Imperialismus heute, Fortsetzung, 30.12.

DIE KONKURRENZ DER NATIONEN VOR DEM HINTERGRUND DES CORONAVIRUS
Wer macht die bessere Figur und kann die Schwäche der anderen für sich nützen?
Impfstoff und Einflußsphären, ein ganz neues Kapitel in der imperialistischen Auseinandersetzung.
Hier wurde wieder eine neue Pinnwand fällig, ich habe auch die letzten beiden Posts hierher übertragen.

214 Gedanken zu “Imperialismus heute, Fortsetzung, 30.12.

  1. Moskau hat andere Prioritäten
    Fall Nawalny: Russland weist politische Motivation hinter Ermittlungen gegen Oppositionellen zurück
    Moskau weist Spekulationen zurück, dass die Ermittlungen gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny politisch motiviert seien. Das erklärte der Sprecher des russischen Präsidialamtes, Dmitri Peskow, laut der Nachrichtenagentur TASS am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Moskau.
    Ein Journalist hatte zuvor angemerkt, dass es »schwierig« sei, die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Nawalny »nicht politisch« zu nennen. »Warum ist das schwierig?« fragte Peskow. »Diese Angelegenheit hat in keiner Weise Priorität. Es gibt da für uns nichts zu kommentieren, also würden wir es auch im weiteren gerne nicht mehr kommentieren.« Präsident Wladimir Putin sei über die Vorgänge allerdings informiert.
    Am Dienstag hatten die Justizbehörden in Moskau mitgeteilt, dass gegen den Blogger Nawalny wegen Betrugs strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden seien. Ihm wird die Veruntreuung von 356 Millionen Rubel (rund 3,9 Millionen Euro) an Spendengeldern vorgeworfen, hieß es.
    Nawalny habe von Bürgern eingesammelte Gelder »gestohlen«, erklärte ein für die Untersuchung besonders schwerwiegender Gesetzesverstöße zuständiges Komitee der Staatsanwaltschaft. An seine »gemeinnützigen« Organisationen geflossene Spendengelder habe Nawalny unter anderem für Urlaube im Ausland und den Erwerb persönlichen Eigentums verwendet. Dabei handelt es sich den Angaben zufolge vor allem um Vereinigungen zur Bekämpfung von Korruption und zum Schutz der Menschenrechte.
    Der Oppositionelle befindet sich derzeit nach einem mutmaßlichen Giftanschlag im August in der BRD. Er wirft der russischen Regierung vor, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Die EU hat den Vorfall zum Anlass genommen, Strafmaßnahmen gegen Moskau zu verhängen. Diese wurden von der russischen Regierung mit Gegensanktionen beantwortet.
    Zu den Anschuldigungen der russischen Justizbehörden erklärte Nawalny, diese seien »von Putin erfunden« worden. Er habe bereits zuvor darauf hingewiesen, dass die russische Regierung versuchen werde, ihn ins Gefängnis zu werfen, da er nach dem Giftanschlag nicht gestorben sei, schrieb der 44jährige im Kurznachrichtendienst Twitter. Seine Anhänger rief Nawalny auf, weiter an seine Organisationen zu spenden und sich auf diese Weise über die Justizermittlungen »lustig zu machen«.
    Auf die Frage, was der russische Staatschef über die Angelegenheit denke, sagte Peskow am Mittwoch: »Wladimir Putin ist das gleichgültig.« Der Präsident kümmere sich um »die Ziele, die vor ihm und der Regierung stehen«. (AFP/jW)
    Diskrete Knete
    Ukraine wird zum Rückzugsraum für belarussische Nationalisten
    Von Reinhard Lauterbach
    Der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, liebt Waffen, reale und metaphorische. Schon Anfang dieses Jahrhunderts warf er seinen von diversen EU-Staaten gesponserten und damals noch ziemlich handzahmen Opponenten vor, sie sprächen von Demokratie, hätten aber »die Kalaschnikow unterm Bett«. Insofern war es im Prinzip nichts Neues, als der Staatschef am Freitag eher beiläufig erklärte, die Sicherheitsdienste des Landes hätten eine »Terrorgruppe« festgenommen, die »tonnenweise Waffen und Munition aus der Ukraine« ins Land geschafft und Anschläge verübt habe. Das Dementi aus Kiew kam noch am selben Tag: Der Sprecher des Außenministers twitterte, das seien »Unterstellungen«, mit denen Lukaschenko die belarussische Bevölkerung in Angst halten wolle. Die Ukraine sei »kein Feind von Belarus«, so der Sprecher abschließend.
    Tatsache ist: Teile der belarussischen Opposition gehen seit einiger Zeit zu militanten Aktionen über, die auch Menschenleben gefährden. Seit Oktober wurden mehrfach Wohnhäuser und Autos von Polizeibeamten durch Feuer zerstört, ebenso eine Polizeiwache und andere Amtsgebäude. Bei einer Polizeiaktion im Gebiet Grodno wurde Anfang Dezember auch der Aktivist Nikolai Awtuchowitsch festgenommen, ein Mann mit bewegter Vergangenheit. Zu sowjetischen Zeiten Berufssoldat und dekorierter Afghanistan-Kämpfer, betrieb er nach 1991 diverse Geschäfte, wurde aber einmal wegen Steuerhinterziehung, einmal wegen illegalen Waffenbesitzes inhaftiert. Nach der zweiten Haftstrafe ging er offenbar in den Untergrund, zumindest trat er nicht öffentlich in Erscheinung. Trotzdem soll er nach Recherche des ukrainischen Portals strana.ua häufig in Polen und Litauen gewesen sein – wurde also offenbar nicht verfolgt. In dieser Zeit muss er in Kontakt mit der »Jungen Front« getreten sein, der Jugendorganisation der die profaschistischen Kollaborateure der Kriegszeit verherrlichenden »Nationalen Front«.
    Schon Ende 2018 kündigte er in einem Posting an, er arbeite »unter voller Konspiration« an »seinen Plänen zur Liquidierung des Regimes«. Ohne Gewalt werde es nicht gelingen, Lukaschenko zu stürzen. Rund um die Präsidentschaftswahl kritisierte er im Sommer die »Latschdemos« der Opposition, die nur dazu dienten, die Lukaschenko-Gegner zu erschöpfen und dem Staat das Protestpotential offenzulegen. Den »drei Damen« Swetlana Tichanowskaja, Marija Kolesnikowa und Weronika Zepkalo warf er vor, im Auftrag des Kreml unterwegs zu sein. Der steuere die »friedlichen Proteste« aus dem Hintergrund, um Lukaschenko zur Integration mit Russland zu drängen.
    Doch was hat das mit der Ukraine zu tun? Zunächst nur soviel, dass mindestens einige hundert Oppositionsaktivisten aus Belarus sich seit dem Sommer in das Nachbarland abgesetzt haben. Inzwischen gibt es in Kiew mehrere »zivilgesellschaftliche« Organisationen wie das »Free Belarus Center«, das laut seiner Webseite Gelder von den Botschaften der Niederlande, Tschechiens und der USA erhält und dessen Chefin, Polina Brodik, vorher für eine Organisation aus dem Umkreis von George Soros tätig war.
    In diesem Umkreis wurden im Herbst auch Anhänger der militanten belarussischen Nationalisten aktiv. Sie gründeten im November eine »wohltätige Stiftung« namens »Belarussischer Maidan«, deren Leiterin Elena Wasiljewa sich als »gute Freundin von Awtuchowitsch« outete. Der Anhang der Stiftung scheint einstweilen noch überschaubar zu sein: Ihre Facebook-Seite weist aktuell knapp 300 Follower auf. Aber mehr braucht sie auch nicht, wenn sie ohnehin nur eine Geldsammelstelle für den rechten Untergrund sein soll. Ihr Spendenkonto ist jedenfalls professionell angelegt: getrennt für Einzahlungen in US-Dollar, Euro und ukrainischen Griwna bei der Priwat-Bank, die inzwischen dem ukrainischen Staat gehört. Mit – laut Webseite – Korrespondenzkonten bei der Commerzbank in Frankfurt am Main und J. P. Morgan in New York. Die diskrete Knete kann also fließen.
    Moskau wartet ab
    Russland ist offenbar nicht dazu bereit, wegen Nord Stream 2 einen großen Konflikt mit den USA zu riskieren
    Von Reinhard Lauterbach
    In den letzten Tagen des Jahres 2019 bekam die Schweizer Rohrverlegefirma Allseas Post aus den USA. Die beiden Senatoren Rafael Edward Cruz und Ronald Johnson forderten den Vorstand »im Guten« auf, sich trotz unterzeichneter Verträge aus der Verlegung der russischen Ostseepipeline Nord Stream 2 zurückzuziehen. Ansonsten würden die USA Maßnahmen ergreifen, um »den Aktienwert des Unternehmens zu vernichten« und die Verantwortlichen persönlich haftbar zu machen – wegen Verstoßes gegen neu verkündete US-Sanktionen im Zuge des »Gesetzes zur Verbesserung der Energiesicherheit Europas«. Für ein am Kapitalmarkt notiertes Unternehmen eine existenzbedrohende Gefahr. Allseas knickte ein und beorderte sein Verlegeschiff »Pioneering Spirit« noch Weihnachten in den Heimathafen zurück.
    Seitdem ruhen die Bauarbeiten weitestgehend. Der Termin für die Fertigstellung der Leitung, ursprünglich für 2019 angekündigt, dann für Ende 2020, wird jetzt für irgendwann im Laufe des kommenden Jahres erwartet. Wobei auch das nicht sicher ist. Und Russland hatte es auch nicht besonders eilig, die vollmundigen Ankündigungen etlicher Politiker aus der zweiten Reihe wahrzumachen, die Leitung jetzt eben mit eigenen Kräften fertigzubauen.
    Substanzlose Drohungen
    Zwar wurde im Februar ein russisches Rohrverlegeschiff in Richtung Ostsee in Marsch gesetzt. Doch die »Akademik Tscherski« lag zu diesem Zeitpunkt in ihrem Heimathafen an der russischen Pazifikküste. Die Fahrt um die halbe Welt bis nach Kaliningrad dauerte rund drei Monate, auch weil das Schiff den Suezkanal mied und statt dessen ganz Afrika umlief, stets – offenbar zur Absicherung gegen US-Kaperversuche, die in Moskau wohl nicht ausgeschlossen wurden – begleitet von Einheiten der russischen Marine. Als die »Tscherski« dann in Kaliningrad ankam, wurde sie – so die offizielle Version – erst einmal technisch umgerüstet. Ein weiteres russisches Verlegeschiff, die »Fortuna«, und zwei Transport- und Werkzeugschiffe dümpelten über Monate mehr oder minder untätig im Hafen von Sassnitz auf Rügen herum. Dort lagern im Ortsteil Mukran die bereits angelieferten Röhren, um die Leitung fertigzustellen.
    Aber nichts geschah, außer dass die maritime Sparte des Gasprom-Konzerns als Eigner der »Tscherski« das Schiff auf einen bisher im Ausland nicht in Erscheinung getretenen Investmentfonds mit Sitz in Samara umschrieb. Offenbar wollte sich Gasprom so aus der Schusslinie möglicher US-Sanktionen bringen. Die US-Senatoren Cruz und Johnson verschickten jedoch wieder Briefe, diesmal an die Stadt Sassnitz und die Landesregierung in Schwerin, beide gemeinsam Eigentümerinnen des dortigen Hafens. Auch ihnen drohten sie »vernichtende« Sanktionen an, wenn sie weiterhin den Pipelinebau unterstützten, und sei es nur, indem die Rohre an Bord eines der Schiffe verladen würden. Die Drohung war Kraftmeierei, denn wie sollten die USA einen Hafenbetrieb oder den Bürgermeister einer Kleinstadt auf Rügen sanktionieren? Sassnitz hat vermutlich keine Konten in den USA, und wenn, dann braucht sie sie nicht. Ebenso der Hafenbetreiber, solange er nicht auf die Idee kommt, etwa einen Hafen in den USA zu übernehmen.
    Die Drohungen sorgten ein paar Tage lang für ein wenig Aufruhr. Politiker aller Parteien empörten sich über eine »Verletzung deutscher Souveränität«, die doch »unter Verbündeten nicht vorkommen« dürfe. Auch die EU hatte andere Sorgen, als sich für ein Projekt einzusetzen, das dem Süden und Westen des Bündnisses egal ist, und das der osteuropäische Teil ihrer Mitgliedstaaten ohnehin ablehnt. Letzteres mindestens aus dem Motiv heraus, Russland ein Milliardengeschäft zu versalzen, im Falle Polens zusätzlich aber auch, weil das Land genau dasselbe vorhat wie die BRD mit dem russischen Gas aus Nord Stream 2: ein sogenannter Gasknotenpunkt werden, über den der über den Eigenbedarf hinaus gelieferte Rohstoff an Nachbarstaaten verkauft wird. Nur, dass Polen sein Geschäft mit dem Vertrieb von US-Flüssiggas in Osteuropa machen will.
    Europa am Zug
    Die Bundesregierung versuchte unterdessen – bisher ohne Erfolg –, die USA zu beschwichtigen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) bot seinem US-Kollegen Steven Mnuchin schriftlich an, den Markteintritt des US-Frackinggases zu subventionieren, indem der Bund 500 Millionen Euro zum Bau zweier Flüssiggasterminals an der Unterelbe und bei Wilhelmshaven beisteuere. Als Antwort kam gegen Jahresende eine neue Sanktionsrunde aus den USA, diesmal auch gegen Unternehmen, die die Bauarbeiten genehmigen, versichern oder nach deren Abschluss zertifizieren sollten. Erneut zog sich ein Partnerunternehmen aus Norwegen zurück. Andererseits wurde in der Endfassung des Sanktionsgesetzes der Passus gestrichen, dass etwa deutsche Genehmigungsbehörden Ziel von Sanktionen werden könnten.
    Ob Nord Stream 2 fertiggestellt werden kann, ist derzeit vor allem eine Frage des politischen Willens. Ob nämlich die Bundesregierung bereit ist, geltendes deutsches und EU-Recht gegen die über den Atlantik schallenden Sanktionsdrohungen zu verteidigen. Russland scheint sich inzwischen aufs Abwarten zu verlegen. Wladimir Putin sagte am vergangenen Donnerstag auf seiner Jahrespressekonferenz, er hoffe, dass die künftige US-Administration mehr Respekt vor den nationalen Interessen ihrer Verbündeten haben werde als die letzte, und dass Nord Stream 2 gebaut werden könne. Damit ist klar: Auch Putin legt das Schicksal der Pipeline in Joseph Bidens Hände. Beziehungsweise: Er fordert die europäischen Projektpartner auf, jetzt ihren Teil der Auseinandersetzung zu führen und sich nicht wegzuducken. Russland, so ließ Putin mit seiner Äußerung durchblicken, ist auch angesichts von neun Milliarden bereits in das Projekt versenkter US-Dollar nicht bereit, diesen Konflikt stellvertretend für die Europäer auszufechten.
    Hintergrund: Sanktionen am laufenden Band
    Nord Stream 2 ist nicht das einzige Projekt, gegen das die USA Sanktionen verhängt haben. Vor wenigen Tagen stellte das US-Handelsministerium eine Liste russischer Unternehmen auf, die angeblich in Verbindung zum russischen Militär stünden. Was daran aus ihrer Sicht schlimm ist, verschweigen die USA nicht: Die russischen Unternehmen hinderten US-Firmen, auf den Weltmärkten ihre Produkte zu verkaufen.
    So banal ist es: Ein exportierter russischer Panzer bindet in Drittstaaten Steuermittel, die – so Washingtons Logik – den USA zustünden. Jetzt wollen die USA gegen jene russischen Unternehmen »Exportauflagen« verhängen. Es fällt schwer, dabei ernst zu bleiben: Washington will die Kontrolle darüber ausüben, wem Russland etwas verkauft? Im Falle der Türkei und ihres Erwerbs russischer S-400-Flugabwehrraketen haben die USA und ihre Proteste sich gerade als Papiertiger erwiesen.
    Russland gelang das Kunststück, ernst zu bleiben. Die Agentur Interfax zitierte Kremlsprecher Dmitri Peskow mit der Aussage, es handle sich bei der Veröffentlichung der Liste um einen »weiteren feindseligen Schritt«. Es sei zu »bedauern«, dass die scheidende US-Regierung die ohnehin bereits schlechten Beziehungen zu Moskau noch weiter belasten wolle. Der Chef der russischen Raumfahrtbehörde, Dmitri Rogozin, sagte, die neuen Sanktionsdrohungen aus den USA belasteten die Zusammenarbeit in der Internationalen Raumstation ISS. Viele andere Druckmittel hat Russland in der Tat nicht, der Handel mit den USA ist im Umfang geringfügig und beschränkt sich auf einige Rohstoffe.
    Kritik an der ausufernden US-Sanktionspraxis kam auch aus China. Außenamtssprecher Wang Wenbin erklärte, Washington missbrauche das Konzept der »nationalen Sicherheit«, um Konkurrenten einheimischer Unternehmen zu schädigen. Das falle aber langfristig auf die USA selbst zurück. (rl)
    Vorsicht, Schleimspur
    Berlin und Nord Stream 2
    Von Reinhard Lauterbach
    Soso. Die Bundesregierung hat laut Außenminister ­Heiko Maas nicht vor, ihre Haltung zur fast fertigen Gaspipeline Nord Stream 2 zu ändern. Soll heißen: Sie hätte gern, dass die noch verbliebene Lücke von 160 Kilometern in absehbarer Zeit geschlossen wird. Was hindert sie also daran, Verlegeschiffe zu chartern und den Bau zu vollenden? Und dann mal abzuwarten, ob die USA wirklich ihre größte militärische Logistikdrehscheibe in Europa unter Sanktionsfeuer nehmen werden? Eben. So weit geht der Mut von Maas vor Fürstenthronen dann natürlich doch nicht.
    Statt dessen bläst er die Backen auf und erklärt, »wir« brauchten nicht über europäische Souveränität zu reden, wenn künftig alles nur noch so gemacht werden solle, wie es den USA gefalle. Es würde ja vielleicht für den Anfang auch schon reichen, wenn Maas über die deutsche Souveränität reden würde, die sich von Washington nicht in die Energieversorgung ihres Kapitals hineinreden lässt. Statt dessen die übliche Maskerade: Interessen des deutschen Kapitals und einer begrenzten Anzahl weiterer EU-Staaten an einer vergleichsweise günstigen Energieversorgung über Nord Stream 2 gleich als Frage »europäischer Souveränität« zu verkaufen. Wer sich einen solchen Außenminister leistet, muss sich nicht wundern, wenn in Polen die Regierenden die EU bei jeder Gelegenheit als Vehikel deutscher Hegemonieansprüche darstellen. Dass auch Warschau ein instrumentelles Verhältnis zu Brüssel pflegt, geschenkt. Aber wenn schon im neuen Jahr wahrscheinlich die Stunde der Wahrheit über Nord Stream 2 naht, wäre es nicht schlecht, als deutscher Minister mal mit einem Körnchen Wahrheit aufzuwarten.
    Statt dessen schleimt sich Maas mit einem perfiden Argument bei dem künftigen US-Präsidenten Joseph Biden ein. Ausgerechnet bei der Lagerung von US-Atomwaffen in der BRD will Maas auf die »Interessen und Ängste unserer europäischen Partner« Rücksicht nehmen und deshalb die Debatte über den Abzug dieser Bomben aus der BRD beenden. Wie rührend: die Interessen und Ängste jener Länder, die die Bundesregierung im Streit über Nord Stream 2 jahrelang ignoriert hat. Mit gutem Grund zwar: Es gibt keine Rechtspflicht für die BRD, Polen oder der Ukraine zu Transiteinnahmen zu verhelfen und sich damit für die eigene Gasversorgung von deren Wohlwollen abhängig zu machen – einem Wohlwollen, dessen man sich zumindest im Falle Polens nicht sicher sein kann. Aber man sollte dann als Minister vielleicht doch ein Minimum an Konsequenz in der Argumentation wahren.
    Im Kern lautet die Botschaft von Maas: Liebe USA, wir stellen euch unser Territorium für die Lagerung von Waffen zur Verfügung, die bei einer Stationierung näher an der absehbaren Front größeren Gefahren eines Gegen- oder Präventivschlags ausgesetzt sind. Sauber. Russland sollte sich langsam überlegen, ob es diesen Heuchlern tatsächlich Gas liefern will.

