Staat und Revolution, Teil 11

V.4. Die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft
Lenin zitiert wieder Marx:
„In einer höhern Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“
Diese Sätze aus der „Kritik des Gothaer Programms“, die Lenin hier einstreut wie ein Pfarrer ein Bibelzitat in der Sonntagspredigt, sind einer näheren Befassung wert.
Erstens: Was soll man sich vorstellen unter „knechtische Unterordnung unter die Teilung der Arbeit“? Der eine macht Schuhe, der nächste baut Rüben an und der dritte schreibt ein Buch. Was ist daran „knechtisch“? Wenn das nicht zum Broterwerb geschieht, sondern weil es den Leuten Spaß macht? Und wie und warum wird diese Unterordnung im Kommunismus aufgehoben?
Und was hats auf sich mit dem Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit? Worin besteht der? Man wird ja noch fragen dürfen.
Man könnte vielleicht gutwillig meinen, Marx will damit andeuten, daß jeder das macht, was ihm Spaß macht und trotzdem genug für alle da ist, also genügend produziert wird.
Aber warum muß dann Arbeit „das erste Lebensbedürfnis“ werden? Warum nicht, sagen wir einmal, Sex, oder Musizieren, oder Kochen?
Was soll man sich darunter vorstellen, daß „mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte“ wachsen? Meint Marx damit, daß jeder lauter nützliche Dinge erfindet, die Arbeit sparen?
Es kann ja sein, daß an dem allen was dran ist, das bedürfte jedoch einer näheren Ausführung, die Marx verständlicherweise nicht gemacht hat, weil er ja nicht damit rechnete, was für eine Karriere dieser Brief an Wilhelm Bracke einmal in der Theoriengeschichte machen würde.
Lenin hält es natürlich auch nicht für nötig, hier etwas zu erläutern, er meint, der Kommunismus und Freiheit und alles Schöne und Gute kommt ohnehin notwendig von selbst, da Marx das ja so vorausgesagt hat.
Lenin wird im Folgenden etwas konkreter:
„Die ökonomische Grundlage für das vollständige Absterben des Staates ist eine so hohe Entwicklung des Kommunismus, daß der Gegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit verschwindet, folglich eine der wichtigsten Quellen der heutigen gesellschaftlichen Ungleichheit beseitigt wird, und zwar eine Quelle, die durch den bloßen Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum, durch die bloße Expropriation der Kapitalisten keinesfalls mit einem Schlag aus der Welt geschafft werden kann.“ (110)
Wir wissen jetzt immer noch nicht, worin der Gegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit besteht, aber die gute Nachricht ist, daß er verschwinden soll. Er soll eine „Quelle der Ungleichheit“ sein. Was heißt das? Was ist verkehrt an „Ungleichheit“? Die Menschen sind verschieden, der eine macht das, der andere jenes. Das Rätsel wird durch das Vokabel „gesellschaftlich“ nicht beseitigt. Im Kapitalismus mag es so sein, daß eine Arbeit besser, die andere schlechter bezahlt wird. Ergibt sich daraus ein „Gegensatz“? Und wenn ja, muß der nach einer Revolution weiter bestehen? Das würde voraussetzen, daß der Gegensatz, was immer er sein mag, in die postrevolutionäre Gesellschaft „mitgenommen“ wird.
Und schließlich, die immer gleiche Rechtfertigung für alles du jedes: Alles, was man anstrebt, ginge nicht „auf einen Schlag“. Ja, wie bitte denn sonst?! Entweder man schafft eine neue Gesellschaft, oder man läßt es bleiben!

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