harte Sparpolitik und tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben anwendet.
Zur Überwachung der Anpassungen wurde die als Troika bekannte Gruppe gebildet, die sich aus der Europäischen Kommission, dem IWF und der Europäischen Zentralbank zusammensetzte. (…) 2012 einigte sich die griechische Regierung mit der Troika darauf, 15.000 Beamte zu entlassen, um Zugang zur 2. Finanzrettung zu erhalten. Die Schulden wuchsen weiter.

Soziale Unzufriedenheit führte im Januar 2015 zum Sieg der linken Formation Syriza, die versprach, die Sparpolitik zu beenden und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen rückgängig zu machen.
Syriza hat sich in Folge nicht nur geweigert, die Privatisierungen zu reduzieren oder rückgängig zu machen, sondern unterzeichnete nur sechs Monate nach dem Wahlsieg das 3. Rettungspaket. Im Rahmen desselben kürzte sie weiter Löhne und Renten und schloss Privatisierungen wie die des Hafens von Piräus, dem wichtigsten des Landes, oder der öffentlichen Eisenbahngesellschaft TrainOSE, heute Hellenic Train, ab.
Die Rettungspakete wurden 2018 beendet, aber bis 2022 unterlag Griechenland einer »verstärkten Überwachung« durch die Europäische Kommission.

Nach der Eisenbahntragödie von Tempe haben die Gewerkschaften des Sektors zahlreiche interne Mitteilungen veröffentlicht, in denen sie davor gewarnt hatten, dass der schlechte Zustand der Infrastruktur die Sicherheit von Arbeitern und Reisenden gefährdet.
Der Fernsehsender Open TV hat enthüllt, dass die Geschäftsführung der Hellenic Train damit gedroht hat, die Vertreter der griechischen Zugführer-Gewerkschaft, die sich aus Lokführern zusammensetzt, wegen Verleumdung anzuzeigen.
Diese Gewerkschaft hatte am 31. Oktober des Vorjahres ein außergerichtliches Verfahren gefordert, um von der Unternehmensleitung »die sofortige Wiederherstellung der seit Jahren verschlechterten Bahninfrastruktur, Fernsteueranlagen, Lichtsignale und Netzsicherheit« zu fordern, um durch diese Maßnahmen die »Gesundheit und Sicherheit« der Arbeitnehmer zu gewährleisten.
Die Unternehmensleitung erklärte, die Vorwürfe seien verleumderisch und die Urheber der Vorwürfe hätten mit Konsequenzen zu rechnen.

Der Ingenieur Athanasios Ziliaskopoulos wurde von der Regierung als Mitglied des Expertenkomitees ausgewählt, das die Ursachen des Tempe-Unfalls untersuchen soll. Syriza als Oppositionspartei hat in einer Erklärung darauf hingewiesen, dass eine solche Ernennung »ein Hohn ist«, weil Ziliaskopoulos im Zeitraum 2010-2015 Vorstandsvorsitzender von“ (der damals staatlichen Eisenbahngesellschaft) „TrainOSE war – das heißt, als das Unternehmen seinen Privatisierungsprozess mit dem Verkauf von 49% seiner Vermögenswerte begann. Anschließend leitete der Ingenieur das TAIPED (»Verwertungsfonds für das öffentliche Privatvermögen«, das Gremium, das das Privatisierungsprogramm in Griechenland verwaltet).
Allerdings wird aus dem Schreiben von Syriza auch klar, dass die Privatisierung von TrainOSE, obwohl sie 2010 begann, 2016 abgeschlossen wurde, also als die Linkskoalition regierte.“

Syriza war also genauso an dieser Privatisierung beteiligt, oder sogar in wichtigerer Position, als der ominöse Ingenieur, der jetzt offenbar zwecks Verwischens von Spuren eingesetzt wird.

„Die Bahngewerkschaften behaupten, unter Ziliaskopoulos sei beschlossen worden, daß die Bahngesellschaft keine »Fernleitzentrale« bauen werde – d.h., ein Bahnverkehrs-Aufsichtsamt, das die ETCS-Technologie (European Traffic Control System) integriert, ein automatisiertes System, dessen Ziel es ist, den Verkehr vor möglichen menschlichen Fehlern zu schützen.“

Es wäre ja nicht nur mit einem Bau einer solchen Zentrale getan gewesen. Jede einzelne Zugstrecke und jeder einzelne Bahnhof hätte damit verbunden werden müssen.

„Obwohl Griechenland und die Europäische Union 20 Millionen Euro für die Modernisierung der Züge und des Acharnes Railway Center (dem wichtigsten Eisenbahnknotenpunkt in der Nähe der Hauptstadt) ausgegeben haben, wurde ein solches Leitsystem nie in Betrieb genommen.“

Es wurde ja auch, wie dem Artikel zu entnehmen ist, nie installiert.

„Als Konsequenz, so die Version der Gewerkschaftsvertreter, seien die Bahnhofsvorstände gezwungen worden, manuell mit Funkgerät, Papier und Kurbel zu arbeiten – am sogenannten „Nullpunkt“, wo sich die internationalen Linien mit Nahverkehrszügen kreuzen.“

Angesichts solcher Zustände fragt man sich, was mit diesen 20 Millionen geschehen ist, die angeblich in das Zugssystem investiert worden sind?

Ähnlich sieht es in anderen Abteilungen des öffentlichen Sektors aus:

„Im Januar 2019 gab der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, zu, Griechenland »gedankenlose Sparmaßnahmen« aufgezwungen zu haben. »Wir haben Griechenland unzureichend unterstützt«, erklärte er vor der Plenarsitzung der Eurokammer. Drei Jahre später verkündet die Lehrerin Tsiftsi dem Korrespondenten von EL País: »Es gibt keine gute Bildung, es gibt keine guten Krankenhäuser, es gibt keinen sicheren Transport … Das Einzige, was wir in diesem Land haben, sind die Menschen. Wenn wir überleben, ist es pures Glück.«“

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„Der Hellenic Republic Asset Development Fund (=TAIPED) schrieb Anfang 2016 TrainOSE zum Verkauf aus. Am 14. Juli 2016 gab die Privatisierungsbehörde bekannt, das einzige vorliegende Gebot, das der italienischen Staatsbahn Ferrovie dello Stato Italiane, in Höhe von 45 Mio. Euro, anzunehmen. Am 18. Januar 2017 wurde der Verkaufsvertrag unterschrieben. Der Eigentumsübergang erfolgte zum 14. September 2017. Zum 1. Juli 2022 erhielt das Unternehmen den neuen Namen Hellenic Train.“
(Wikipedia, Hellenic Train)

Bei denen italienischen Staatsbahnen, was man so liest, sind die Zustände ähnlich. Die Privatisierung diente also nur dem Schuldendienst für Griechenland und verschaffte den italienischen Staatsbahnen eine zusätzliche Adresse für Stützungen aus der EU, die dann entweder in Verwaltungskosten oder ins laufende Geschäft (notwendigste Reparaturen) oder in private Taschen gesteckt werden konnten.

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Erinnerung an ein anderes Zugsunglück mit noch mehr Toten, auch „made in EU“:

Zeit ist Geld – Geschwindigkeit als Geschäftsmittel: DIE MOBILITÄT UND IHR PREIS

Hier kommen auch noch Geschäftskalkulationen hinzu, aber die Parallelen bei der „Bewältigung“ sind unübersehbar: Dort soll der Lokführer, hier der Bahnhofsvorstand verantwortlich gemacht werden, damit weder die Geschäfts- noch die Sparkalkulationen ins Visier geraten.