  2. Nervenkrieg am Golf
    Pentagon widerruft Flugzeugträgerabzug aus der Region. Iran meldet Beginn der 20prozentigen Anreicherung von Uran
    Von Knut Mellenthin
    Die Kampfgruppe um den US-Flugzeugträger »USS Nimitz« bleibt nun doch als Teil der Drohkulisse gegen den Iran in der Region um den Persischen Golf und die Arabische Halbinsel. Das gab der geschäftsführende US-Verteidigungsminister Christopher Miller am Sonntag (Ortszeit) bekannt. Kurz zuvor hatte er am Donnerstag die Rückkehr der »Nimitz« in ihren Heimathafen an der US-amerikanischen Westküste angeordnet. Das war in vielen Medien, unter anderem in der New York Times, als Signal einer Absicht zur Deeskalation gegenüber dem Iran interpretiert worden. Mancherorts wurden sogar Meinungsverschiedenheiten im »Verteidigungsestablishment« der USA vermutet.
    Die Erklärung des Pentagon zum vorläufigen Verbleib der »Nimitz« in der Region besteht nur aus drei Sätzen und ist damit denkbar kurz. Sie bezieht sich ohne konkrete Erläuterung auf »jüngste Drohungen iranischer Führer gegen Präsident Trump und andere Mitglieder der US-Regierung« und endet mit dem Satz: »Niemand sollte die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten von Amerika anzweifeln.« Gemeint sind offenbar die Stellungnahmen zahlreicher iranischer Politiker und Militärs anlässlich des ersten Jahrestages der Ermordung des Verantwortlichen für die Auslandseinsätze der »Revolutionsgarde«, Kassem Soleimani. Neben allgemeinen Ankündigungen künftiger Racheaktionen für seinen Tod war auch davon die Rede, Donald Trump und andere Verantwortliche persönlich »zur Rechenschaft zu ziehen«.
    Die Mitteilung des Pentagon vom Sonntag lässt die Frage offen, wie lange die »Nimitz« noch in der Region bleiben soll und durch welche andere Flugzeugträgergruppe sie künftig abgelöst werden sollte. Mit einer Einsatzzeit von fast zehn Monaten ist ein Heimaturlaub für die Besatzung des Schiffes bereits überfällig. Der Flugzeugträger hatte seinen Heimathafen in einer Bucht bei Seattle am 27. April verlassen und nach einer Reise mit vielen Zwischenstationen am 24. Juli das riesige Operationsgebiet der Fünften US-Flotte erreicht, in deren Zuständigkeit die Arabische Halbinsel und der Persische Golf fallen. Am 18. September meldete das Pressebüro der Marine, dass die »Nimitz« zusammen mit ihrer aus drei Kriegsschiffen bestehenden Kampfgruppe die Meerenge von Hormus passiert habe und nun zusammen mit regionalen und anderen verbündeten Kräften im Persischen Golf operiere.
    Im November verließ die »Nimitz«-Kampfgruppe vorübergehend die Region, um zusammen mit indischen, australischen und japanischen Kriegsschiffen an Militärübungen teilzunehmen. Am 25. November kehrte sie in das Einsatzgebiet der Fünften US-Flotte zurück. Deren Sprecherin, Rebecca Rebarich, brachte das mit der Sicherung des Abzugs US-amerikanischer Truppen aus Afghanistan und dem Irak in Verbindung, der Rückkehr lägen »keine speziellen Bedrohungen« zugrunde. Die Heimkehr der »Nimitz« war zunächst für Ende des Jahres geplant, wurde aber Anfang Dezember ohne nähere Angaben verschoben.
    Zur jüngsten Entscheidung des Pentagons, den US-Flugzeugträger und seine Kampfgruppe nun doch noch in der Region zu behalten, sagte der Sprecher des Teheraner Außenministeriums am Montag, man beobachte die Situation in der Region sehr genau. Iran habe über verschiedene Kanäle »die notwendigen Botschaften« nach Washington geschickt, sich auf keine Übergriffe einzulassen.
    Für eine weitere Verschärfung der Spannungen sorgt eine Meldung, die am Montag aus Teheran kam: Regierungssprecher Ali Rabiei teilte mit, dass sein Land in den frühen Morgenstunden in der Anlage von Fordo mit der 20prozentigen Anreicherung von Uran begonnen habe. Das war so schnell nicht erwartet worden, da einige technische Probleme und die Finanzierung dieses Vorhabens bisher noch ungeklärt schienen. Erst vor 14 Tagen war die nationale Atomenergiebehörde von der Regierung beauftragt worden, innerhalb von zwei Monaten einen Bericht zu diesen Fragen vorzulegen.
    Den tatsächlichen Vorgang beschrieb Rabiei am Montag mit den Worten, der »Prozess der Gaseinführung« habe vor kurzem begonnen, und mit den ersten »UF-6-Produkten« sei in wenigen Stunden zu rechnen. Bei der Anreicherung läuft in Gasform umgewandeltes Uran (UF-6) durch Ketten von miteinander verbundenen Zentrifugen. Bis ein Anreicherungsgrad von 20 Prozent erreicht ist, wird vermutlich noch einige Zeit vergehen.
    Trump am Ende: Kommt jetzt der Staatsstreich?
    Alle noch lebenden Ex-Verteidigungsminister der USA warnen in einer gemeinsamen Stellungnahme vor einem Militäreinsatz im Landesinneren
    US-Wahl in Georgia: Es geht um sehr viel mehr als nur zwei Posten
    Was die Stichwahlen für den US-Senat im Bundesstaat Georgia für Regierung des designierten Präsidenten Joe Biden bedeuten

  3. Zertifizierung des Wahlergebnisses in US-Kongress läuft nicht problemlos
    Washington. Vor der Bestätigung der Ergebnisse der US-Präsidentenwahl im US-Kongress ist es vor dem Kapitol in Washington zu Rangeleien zwischen Anhängern des abgewählten Präsidenten Donald Trump und Sicherheitsleuten gekommen. Auf Bildern mehrere TV-Sender war zu sehen, wie Hunderte Unterstützer des US-Präsidenten nach einer Rede Trumps auf den Parlamentssitz zumarschierten, einige lieferten sich Handgreiflichkeiten mit Einsatzkräften. Der Washington Post zufolge wurden mindestens zwei zum Parlamentskomplex gehörende Gebäude in der Nähe evakuiert.
    Bei der Kongresssitzung zur Zertifizierung der US-Wahlergebnisse haben derweil Republikaner Einspruch gegen das Resultat aus dem Bundesstaat Arizona eingelegt. Ein republikanischer Abgeordneter aus dem Repräsentantenhaus brachte die Einwände bei der gemeinsamen Sitzung des Repräsentantenhauses und des Senats ein. Unterstützung bekam er vom republikanischen Senator Edward »Ted« Cruz. Der Einspruch zwang die beiden Kongresskammern dazu, sich zu getrennten Sitzungen zurückziehen, um die Einwände bis zu zwei Stunden lang zu debattieren und am Ende abzustimmen, ob sie diesen folgen oder nicht.
    Das US-Repräsentantenhaus und der Senat waren am Mittwoch in Washington zu einer gemeinsamen Sitzung zusammengekommen, um den Sieg des Demokraten Joseph Biden bei der US-Präsidentschaftswahl offiziell zu bestätigen. Dies ist üblicherweise eine Formalie im US-Nachwahlprozedere. Einige Republikaner aus beiden Kongresskammern hatten jedoch angekündigt, Einspruch gegen die Resultate aus mehreren US-Bundesstaaten einzulegen. Grundlage sind die Betrugsbehauptungen des amtierenden Präsidenten Donald Trump.
    Unterdessen hat US-Vizepräsident Michael Pence erklärt, die formelle Bestätigung des Sieges von Biden durch den Kongress nicht blockieren. Die Verfassung hindere ihn daran, »einseitig« darüber zu entscheiden, »welche Wählerstimmen gezählt werden sollten und welche nicht« sagte Pence.
    Kurz zuvor hatte Trump an seinen Stellvertreter appelliert, die Wahlzertifizierung zu verhindern. »Wenn Mike Pence das Richtige tut, gewinnen wir die Wahl«, sagte Trump am Mittwoch vor tausenden demonstrierenden Anhängern in Washington. Pence habe das »absolute Recht«, Bidens Wahlsieg nicht zu bestätigen, behauptete er. »Mike Pence wird sich für uns einsetzen müssen, und wenn er es nicht tut, wird das ein trauriger Tag für unser Land.«
    Trump bekräftigte in seiner Rede noch einmal seine Behauptungen über Betrug bei der Präsidentschaftswahl. »Sie haben die Wahl manipuliert, sie haben sie manipuliert wie sie noch nie eine Wahl manipuliert haben, und übrigens haben sie letzte Nacht auch keinen schlechten Job gemacht«, sagte der US-Präsident und bezog sich dabei auch auf die Stichwahlen um zwei Senatssitze in Georgia am Dienstag, bei der den Republikanern eine schwere Niederlage droht. »Wir werden niemals aufgeben« oder eine Niederlage eingestehen, so Trump weiter. »Wir haben diese Wahl gewonnen, und wir haben sie mit einem Erdrutsch gewonnen«. Es handele sich um reinen Diebstahl. (AFP/dpa/jW)
    Liveticker zum “Putschversuch” in Washington
    rump-Anhänger stürmen Kapitol und dringen in Büros von Abgeordneten ein. Evakuierungen nach Bombendrohungen. Senator spricht von versuchtem Staatsstreich
    US-Kongress: evakuiert statt debattiert
    Nach dem Sturm auf das Kapitol verzögert sich die Zertifizierung der Wahlmännerstimmen

  4. Thema des jourfixe München am 11.01.21:
    Amerika im Wahljahr 2020 – Chronik eines „Kampfes um die Seele Amerikas“ (GSP 04-20)
    „Ich wähle den Präsidenten, unter dem ich mehr Geld verdiene.“ (Ein namensloser hard-working Amerikaner im deutschen Fernsehen)
    Das ist schon sehr nahe an der wahren Seele Amerikas: am falschen Materialismus kapitalistischer Konkurrenz, in der das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sich nicht übertreffen lässt. Aber was die zweite Welle des Wahlkampfes des Donald Trump – nach 2016 – um „America first!“ betrifft, ist das noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Im offiziell losgetretenen ‚clash of cultures‘ zwischen populistischen Lügen und demokratischer Heuchelei geht es um nichts Geringeres als die Moral der Nation – also den Gehorsam des Volkes, auf dem im Land der Freien die Weltmacht der Staatsgewalt beruht.
    https://de.gegenstandpunkt.com/jour-fixe/jour-fixe-muenchen

  5. Na ja, wenn ein paar Wahnsinnige bzw. wildgewordene US-Bürger in der Hauptstadt selber einen Wirbel machen, so kommt das in die Schlagzeilen.
    Als dergleichen in den Parlamenten von Michigan
    https://www.nbcnews.com/politics/politics-news/hundreds-protest-michigan-lawmakers-consider-extending-governors-emergency-powers-n1196886
    und Idaho
    https://www.newser.com/story/295357/crowd-pushes-into-legislative-session-on-pandemic.html
    passierte, war es unter ferner liefen.
    Das Verhältnis von Staat und Volk ist in den USA inzwischen etwas aus den Fugen geraten.

  6. Ein Eiertanz der Sonderklasse: EU rückt von Guaidó ab, ohne jedoch ihre trostlose außenpolitische Performance irgendwie selbstkritisch zu kommentieren:

    Venezuela: EU scheint Juan Guaidó nicht mehr als Interimspräsident anzuerkennen

    https://amerika21.de/2021/01/246720/venezuela-eu-weitere-anerkennung-guaido

    „Die EU erkennt Guaidó nicht mehr als Präsident an, betont aber seine Führungsrolle“

    https://elpais.com/internacional/2021-01-06/la-ue-reconoce-el-liderazgo-de-juan-guaido-pero-evita-reconocerlo-como-presidente.html

  7. Der Kampf um die Seele Amerikas, bzw. um das Verhältnis von Volk und Staat in den USA, incl. entsprechender Pfründe, erfordert auch von Seiten der [inzwischen früheren] Herrschaft aktuell noch ein bissl Kehraus bis zur Schlüsselübergabe …
    https://kurier.at/politik/ausland/trump-soll-praeventiv-amnestie-fuer-seine-kinder-erwaegen/401116428
    [Denn: Die bloße Medien-Inszenierung der eigenen Führer-Überzeugung, dass der Vorgänger oder die NachfolgerIn im Amt eine Flasche sei, hat ja auch den SPD-Kanzler Schröder damals wohl nicht von der Inszenierung einer strafrechtlichen Verfolgung verbrecherischer Steuerskandale des Vorgängers Kohl abgehalten…]
    —-
    Und: Ob sich die Inhalte der Politik in den USA zukünftig groß verändern werden – da hat nestor ja bereits darauf hingewiesen, dass ‘America First’ nicht zufällig der generelle Leitspruch eines US-Präsidenten ist.

  8. Nach Randale in Washington: Sieg von Biden bestätigt
    Kongress lehnt Einsprüche gegen Wahlergebnisse ab. Vorwurf der Aufwiegelung an abgewählten Präsidenten Trump
    Washington. Nach der gewaltsamen Erstürmung des US-Parlamentssitzes hat der Kongress am frühen Donnerstag morgen (Ortszeit) den Sieg des Demokraten Joseph Biden bei der Präsidentschaftswahl offiziell bestätigt. Der amtierende US-Vizepräsident Michael Pence gab das amtliche Endergebnis in einer gemeinsamen Sitzung beider Kongresskammern bekannt.
    Abgeordnete der Republikaner hatten Einsprüche gegen die Wahlergebnisse aus den Bundesstaaten Arizona und Pennsylvania eingebracht und so erzwungen, dass sich das Repräsentantenhaus und der Senat beide Male zu getrennten Sitzungen zurückziehen mussten, um die Einwände zu debattieren. Die Kongresskammern wiesen beide Einsprüche ab.
    Zuvor war es am Mittwoch in der Hauptstadt zu gewalttätigen Protesten rechter Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump gekommen. Nach einer Rede des Republikaners marschierten Trump-Unterstützer vor dem Kapitol auf, dem Sitz des US-Parlaments, um gegen die Zertifizierung der Präsidentschaftswahlergebnisse zu protestieren. Randalierer stürmten das Kongressgebäude. Die beiden Kongresskammern mussten ihre Sitzungen unterbrechen, Parlamentssäle wurden geräumt, Abgeordnete in Sicherheit gebracht.
    Dabei kamen nach Polizeiangaben vier Menschen ums Leben. Die Nationalgarde wurde mobilisiert, in Washington trat am Abend eine Ausgangssperre bis zum frühen Donnerstag morgen in Kraft. Auch für die angrenzenden Städte Arlington und Alexandria wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Nach der Erstürmung des Kapitols durch Trump-Unterstützer wurde eine Frau angeschossen – sie starb wenig später, wie der Chef der Polizei in der US-Hauptstadt, Robert Contee, in der Nacht zu Donnerstag sagte. »Darüber hinaus wurden heute drei weitere Todesfälle aus der Umgebung des Kapitols gemeldet. Eine erwachsene Frau und zwei erwachsene Männer scheinen an unterschiedlichen medizinischen Notfällen gelitten zu haben, die zu ihrem Tod führten.« Contee sagte weiter, bei den Zusammenstößen seien mindestens 14 Polizisten verletzt worden, zwei davon schwer. Mehr als 50 Menschen seien festgenommen worden.
    Trump hatte die Wahl gegen seinen Herausforderer Biden verloren, wollte seine Niederlage aber nicht eingestehen. Kurz vor dem Start der Kongresssitzung war Trump nahe dem Kapitol vor seinen Anhängern aufgetreten, wobei er die Behauptung, es sei zu großangelegtem Wahlbetrug gekommen, wiederholte. Zudem rief er seine Anhänger dazu auf, zum Parlamentssitz zu ziehen und sich den »Diebstahl« der Wahl nicht gefallen zu lassen. Am Donnerstag ließ er nun mitteilen, er werde sich nicht weiter gegen die Machtübergabe an Biden sperren. Die Amtsgeschäfte würden am 20. Januar geordnet übertragen, betonte Trump nach einer vom stellvertretenden Stabschef Dan Scavino per Twitter verbreiteten Mitteilung. Erneut bekräftigte er jedoch, mit dem Ausgang der Wahl nicht einverstanden zu sein.
    Mehrere demokratische Kongressabgeordnete gaben Trump persönlich die Schuld für die Eskalation und forderten ein erneutes Amtsenthebungsverfahren gegen ihn. Aber auch mehrere Republikaner warfen Trump öffentlich vor, er habe den Aufruhr angezettelt. Der künftige US-Präsident Biden sprach von einem Angriff auf die Demokratie. »Das Kapitol zu stürmen, Fenster einzuschlagen, Büros zu besetzen, den Senat der Vereinigten Staaten zu besetzen, durch die Schreibtische des Repräsentantenhauses im Kapitol zu wühlen und die Sicherheit ordnungsgemäß gewählter Beamter zu bedrohen, ist kein Protest, sagte der Demokrat. »Es ist Aufruhr.«
    Vertreter der Bundesregierung und Regierungschefs anderer Länder äußerten sich ebenso schockiert über die Ausschreitungen wie die Spitzen des EU-Parlaments und der Europäischen Kommission. »Die Feinde der Demokratie werden sich über diese unfassbaren Bilder aus Washington, D.C. freuen«, schrieb Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) auf Twitter. Trump und seine Unterstützer sollten endlich die Entscheidung der amerikanischen Wähler akzeptieren und »aufhören, die Demokratie mit Füßen zu treten«.
    Auch die venezolanische Regierung verurteilte die »politische Polarisierung« und »Spirale der Gewalt« in den USA. Die Bilder aus Washington zeigten »die tiefe Krise, in der sich das politische und soziale System der Vereinigten Staaten befindet«, hieß es in einer Erklärung, die der venezolanische Außenminister Jorge Arreaza auf Twitter am Mittwoch verbreitete. »Mit dieser unglücklichen Episode leiden die USA unter dem, was sie anderen Ländern mit ihrer Politik der Aggression angetan haben.« Venezuela hoffe, dass die Gewalttaten ein Ende hätten und dass das amerikanische Volk einen neuen Weg zu Stabilität und sozialer Gerechtigkeit einschlagen werde.
    Der argentinische Präsident Alberto Fernández schrieb auf Twitter: »Wir verurteilen die schweren Gewalttaten und den Angriff auf das Kapitol in Washington. Wir vertrauen darauf, dass es einen friedlichen Machtwechsel gibt, der den Willen des Volkes anerkennt, und unterstützen den gewählten Präsidenten Joe Biden.«
    Mit dem Sieg bei den zwei wichtigen Stichwahlen im US-Bundesstaat Georgia sicherten sich die Demokraten unterdessen die Kontrolle im Senat. Im Repräsentantenhaus stellen die Demokraten bereits die Mehrheit. Biden, der am 20. Januar vereidigt werden soll, kann damit bis zu den nächsten Kongresswahlen in zwei Jahren faktisch durchregieren. (dpa/jW)
    __________________
    “Mehr Mut zur Weltmacht” (06.01.2021)
    Deutsches Außenpolitik-Establishment debattiert EU-Weltmachtpläne. Ex-EU-Kommissar warnt vor “völliger Selbstüberschätzung”.
    BERLIN (Eigener Bericht) – Mit neuen Weltmachtplänen für die EU startet das außenpolitische Establishment der Bundesrepublik in das zweite Jahr der Covid-19-Pandemie. Während vor allem die westlichen Mächte und ihre Verbündeten von weiteren Pandemiewellen überrollt werden und teils rasant steigende Opferzahlen zu beklagen haben, debattiert das maßgebliche Fachblatt der deutschen Außenpolitik (“Internationale Politik”, IP) über die Frage, “was Europa zur Weltmacht fehlt”. Dass die Union “mehr Mut zur Weltmacht” haben müsse, war schon im Herbst in mehreren deutschen Leitmedien gefordert worden. Einer Umfrage zufolge stimmen der Aussage, die EU könne “eine ähnlich starke Rolle in der Weltpolitik spielen” wie die USA und China, beinahe die Hälfte der Deutschen zu – vor allem Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen (52 Prozent) und FDP (56 Prozent) sowie die Generation der 18- bis 29-Jährigen (70 Prozent). Während die IP fordert, “Europa” müsse seine “internationale Wirkkraft” stärken, warnt Ex-EU-Kommissar Günther Oettinger, es gebe in vielen EU-Hauptstädten “eine völlige Selbstüberschätzung” – “eine Art Hybris”.
    “Weltweit Maßstäbe setzen”
    Forderungen, die EU solle sich offensiv als “Weltmacht” positionieren, waren schon im Herbst in auflagenstarken liberalen und konservativen Medien geäußert worden. “Mehr Mut zur Weltmacht” hatte im Oktober etwa das Onlineportal der Wochenzeitung “Die Zeit” verlangt: Die Union, so hieß es, “muss sich als Weltmacht verstehen”.[1] In dem Springer-Blatt “Die Welt” erklärten wenig später Entwicklungsminister Gerd Müller sowie der Ex-Außenpolitikexperte der einflussreichen Bertelsmann-Stiftung Werner Weidenfeld, die EU habe “das Zeug zur Weltmacht”: “Ihr Souverän – die rund 400 Millionen Menschen mit ihrem ökonomischen Spitzenpotenzial – und eine solide militärische Ausstattung haben die EU in den Rang einer Weltmacht befördert.”[2] Mit ähnlichen Argumenten hatte Weidenfeld schon vor fast zwei Jahrzehnten die Union als “Weltmacht im Werden” eingestuft (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Gemeinsam mit Müller sprach er sich nun dafür aus, “Europa” solle “kraft seiner Wirtschaftsmacht … in der digitalisierten und globalisierten multipolaren Welt Maßstäbe setzen”. Dazu benötige Brüssel freilich nicht bloß einen “handlungsfähigeren politischen Rahmen” – nach Möglichkeit “flankiert von einem europäischen Strategierat” -, sondern etwa auch eine “europäische[…] Armee” mit “einer gemeinsamen Kommandostruktur”.
    “Wie die USA oder China”
    Mit der Titelfrage “Was Europa zur Weltmacht fehlt” und mit einem entsprechenden thematischen Schwerpunkt greift nun die Zeitschrift Internationale Politik (IP) die Debatte auf. Die IP, das führende Fachblatt des außenpolitischen Establishments, wird von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben, einer der einflussreichsten Außenpolitik-Denkfabriken der Bundesrepublik; ihre zweimonatliche Auflage wird auf 6.000 Exemplare beziffert. Wie die IP konstatiert, hält fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung eine künftige Weltmachtrolle der EU für denkbar. Demnach antworteten in einer repräsentativen Umfrage im Dezember auf die Frage, ob “die EU in Zukunft eine ähnlich starke Rolle in der Weltpolitik spielen” könne “wie heute die USA oder China”, 43 Prozent mit “Ja”.[4] Die größten Zustimmungswerte ergab die Umfrage zum einen bei der jüngeren Generation: Rund 70 Prozent der 18- bis 29-Jährigen sehen die Union demzufolge als künftige Weltmacht; bei den Über-60-Jährigen sind es gerade einmal 28 Prozent. Über dem Durchschnitt liegen die Zustimmungswerte, parteipolitisch betrachtet, bei Wirtschafts- und Ökoliberalen: 56 Prozent der FDP-Anhänger sehen die EU demzufolge prinzipiell auf Augenhöhe mit den USA und China; dies tun zudem 52 Prozent der Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen.
    Viel geredet, wenig getan
    Mit Blick auf die reale politische Stellung der EU in der internationalen Politik räumt die IP ein, “Europa” habe “viel über seine internationale Rolle geredet”, dies aber, “ohne genug dafür zu tun”.[5] So sei das Ziel, “strategische Autonomie” zu erlangen – eine verklausulierte Variante des Weltmachtanspruchs -, zuerst in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom Dezember 2013 festgeschrieben worden, dann in der Global Strategy der Union vom Juni 2016. Erreicht sei das Ziel allerdings noch nicht. “Europas Aufgabe” sei es nun, “unter neuen Vorzeichen seine internationale Wirkkraft zu stärken und seine Interessen entschiedener zu vertreten”. Dabei werde der EU “der Ausbau ihrer Machtressourcen” mutmaßlich “nur gelingen, wenn ihr innerer Zusammenhalt und die Kooperationsbereitschaft der Regierungen wachsen”. Die IP schließt dabei nützliche Nebenwirkungen schwerer Krisen – etwa der aktuellen Coronakrise – nicht aus: “Das Gefühl einer ‘Schicksalsgemeinschaft’ ist gewachsen.” Dies freilich lässt sich aktuell – nur wenige Tage nach Erscheinen der jüngsten IP-Ausgabe – stark bezweifeln: Wegen ernster Fehler bei der Impfstoffbeschaffung bricht sich heftige Kritik an der Trägheit der Brüsseler Behörden Bahn.
    Anspruch und Wirklichkeit
    Während die IP den EU-Weltmachtanspruch aufrechterhält, legen einzelne Beiträge in der jüngsten Ausgabe offen, wie Anspruch und Wirklichkeit zunehmend auseinanderklaffen. So heißt es etwa, “wie kein anderes Thema” stehe die Iran-Politik für die gemeinsame Außenpolitik der Union: “Seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten” verfolgten die Mitgliedstaaten “gegenüber Teheran einen relativ konsistenten Ansatz” – dies immer wieder auch gegen massiven Druck aus den USA.[6] Allerdings habe sich auch gerade in der Iran-Politik das “Unvermögen” der EU gezeigt, “maßgeblichen Einfluss geltend zu machen”; so sei etwa der Handel mit Iran – trotz umfassender Bemühungen der Union – aufgrund der einseitig verhängten US-Sanktionen fast vollständig kollabiert. Ähnlich verhält es sich mit der Afrika-Politik. So ist es trotz langjähriger, stets vollmundig angekündigter Bestrebungen, die Wirtschaftsbeziehungen zu den Staaten Afrikas südlich der Sahara auszudehnen, bislang nicht gelungen, dies zu tun; stattdessen hat China seine Stellung auf dem afrikanischen Kontinent massiv gestärkt. “Momentan sieht es danach aus”, heißt es in der jüngsten IP, “als würde China, nicht Europa, der Hauptnutznießer einer [erhofften, d.Red.] afrikanischen Wirtschaftsblüte sein”.[7]
    Eine Art Hybris
    Warnungen, die Weltmachtansprüche der EU würden durch ihre ökonomische Leistungsfähigkeit bei weitem nicht gedeckt, sind dabei zunehmend von Wirtschaftspolitikern zu hören. Sie schließen an Feststellungen wie diejenige an, dass der Anteil der Union an der globalen Wirtschaftsleistung bestenfalls stagniert (german-foreign-policy.com berichtete [8]), oder diejenige, dass der Anteil der EU an den globalen Patentanmeldungen von 2009 bis 2019 dramatisch fiel – von 34,7 auf 23,2 Prozent -, während der Anteil Asiens im selben Zeitraum von 32 auf 52,4 Prozent stieg.[9] Dabei hätten die politischen Eliten dies oft noch gar nicht realisiert, warnte kürzlich der ehemalige EU-Kommissar Günther Oettinger: “Es gibt in vielen europäischen Hauptstädten eine völlige Selbstüberschätzung der eigenen Wirtschaftskraft. Eine Art Hybris.”[10] Anfang dieser Woche ließ sich zudem der Ex-Staatsminister im Auswärtigen Amt und heutige Präsident der Europäischen Investitionsbank (EIB) Werner Hoyer mit der Äußerung zitieren, die EU-Staaten verlören “seit 15 Jahren an Wettbewerbsfähigkeit” und investierten gleichzeitig “Jahr für Jahr 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weniger in Forschung und Entwicklung”: “Noch holen wir nicht auf”, warnt Hoyer, “sondern fallen weiter zurück”.[11]

  9. Es fragt sich nur, welche Hauptstädte Oettinger im Auge hat und ob da Berlin auch dazugehört.
    Das Verfahren, die eigenen Bürger zu befragen und dann deren Meinung als Beleg zu nehmen, daß die EU Weltmacht sein könnte, ist verrückt, eben größenwahnsinnig.
    Es ist so, als würde man sich vorstellen, man findet auf der Straße einen Sack mit Goldstücken – und schon ist er da.
    Dabei gibt die Selbstüberschätzung der befragten Normalverbraucher nur den propagandistischen Erfolg der amtlichen Selbstüberschätzer wieder.
    Die Politiker schreien „Wir sind eine Weltmacht!“ – dann kommt aus dem Wald das Echo und das ist dann die Bestätigung, daß „wir“ wirklich ganz super sind.
    Man fragt sich nur, woran es dann scheitert? Also warum das IP diese Studie überhaupt erstellen muß?

  10. US-Demokraten: Kurs auf Absetzung von Trump
    Washington. Der führende Vertreter der Demokratischen Partei im US-Senat, Charles Schumer, hat nach den Krawallen in Washington die sofortige Absetzung von Präsident Donald Trump gefordert. »Was gestern im US-Kapitol passiert ist, war ein Aufstand gegen die Vereinigten Staaten, aufgehetzt durch den Präsidenten«, sagte Schumer am Donnerstag. »Dieser Präsident sollte keinen Tag länger sein Amt behalten«, forderte er und erklärte, dass der schnellste Weg eine Amtsenthebung auf Basis des Zusatzartikels 25 der US-Verfassung sei. Dafür müssten Vizepräsident Michael Pence und Trumps Kabinett die Enthebung befürworten und Senat und Repräsentantenhaus mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Sollten Pence und das Kabinett ein solches Verfahren nicht einleiten, solle der Kongress ein reguläres Amtsenthebungsverfahren anstrengen, so Schumer. US-Medien hatten am Mittwoch abend (Ortszeit) berichtet, dass einzelne Kabinettsmitglieder eine Enthebung nach Artikel 25 diskutiert hatten.
    Unterdessen haben Kräfte der Hauptstadtpolizei mit der Errichtung eines rund zwei Meter hohen Metallzauns rund um das Parlamentsgebäude begonnen. Die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen würden zunächst für 30 Tage bestehen bleiben, sagte Polizeichef Robert Contee am Donnerstag. Bis zum Wochenende würden rund 6.200 Angehörige der Nationalgarde aus verschiedenen Bundesstaaten die lokalen Sicherheitskräfte unterstützen. Die Washintoner Polizei helfe den Sicherheitskräften des Kapitols am Donnerstag zudem mit rund 850 Beamten, so Contee. Die verschärften Sicherheitsmaßnahmen und der Einsatz der Nationalgarde werden damit auch bis zur Amtseinführung des neuen Präsidenten Joseph Biden am 20. Januar gelten. Die dafür vor dem Parlamentsgebäude bereits errichteten Tribünen waren am Mittwoch zum Teil von Anhängern des amtierenden Präsidenten Donald Trump besetzt worden.(dpa/jW)
    Prozess der Verrohung
    Sturm auf Kapitol in Washington, D. C.
    Von Jörg Kronauer
    Abstiege sind gefährlich, und das nicht nur bei einer Bergwanderung. Die unentwegten Bemühungen von US-Präsident Donald Trump und eines Teils seiner Partei, ihren bevorstehenden Machtverlust um jeden Preis abzuwenden, mündeten am Mittwoch in den ersten Sturm auf das Washingtoner Kapitol seit 1814, als marodierende britische Truppen das Gebäude in Brand steckten. Anders als damals ist das Parlamentsgebäude dieses Mal weitgehend intakt geblieben. Ob man das von der bürgerlichen Demokratie in den USA auch sagen kann, darf doch bezweifelt werden. Trump hat sie im Kampf gegen seinen persönlichen Abstieg weiter beschädigt.
    Nun haben Länder, die ihr Staatsoberhaupt wählen, meist einen Präsidenten, den sie verdienen. Das gilt sicherlich für die Vereinigten Staaten und Trump. Die USA befinden sich ihrerseits im Verfall. Die unangefochtene Dominanz in der Weltpolitik, die sie in den 1990er und den frühen 2000er Jahren genossen hatten, sie schwindet vor allem wegen des Aufstiegs Chinas mehr und mehr. Im Innern geht mit dem Abstieg eine immer krassere Spaltung zwischen einer wohlsituierten Bourgeoisie und deutlich schlechter gestellten, teils bitter verarmten Schichten ohne jegliche Zukunftsperspektive einher. Deren Hass auf das Establishment hat dazu beigetragen, einen Präsidenten ins Amt zu bringen, der das Land konsequent nach rechts gepeitscht hat, und dies nicht nur im Land, sondern vor allem auch nach außen: Das Gerede vom »China-Virus« etwa war nie nur Wasser auf die Mühlen der Rassisten; es war vor allem auch der Versuch, das Land für den großen Kampf gegen China zu stählen – vielleicht, wer weiß, gar für einen Krieg.
    »Make America Great Again«, der Versuch, den Niedergang zu stoppen, hat denn auch Verhärtungen an beiden Fronten gebracht – wie an der äußeren, so auch an der inneren. Und es kann ja kaum anders sein: Die Verrohung, die etwa Kriege mit sich bringen, geht an der Gesellschaft, die die Soldaten entsendet, nicht spurlos vorbei. Der Jubel über Putschversuche in Venezuela oder über den Sturm auf das Parlament in Hongkong – er trägt nicht dazu bei, den Glauben an die Unverletzbarkeit bürgerlich-demokratischer Institutionen zu stärken. Fast folgerichtig erscheint es da, dass Trump, als nach der Wahlniederlage aus seinen Plänen für einen Überfall auf Iran nichts wurde, dazu überging, im Innern gegen die bestehende Ordnung zu mobilisieren. Und so dilettantisch der Sturm auf das Kapitol am Mittwoch – zum Glück – vollzogen wurde: Er hat gezeigt, was möglich, was machbar ist, wenn die Umstände es nach Auffassung zumindest einiger Mächtiger erfordern – auch in Washington, D. C. Bleibt zu hoffen, dass der alte Marx in diesem Fall unrecht hatte und dass sich nicht alle weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen zweimal ereignen – das eine Mal als Farce, das andere Mal dann als Tragödie.
    _________________
    Schwesigs Trick
    Mecklenburg-Vorpommern will Pipelineprojekt Nord Stream 2 mit neuer Stiftung absichern
    Von Reinhard Lauterbach
    Das Land Mecklenburg-Vorpommern will die Fertigstellung der Gasleitung Nord Stream 2 über eine landeseigene Klimaschutzstiftung absichern. Am Mittwoch beschloss das Kabinett ein entsprechendes Gesetz, am Donnerstag sollte der Landtag in Schwerin darüber abstimmen. Nach den Vorabäußerungen von Landespolitikern zeichnete sich für das Vorhaben eine breite Mehrheit von AfD bis zur Partei Die Linke ab. Die Grünen, die das Pipelineprojekt ablehnen, sind im Schweriner Landtag nicht vertreten.
    Die Stiftung soll sich offiziell dem Klimaschutz in Mecklenburg-Vorpommern widmen, aber auch gewerblich tätig werden. So soll sie insbesondere in Vorlage treten und Bauteile einkaufen, die für die Fertigstellung der Pipeline noch benötigt werden. Dadurch sollen die US-Sanktionen gegen Unternehmen, die sich am Bau der Röhren beteiligen, umgangen werden, weil öffentliche Dienststellen von den Sanktionen ausdrücklich ausgenommen sind. Die Stiftung solle dann, so Landesenergieminister Christian Pegel (SPD), praktisch als »Baumarktregal« für die an der eigentlichen Herstellung beteiligten Unternehmen fungieren. Das Geld für die Einkäufe soll dabei wohl im wesentlichen aus Russland kommen. Das eigentliche Stiftungskapital sind nur 200.000 Euro plus 50.000 Euro für den Verwaltungsaufwand. Mit erheblich höheren Summen würde aber »das Pipelinekonsortium« die Stiftungsarbeit unterstützen. Die Rede ist in unterschiedlichen Quellen von Beträgen zwischen 20 und 60 Millionen Euro. Da es aber – worauf die Welt am Mittwoch hinwies – dieses Konsortium faktisch nicht gibt und der russische Gasprom-Konzern die alleinige Betreiberfirma ist, der mehrere westliche Energiekonzerne lediglich Kredite gewährt haben, läuft es praktisch darauf hinaus, dass die Stiftung von Gasprom finanziert wird. Den Stiftungsvorsitz soll – ehrenamtlich – der ehemalige Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) übernehmen.
    Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) begründete das Engagement der Landesregierung für die Pipeline damit, dass Gas eine »Brückentechnologie« für die Zeit zwischen der Abschaltung der Kohle- und Atomkraftwerke bis zur völligen Umstellung auf erneuerbare Energien sei. Außerdem könne theoretisch durch die Leitung anstelle von Erdgas auch in Russland synthetisierter Wasserstoff fließen. Das ist freilich ökologisch eine Mogelpackung, denn die CO2-Emissionen aus der Umwandlung von Erdgas in Wasserstoff würden dann statt in Deutschland in Russland anfallen.
    Entsprechend protestierten Umweltverbände und die Grünen gegen die Stiftungsplanungen. Die US-Botschaft in Berlin äußerte sich auf Anfrage der Welt zurückhaltend: Die Rechtsform könne nichts daran ändern, dass Nord Stream 2 ein politisches Projekt sei, um die Ukraine aus dem Gastransit auszubooten und »Europa zu entzweien«.
    Der Bau der verbliebenen 160 Kilometer Rohrleitung könnte in den nächsten Tagen weitergehen. Die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti meldete am Mittwoch, das Verlegeschiff »Akademik Tscherski« sei inzwischen aus den russischen Gewässern, wo es über den Jahreswechsel stationiert war, wieder ausgelaufen; die Schiffsverfolgungsseite »Marine Traffic« nannte für den Donnerstag eine Position der »Tscherski« zwischen Rügen und Bornholm. Das zweite in die Ostsee beorderte russische Verlegeschiff, die »Fortuna«, wurde von derselben Seite dagegen als im Hafen von Wismar liegend ausgewiesen. Ein russisches Seenotrettungsschiff, die »Murman«, liegt nordöstlich der »Tscherski« in offenen Gewässern still. Auf einen Zusammenhang mit dem Pipelineprojekt deutet hin, dass die »Murman« am Mittwoch aus dem deutschen Basishafen Mukran auf Rügen ausgelaufen ist.
    Auf der anderen Seite kommen auf den Pipelinebau weitere organisatorische Schwierigkeiten zu. Die norwegische Zertifizierungsfirma Den Norske Veritas Germanischer Lloyd (DNV GL) zog sich Anfang der Woche offiziell aus der Zusammenarbeit mit Nord Stream 2 zurück, »solange die Sanktionen gelten«. Da die dänische Genehmigung für die Fertigstellung der Leitung ausdrücklich auf die Zertifizierung durch DNV GL Bezug nimmt, ist jetzt unklar, ob nicht erstens ein neuer Zertifizierer gefunden und zweitens dieser von Dänemark akzeptiert werden muss. Beides würde die Arbeiten weiter verzögern. Ohne Zertifizierung ist aber die Abnahme der Leitung nicht möglich.
    An Land gehen dagegen die Vorbereitungen für einen Betriebsstart von Nord Stream 2 weiter. Zum Jahreswechsel ging in Tschechien eine 150 Kilometer lange Gasleitung zwischen Rozvadov und der Übernahmestelle Waidhaus an der Grenze zwischen Tschechien und Bayern in Betrieb. In der Mitteilung der Betreibergesellschaft »Net4Gas« wird aber kein Bezug auf Nord Stream 2 genommen, sondern statt dessen hervorgehoben, dass die Leitung für den Transport von Gas »verschiedener Herkunft« tauge.

  11. Anlässlich der Ereignisse in Washington stellt der GSP die beiden Schlusskapitel der US-Wahlkampfchronik aus dem aktuellen GegenStandpunkt 4-20 frei zur Verfügung.
    Das Finale: Präsidiale Siegesgewissheit bis an die Schmerzgrenze des demokratischen Systems
    Je näher der Wahltermin kommt, umso mehr Siegesgewissheit strahlt der Präsident aus. Nachdem er das bereits seit vier Jahren tut, braucht es und bietet er in dieser demokratischen Disziplin deutlich mehr, als was der in Wahlkämpfen erfahrene Bürger so kennt. Trump applaudiert nicht nur der eigenen Vorfreude auf seine zweite Amtszeit und den eigenen Fans, die sich – wie es engagierte Wähler allemal tun – von der Aussicht betören lassen, mit ihrem Votum am Ende wieder auf der Siegerseite zu stehen, mit der sie in ihrem Alltag oft genug so verzweifelt wenig zu tun haben. Der Präsident trumpft auf mit einer vorgezogenen Absage an jedes andere Wahlergebnis als seinen Sieg…. (Forts.):
    https://de.gegenstandpunkt.com/dossier/letzte-kapitel-amerikanischen-wahlkampfes
    vgl https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/zeitschrift/gegenstandpunkt-4-20

  12. Das Zitat von Marx (aus „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“) lautet:
    „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
    Die Reihenfolge ist also umgekehrt.
    In China und Venezuela wurde mit einer gewissen Häme konstatiert, daß es inzwischen in den USA so zugeht, wie es die US-Politik woanders begrüßt, wenn Parlamente von Freiheitskämpfern gestürmt werden.

  13. ” Denn objektiv geht es in dem politischen System, das das Verfahren der Ermächtigung zur Herrschaft über die ermächtigte Person und ihre Mission stellt, für den Wähler darum, dass er ein politisch-persönliches Angebot so gut und wichtig findet, dass er ihm zustimmt, ihm also – es geht ja um Herrschaft – Unterwerfung verspricht; gleichzeitig wird diese Zustimmung aber so gewertet, dass sein versprochener Gehorsam vom Wahlergebnis nicht abhängt, vielmehr der Herrschaft als solcher und folglich auch dem abgelehnten Wahlsieger gilt. Das ist der Widerspruch, den die Demokratie ihrem wahlberechtigten Fußvolk zumutet.”

    Das stimmt leider nicht. Es ist nicht die Gemeinheit der Herrschaft eine Wahlstimme als Zustimmung zu nehmen, auch wenn die Stimme sich für den Wahlverlierer ausgesprochen hat. Es ist und bleibt verkehrt, dass in der Wahl die Zustimmung zur Herrschaft hergestellt wird. Hier wird das als übler Trick dargestellt mit dem die Herrschaft ein Gutteil des Volkes, dass die neue Opposition gewählt hat sozusagen austrickst. Und das sei der Widerspruch den die Herrschaft bzw. die Demokratie den Wählern zumutet.
    Der Widerspruch soll darin bestehen, dass die Herrschaft wählen lässt, also Alternativen anbietet, zwischen denen man sich entscheiden kann, dann aber die Neinstimmen ebenfalls als Zustimmung zur Herrschaft zählt, als hätte auch die Herrschaft als solches zur Abwahl angestanden, als hätte man auch “keine Herrschaft” oder “Kommunismus” ankreuzen können. Die Wahl ist so generell ein Betrug der Minderheit durch die Mehrheit. Fast die Hälfte der Bürger wird also unterdrückt von der Mehrheit. Die Zustimmung der 49% wird in dieser Sicht vom Gewinner herbeimanipuliert. Anderes kann sich der GSP die demokratische Wahl anscheinend gar nicht vorstellen und beharrt darauf auch noch Jahrzehnte nachdem ich und andere ihm diesen Blödsinn vorgehalten haben. Die Wahrheit ist schlicht, dass in der Wahl die Zustimmung zur Herrschaft gar nicht in Frage steht und gar nicht in Frage gestellt wird. Die Zustimmung zur Herrschaft wird in der Wahl nur betätigt. Daher ist eine Stimme für die Opposition kein Nein zu Herrschaft, sondern ebenfalls ein Ja zur Herrschaft, einer Herrschaft die lediglich von einer anderen Partei ausgeübt werden soll. Weil a l l e Bürger, die wählen gehen einer Herrschaft zustimmen, die den Erfolg der Nation bewerkstelligen soll, d e s h a l b ordnen sich die Wahlverlierer dem Wahlgewinner unter. Es geht um eine gemeinsame Sache, an der die Wähler dann letztendlich ihren Wählerwillen relativieren, wenn sich ihre Partei nicht durchgesetzt hat.
    Wer aber rundherum abstreitet, dass es diese gemeinsame Sache, die Nation nämlich, überhaupt gibt, bzw. wer die Nation nur für eine Gewaltveranstaltung von oben hält, für den verschließt sich natürlich auch der Zweck der demokratischen Wahl, die die Nation als gemeinsamen Zweck der Bürger unterstellt. Die Dummheit des GSP hat also Methode.

    “Entsprechend locker stellt sich der Wähler normalerweise auch zu dem großen Heiligtum seiner Staatsform, nimmt Wahlversprechen und das Engagement für das Schicksal der Nation, das bei jeder Wahl wieder ganz enorm auf dem Spiel steht, für die Heuchelei, die es in einer friedlichen Konsens-Demokratie allemal ist, und begegnet dem falschen Sieger mit nicht mehr als einer schlechten Meinung und einem inneren Vorbehalt, den jeder Verfassungsschutz ihm als Meinungspluralismus durchgehen lässt.”

    Nochmal einfacher. Weil der Wähler weiß, dass er beim Wählen eh beschissen wird – der Beschiss besteht darin, dass auch Oppositionsstimmen als Zustimmung zur Herrschaft gewertet werden – deshalb durchschaut der Bürger die Heuchelei, es ginge um das Schicksal der Nation (die ja sowieso nur als Zwangsveranstaltung von oben existiert). Der Bürger weiß also, dass er beim Wählen regelmäßig ausgetrickst wird, und leistet sich deshalb eine schlechte Meinung von seinen Herrschaften. Logisch ist das nicht, dass er sein angebliches manipuliert werden durch die Herrschaft immer nur zu einer schlechten Meinung über selbige werden soll. Würde die 49% Minderheit tatsächlich zur Unterwerfung unter die Mehrheit gezwungen, dann würde niemand es bei einer schlechten Meinung belassen.

    “Er will die Macht so unbedingt wie die formvollendete freie Zustimmung; oder andersherum: Er will die freie Wahl ohne die Möglichkeit der Niederlage.”

    Wenn man jetzt wüsste, dass die demokratische Wahl grundsätzlich die Zustimmung zur Herrschaft unterstellt, dann könnte man das was Trump denkt auch richtig analysieren. Es ist nämlich genau umgekehrt, wer nur die eigene Wiederwahl als legitimen Ausgang der Wahl akzeptiert, der hat sich vom demokratischen Konsens v e r a b s c h i e d e t, dass es in der Wahl um Herrschaftsalternativen für den Erfolgsweg der Nation gehen soll. Nur dieser Konsens gewährleistet, dass der Wahlverlierer sich dem Wahlgewinner unterordnet. Wer aber nur glaubt es gibt nur einen Erfolgsweg der Nation, für den ist alles andere Vaterlandsverrat, eine Wahlniederlage ist Wahlbetrug.

    “Der Sieger präsentiert sich als Joe, der für alle da ist; als personifizierte Heuchelei nationaler Einigkeit jenseits aller Gegensätze, welcher Art auch immer; als Gewinner, unter dessen Präsidentschaft sich keiner als Verlierer fühlen muss.”

    Nein, verdammt. Die nationale Einigkeit ist eben keine Heuchelei, sondern die Grundlage der Demokratie. Der GSP und seine Anhänger können das allerdings nicht verstehen, weil es die Nation für sie gar nicht gibt, weil es den Erfolg der Nation für sie dann ebenfalls nicht gibt und weil die Wahl nur ein großangelegter Volksbetrug, durch Manipulation der Wähler ist.

  14. Die Sache mit der Inszenierung einer Aktion, damit man diese später als Anlass für eine “Dolchstoßlegende” solle thematisieren können …
    http://NestorMachno.blogsport.de/2021/01/02/die-pandemie-und-die-finanzwelt/#comment-41328
    erscheint mir darin krumm, als dass Trump also hätte seine Anhänger zum Sturm auf das Capitol ermutigen wollen, um damit die Märtyrer produzieren zu wollen, damit man sich später auf sie in einer Dolchstßlegende solle berufen können. Als wäre die Suche danach. irgendeinen Anlass zu bekommen, um eine Dolchstoßlegenden-Schaffung ermöglichen zu können, Anfang und Zweck der Aktion von vor 4 Tagen gewesen. Hm.
    Ja: die Aktion könnte später so ausgeschlachtet werden, wenn es innerhalb der Republikanischen Partei dem Trump-Flügel an den Kragen geht. Umgekehrt wird der liberale Flügel ähnlich argumentieren: die Aktion des Trump-Flügels habe die Republikanische Partei in ihren patriotischen Grundfesten zerstören wollen, und Trump hingegen sei nämlich der Vaterlandsverräter. So wird sich auf Historie auf beiden Seiten darin verlogen berufen, dass dem Vorfall von lauter Patrioten der Zweck des Vaterlandsverrates untergejubelt wird.
    Verstehen könnte ich irgend so was also erst einmal als Taktik für die anstehende Aufrechterhaltung der Hegemonie des Trump-Flügels in der Republikanischen Partei. Wer dort Trump in naher Zukunft stürzen will, der wird dann dort als Vaterlandsverräter beschimpft. Eben dann mit der Legende, er verrichte das Geschäft des politischen Gegners, der Demokraten und Linken. Als Taktik innerhalb der Republikanischen Partei kann ich dem was abgewinnen. Aber ob dies bereits auch der hauptsächliche Zweck der Aktion gewesen ist?
    (Das Argument lebt m.E. ein wenig zu sehr von einem historischen Vergleich mit dem Aufstieg der NSDAP, die die sog. “Dolchstoßlegende” ja an diversen Stellen in ihrem ideologischen Repertoire hatte. Auch bereits im internen Machtkampf ihrer Flügel gegeneinander. Aber auch bei den historischen Nazis gab es nicht den Zweck, Anlässe für Dolchstoß-Legenden-Bildung schaffen zu wollen. )

  15. So wie du kann man jeden Vergleich ad absurdum führen, denn es gibt immer Aspekte, wo ein Vergleich hinkt. Im wesentlichen hinkt er aber nicht.
    1. Ganz so wörtlich mit Märtyrer und so, als tatsächliches Opfer muss man den Vergleich nicht nehmen. Es ist ja ein Vergleich und keine 1:1 Kopie. Die Wehrmacht ist ja auch nicht tatsächlich hinterrücks erstochen worden von Volkverrätern. Die Märtyrer sind auch nicht die “Erstürmer” des Kapitols sondern Trump.
    2. Der durch den Dolchstoß vereitelte nationale Erfolg (im Original der verlorenen Krieg) ist nicht die Erstürmung des Kapitols, sondern die geklaute Wahl. Der Betrug, der an Trump als dem rechtmäßigen einzig wahren Präsidenten der USA begangen wurde. Des Präsidenten, der die USA wieder zu wahrer Größe führt.
    3. Die Erstürmung des Kapitols ohne Waffen, war nur der symbolische Akt des gerechten Volkszorns, der die geklaute Wahl in den Geschichtsbüchern verewigen soll und für Trump Gläubige zum Fakt macht.
    4.”Verstehen könnte ich irgend so was erst einmal als Taktik für die anstehende Aufrechterhaltung der Hegemonie des Trump-Flügels in der Republikanischen Partei.” Genau, erstmal ist es das, aber der erste Schritt trägt ja schon einen weitergehenden Zweck in sich, nämlich die Rache. Trump strikes back. Das Imperium schlägt zurück.
    5. Der Vergleich mit der Machtergreifung der NSDAP ist ja gerade die Stärke des Vergleichs, weil sie den Zweck des ganzen dramatisch inszenierten politischen Schauspiels benennt und zwar nach dem selben Muster. Volksfeinde verhindern den Erfolg der Nation. Also muss man sich um diese kümmern, wie immer das auch aussieht.

  16. Die ganze Story mit der “Dolchstoßlegende” und der zukünftigen Rache der Trumpisten an solchen Vaterlandsverrätern lebt von der Vorstellung, dass die Trumpisten als Abziehbild der Nazis sich aufführen bzw. das sogar wollen täten, strategisch.
    “Volksfeinde verhindern den Erfolg der Nation” – ja, diese Deutung ist weit verbreitet. Sozialdemokraten sahen damals als solche die Junker, die Adeligen, oder eben die sonstig als Volksfeinde gebranntmarkten “fetten Kapitalisten” u.a. an.
    “Die Erstürmung des Kapitols ohne Waffen, war nur der symbolische Akt des gerechten Volkszorns, der die geklaute Wahl in den Geschichtsbüchern verewigen soll und für Trump Gläubige zum Fakt macht.” (Kehrer)
    Das erscheint mir plausibel.
    Dass die Wahl geklaut sei, das soll bombenfest als Vermächtnis von Trump verankert werden.
    (Dass das zukünftig als Grund für Rache taugen wird, sei auch nicht unbedingt bestritten. Trumpisten fordern derzeit ja, dass Vizepräsident Pence aufgehängt gehören solle, weil der das Wahlergebnis legitimiert hat.)

    Ideologisch geht es in den USA derzeit wohl um den von den Demokraten fabrizierte Vorwurf des inländischen Terrorismus, bzw. dessen Begünstigung oder Anstachelung durch Trump. Dem werden deswegen allerhand finstere Triebkräfte, seelische Abgründe, oder Altersgebrechen, untergejubelt. Denn die Konkurrenz von Trump wollen die Demokraten sich wegen ihrer eigenen Kalkulationen mit der Staatsgewalt vom Hals schaffen.

  17. Trumpisten wollen sich natürlich nicht als Abziehbild der Nazis aufführen. Erstens nicht als Abziehbild und zweitens nicht der Nazis. Aber sie tun es z.T. und ihre Denkmuster sind ähnlich. Soll jetzt gar nicht moralisch genommen werden in dem Sinne, dass das schlimm sei, weil es den Nazis ähnelt. Kritikabel ist das für sich ausreichend. Aber die Ähnlichkeit ist da, sonst wär sie mir ja auch nicht aufgefallen.

  18. Das mit der Dolchstoßlegende führt meines Erachtens in die Irre, weil man diskutiert dann darüber, ob der Vergleich gut ist und nicht darüber, was da in Washington eigentlich passiert ist.
    Was mir an dem ganzen Sturm aufs Kapital als erstes aufgefallen ist, ist, wie einfach es ist, das Parlament der Weltmacht zu stürmen.
    Diejenige Macht, die bei anderen Staaten herumfuhrwerkt was das Zeug hält, Farbrevolutionen anzettelt und gewalttätige Oppositionelle unterstützt, hielt es offenbar bis dato für ausgeschlossen, daß so etwas bei ihnen zu Hause auch passieren kann.
    Und das, obwohl das Eindringen der Bewaffneten in die Parlamente von Michigan und Idaho bereits geschehen war.
    So etwas wie aufmüpfige und gewaltbereite Bürger sind offenbar im Verständnis von Staat und Volk nicht vorgesehen – diese ganzen Milicias, die es schon seit geraumer Zeit gibt, haben offenbar nicht zu einer Verstärkung der Bewachung von Parlamenten geführt.

  19. “Das mit der Dolchstoßlegende führt meines Erachtens in die Irre, weil man diskutiert dann darüber, ob der Vergleich gut ist und nicht darüber, was da in Washington eigentlich passiert ist.” Also weil Leser so ein Banause ist und ihm nichts einleuchtet führt der Vergleich in die Irre? Meine Güte, dann darf man nichts vergleichen. Einen besseren Vergleich gibt es gar nicht! Er macht klar, dass es sich um ein ideologisches Narrativ zu Rechtfertigung der Bekämpfung des inneren Feindes handelt, wenn man nicht gerade so einen beschränkten GSP-Horizont hat. Man kann natürlich sagen: Ist mir schnuppe, geht mir am Allerwertesten vorbei. Aber wieso dann überhaupt noch quatschen, wenn die eigene Ignoranz plötzlich als Argument gilt.
    “Was mir an dem ganzen Sturm aufs Kapital als erstes aufgefallen ist, ist, wie einfach es ist, das Parlament der Weltmacht zu stürmen.” Ja, wenn man davon absieht, dass da überhaupt nichts gestürmt wurde. Stürmen ist einnehmen mit Waffengewalt. Dabei war es bloß ein “Stürmen” wie beim Winterschlußverkauf bei Karstadt. Nichts anderes als wenn in Dresden Wutbürger skandieren “Wir sind das Volk”. Als in Deutschland die Reichstagstreppe von Kritikern der Coronamaßnahmen “gestürmt” wurde hat auch niemand die Heiligtümer der Demokratie in Gefahr gesehen.
    ” Farbrevolutionen anzettelt und gewalttätige Oppositionelle unterstützt, hielt es offenbar bis dato für ausgeschlossen, daß so etwas bei ihnen zu Hause auch passieren kann.” Das war auch nicht annähernd eine Revolution! Über die Wahlniederlage enttäuschte Anhänger wollen s i c h beweisen, dass sie im Recht sind.

  20. Meine Überlegungen kreisen eher darum, ob es bei der Aktion der Trumpisten (die beklagten, dass ihnen de Wahl geklaut worden sei, denn Führer sei eben, ginge es gerecht zu, einzig Trump…) eine Nähe zu Militärputsch-Gerüchten gab, vor denen einige Generäle gewarnt hatten.
    Den Vortritt bei der Überlegung, dass Faschismus aus Rache und wegen zukünftiger Dolchstoßlegenden entstehe, die wegen solcher Rachemöglichkeiten in der Zukunft jetzt schon in der Gegenwart inszeniert worden seien, – den überlasse ich gerne Kehrer…
    Über die in der bürgerlichen Presse verbreiteten Gerüchte wegen der Gefahr eines Militärputsches plus dem darauf erfolgten Stopp-Brief führender US-Militärs – wird wenig nachgedacht. (Meiner Vermutung nach hätte der Zweck des Protestes zum Kapitol die Mobilisierung von Massen für die Durchführung einer neuen Wahl sein sollen, die das Militär hätte gewährleisten sollen, um so Trump zu seiner einzig ihm zustehenden Amtszeit zu verhelfen.
    Denn im Kapitol sollte ja die Rechtmäßigkeit der Abstimmung festgestellt und die neue Regierung formell durch die Wahlmänner legitimiert werden.)
    Ein Militärputsch, befristet dafür, dass die in Trumps Augen eigentliche “Selbstverständlichkeit” der Demokratie, dass er, der Populist, regiert, gewährlistet werden soll. Aber auch nur das. Die Funktionen der bürgerlichen Demokratie werden nicht zerstört, sondern es soll “nachgeholfen” werden, dass dort die guten Populisten regieren. Andernorts werden dafür Richter in Pension geschickt oder Presseorgane behindert.
    Noch eine andere Position wird hier von Richard Seymour eingenommen:
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-buergerbraeuputsch-experience

  21. “Den Vortritt bei der Überlegung, dass Faschismus aus Rache und wegen zukünftiger Dolchstoßlegenden entstehe, die wegen solcher Rachemöglichkeiten in der Zukunft jetzt schon in der Gegenwart inszeniert worden seien, – den überlasse ich gerne Kehrer…”

    Was bist du nur für ein A…llerliebster Zeitgenosse. Ein Narrativ als Ideologie zur Rechtfertigung einer Machtübernachme zu kennzeichnen ist eine K r i t i k, und keine Erklärung, du Denkriese. Ich habe wirklich nicht behauptet der Faschismus würde aus Dolchstoßlegenden entstehen. Dolchstoßlegnden sind teil seiner Rechtfertigung. Das ist bitteschön etwas anderes.
    “Ein Militärputsch” – das war kein Militärputsch.
    “sondern es soll „nachgeholfen“ werden, dass dort die guten Populisten regieren.” Ja. Aber nicht mit einem Militärputsch, sondern mit Druck der Straße “Wir sind das Volk” Geplärre auf amerikanisch. Das war eine symbolische Inszenierung von Protest zu Unterstützung des “wahren” Führers Trump. Eine Machtübernahme war das nicht.

  22. Ja. Nachdem vom Militär offiziell die Klarstellung erfolgt war, dass sie einen Putschversuch nicht mittragen würden, und sogar öffentlich davor gewarnt haben,
    https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-01/usa-militaer-verteidigungsminister-wahlergebnis-donald-trump-streit?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F
    war danach nun der Marsch auf das Kapitol “nur” noch die Demonstration einer Stellvertreterschaft für das eigentliche bessere Volk.
    Ob diese populistischen Trump-Verehrer harmlose, nette Amerikaner gewesen seien?
    “One rioter was dressed like a barbarian, wearing a horned furry brown Viking headdress and carrying a spear, a known presence at Trump rallies.
    Another, an obvious anti-Semite, wore a black T-shirt with white letters, CAMP AUSCHWITZ. WORK MAKES FREEDOM — from the sign in German atop the iron gated entrance to the concentration camp, Arbeit Macht Frei, or Work Makes Free.” (Counterpunch)

  23. Nette Amerikaner waren das sicher nicht. Ob diese rechten Trumpanhänger “nur” zur Demonstration ihres eigentlichen Wahlsieges ins Kapitol eingedrungen sind, weil ein echter Militärputsch von den Verteidigungsministern vorher abgelehnt wurde, ist eine Spekulation. Jedenfalls haben die Verteidigungsminister Trump zugetraut einen Militärputsch anzustreben, sonst hätten sie nicht diese Erklärung unterschrieben.

  24. Eskalation mit Folgen
    Berlin: Ermittlungen gegen Dutzende Teilnehmer der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration. Verfahren auch gegen einzelne Polizisten
    Von Markus Bernhardt
    Der gegen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am Sonntag in Berlin gerichtete Polizeieinsatz dürfte nicht ohne Folgen bleiben. Am Sonntag morgen waren die Beamten noch vor Beginn der traditionellen Manifestation am Frankfurter Tor gegen rund 30 Anhänger der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ) vorgegangen, die teils Hemden mit dem Emblem ihrer Organisation trugen und entsprechende Fahnen mitführten (siehe jW vom Montag). Da sich die Betroffenen geweigert hätten, »die entsprechenden Kleidungsstücke auszuziehen bzw. zu verdecken und die Fahnen abzulegen, da der Verdacht des strafbaren Zeigens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen bestand«, wie es in einer Mitteilung der Polizei von Montag heißt, seien bei »den jeweiligen Personen freiheitsbeschränkende Maßnahmen« erfolgt.
    Ob diese Rechtsauffassung zutreffend ist, wird dabei selbst von Juristen unterschiedlich bewertet. So urteilten verschiedene Gerichte diesbezüglich in der Vergangenheit vollends gegensätzlich. Bereits 2014 kamen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags zu dem Schluss, dass sich die Frage, wie das FDJ-Abzeichen und damit verbunden das blaue FDJ-Hemd zu beurteilen seien, »nur schwerlich beantworten lasse«. Der Grund: Die FDJ war »in der ›alten‹ Bundesrepublik verboten«, in den »neuen« Bundesländern jedoch nicht. »Nach wohl überwiegender Auffassung ist die heutige Verwendung von FDJ-Abzeichen und -Hemd nach Paragraph 86 a StGB strafbar.« Jedoch würde »der Straftatbestand« in dieser Konstellation »gleichwohl in der Praxis nicht angewendet«, hieß es 2014.
    Infolge des Zugriffs der Polizei, die eigenen Angaben zufolge mit rund 240 Beamtinnen und Beamten im Einsatz gewesen war, hätten Demoteilnehmer die Uniformierten »mit Fahnenstangen, Faustschlägen sowie Stein- und Flaschenwürfen attackiert«, behauptete die Polizei in ihrer Mitteilung. Daraufhin sei es »auch zur Anwendung von körperlicher Gewalt sowie zum Einsatz von Pfefferspray« gekommen. Ein auf Twitter veröffentlichtes Video zeigt unterdessen, wie ein Beamter mit gestrecktem Bein in eine Gruppe junger Menschen springt und dabei auf Kopfhöhe nach Demonstranten tritt. Die Sequenz zeige jedoch »nur einen Ausschnitt des Versammlungsgeschehens«, erklärte Michael Gassen, Sprecher der Berliner Polizei, am Montag gegenüber junge Welt. Das Video sei von der Behörde »zur Kenntnis genommen und wie in derlei Fällen üblich zur Prüfung weitergeleitet« worden. Es stünde der Vorwurf der Körperverletzung im Amt im Raum. »Die Vorwürfe werden im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens aufgeklärt werden, wie es in solchen Fällen grundsätzlich üblich ist«, sagte Gassen.
    »Der Polizeieinsatz am Anfang der LL-Demonstration war völlig inakzeptabel«, konstatierte hingegen Uwe Hiksch vom Bundesvorstand der Naturfreunde Deutschlands am Montag auf jW-Anfrage. Die Polizei sei »mit massiver Härte in die Demonstration hineingegangen«, habe »damit alle Coronasicherheitsregeln mutwillig in Frage gestellt und die Teilnehmenden zusammengedrängt«. Hiksch erwarte vom »rot-rot-grünen« Senat, dass der Polizeieinsatz »nachgearbeitet und die Polizeieinsatzleitung für dieses unverhältnismäßige Vorgehen klar in die Schranken gewiesen wird«. Auch die Grüne Jugend Berlin und Niklas Schrader, Innenexperte der Partei Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus, kritisierten den Polizeieinsatz.
    Die Polizei selbst bilanzierte am Montag, dass bei dem Einsatz 17 Beamte verletzt worden seien. Insgesamt seien 32 Personen festgenommen und 56 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Verstößen gegen das Versammlungsgesetz sowie des Verdachts des Zeigens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Auch das vorhandene Bild- und Filmmaterial werde ausgewertet.
    Facebook löscht jW-Bericht
    Meldung über Polizeigewalt auf LL-Demonstration entfernt. Beitrag entspricht angeblich nicht den »Gemeinschaftsstandards«
    Von Arnold Schölzel
    Sie lügen wie gedruckt, da ist das Beseitigen wahrheitsgemäßer Berichte konsequent. Am Sonntag stellte jW noch während der Luxem­burg-Liebknecht-Demonstration in Berlin eine Meldung ins »soziale Netzwerk« Facebook über Polizeigewalt ein. Darin hieß es, »selbst Minderjährige und ein Rollstuhlfahrer« seien attackiert und letzterer laut einem Augenzeugen »über den Gehweg geschleift« worden. Dazu veröffentlichte jW ein Foto, auf dem eine Jugendliche, die ein FDJ-Hemd trägt, von einem Polizisten im Klammergriff gehalten wird. Am Montag hatte der im kalifornischen Menlo Park residierende Internetkonzern, dem 2,9 Milliarden Nutzer folgen, Text und Bild entfernt und teilte dazu mit: »Offenbar entspricht ein von Dir geposteter Inhalt nicht unseren Gemeinschaftsstandards. Wir entfernen Bilder, die Gewalt verherrlichen oder bestimmte Bilder mit extremer Gewalt enthalten.« An den Sätzen stimmt so ziemlich nichts. Facebook wurde in den vergangenen Jahren wahrscheinlich der bedeutendste Verbreiter und Förderer von nationalistischer und rassistischer Hetze weltweit. Die Manipulation des »Brexit«-Referendums 2016 in Großbritannien oder der Wahl von Donald Trump im selben Jahr zum US-Präsidenten ist bestätigt, ohne dass der Konzern größere Konsequenzen zog. Die Empörung darüber wuchs derart, dass Unternehmen wie Adidas, Aviva, Coca-Cola, Ford, HP, Mars, Starbucks, Unilever und andere für den Juli 2020 einen Anzeigenboykott über Facebook verhängten. Geändert hat das wenig.
    Das Vorgehen von Facebook gegen jW ist zugleich unstimmig: Der Post zum jW-Aufmacher auf Seite eins der Montagausgabe, der neben einem Bild von der Demonstration auch das Foto von der Meldung auf Facebook enthielt sowie die gleichen Textpassagen, wurde bis zum Montag nachmittag nicht entfernt. Die extreme Gewaltanwendung eines Polizisten, der in einem im Internet kursierenden Video mit bis auf Kopfhöhe hochgezogenem Fuß Demonstranten anspringt, über die in dem Artikel berichtet wurde, war immerhin kein Anlass für einen Löschbefehl.
    Die Löschpraxis von Facebook entspricht in diesem Fall im übrigen der rituell antikommunistischen Berichterstattung über die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am Montag und den Äußerungen der Berliner Polizei dazu. Sie erklärte unter der Überschrift »Polizei betreut mehrere Gedenkversammlungen« am Montag, etwa 30 Personen, »die Kleidung und Fahnen mit FDJ-Symbolen trugen«, seien festgenommen worden. Es habe »der Verdacht des strafbaren Zeigens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen« bestanden. Der Aufforderung, diese abzulegen, sei nicht nachgekommen worden. Es habe Widerstandshandlungen und Flaschenwürfe gegeben, weswegen »freiheitseinschränkende Maßnahmen« ergriffen worden seien. 17 Beamte seien verletzt worden. Die dpa und verschiedene Zeitungen berichteten entsprechend, spielten die brutalen Polizeiattacken zu »Rangeleien« herunter. Die Berliner Morgenpost schoss mit der Behauptung den Vogel ab, laut Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages sei »das Verwenden von FDJ-Abzeichen nach Paragraph 86 a Strafgesetzbuch strafbar«. In Wirklichkeit heißt es in einer Ausarbeitung der Dienste aus dem Jahr 2014 (WD 7-3010-028/14): »Das Verbot beschränkte sich ausschließlich auf die FDJ-West«, die in den 50er Jahren in der BRD verboten worden ist.
    Die jW-Redaktion und der Verlag haben gegen die Löschung Protest eingelegt.
    Leicht zu begreifen
    LL-Demo und Polizeigewalt
    Von Nico Popp
    Die Berliner Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am Sonntag war der Umstände halber keine Großveranstaltung, aber dennoch ertragreich für die politische Bildung. Da ist zunächst zu reden von einer Polizeiführung, die sich erstmals seit vielen Jahren dafür entschieden hat, die Demo direkt anzugreifen. Den nötigen Vorwand lieferte (mutmaßlich unfreiwillig) eine kleine Gruppe von Demonstranten, die sich mit den Farben und Symbolen der Freien Deutschen Jugend am Frankfurter Tor eingefunden hatte. Diese Kostümierung ist, genau wie die FDJ als solche, trotz des Verbots der westdeutschen FDJ im Jahr 1951 nicht illegal, weil sie im Oktober 1990 mit dem zu diesem Zeitpunkt noch vorhandenen Parteien- und Organisationsbestand der DDR von der Bundesrepublik übernommen und akzeptiert worden war.
    Die Details regelte damals der sogenannte Einigungsvertrag, der, soweit hier bekannt, bislang nicht für nichtig erklärt wurde. Die verbotene FDJ und ihre Symbole fanden über ihn wieder Eingang in das politische Inventar der Bundesrepublik – dumm gelaufen. Die »verbotenen FDJ-Symbole«, die die Polizei am Sonntag gesehen haben will, sind also gar nicht verboten. Und auch die »rechtliche Grauzone«, mit der sich die verantwortlichen Polizeiführer, sollte sie jemand danach fragen, herausreden werden, ist eine nützliche Fiktion. Keine Fiktion allerdings ist das Interesse, Veranstaltungen wie die LL-Demo zu behindern und abzuräumen. Daran gelegentlich erinnert zu werden, kann nicht schaden.
    Das Polizei-Fußvolk hat, auch das war am Sonntag zu sehen, eine primitive, aber dafür um so lebendigere Vorstellung davon, wo der Feind steht. Geübt wirkende, mit voller Wucht gesetzte Tritte im Kickboxstil gegen Hals und Kopf von Demonstranten sieht man nicht alle Tage, und es ist natürlich kein Zufall, dass der letzte Vorfall dieser Art Ende Oktober am Rande einer linken Veranstaltung, der »Interkiezionale«-Demo, dokumentiert wurde. In solchen Szenen verrät sich ein faschistischer Hass auf Linke, über den einerseits niemand klagen sollte, weil er in der Ideologie des Polizeipersonals eines bürgerlichen Staates selbstverständlich seinen Platz hat, der aber andererseits aktuelle Beachtung verdient, weil er offen zur Schau gestellt wird – die traurige Figur unter dem grünen Helm musste ja damit rechnen, dass ein Filmchen des Auftritts bei Twitter die Runde machen wird.
    Sie wird indes auch gewusst haben: Um derartige Nummern ungeschoren durchziehen zu können, muss der Innensenator nicht von der CDU sein – so etwas geht auch unter »rot-rot-grünem« Kommando. Von der Berliner Linkspartei, die mit der LL-Demo augenscheinlich vollkommen abgeschlossen hat, kam am Sonntag und Montag kaum ein kritisches Wort. Niklas Schrader immerhin, ihr innenpolitischer Sprecher im Abgeordnetenhaus, donnerte bei Twitter in Richtung des Innensenators: »Das geht so nicht.« Das geht schon. Und es ist gar nicht schwer, das zu begreifen.

  25. “In solchen Szenen verrät sich ein faschistischer Hass auf Linke, über den einerseits niemand klagen sollte, weil er in der Ideologie des Polizeipersonals eines bürgerlichen Staates selbstverständlich seinen Platz hat, der aber andererseits aktuelle Beachtung verdient, weil er offen zur Schau gestellt wird – die traurige Figur unter dem grünen Helm musste ja damit rechnen, dass ein Filmchen des Auftritts bei Twitter die Runde machen wird.”

    Ja richtig. “In solchen Szenen verrät sich ein faschistischer Hass auf Linke,” Anders kann ich mir so ein Vorgehen auch nicht erklären. Aber wieso sollte niemand kritisieren, dass faschistischer Hass auf Linke in der Ideologie des Polizeipersonals eines bürgerlichen Staates selbstverständlich seinen Platz hat? Wieso soll Faschismus bei der Polizei in Ordnung gehen, wenn er sonst in der Gesellschaft nicht in Ordnung geht. Ich bin sicher Politiker würden dem widersprechen, dass Faschismus bei der Polizei zum bürgerliche Staatswesen gehört. Und selbst wenn Politiker das in Ordnung fänden, wäre der Faschismus doch auch bei der Polizei kritikabel. Hier steht das so als Abwiegelei da. “Hey Leute, das ist normal im bürgerlichen Staat. Der eigentliche Aufreger ist, dass er Offen zur Schau gestellt wird.” Könnte man zurückfragen: Ja wenn Faschismus bei der Polizei so “normal” ist, dann muss man sich auch nicht wundern, wenn er offen gezeigt wird.
    Einem Verteidiger des Staates und seiner Ordnungskräfte würde ich ja schonmal sagen, dass der Schutz des Staates vor Verfassungsfeinden recht nah am einem faschistischen Hass auf Linke liegt. Aber das wäre dann doch wohl erstmal nachzuweisen und nicht einfach zu unterstellen. Es ist aber einfach untauglich, das so flapsig in einem Nebensatz als Normalität dazustellen über die sich niemand beklagen soll.
    ” »Das geht so nicht.« Das geht schon.” Weil es offenbar schon geht, deshalb sagt Schrader ja, dass das so nicht gehen darf. Was ist Herr Popp? Ein Rechter, der den Polizeieinsatz verteidigt oder will er dem innenpolitischen Sprecher sagen, dass er keine Ahnung hat, wozu die Polizei in der Demokratie alles fähig ist.
    Imperialismus ist das auch nicht, aber es passt zur Erstürmung des Kapitols.

  26. Mehr Truppen gegen Moskau (12.01.2021)
    Deutscher Think-Tank fordert Stationierung zusätzlicher NATO-Soldaten an der russischen Grenze. EU-Think-Tank schildert fiktiven russischen Giftgaseinsatz in Litauen.
    BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Die NATO soll den militärischen Druck auf Russland weiter erhöhen. Dies fordert ein soeben publiziertes Strategiepapier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Demnach sei Moskau ein “Expansionsstreben” in Richtung Westen zu unterstellen; sollte einmal “die Einheit der NATO hinlänglich unterminiert” werden, dann drohe “die Ausdehnung russischer Kontrolle über Europa … beinahe automatisch” zu erfolgen. Einer der Autoren des Strategiepapiers ist ein Generalleutnant a.D. der Bundeswehr, der lange für die NATO tätig war und unter anderem die Federführung bei der gegen Russland gerichteten Neuausrichtung des Kriegsbündnisses im Jahr 2014 innehatte. Das Papier fordert die Stationierung zusätzlicher Truppen an der russischen Grenze und verlangt, der deutschen Öffentlichkeit, die Russland mehrheitlich nicht als Bedrohung wahrnehme, “die russische Politik zu erklären”. Unterdessen hat ein einflussreicher EU-Think-Tank ein weiteres Papier publiziert, das in einem Zukunftsszenario einen fiktiven Giftgasangriff der russischen Streitkräfte auf Litauen zum Gegenstand hat.
    Von der NATO zur DGAP
    Neue Forderungen, Russland militärisch noch stärker als bisher unter Druck zu setzen, trägt die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in einem soeben publizierten Positionspapier vor. Autoren sind András Rácz, Senior Fellow beim Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP, und Heinrich Brauß, Senior Associate Fellow des Berliner Think-Tanks. Generalleutnant a.D. Brauß hat eine lange militärische Karriere hinter sich, die ihn aus dem Planungsstab von Bundesverteidigungsminister Volker Rühe zunächst auf den Posten des Stabschefs im Hauptquartier der NATO-Operation SFOR in Bosnien-Herzegowina führte. Anschließend wirkte er unter anderem als Assistant Chief of Staff im Brüsseler Militärstab der EU, bevor er zur NATO wechselte. Dem Kriegsbündnis diente Brauß von Oktober 2013 bis Juli 2018 als Beigeordneter Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung; er hatte insbesondere die Federführung bei der gegen Russland gerichteten Neuausrichtung der NATO im Jahr 2014 inne.[1] Entsprechend fallen Inhalt und Duktus des DGAP-Positionspapiers aus.
    Moskaus “Expansionsstreben”
    In dem Dokument unterstellen Brauß und Rácz Russland generell ein “Expansionsstreben”, das “eine ernsthafte geopolitische Herausforderung und eine potenzielle militärische Bedrohung für die europäische Sicherheit” sei. Begründet wird dies unter anderem damit, dass Russland unweit seiner westlichen Grenze große Manöver durchführt und dort in gewissem Maß Truppen massiert; Brauß und Rácz interpretieren dies nicht als Verteidigungsmaßnahme mit Blick auf die zunehmende Präsenz von NATO-Truppen unmittelbar jenseits der russischen Westgrenze, sondern als Ausdruck vermeintlicher Aggressionsbereitschaft. Zwar räumen der langjährige NATO-Militär sowie sein DGAP-Kollege ein, dass Moskau “einen direkten militärischen Konflikt mit der NATO und den USA in Europa vermeiden will” und deshalb “das Risiko einer russischen Militäraggression gegen die baltischen Staaten gegenwärtig gering” sei.[2] Allerdings heißt es in dem DGAP-Papier, falls die Vereinigten Staaten sich in Zukunft auf Ostasien konzentrierten und “mit großen Truppen in der Asien-Pazifik-Region gebunden” seien, könne Russland eventuell “eine aggressivere Haltung in Europa” einnehmen.
    “Unter russischer Kontrolle”
    Das gelte erst recht, prognostizieren Brauß und Rácz, sollte “die Einheit der NATO hinlänglich unterminiert” werden oder das Kriegsbündnis gar zerfallen. Vor allem das Baltikum stelle sich in diesem Fall als “ein offenes Feld” dar, über das Russland “Kontrolle gewinnen” werde: “Die Ausdehnung russischer Kontrolle über Europa erfolgte dann beinahe automatisch.”[3] Zum Beleg angeblicher russischer Aggressionsplanungen führt das DGAP-Positionspapier an, Moskaus Militärhaushalt habe im Jahr 2019 ein Volumen von rund 62 Milliarden US-Dollar erreicht. Das trifft zu; allerdings ist das nicht viel mehr als der offizielle Bundeswehrhaushalt, der im Jahr 2019 bei 54,8 Milliarden US-Dollar lag. Behelfsweise erklärt die DGAP, berechne man das russische Rüstungsbudget nach Kaufkraftparität – also unter Berücksichtigung der abweichenden Stärke der jeweiligen nationalen Währungen -, dann entspreche es einem westlichen Militärhaushalt in Höhe von rund 164 Milliarden Euro. Der Berliner Think-Tank lässt unerwähnt, dass dies immer noch erheblich weniger ist als die Militärausgaben der europäischen NATO-Mitglieder, die sich im Jahr 2019 zusammengenommen auf 287 Milliarden US-Dollar beliefen – und dies ohne Berechnung nach Kaufkraftparität.
    Truppen verstärken, Propaganda intensivieren
    Aus der vorgeblichen Bedrohung durch Russland ziehen die Autoren des DGAP-Papiers den Schluss, die NATO müsse den militärischen Druck auf Moskau erhöhen. So sollten etwa die im Baltikum und in Polen stationierten Einheiten – darunter das deutsch geführte Kontingent im litauischen Rukla [4] – verstärkt werden, vorzugsweise durch US-Soldaten. Die Luft- und Raketenabwehr sei “drastisch” auszubauen, inklusive Luft-Luft-Raketen, mit denen man russische Marschflugkörper möglichst rasch nach deren Abschuss zerstören könne. Eine besondere Rolle komme – auch “wegen seiner zentralen geopolitischen Lage, seinen historischen Erfahrungen” – Deutschland zu. Leider nehme die Mehrheit der deutschen Bevölkerung “keine Bedrohung” durch Russland wahr. Deshalb gelte es, der deutschen Öffentlichkeit “die russische Politik zu erklären” und “die vielfältigen Formen von Einschüchterung und Drohungen zu beschreiben, denen östliche Verbündete ausgesetzt” seien.[5] Auch müsse man “klarstellen, dass der Schutz und, sofern nötig, die Verteidigung von Deutschlands östlichen NATO-Verbündeten bedeuteten, Deutschlands Sicherheits und territoriale Integrität zu schützen und zu verteidigen”. Es gelte “auf glaubwürdiger Abschreckung zu bestehen”.
    Fictional Intelligence
    Kurz vor der Publikation des DGAP-Positionspapiers hat der zentrale außen- und militärpolitische Think-Tank der EU, das European Union Institute for Security Studies (EUISS), ein Papier publiziert, das gleichfalls einen Beitrag zum Konflikt zwischen dem Westen und Russland enthält. Das gesamte Papier umfasst 15 Zukunftsszenarien, in denen mögliche Ereignisse im Jahr 2030 beschrieben werden; ausdrücklich heißt es, es handle sich “nicht um Science Fiction, sondern um Fictional Intelligence (FICINT): wurzelnd in der Wirklichkeit”.[6] Die Methode soll dazu dienen, die Strategiebildung anzuregen. Die Autoren aller 15 Beiträge hätten den Auftrag erhalten, ihre Zukunftsszenarien “nicht allzu fantastisch” zu konzipieren, sondern “schwache Signale” der Gegenwart und “Konfliktelemente, die (noch) nicht in den Schlagzeilen sind”, aufzunehmen, heißt es. Das Papier wurde im Dezember 2020 publiziert.
    Giftgas
    Der Beitrag zum Konflikt zwischen dem Westen und Russland ist pseudoliterarisch in Form einer Kurzgeschichte verfasst. Hauptfigur ist ein deutscher Soldat, der sich auf litauischem Territorium unmittelbar an der Grenze zu Belarus aufhält und Bewegungen in Belarus operierender russischer Truppen beobachtet. Kurz zuvor seien, so heißt es, die letzten in Deutschland stationierten US-Einheiten abgezogen worden; in Europa bestehe deshalb “ein Machtvakuum”.[7] Die Geschichte beschreibt einen unprovozierten Überfall der russischen Streitkräfte auf Litauen, der mit einem Cyberangriff und elektronischen Störmanövern eingeleitet wird. Besonderer Höhepunkt der Darstellung ist die Schilderung eines fiktiven Giftgaseinsatzes durch russische Truppen während ihres Einmarschs in Litauen.
    Farbrevolutionen als Bumerang (08.01.2021)
    Berlin distanziert sich verbal vom Sturm auf das Kapitol in Washington, zieht aber keinerlei Konsequenzen.
    ERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Trotz breiter verbaler Distanzierung vom Sturm auf das Washingtoner Kapitol vermeiden Berlin und Brüssel die Debatte um mögliche Folgen für die transatlantischen Beziehungen. Zwar erklärt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, “jetzt” sei “der letzte Zeitpunkt”, an dem die US-Republikaner “sich entscheiden können zwischen Demokratie und Trump”. Laut einer Umfrage billigen 45 Prozent der US-Republikaner das gewaltsame Eindringen ins Parlament. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geht demgegenüber jedoch zum Alltag über: Sie “freue” sich auf eine Kooperation mit dem künftigen US-Präsidenten Joe Biden, teilte sie gestern mit. Dabei wird es der Westen in Zukunft wohl beträchtlich schwerer haben, sich in der Weltpolitik als “Leuchtturm der Demokratie” zu inszenieren: Allzu deutlich ähneln die Bilder vom Sturm auf das Kapitol den Bildern vom Sturm auf die Parlamente in Belgrad (2000), Tbilisi (2003) oder Hongkong (2019), die jeweils einen prowestlichen Umsturz herbeiführten oder herbeiführen sollten und hierzulande bejubelt wurden.
    Anschlag auf die Demokratie
    Mit relativ klaren Worten haben sich führende Politiker in Berlin vom Sturm auf das Kapitol in Washington und von US-Präsident Donald Trump distanziert. Man habe am Mittwoch einen “bewaffneten Mob” beobachten können, “aufgestachelt von einem amtierenden Präsidenten”, ließ sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zitieren; die Ereignisse seien das Ergebnis nicht zuletzt von “Hetze auch von allerhöchster Stelle”.[1] Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von “verstörenden Bildern”: “Ich bedauere sehr, dass Präsident Trump seine Niederlage seit November nicht eingestanden hat”. Außenminister Heiko Maas verlangte, der scheidende Präsident und seine Unterstützer “sollten endlich die Entscheidung der amerikanischen Wähler und Wählerinnen akzeptieren und aufhören, die Demokratie mit Füßen zu treten”; jede Verachtung demokratischer Institutionen habe “verheerende Auswirkungen”. Bundesfinanzminister Olaf Scholz äußerte auf Twitter, Trump habe “das Land tief gespalten”; das Eindringen der Demonstranten in das Parlamentsgebäude sei ein “unerträglicher Anschlag auf die Demokratie”.
    Nur Symptom der Radikalisierung
    Die Berliner Distanzierungen lenken dabei von weitreichenden Fragen ab, die sich aus dem Sturm auf das Kapitol für die deutsche Politik ergeben. Indirekt hat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, darauf hingewiesen: “Jetzt” sei “der letzte Zeitpunkt, an dem die Republikaner sich entscheiden können zwischen Demokratie und Trump”, erklärte Röttgen am gestrigen Donnerstagmorgen.[2] In den Abstimmungen im US-Kongress hatten sich unmittelbar zuvor einige Senatoren und weit mehr als 100 Republikaner im Repräsentantenhaus weiterhin dem Trump’schen Konfrontationskurs untergeordnet und dem President-elect Joe Biden ihre Zustimmung verweigert. “Der Trumpismus ist quicklebendig in der Republikanischen Partei”, urteilte gestern, auch mit Blick darauf, der USA-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Sascha Lohmann; das sei aber auch nicht weiter erstaunlich, denn Trump sei lediglich “ein Symptom” der “Radikalisierungsentwicklung”, die die US-Republikaner bereits seit Jahrzehnten durchliefen.[3] Trifft dies zu und nähme man die Berliner Distanzierungen ernst, dann müssten die transatlantischen Beziehungen ernsthaft überprüft werden: Auch jenseits jeder Regierungspolitik sind US-Republikaner, darunter solche, die Trumps Politik nahestehen, ein elementarer Bestandteil der transatlantischen Beziehungen.
    Freiheit und Demokratie
    Unmittelbare Folgen hat der Sturm auf das Kapitol auch anderweitig für die Berliner Außenpolitik, die – ungeachtet aller transatlantischen Rivalitäten [4] – weiter eng mit Washington kooperiert. Dies lassen Äußerungen aus Staaten erkennen, gegen die die Bundesrepublik und die USA gewöhnlich gemeinsam Stellung beziehen. So werden Regierungsvertreter in Russland, das vom Westen gerne als nicht hinreichend demokratisch attackiert wird, mit der Äußerung zitiert, die Washingtoner Ereignisse vom Mittwoch zeigten, dass die US-Demokratie “auf beiden Beinen hinkt”; die USA – und der Westen insgesamt – könnten es sich von nun an nicht mehr anmaßen, andere Länder über “Freiheit und Demokratie” zu belehren.[5] Der Vorsitzende im Duma-Ausschuss für internationale Angelegenheiten urteilt ebenfalls, die Vereinigten Staaten seien nicht mehr in der Lage, sich als “Leuchtturm der Demokratie” zu inszenieren; vielmehr zeige sich, dass sich die “Farbrevolutionen” als Bumerang erwiesen: Unter Verweis auf den Sturm auf das Belgrader Parlament im Jahr 2000 und das Parlament in Tbilisi im Jahr 2003, die beide von westlichen Organisationen unterstützt und im Westen bejubelt wurden, hieß es, diese Praktiken kehrten nun “in die USA zurück”.[6]
    Doppelte Standards
    Ähnliche Parallelen wurden gestern in China gezogen. So wies eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums darauf hin, dass Nancy Pelosi, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Bilder vom Sturm randalierender Demonstranten auf Hongkongs Parlament einst als “schönen Anblick” gefeiert hatte; mit Verweis darauf, dass die Demonstranten in Hongkong im Westen als “Freiheitskämpfer”, die Demonstranten in Washington aber als “Gewalttäter” und als “Mob” bezeichnet worden seien, hieß es, die doppelten Standards seien offensichtlich.[7] In chinesischen Medien wurde der an der Christopher Newport University (Virginia) lehrende Politologe Sun Taiyi mit der Einschätzung zitiert, in Zukunft könnten sich andere das Beispiel des Sturms auf das Kapitol zum Vorbild nehmen. Sun verwies dabei auf eine YouGov-Umfrage, die gestern feststellte, dass 21 Prozent aller eingetragenen US-Wähler sowie 45 Prozent der befragten US-Republikaner das gewaltsame Eindringen in das Parlamentsgebäude billigten.[8] Mit Blick auf die tiefe politisch-gesellschaftliche Spaltung in den Vereinigten Staaten, die sich in derlei Zahlen ausdrückt, hieß es, was das Land dringend benötige, sei “eine umfassende soziale Reform”.[9]
    Keine Konsequenzen
    Berlin und Brüssel beharren unterdessen auf business as usual. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte: “In den Augen der Welt erscheint [!] die amerikanische Demokratie … unter Belagerung”; im Gegensatz dazu sei er aber der Auffassung: “Das ist nicht Amerika.”[10] EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wiederum erklärte, sie “vertraue” in die Stärke der US-Demokratie sowie ihrer Institutionen: “Joe Biden hat die Wahl gewonnen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit ihm als nächstem US-Präsidenten”. Jegliche Debatte über eventuelle Folgen des Sturms auf das Kapitol für das transatlantische Verhältnis bleibt aus.

  27. Bei diesem Sturm aufs Parlament, wenn man ihn als Putschversuch bezeichenen will, stellt sich sofort die Frage: Wer stand eigentlich dahinter außer Trump und diesen paar Hundert zusammengewürfelten Cowboys und Faschingsfiguren, die teilweise auch noch Selfies von sich ins Internet stellten?
    Die Polizei?
    Der Pentagon?
    Der CIA?
    Der FBI?
    Weil zu einem irgendwo ernstzunehmenden Putsch gehört ein Teil der Eliten und des Gewaltapparates dazu.
    In der Türkei wird seit Jahren diesbezüglich aufgeräumt und alle Verdächtigen aus dem Staatsapparat hinausgesäubert.
    Es fragt sich, ob irgend so etwas in den USA vorgesehen ist?
    Laut den Kameraaufnahmen und anderen Fotodokumenten gab es zwei Arten von Kapitol-Stürmern: Die einen, die sich wo breit machten, fotografierten, Souvenirs mitnahmen – und eine zweite Gruppe, die zielgerichtet Computer, Festplatten, Laptops und dergleichen mitgehen ließ, um sich alle möglichen Daten und Infos anzueignen.
    Vermutlich wird man da schon noch irgendwelche Enthüllungen sehen, oder aber Leute werden erpreßt werden mit Infos, die sich diese andere Gruppe angeeignet hat.

  28. Nawalny will umgehend zurück nach Russland
    13. Januar 2021 Ulrich Heyden
    Liberale und Linke in Moskau hoffen, dass sich der russische Machtapparat an der Frage Nawalny spaltet
    Ruhig schlafen mit dem neuen CIA-Chef?
    Bidens Wahl von William J. Burns für den Posten fügt sich zum Bild eines wahrscheinlich aggressiveren Kurses gegen Russland
    Topdiplomatin des Tages: Victoria Nuland
    Von Reinhard Lauterbach
    Josef Stalin hat bekanntlich einmal gesagt, wenn die Gesamtlinie stehe, hänge ihre Umsetzung von den richtigen Kadern ab. Umgekehrt lässt sich dann natürlich auch von der Auswahl der Kader auf die Linie schließen.
    Seit etwa einer Woche ist in Washington undementiert die Meldung im Umlauf, dass US-Präsident Joseph Biden seinem designierten Außenminister Antony Blinken den Sachverstand zweier verdienter Veteraninnen der US-Außenpolitik an die Seite stellen will: Wendy Sherman und Victoria Nuland.
    Sherman war Hauptverhandlerin der USA beim Atomabkommen mit dem Iran, das Donald Trump dann verlassen hat. Und Nuland ist überhaupt nicht in erster Linie als Verhandlerin in die Geschichte eingegangen, sondern als Schafferin vollendeter Tatsachen. Unvergessen ihr Telefonat mit dem damaligen US-Botschafter in Kiew Anfang 2014, als dieser darauf hinwies, dass die EU zu einigen Punkten der Postenverteilung in der Ukraine nach dem Maidan andere Auffassungen habe als Washington: »Fuck the EU.«
    Genau das haben die USA auch getan, wie die nachfolgenden Ereignisse zeigten. Bei Trump hieß das »America First«, und Biden hat nach seiner Wahl auch nichts anderes verkündet: »Amerika« sei mit ihm zurück auf der Weltbühne, »bereit, die Welt zu leiten«. Von wegen also »neue Ära« und was das deutsche Kommentariat sonst noch so zusammenschreibt. Nicht einmal die Hoffnung auf bessere Manieren der künftigen US-Diplomatie lässt sich mit dieser Nominierung noch aufrechterhalten.
    Nur Heiko Maas macht sich weiter Illusionen und säuselt im ZDF von seiner Gewissheit, dass sich die »europäisch-amerikanischen Beziehungen« unter Biden »wesentlich verbessern« würden. Da hat einer wirklich den Stock verschluckt, mit dem Trump die BRD verprügelt hat, um es mit Heine zu sagen.
    Frieden und Infrastruktur
    Russland will Karabach-Konflikt durch multilaterale Zusammenarbeit entschärfen – und seinen Zugang zur Südkaukasusregion verbessern
    Von Reinhard Lauterbach
    Die Atmosphäre beim russisch-armenisch-aserbaidschanischen Gipfel Anfang der Woche in Moskau war frostig. Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan und der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew waren sich nicht einmal einen Handschlag zur Begrüßung wert. Aber beide begrüßten demonstrativ herzlich den russischen Gastgeber und nachdrücklichen Vermittler Wladimir Putin.
    Nach knapp vier Stunden gab es eine Abschlusserklärung, die in zwei Richtungen ging: Die politischen Gegensätze zwischen Armenien und Aserbaidschan wurden heruntergespielt, dafür die Perspektiven einer künftigen Zusammenarbeit in den Vordergrund gestellt. Alijew gab sich – und konnte das im Lichte des Sieges seiner Armee im Sechswochenkrieg des vergangenen Herbstes – betont gelassen und erklärte sich bereit, »einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen« und nach vorn zu blicken. Paschinjan hingegen beklagte kleinlaut, dass nach wie vor armenische Soldaten in Aserbaidschan gefangengehalten würden und dass vor allem der künftige Status von Berg-Karabach nicht angesprochen worden sei.
    Abhängig von Moskau
    Der an sich gegenüber Putin kritische Radiosender Echo Moskwy kommentierte, der russische Präsident mache der armenischen Seite damit in aller Deutlichkeit klar, dass sie mit dem Ergebnis des Krieges als dem neuen Status quo für die kommenden Jahrzehnte werde rechnen müssen. Und dieser sieht folgendermaßen aus: Jerewans Träume von einer regionalen Machtstellung sind ausgeträumt, das Land und mehr noch die Exklave Berg-Karabach sind abhängig davon, dass Russland das Verhandlungsergebnis diplomatisch und durch seine Friedenstruppen absichert und – zum Beispiel – bestimmte kulturelle Rechte der armenischen Bevölkerung von Karabach garantiert.
    Anders als auf der politisch-militärischen Seite, wo sich die Parteien einstweilen zehn Jahre Zeit gegeben haben, drückte Russland dagegen bei der wirtschaftlichen Integration der Region aufs Tempo. Bis zum 1. März soll eine Arbeitsgruppe auf Ebene der stellvertretenden Regierungschefs der beteiligten Länder ein Konzept und einen Zeitplan für die Wiedereröffnung von durch 30 Jahre Karabach-Konflikt blockierten Transportwegen vorlegen. Die Blaupause liefert erkennbar das Westeuropa der frühen Nachkriegszeit: Eine Integration von Schlüsselbereichen der Wirtschaft sollte wie in der Vorstellung der Gründer der »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« alle Beteiligten materiell an einer Zusammenarbeit interessieren und dadurch das Fundament für entspannte politische Beziehungen legen.
    Die Schlüsselrolle bei der Anwendung dieses historischen Beispiels auf den Südkaukasus spielen die Transportwege, vor allem das Eisenbahnnetz. Alijew nannte die wechselseitigen Vorteile für Armenien und Aserbaidschan: Sein Land bekomme durch die Einigung einen Landkorridor in seine zwischen Armenien und der Türkei eingeschlossene Region Nachitschewan, Armenien hingegen einen Landkorridor für seinen Handel in Richtung Russland. Ermöglicht werde auch die Erschließung reicher Buntmetallvorkommen im Süden Armeniens, die bisher an fehlenden Transportmöglichkeiten scheiterte. Georgien, über das Armenien bisher seinen Außenhandel – notgedrungen angesichts geschlossener Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan – überwiegend abgewickelt hat, wurde mit keinem Wort erwähnt.
    Das wichtigste Infrastrukturprojekt, das im Rahmen der Moskauer Vereinbarung angegangen werden soll, ist die Wiederherstellung der »Transsib des Kaukasus«. Das ist eine etwa 850 Kilometer lange Eisenbahnlinie, die ursprünglich von den Schwarzmeerhäfen in Georgien durch Armenien und dann entlang der Grenzen zur Türkei und zum Iran verlief. Das in Etappen zwischen 1890 und 1942 verwirklichte Projekt hatte während des Zweiten Weltkriegs auch große Bedeutung für die Versorgung der Roten Armee mit Hilfsgütern der Westalliierten, die über den Iran geliefert wurden. Denn in der Stadt Dschulfa im Gebiet Nachitschewan gibt es einen Anschluss an das iranische Eisenbahnnetz. Sollte dieser Übergang wieder nutzbar werden, könnte nach russischen Berechnungen der russisch-iranische Handel um ein Drittel zulegen, der zwischen Armenien und dem Iran sogar um 50 bis 70 Prozent. Russland erhofft sich von einer Wiederherstellung dieses Transportkorridors auch höhere Einnahmen als Transitland für Container aus Ostasien auf dem Weg nach Mittel- und Nordeuropa.
    Die Entscheidung über die Wiederbelebung des transkaukasischen Eisenbahnnetzes ist einstweilen eine politische Erklärung. Bis der erste Zug tatsächlich fährt, werden auch im besten Fall noch Jahre vergehen. Denn mindestens ein Drittel der »Kaukasus-Transsib« müsste neu errichtet werden. Viele Abschnitte sind nicht innerhalb kurzer Zeit wieder nutzbar, nachdem sie 30 Jahre lang brachgelegen haben.
    Hintergrund: Der türkische Faktor
    Aserbaidschan hat den Herbstkrieg um Berg-Karabach nicht zuletzt mit aktiver Unterstützung Ankaras gewonnen. Türkische Drohnen spähten armenische Stellungen aus, türkische Kampfflugzeuge beherrschten den Luftraum, aus dem türkisch kontrollierten Teil Syriens wurden islamistische Söldner an die Front geschafft. Mit dieser gar nicht weiter bestrittenen Einmischung demonstrierte Ankara seinen Anspruch auf geopolitischen Einfluss im Südkaukasus.
    Wenn nicht alles täuscht, hat Russland diese potentielle Konkurrenz zu seinen eigenen Interessen in der Region mit der jetzt in die Wege geleiteten Infrastrukturinitiative recht geschickt aufgefangen. Die Türkei bekäme mit der Reaktivierung der Transportwege ihren Landkorridor nach Baku – über die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan und weiter entlang der armenisch-iranischen Grenze. Aber Ankara erhält diesen Zugang unter Kontrolle russischer Grenztruppen, die nach der Waffenstillstandsvereinbarung vom November die betreffende Straße und den noch wiederherzustellenden Abschnitt der Bahnlinie auf dem Transit durch Armenien sichern sollen. Das sollte solange, wie die russischen Soldaten dort stationiert sind, verhindern können, dass dieser Korridor entgegen russischen Interessen genutzt wird.
    Rein technisch gesehen, könnte die Eisenbahnlinie »Kaukasus-Transsib« auch als Transportweg zwischen Russland und der Türkei dienen. Diese Route würde überdies georgisches Territorium vermeiden, denn es gibt eine Abzweigung von der armenischen Stadt Gjumri aus. Sie kann allerdings nicht mehr genutzt werden, seitdem die Türkei 1993 ihre Grenze zu Armenien als Vergeltung für den damaligen armenischen Angriff auf Aserbaidschan gesperrt hat. Umgekehrt gesagt: Wenn die Türkei im Falle, dass die Normalisierung gelingt, die Grenze zu Armenien wieder öffnen würde, bekäme sie auch Zugang zu der »Kaukasus-Transsib«. (rl)

  29. Nein nein, der Vergleich mit dem Bonapartismus war nicht von mir. Ganz im Gegenteil, ich habe vor dergleichen Vergleichen gewarnt, weil sie nix bringen.
    Die Sache kam umgekehrt ins Spiel: In einem der Links war ein Zitat zu dem Thema, und da wurde die Reihenfolge umgedreht: Erst als Farce, dann als … – und ich habe darauf hingewiesen, daß da Marx falsch zitiert wurde.

  30. Was die Schrift von Marx angeht, so ist der rationale Kern derselben folgender:
    Die Demokratie – damals hieß es die „Republik“, und vom allgemeinen Wahlrecht war 1851 auch Frankreich noch weit entfernt – ist eine Herrschaftsform, die gewisse Vorteile für die Herrschaft hat: Sie versichert sich der Zustimmung ihrer Bürger, regiert nach Gutdünken, und wenn irgendwas schiefgeht, so schreibt sie wieder Wahlen aus, und die neue Mannschaft macht weiter wie vorher.
    Wenn es aber ums Eingemachte geht, so läßt sich diese Staatsform auch aufheben, man läßt sich diktatorische Vollmachten geben, regiert auf dem Wege des Dekrets und setzt innen- und außenpolitische Ziele durch, die möglicherweise mit einem Parlament nicht zu machen sind.
    Wenn das schiefgeht, so schickt man als herrschende Klasse den Diktator in die Wüste und macht wieder auf volksfreundlich, wie es in Frankreich mit der Ausrufung der III. Republik auch geschehen ist, nach der Niederlage gegen Preußen/Deutschland 1870.

  31. Mit Bomben gegen Teheran (15.01.2021)
    Strategiezentrum der Bundesregierung plädiert für etwaige Unterstützung eines militärischen Überfalls auf Iran.
    BERLIN/WASHINGTON/TEHERAN (Eigener Bericht) – Die Bundesrepublik soll zur Wahrung deutscher Interessen unter Umständen “einen Militärschlag der USA und/oder Israels gegen Iran … unterstützen”. Dies fordert die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), das wichtigste militärpolitische Strategiezentrum der Bundesregierung. Wie es in einem aktuellen BAKS-Papier heißt, könne dies “notwendige Konsequenz” des deutschen Interesses sein, nukleare Aufrüstung in Mittelost zu verhindern. Hintergrund ist, dass Berlin sich Hoffnungen macht, gemeinsam mit der künftigen Biden-Administration das Atomabkommen mit Iran wieder in Kraft zu setzen und in Zusammenhang damit Teheran zur einseitigen Abrüstung seines Raketenprogramms zu zwingen. Allerdings ist unklar, ob dies gelingt: Teheran hat kürzlich – aus Protest gegen den Mord an einem iranischen Atomexperten – die Anreicherung seines Urans deutlich über die vorgesehene Grenze erhöht. Hintergrund des Konflikts ist ein Machtkampf um die regionale Hegemonie in Mittelost, in dem die westlichen Mächte Iran einzudämmen suchen und dessen Gegner Saudi-Arabien stützen.
    Hegemonialkonflikt am Golf
    Kern der erbitterten Machtkämpfe im Nahen und Mittleren Osten ist, wie es in einem aktuellen “Arbeitspapier” der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) heißt, der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran – “die zentrale machtpolitische Auseinandersetzung” der Region.[1] Ursache ist, dass beide Staaten einen Hegemonialanspruch am Persischen Golf erheben; Iran kann sich dabei nicht nur auf eine im regionalen Vergleich altgewachsene industrielle Grundstruktur, sondern auch auf eine zahlenstarke, relativ gut ausgebildete Bevölkerung stützen. Machtpolitisch profitiert Teheran zudem von der westlichen Gewaltpolitik der vergangenen beiden Jahrzehnte. So ist sein traditioneller Rivale Irak im Jahr 2003 nicht nur von den USA machtpolitisch ausgeschaltet worden; die schiitische Bevölkerungsmehrheit in dem Land stellt seither zudem sicher, dass Iran über wachsenden Einfluss in Bagdad verfügt. In Syrien hat der Westen mit dem Versuch, die Regierung von Präsident Bashar al Assad zu stürzen, diese zunehmend an die Seite nicht nur Moskaus, sondern auch Teherans getrieben und proiranischen Milizen Türen geöffnet. Im Jemen haben sich die Houthi-Milizen, seit Saudi-Arabien 2015 den Krieg gegen sie begann, ebenfalls immer mehr Iran angenähert. Von der gescheiterten Politik seiner Feinde profitiert Teheran.
    Architekten des Atomabkommens
    Aktuell ist in der Iranpolitik des Westens und seiner Verbündeten eine doppelte Entwicklung zu verzeichnen. Zum einen lässt der künftige US-Präsident Joe Biden die Absicht erkennen, sich von der gescheiterten Politik “maximalen Drucks”, wie sie die Trump-Administration verfolgt hatte, zu distanzieren und ein neues Abkommen mit Teheran anzustreben. Der künftige US-Außenminister Antony Blinken gilt als einer der Architekten des Atomabkommens mit Teheran und hat dessen Bruch durch den scheidenden US-Präsidenten mehrfach heftig kritisiert. Der designierte CIA-Chef William Burns hatte bereits 2008 erste, damals noch geheime Gesprächskontakte nach Teheran aufgebaut und ab 2013 dann einen ebenfalls zunächst geheimen Verhandlungskanal installiert, dies gemeinsam mit Jake Sullivan, der künftig den Nationalen Sicherheitsrat leiten wird.[2] Freilich werde die Biden-Administration nicht einfach das Atomabkommen von 2015 wieder aktivieren wollen, heißt es in dem BAKS-Arbeitspapier: Iran habe seine Stellung in den vergangenen Jahren ungeachtet der US-Sanktionen punktuell stärken können; so habe das Land erfolgreich nicht nur sein Raketenprogramm vorangetrieben, sondern auch die Position mit ihm verbündeter Milizen in mehreren Ländern der Region – vom Irak über den Libanon bis zum Jemen – ebenfalls erfolgreich unterstützt. In künftigen Verhandlungen solle Iran seine Einflussgewinne wieder preisgeben.
    Schulterschluss gegen Teheran
    Zum anderen ist es den regionalen Gegnern Irans in den vergangenen Wochen und Monaten gelungen, sich enger denn je zuvor zusammenzuschließen. So hat nicht nur der Gulf Cooperation Council (GCC), der Zusammenschluss Saudi-Arabiens mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Qatar, Bahrain, Kuwait und Oman, mit der jüngst verkündeten Beendigung der Blockade Qatars durch Riad und Abu Dhabi wieder die Fähigkeit zu abgestimmtem Handeln erlangt. Insbesondere aber trägt die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel auf der einen, den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie Bahrain auf der anderen Seite dazu bei, die Reihen im Nahen und Mittleren Osten gegen Teheran zu schließen. Saudi-Arabien hat zwar seine Beziehungen zu Israel noch nicht formell normalisiert; informell steuert es allerdings längst darauf zu.[3] Wie Guido Steinberg, Autor des BAKS-Arbeitspapiers sowie Mittelostexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), urteilt, sei Israel für die Golfstaaten nicht zuletzt deshalb “attraktiv”, weil es “mit Aktionen wie der gezielten Tötung von General Mohsen Fakhrizadeh”, der “Schlüsselfigur im iranischen Atomprogramm”, im November 2020 gezeigt habe, “dass es bereit und in der Lage ist, alles seine Ressourcen zu mobilisieren”, um die “atomare Bewaffnung Irans zu verhindern”.[4]
    “Das letzte Zeitfenster”
    Außenminister Heiko Maas dringt seit Joe Bidens Wahlsieg verstärkt darauf, das Atomabkommen mit Iran wieder regulär umzusetzen. “Die Chance, die sich jetzt bietet”, sei das “letzte Zeitfenster”, erklärte der Minister im Dezember; es dürfe “nicht verspielt werden”.[5] Freilich hat der Mord an Fakhrizadeh die Aussichten verschlechtert; Teheran hat in Reaktion darauf, dass Irans Bürger faktisch als folgenlos exekutierbares Freiwild behandelt werden, begonnen, die Anreicherung des Urans in seinen Anlagen teilweise auf 20 Prozent anzuheben.[6] Hinzu kommt, dass Iran nicht davon ausgehen kann, dass eine erneute Einigung auf das Atomabkommen nach der nächsten US-Wahl im Jahr 2024 Bestand haben wird; widerspräche dies den Launen des Wahlsiegers, könnte er die Vereinbarung – wie Trump – ohne weiteres erneut brechen. Damit werde es “noch schwieriger”, Teheran zu veranlassen, “substantielle Zugeständnisse zu machen”, urteilt die BAKS.[7]
    Deutsche Interessen
    In dieser Situation dringt die BAKS nicht nur darauf, Berlin solle sich bei etwaigen Verhandlungen in Sachen Atomabkommen umstandslos “hinter die Regierung Biden stellen”.[8] Sie fordert zudem, die Bundesregierung solle sich auch “auf die wahrscheinlicheren Szenarien vorbereiten, in denen es zu keiner oder keiner baldigen Verhandlungslösung kommt”. In diesem Fall gelte es “eine Strategie der langfristigen Eindämmung Irans [zu] entwickeln, die nur funktionieren kann, wenn die USA, ihre europäischen Verbündeten und die prowestlichen Regionalstaaten eng zusammenarbeiten”. Zur Zusammenarbeit aber gehörten auch die “oft kritisierten Waffenlieferungen an problematische Staaten wie Saudi-Arabien oder die VAE”. Eine Einstellung dieser Lieferungen hatten erst kürzlich SWP-Experten gefordert (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Darüber hinaus heißt es bei der BAKS, zentrales “Interesse der Bundesrepublik” müsse es sein, die atomare Bewaffung der Staaten des Mittleren Ostens zu verhindern. “Notwendige Konsequenz dieser Interessendefinition” könne es “im Extremfall sein, auch einen Militärschlag der USA und/oder Israels gegen Iran zu unterstützen”.[10] Iran wäre dann das vierte Land innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten, das der Westen entweder per Krieg (Irak, Libyen) oder per militärischer Subversion (Syrien) zerstört.
    ________________
    Ungewohnte Töne aus Pjöngjang
    Nordkoreas Staatschef übt auf Parteitag Selbstkritik. Position dennoch gefestigt
    Von Rainer Werning
    Am Mittwoch ist in der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) der VIII. Parteitag der regierenden Partei der Arbeit Koreas (PdAK) nach acht Tagen beendet worden. Zuvor war die nordkoreanische Metropole Pjöngjang Schauplatz einer höchst ungewöhnlichen politischen Performance. Gleich zu Beginn am vergangenen Dienstag präsentierte Staatschef Kim Jong Un eine ungeschminkte Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen Lage im Land, die sich durch drei Faktoren – internationale Sanktionen, die Coronaviruspandemie und Flutkatastrophen – dramatisch verschlechtert habe. Beim Fünfjahresplan für die wirtschaftliche Entwicklung seien die Ziele »in fast allen Bereichen weit verfehlt« worden, sagte Kim in seiner Eröffnungsrede und fügte hinzu, dass die Volksrepublik mit »einer Reihe von schlimmsten, noch nie dagewesenen Krisen« zu kämpfen habe.
    Als die PdAK 2016 ihren letzten Kongress abhielt, war es die erste derartige Versammlung seit 36 Jahren und gleichzeitig Kims erster Großauftritt als Staatschef. Damals wurde ein ehrgeiziger Fünfjahresplan verabschiedet, der vorsah, bis zum Jahr 2020 ein »großes sozialistisches Land« aufzubauen, das sowohl über ein Atomwaffenarsenal als auch über eine wachsende Wirtschaft verfügen würde. Doch zwischenzeitlich verhängte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Reaktion auf Nordkoreas Atomwaffenprogramm harsche Wirtschaftssanktionen.
    Laut Schätzungen der südkoreanischen Zentralbank führten diese dazu, dass die Wirtschaft des Nachbarlandes 2017 um 3,5 Prozent und im Folgejahr um 4,1 Prozent schrumpfte, wobei die Exporte in die Volksrepublik China, Nordkoreas mit Abstand wichtigstem Handelspartner, um über 80 Prozent einbrachen. Nachdem sich die Wirtschaft im Jahre 2019 leicht erholt hatte, sank ihre Leistung im vergangenen Jahr nicht zuletzt aufgrund der Pandemie erneut. Nach Angaben der chinesischen Regierung schrumpften die Importe Nordkoreas aus China von Januar bis Oktober letzten Jahres um 76 Prozent auf umgerechnet 487 Millionen US-Dollar, während die Exporte im gleichen Zeitraum um 74 Prozent auf 45 Millionen US-Dollar zurückgingen.
    Kim hatte bereits zum Jahresbeginn harsche Selbstkritik geäußert, als er sich anstelle einer öffentlichen Neujahrsrede in einem Brief an seine Landsleute wandte. Darin entschuldigte er sich dafür, die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt zu haben. Am ersten Sitzungstag erklärte er während seiner Parteitagsrede, dass er dies bedaure, und sichtlich bewegt fügte er hinzu: »Meine Bemühungen und Aufrichtigkeit haben nicht ausgereicht, um unser Volk von den Schwierigkeiten in seinem Leben zu befreien.« Ungeachtet dieser Selbstkritik wurde Kim am Sonntag, dem sechsten Sitzungstag, zum »Generalsekretär« der PdAK ernannt, ein Amt, das früher sein verstorbener Vater und zuvor sein Großvater innehatten und wodurch seine eigene Machtposition gestärkt wird.
    Kim Yo-Jong, die Schwester des Staatschefs, die Südkoreas Geheimdienst noch im August vergangenen Jahres als »De-facto-Stellvertreterin« ihres Bruders tituliert hatte, bleibt zwar Mitglied des Zentralkomitees. Sie wurde aber nicht in das Politbüro aufgenommen, wie aus von der staatlichen nordkoreanischen Nachrichtenagentur KCNA veröffentlichten Listen hervorgeht. Noch zu Beginn des Kongresses hatte sie zum ersten Mal das Podium neben 38 anderen führenden Mitglieder der Partei bestiegen. Analysten vermuten, dass Kim Yo Jong möglicherweise mit Sonderaufgaben betraut wird.
    Was die Haltung zu Washington betrifft, so hat sich nichts verändert. Pjöngjang bezeichnet die USA als »größten Feind«, wenngleich Washington seit Ende November 2017 keine großen Raketentests mehr durchgeführt hat, um die Volksrepublik zu provozieren. In seiner Abschlussrede erklärte Kim am Mittwoch, es müsse alles dafür getan werden, »die nukleare Kriegsabschreckung weiter zu stärken«.

  32. Das Papier von dem BAKS verstehe ich nicht.
    Deutschland soll sich an einem Militärschlag der USA gegen den Iran beteiligen, um das Atomabkommen mit dem Iran wieder in Kraft zu setzen?
    Sind die ganz verrückt geworden?
    Was Nordkorea und die Corona-Pandemie betrifft – weiß man da was darüber?
    Sie melden jedenfalls nichts ans Johns Hopkins-Institut.
    Es wäre auch interessant, zu wissen, wie das Virus nach Nordkorea gekommen ist – sehr viel Reisetätigkeit gibt es ja dorthin nicht.

  33. Neues Protokoll zum Jour Fixe vom 11.01.21: Amerika im Wahljahr 2020 (GS 4-20)
    Von welchem Standpunkt aus fordert Trump das Wahlvolk auf, ihn zu wählen?
      
     — Jeder Politiker, sowohl Biden als auch Trump, bezieht sich auf die Gegensätze in der Gesellschaft. Der Populist Trump geht mit dem Standpunkt in den Wahlkampf, dass in ihm die Einheit der Nation personifiziert ist. Als Führungsgestalt sieht er sich identisch mit dem Willen des Volkes, die Sicherheit der Nation sieht er gewährt mit seinem Regieren. Alle, die nicht an ihn glauben, sind „Feinde der Nation“. Das macht die Besonderheit dieses Wahlkampfes aus.
       — Trump wirbt für sich mit der Schlagkraft der USA und die ist identisch mit seiner Person. Wenn sie ihn wählen, ist die Macht Amerikas gesichert. Deshalb sind seine Gegner in der Wahl Gegner der Nation, die es zu bekämpfen gilt.
    Die Sicherung der Macht der Nation ist für Trump das gleiche, wie die Sicherung der Macht für ihn. Alle, die sich im Wahlkampf gegen seinen Anspruch auf Wiederwahl stellen, sind nicht einfach Konkurrenten um ein Amt in der Demokratie, sondern Feinde des Volkes. Trump nimmt die Gegensätze in der Gesellschaft, die sich aus den ökonomischen Rollen der Bürger ergeben, nicht als solche, sondern als Erfindungen der Feinde des Volkes und so auch die Gegensätze, die aus den unterschiedlichen politischen Auffassungen zu irgendwelchen politischen Maßnahmen resultieren. Er kennt nur den Gegensatz: für oder gegen mich.
       — In der Einleitung des Artikels ist die Rede von … (Forts.):
    https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/jf-protokolle/jf210111-Amerika-Wahljahr-2020.pdf
    vgl. https://de.gegenstandpunkt.com/dossier/letzte-kapitel-amerikanischen-wahlkampfes

  34. Wenn Trump weg ist, wird der GSP sich ein neues Theorieobjekt suchen müssen.
    Ich glaube nicht, daß Biden soviel hergibt …

  35. Na ja – über Bidens Harmonisierungs-Vorstellungen der Klassengesellschaft wird ja jetzt bereits im o.g. Protokoll z.B. Seite 2 und 3 einiges analysiert. Und dabei wird es garantiert nicht bleiben, wie ich diese GSPler kenne … 🙂

  36. Nawalny in Moskau erwartet
    Moskau. Fünf Monate nach seiner mutmaßlichen Vergiftung hat der Oppositionelle Alexej Nawalny seine Heimreise von Deutschland nach Russland angetreten. »Ich bin glücklich«, sagte Nawalny am Sonntag im Flugzeug, wie der Internetsender Doschd zeigte. Die Maschine der russischen Gesellschaft Pobeda hob am Nachmittag vom Berliner Flughafen BER ab. Der Flieger wurde nach jW-Redaktionsschluss am Moskauer Flughafen Wnukowo erwartet. Dort bezogen Hundertschaften der Antiterrorpolizei OMON Stellung, wie eine dpa-Reporterin berichtete. Die russische Justiz hat Nawalny zur Fahndung ausgeschrieben, da er in einem früheren Strafverfahren gegen Bewährungsauflagen verstoßen habe. (dpa/jW)
    Nawalny zu 30 Tagen Haft verurteilt
    Moskau. Der Oppositionelle Alexej Nawalny ist nach seiner Rückkehr nach Russland im Eilverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt worden. Er müsse nach seiner Festnahme am Sonntag bis zum 15. Februar in Haft bleiben, berichtete Nawalnys Anwalt Wadim Kobsew am Montag auf Twitter. Der 44jährige soll während seines Aufenthalts in Deutschland gegen Meldeauflagen nach einem früheren Strafverfahren verstoßen haben. Russlands Außenminister Sergej Lawrow forderte nach dessen Ankunft erneut Beweise von der BRD für eine Vergiftung Nawalnys. (dpa/jW)
    Inszeniertes Martyrium
    Festnahme Nawalnys in Moskau
    Von Reinhard Lauterbach
    Obdachlos ist Alexej Nawalny ja nun nicht, dass ihm eine Pritsche im Moskauer Untersuchungsgefängnis immerhin wärmer vorkommen könnte als eine Parkbank im Januar. Also stellt sich die Frage, warum der russische Oppositionelle das bequeme Quasiexil in der BRD aufgegeben und seine Festnahme billigend in Kauf genommen hat. Die Antwort scheint klar: Es ging ihm um den Showeffekt. Im Westen hätte ihm das Schicksal vieler Emigranten gedroht: vergessen zu werden. In Russland hat er seine Fanszene, die immerhin am Sonntag abend einige hundert Leute auf die Beine brachte. Die erste Runde ging zweifellos an ihn: Unterstützerdemos am Berliner und Moskauer Flughafen und, natürlich, nach erfolgter Festnahme die üblichen Proteste westlicher Politiker – »wie aus dem Kopiergerät«, stellte Russlands Außenminister Sergej Lawrow sarkastisch fest.
    Nawalnys Strategie ist klar: jeden seiner Schritte maximal zu politisieren und emotional aufzuladen. Die Strategie der russischen Behörden ist die gegenteilige: die Angelegenheit Nawalny herunterzuspielen und zu entpolitisieren. Dass die offizielle Erklärung, die Landung habe wegen einer verlorengegangenen Schneebürste auf der Landebahn in Moskau-Wnukowo an einen anderen Flughafen am anderen Ende der Stadt verlegt werden müssen, geglaubt wird, ist gar nicht so wichtig, zumal der Flughafen wenig später den Betrieb wieder aufnahm, ohne dass von dem Teil noch die Rede gewesen wäre. Wichtig ist die Banalisierung. Die Festnahme geschah wegen des Verstoßes gegen Bewährungsauflagen aus einem jahrealten Urteil in einem Betrugsprozess, an den sich niemand mehr erinnert. Gleichzeitig gibt es neue Ermittlungen wegen des Vorwurfs, Nawalny habe umgerechnet vier Millionen Euro seiner eigenen Stiftungen für private Zwecke veruntreut – und damit die Spender bestohlen. Das ist nicht ohne Komik: Wäre es den russischen Behörden wirklich lieber gewesen, Nawalny hätte noch mehr Geld für seine Agitation verwendet, als davon – wie die Anklage behauptet – in Urlaub gefahren zu sein? Die Absicht wird deutlich: den Mann persönlich durch die Mühlen der Justiz zu drehen, in der Hoffnung, dass irgendwann das Interesse der Öffentlichkeit an ihm erlahme und/oder niemand mehr durchblickt, worum es gerade geht.
    Die Sache hat aber höchstwahrscheinlich einen Hintergrund, der über Nawalnys persönliches Geltungsbedürfnis hinausgeht. Ohne den Mann mit einem Wort zu erwähnen, hat vor einigen Tagen die US-amerikanische Carnegie-Stiftung – aus welcher kürzlich der künftige CIA-Chef berufen worden ist – eine Vorschau auf die amerikanisch-russischen Beziehungen in der Ära eines US-Präsidenten Joseph Biden veröffentlicht. Darin hieß es, dass Russland sich aus Gründen der US-Innenpolitik auf eine neue Welle an den Haaren herbeigezogener Anschuldigungen gefasst machen müsse. Dieses Spiel könnte nun begonnen haben.

  37. EU driftet auseinander
    Euro-Gruppe berät wirtschaftliche Entwicklung und fordert »Reformprogramme«
    Von Steffen Stierle
    In der Coronakrise nehmen die ohnehin großen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Euro-Ländern weiter zu. Das zeigt eine Analyse der EU-Kommission, über die am Montag im Rahmen einer Sitzung der Euro-Gruppe per Internet diskutiert wurde. Abhilfe wollen die Finanzminister schaffen, indem sie Hilfsgelder an »Reformauflagen« koppeln.
    Deshalb müssen derzeit alle Mitgliedstaaten, die von Mitteln aus dem »Next Generation EU«-Fonds profitieren wollen, sogenannte Aufbaupläne erarbeiten. Den Rahmen hatte der Rat im November vorgegeben. Demnach geht mit der Mittelvergabe etwa die Pflicht einher, den digitalen Wandel voranzutreiben und in klimafreundliche Technologien zu investieren. Aber auch Arbeitsmarktliberalisierung ist ein Thema, wenn etwa verlangt wird, »den Aufbau von Humankapital und erfolgreiche Arbeitsplatzwechsel zu unterstützen«.
    Darüber hinaus erwartet Brüssel, dass in den Reformprogrammen bereits die Rückkehr zu strikter Etatdisziplin angelegt wird: Sobald wie möglich »sollte eine Neuausrichtung der Haushaltspolitik (…) – unter anderem durch Beendigung der Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen und Bürger – dazu beitragen, die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen auf mittlere Sicht zu gewährleisten«, heißt es in dem Analysepapier.
    Nun geht es also darum zu prüfen, ob die Reformpläne der Euro-Länder den Vorstellungen von Rat und Kommission entsprechen. Erst dann können die Mittel fließen. Im Bundesfinanzministerium geht man davon aus, dass mit den Auszahlungen frühestens Mitte des Jahres begonnen werden kann. Die Antwort Brüssels auf die erste Welle der Coronapandemie käme dann erst Monate nachdem sich deren Ausbruch zum ersten Mal gejährt hat.
    Die Bundesregierung will in der Debatte laut einem Vorbereitungsdokument, das jW vorliegt, darauf achten, dass die Mitgliedsländer »in den nationalen Plänen darlegen, wie sie durch Reformen und gezielte Investitionen das Wachstumspotential und die Widerstandsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften erhöhen«. Einen eigenen Aufbauplan habe man bereits im Dezember verabschiedet und bei der Kommission eingereicht. Finalisiert werden soll dieser bis Ende April. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) darf für die BRD mit rund 23 Milliarden Euro aus dem EU-Topf rechnen.
    Ein weiteres großes Thema der Euro-Gruppe waren die zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte. Insbesondere die Krisenpolitiker der BRD zielen seit Monaten darauf ab, durch erhebliche staatliche Zuschüsse für Indus­trie und Finanzwelt die Gunst der Stunde zu nutzen, um die Vormachtstellung im Staatenkartell weiter auszubauen und dem durch den »Brexit« verursachten Machtverlust entgegenzuwirken.
    Wie eine »technische Note« der Kommission zur Vorbereitung der Euro-Gruppendebatte zeigt, gehen die Brüsseler Analysten von einem deutlichen Auseinanderdriften dieser Volkswirtschaften während der Krise aus. Eine Reihe bestehender Ungleichgewichte verschärfe sich derzeit. So verweist die Behörde etwa darauf, dass die Pandemie bislang in jenen Mitgliedstaaten die stärksten Auswirkungen hat, die schon vor der Krise durch relativ hohe öffentliche und private Schuldenstände gekennzeichnet waren. Hinzu komme, dass dies häufig auch Länder seien, in deren wirtschaftlicher Struktur der Tourismus eine besonders große Rolle spielt.
    Zwar betont die Kommission auch, dass sich die Coronakrise »fundamental« von der Finanzkrise 2008 unterscheide und nicht das Ergebnis »finanzieller Exzesse« sei. Die formulierten Reformziele ähneln dennoch jenen aus »Troika«-Zeiten. So sollen die Maßnahmen beispielsweise die Produktivität erhöhen, für ein reibungsloses Funktionieren der Märkte sorgen und die Verwaltung effektiver machen.
    Was letztlich in der Euro-Gruppe verhandelt wird, steht oft unter dem »Leitgedanken« der speziellen Definition einer europäischen Solidarität. Wenn in Brüssel von Solidarität die Rede ist, geht es um eine Leistung, für die eine Gegenleistung verlangt wird. Die Leistung sind Kredite oder Zuschüsse. Die Gegenleistung »Reformprogramme« im Sinne der neoliberalen EU-Wirtschaftspolitik.
    Erdogan sucht Freunde
    Außenminister Maas in Ankara. Präsidentenwechsel in den USA und Wirtschaftskrise zwingen die Türkei, Verhältnis zur EU zu verbessern
    Von Jörg Kronauer
    In die verhärteten Konflikte im östlichen Mittelmeer kommt Bewegung. Er sehe »die reelle Chance einer dauerhaften Entspannung« in der Region, teilte Außenminister Heiko Maas am Montag anlässlich einer Reise nach Ankara mit. Maas traf mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu zusammen, um über die Streitigkeiten zwischen der Türkei und Griechenland um Seegrenzen und Erdgasförderrechte in der Ägäis sowie vor Zypern zu verhandeln. Vergangenes Jahr hatten die Konflikte fast zu einer militärischen Konfrontation zwischen Ankara und Athen geführt. Der Türkeireise des deutschen Außenministers war am 9. Januar eine Videokonferenz des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorausgegangen, bei der Erdogan mitgeteilt hatte, er wolle in den Beziehungen zur EU »eine neue Seite aufschlagen«. Bereits am Donnerstag wird Cavusoglu nun zu Gesprächen mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Brüssel erwartet. Noch im Januar sollen von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel die Verhandlungen fortsetzen.
    Hintergrund der eifrigen Reisediplomatie ist, dass die Türkei Ende 2020 begonnen hat, sich gegenüber der EU und insbesondere auch gegenüber Griechenland ein wenig versöhnlicher zu geben. Insbesondere wollte sie nicht mehr potentielle Erdgaslagerstätten in Gewässern erkunden, die Griechenland und Zypern für sich beanspruchen. Als Ursachen für Erdogans Kurskorrektur gelten zum einen die Wirtschaftskrise, zum anderen der Personalwechsel im Weißen Haus. Hatte die Trump-Regierung die türkische Expansionspolitik, etwa in Syrien faktisch hingenommen, so wird unter Joseph Biden mit Brett McGurk ein entschiedener Gegner dieser Politik Mittelostkoordinator im Nationalen Sicherheitsrat. Biden selbst hatte Erdogan Anfang 2020 im Interview mit der New York Times einen »Autokraten« genannt und erklärt, man müsse dessen Sturz fördern – »nicht per Putsch« natürlich, sondern »durch Wahlen«. Mit Blick darauf ist Erdogan nun um mehr Entspannung im Verhältnis mit der EU bemüht.
    Griechenland hingegen hatte zuletzt seine Muskeln spielen lassen. Es hat den Kauf von 18 Rafale-Kampfjets beschlossen und will fünf Milliarden Euro in die Aufrüstung seiner Marine investieren. Am heutigen Dienstag soll das Parlament zudem die Ausdehnung der griechischen Hoheitsgewässer von sechs auf zwölf Meilen vor der Küste beschließen. Das ist völkerrechtlich zulässig, allerdings politisch heikel. Athen hat den Schritt – zunächst – auf das Ionische Meer im Westen beschränkt, konnte jedoch schon dort neue Konflikte nicht vermeiden: Die Zwölfmeilenzonen vor Korfu und vor der Küste Albaniens überschneiden sich. Den Disput soll nun der Internationale Gerichtshof in Den Haag lösen. Übertrüge Athen die Regelung auf die Ägäisinseln, würden große Teile der Türkei vom Zugang zum Mittelmeer abgeschnitten. Ankara gälte ein solcher Schritt als Kriegsgrund. Positiv stimmt nun aber, dass Griechenland und die Türkei am 25. Januar die Gespräche über ihre Seegrenzen wiederaufnehmen wollen.
    Offenkundig erfolglos verhallte die Forderung von Sevim Dagdelen, Obfrau der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags, Maas solle sich in Ankara doch wenigstens für die sofortige Freilassung des Ex-HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas einsetzen und sich für einen Stopp der Rüstungsexporte an die Türkei starkmachen. Die Türkei erhält aktuell deutsche U-Boote.

  38. Darin hieß es, dass Russland sich aus Gründen der US-Innenpolitik auf eine neue Welle an den Haaren herbeigezogener Anschuldigungen gefasst machen müsse.

    Daran sind sie in Russland inzwischen gewöhnt.
    Das Beachtliche daran ist, wie viele westliche Medienkonsumenten diesen Unsinn glauben, von den Skripals und dem Novitschok auf der Türklinke angefangen bis zum Nawalny-Novitschok auf der Unterhose.
    Um ein Feindbild zu bedienen, müssen sich die Bediener desselben offenbar nicht sehr anstrengen.

  39. Wenn im Zuge der Coronakrise Südeuropa endgültig zu einem Hinterhof Deutschlands und einiger anderer Staaten heruntergestuft wird, – das ist ja offenbar die in obigem Artikel angedeutete Entwicklung – so bedeutet das nach außen eine weitere Schwächung der EU, deren Großmachambitionen bereits durch den Brexit einen empfindlichen Rückschlag erlitten haben.

  40. Als Ursachen für Erdogans Kurskorrektur gelten zum einen die Wirtschaftskrise, zum anderen der Personalwechsel im Weißen Haus.

    Das mag ja alles sein. Man sollte aber nicht dem Tenor des jW-Artikels folgen, daß die Kurskorrektur Erdogans aus der Not geboren sei.
    Immerhin ist die Türkei als Verwalter/Besetzer von syrischen Gebieten inzwischen anerkannt. Mit der Unterstützung und dem Sieg Aserbaidschans, nicht zu vergessen der Stützung der libyschen Regierung hat sich die Türkei als Regionalmacht weiter etabliert.
    Man kann also die jetzige versöhnliche Geste durchaus als einen Versuch sehen, die diesbezügliche Ernte einzufahren: Na, macht ihr uns jetzt weitere Zugeständnisse oder sollen wir wieder den Knüppel aus dem Sack holen?

  41. Kein Frieden mit Biden
    China »abkoppeln«, Russland einkreisen: Neue US-Regierung bleibt außenpolitisch auf Aggressionskurs
    Von Jörg Kronauer
    Künftige Spitzenfunktionäre der US-Außenpolitik haben unmittelbar vor der Amtseinführung von Präsident Joseph Biden am Mittwoch die zu erwartenden Aggressionen der neuen Regierung präzisiert. Die Vereinigten Staaten müssten China »aus einer Position der Stärke gegenübertreten«, hatte der designierte Außenminister Antony Blinken bereits am Dienstag in seiner Anhörung vor dem US-Senat erklärt und gab sich gewiss, Washington werde im Machtkampf gegen Beijing siegen: »Wir können China aus dem Feld schlagen.« Eine »aggressive Antwort« an China versprach auch Avril Haines, die als Director of National Intelligence an der Spitze der 17 US-Geheimdienste stehen wird.
    In der vergangenen Woche hatte der künftige »Indopazifik-Koordinator« im Nationalen Sicherheitsrat, Kurt Campbell, in der Fachzeitschrift Foreign Affairs angekündigt, die Biden-Regierung werde die Politik der »Abkopplung« Chinas (»Decoupling«) mit leichten Modifikationen ebenso fortsetzen wie die militärische Positionierung der USA gegen die Volksrepublik. Allerdings werde Washington seine asiatischen Verbündeten enger einbinden. Dies gelte insbesondere für Japan und Südkorea.
    Auch beim US-Konfrontationskurs gegen Russland ist den jüngsten Äußerungen aus Washington zufolge allenfalls eine Verschärfung zu erwarten. Blinken ging in seiner Anhörung so weit, dem Republikaner-Senator Mitt Romney eine »hellsichtige« Haltung gegenüber Moskau zu attestieren. Romney hatte vor Jahren Aufsehen erregt, als er Russland den »geopolitischen Feind Nummer eins« der Vereinigten Staaten nannte. Blinken sagte nun, er befürworte den NATO-Beitritt Georgiens. Dieser würde den militärischen Ring des westlichen Kriegsbündnisses um Russland noch ein weiteres Stück zuziehen.
    Zudem kündigte er an, über eine Verschärfung der Sanktionen gegen die Türkei nachzudenken. Die Trump-Regierung hatte sie verhängt, weil Ankara das russische Raketenabwehrsystem S-400 gekauft hat. Sie zielen auch darauf ab, Russlands Rüstungsindustrie durch die Abschreckung potentieller Kunden zu ruinieren. Blinken legt – auch mit Blick auf Moskau – großen Wert darauf, verbündete Staaten enger in die geplanten Aggressionen einzubinden. In gewissem Widerspruch dazu steht, dass er mit Blick auf die US-Sanktionen gegen Nord ­Stream 2 mitteilte, ihm sei »jedes Überzeugungsmittel« zur Verhinderung der Erdgasleitung recht. Die Bundesregierung weist die Sanktionen entschieden zurück.
    Auch sonst ist Entspannung nicht in Sicht. Zwar bekennt sich Präsident Biden im Prinzip zum Nukleardeal mit Iran, den mehrere seiner designierten Spitzenfunktionäre einst an führender Stelle ausgehandelt haben. Allerdings will er Teheran weitere Zugeständnisse abringen, was schon 2015 nicht gelang und die Bemühungen um eine Erneuerung des Abkommens in Frage stellt. Für den Nahen und Mittleren Osten sowie Teile Afrikas nichts Gutes ahnen lässt, dass die künftige Geheimdienstchefin Haines unter Obama führend in die dramatische Ausweitung der dortigen US-Drohnenmorde eingebunden war.
    Nicht einmal gegenüber Venezuela steht offenbar ein Kurswechsel bevor. Hatte Bidens Umfeld noch im Dezember verlauten lassen, man sei prinzipiell zu Verhandlungen mit Präsident Nicolás Maduro bereit, so erklärte Blinken nun vor dem Senat, Washington setze weiterhin auf den gescheiterten Möchtegernputschisten Juan Guaidó. Dass dieser sogar in der venezolanischen Opposition seinen einstigen Rückhalt verloren hat, scheint die Hardliner unter Biden nicht weiter zu stören.
    Moskau wirbt für Verlängerung von atomarem Abrüstungsvertrag
    Moskau. Russland hat dem neuen US-Präsidenten Joseph Biden eine Verlängerung des letzten großen Abkommens über die atomare Abrüstung beider Länder angeboten. »Wir vertrauen darauf, dass die neue US-Regierung im Dialog mit uns eine konstruktivere Haltung einnehmen wird«, teilte das Außenministerium unmittelbar nach Bidens Vereidigung am Mittwoch abend in Moskau mit. Die Verhandlungslinie des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump sei aggressiv und kontraproduktiv gewesen.
    Laut Moskau sollte der sogenannte Start-Vertrag um fünf Jahre ohne Vorbedingungen verlängert werden. »Das würde es Russland und den Vereinigten Staaten ermöglichen, ernsthaft gemeinsam nach Antworten auf die Fragen zu suchen, die sich jetzt im Bereich der internationalen Sicherheit und der strategischen Stabilität stellen.« Das Abkommen läuft in gut zwei Wochen aus. Russland sei bereit für eine Zusammenarbeit nach den Grundsätzen der Gleichheit und der gegenseitigen Berücksichtigung von Interessen, hieß es. Der »New-Start-Vertrag« begrenzt die Nukleararsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und je 1.550 einsatzbereite Atomsprengköpfe. (dpa/jW)
    Gelassenheit in Moskau
    Russland weist ausländische Kritik am Umgang mit Nawalny zurück. Dessen Stiftung veröffentlicht Video mit Korruptionsvorwürfen gegen Putin
    Von Reinhard Lauterbach
    Mit demonstrativer Gelassenheit hat Moskau am Dienstag auf die neue Welle westlicher Kritik nach der Festnahme Alexej Nawalnys reagiert. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte, es handle sich um eine innere Angelegenheit Russlands: Nawalny sei russischer Staatsbürger, und es gehe um mutmaßliche Straftaten, die er dort verübt habe. Deshalb werde man die internationalen Proteste und Aufrufe ignorieren. Zuvor hatte Außenminister Sergej Lawrow den Vorwurf erneuert, Moskau habe das Belastungsmaterial zu der mutmaßlichen Vergiftung Nawalnys von westlicher Seite nie vorgelegt bekommen.
    Im EU-Parlament wuchs unterdessen die Bereitschaft, auf die Festnahme Nawalnys mit neuen Sanktionen zu reagieren. An diesem Donnerstag soll über eine entsprechende Resolution abgestimmt werden. Es handle sich diesmal nicht um Sanktionen gegen bestimmte Branchen der russischen Wirtschaft, sondern um »Strafmaßnahmen« gegen Personen, die dem Umfeld von Staatspräsident Wladimir Putin zugerechnet werden. Wie die Tageszeitung FAZ am Mittwoch meldete, war dieses Verfahren offenbar zuvor zwischen der Parlamentsführung und Nawalny abgesprochen worden: Die personalisierten Sanktionen seien »im Sinne des neuen Häftlings«. Es fielen die Namen der Geschäftsleute Roman Abramowitsch und Andrej Kostin sowie des früheren Vizechefs der russischen Präsidialverwaltung, Igor Schuwalow. Außerdem sollten jene russischen Beamten, die für die Festnahme Nawalnys verantwortlich seien, mit Strafmaßnahmen belegt werden.
    Parallel dazu erneuerten Rechtskonservative, die christdemokratische EVP sowie die Grünen im EU-Parlament die Forderung, den Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2 einzustellen. Die USA gaben bekannt, Sanktionen gegen den Eigner des russischen Spezialschiffs »Fortuna« verhängt zu haben, das an der Rohrverlegung beteiligt ist. Erstmals räumte unterdessen der Gasprom-Konzern ein, dass die Röhre möglicherweise »wegen politischen Drucks« nicht fertiggestellt werden könne. Die Äußerung fiel in einem Emissionsprospekt für eine neue Anleihe des Konzerns, wo nach den Regeln des Kapitalmarkts mögliche Risiken für das Geschäft des Schuldners aufgelistet werden müssen. Das wichtigste Verlegeschiff, die »Akademik Tscherski«, gehört seit letztem Jahr nicht mehr Gasprom, sondern einem nicht international tätigen Investmentfonds aus Samara.
    Nawalny war am Montag in einem Schnellverfahren zunächst zu 30 Tagen Arrest verurteilt worden. Anfang Februar soll ein Gericht entscheiden, ob die 2015 gegen ihn verhängte Bewährungsstrafe in eine reguläre Freiheitsstrafe umgewandelt wird. Sie könnte dann bis zu dreieinhalb Jahren betragen.
    Der Oppositionelle selbst ließ über seine »Stiftung zur Korruptionsbekämpfung« am Dienstag ein neues »Enthüllungsvideo« veröffentlichten. Es richtet sich diesmal direkt gegen Putin und wirft dem Staatschef unter anderem vor, sich an der russischen Schwarzmeerküste über Strohmänner einen umgerechnet 1,1 Milliarden Euro teuren Palast errichtet zu haben. Putin habe sich seit seiner Rückkehr nach Russland 1991 verdeckt ein Milliardenvermögen verschafft und in seiner Zeit in der St. Petersburger Stadtregierung millionenschwere Schmiergelder für Ausfuhrlizenzen russischer Rohstoffe kassiert. Der Sprecher des Präsidenten, Peskow, bestritt am Mittwoch, dass Putin einen Palast am Schwarzen Meer besitze, und nannte die Geschichte »Unsinn«.
    Auch putinkritische Medien wie das Onlineportal thebell.io äußerten die Einschätzung, dass das Nawalny-Video wenig Neues enthalte. Der Großteil der Vorwürfe sei schon früher geäußert worden, die Sache mit dem Palast schon 2010. Dennoch war das Video am Mittwoch mittag bereits über 19 Millionen Male angeklickt worden. Wie thebell.io weiter schrieb, haben sich allerdings für die auf Sonnabend angesetzten Unterstützungsdemonstrationen für Nawalny bisher nur wenige tausend Teilnehmer in sozialen Netzwerken angemeldet. Auch Umfragen sogenannter unabhängiger Institute bestätigen, dass Nawalnys Unterstützerkreis in der russischen Bevölkerung begrenzt ist. Eine Umfrage des Lewada-Instituts von Ende 2020 nannte einen Wert von zwei Prozent.

  42. NATO? Find’ ich gut
    Koalitionsfähig werden: Papier aus Partei Die Linke schlägt radikalen Kurswechsel in der Friedenspolitik vor
    Von Arnold Schölzel
    Der sicherheitspolitische Sprecher der Linke-Bundestagsfraktion, Matthias Höhn, unternahm am Dienstag einen der unverfrorensten Versuche, die friedenspolitischen Positionen seiner Partei zu schleifen. Er veröffentlichte unter dem Titel »Linke Sicherheitspolitik« ein als »Diskussionsangebot« bezeichnetes Papier, über das zuerst Der Spiegel online berichtete.
    Kern ist die Übernahme der NATO-Sicht auf die Weltlage. Demnach tragen der Westen sowie Russland und China gleichermaßen Schuld an der Hochrüstung. So heißt es zum Beispiel in einer Passage zur Kündigung des INF-Vertrages über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen: »Beide Seiten, sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland, sahen die völkerrechtlichen Verpflichtungen nur noch als zu enges Korsett.« Niemand habe sich »ernsthaft um einen Erhalt dieses historischen Abkommens bemüht«. Die Kündigung durch die USA wird nicht erwähnt, auch nicht, dass Washington 2002 mit der Kündigung des ABM-Vertrages von 1972 über die Begrenzung der Raketenabwehr den Rüstungskontrollverträgen den entscheidenden Schlag versetzt hat. Am 17. November 2020 teilte übrigens das Pentagon mit, dass am Vortag bei einem Test nordöstlich von Hawaii erstmals eine »bedrohungsrepräsentative Interkontinentalrakete« von einer seegestützten Abwehrrakete zerstört worden sei. Es war der neueste Beleg für den Versuch der USA, das »Gleichgewicht des Schreckens« aufzuheben. Die NATO einschließlich der Bundesregierung folgen Washington dabei.
    Zur Vertauschung von Ursache und Wirkung werden dabei seit Jahren propagandistische Nebelkerzen geworfen: Russland und China rüsten auf, verfolgen eine aggressive Politik, Trump betreibt eine völlig neue US-Außenpolitik etc. Höhn macht diese Show zur seinen und schreibt beispielsweise: »Ein nicht mandatierter amerikanischer Luftschlag in Syrien, ein Einmarsch türkischer Truppen in ein Nachbarland oder der Einsatz von verbotenem Nervengift in Russland – wer glaubwürdig sein und Vertrauen aufbauen will, darf nicht mit zweierlei Maß messen.« Der frühere Bundesgeschäftsführer der Partei (2012–2017) spricht von »massiven Aufrüstungsanstrengungen auf beiden Seiten« und sieht in Kriegen wie im Irak oder in Syrien ein »Menetekel für ein strukturelles Versagen des Völkerrechts«, nicht etwa dessen bewussten Bruch durch die USA und deren Verbündete. Von Millionen Toten und Flüchtlingen infolge der Feldzüge für Regime-Change – keine Rede. Statt Analyse gibt es Floskeln wie die vom »Wildwestdenken der Cowboys dieser Welt, egal, ob sie Bush, Trump, Putin oder Erdogan heißen«.
    Die Konsequenzen Höhns sind daher: Ein »kurzfristig erklärter Austritt aus dem Verteidigungsbündnis«, womit er allen Ernstes die NATO meint, wäre »kein Beitrag zur Stabilisierung«. Er plädiert für »gemeinsame europäische Streitkräfte« und tritt für ein »Ein-plus-ein-Prozent-Ziel« bei den Militärausgaben ein – ein Prozent für »Verteidigung«, ein Prozent für Entwicklungszusammenarbeit.
    In einer ersten Stellungnahme zu Höhn twitterte der Linke-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Parteivorsitzende Tobias Pflüger: »Ein Plädoyer für EU-Militärpolitik und für Rüstungsprojekte ist völlig inakzeptabel. Ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Bundeswehr bedeutet weiterhin enorme Militärausgaben.« Das Erfurter Programm der Linkspartei sei und bleibe auch im friedenspolitischen Bereich richtig: »Das sollten wir Linke nicht ändern.«
    Dem Unfug ein Ende setzen
    Die Linke: Matthias Höhn schlägt nach Angriff auf friedenspolitische Grundsätze der Partei Ablehnung entgegen
    Von Kristian Stemmler
    Gegenwind für Matthias Höhn: Der Versuch des sicherheitspolitischen Sprechers der Linke-Bundestagsfraktion, mit einem Diskussionspapier friedenspolitische Grundsätze der Linken zu schleifen (siehe jW vom Mittwoch), trifft auf energischen Widerstand in der Partei und der Friedensbewegung. Der Kovorsitzende Bernd Riexinger erklärte am Mittwoch gegenüber jW, es gebe für Die Linke »keinen Grund, ihre friedenspolitischen Grundsätze in Frage zu stellen«. In einer Zeit, in der die Bundesregierung die Rüstungsausgaben in die Höhe treibe, müsse die Linke »als Friedens- und Abrüstungspartei klar sein«. Riexinger widersprach Höhn, der in seinem Papier unkritisch die Bezeichnung »Verteidigungsbündnis« übernommen hatte. »Selbstverständlich ist die NATO kein Verteidigungsbündnis, sondern verantwortlich für viele Angriffskriege«, sagte er.
    Auch das Vorgehen Höhns kritisierte der Parteichef. Es sei »kein guter Stil«, Positionen, die in der innerparteilichen Debatte »keine Chance auf eine Mehrheit haben«, statt dessen »über Medien wie den Spiegel zu veröffentlichen«. Am Dienstag hatte Höhn ein siebenseitiges »Diskussionsangebot« zum Thema »linke Sicherheitspolitik« an die Fraktionskollegen verschickt. Nahezu zeitgleich veröffentlichte die Onlineausgabe des Spiegel einen ausführlichen Beitrag dazu. In dem Papier warnt Höhn vor einem Austritt aus der NATO, plädiert für eine eigenständige EU-Militärpolitik, stimmt militärischen Einsätzen der Bundeswehr im Ausland zu und schlägt vor, ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Rüstung auszugeben.
    Tobias Pflüger, verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion, bezeichnete Höhns Papier als »Angriff auf Grundlagen linker Friedenspolitik«. In dem »sehr ausführlich schwurbeligen« Text würden »fatalerweise Militärstrukturen auf EU-Ebene befürwortet«, sagte er gegenüber jW. Das verträten Grüne und SPD schon, dazu brauche es Die Linke nicht. Der Text schüre »unglaubliche« Illusionen über die EU. Tatsächlich betreibe diese »neoimperiale Politik im wirtschaftlichen und militärischen Bereich«. Auch die Ablehnung der Auslandseinsätze sei »essentiell für Linke«. Höhns Papier wolle hier »eine grundlegende, aber falsche Wende«.
    Thies Gleiss, Mitglied im Bundesvorstand und einer der Sprecher der Parteiströmung Antikapitalistische Linke, nannte Höhns Vorstoß einen Ausdruck von »parlamentarischer Verblödung mit Gefahr für Leib und Leben«. Sein Papier stelle »linke Politik zu Rüstung, Krieg und Weltordnung kurzerhand mal auf den Kopf«, sagte er dieser Zeitung. Es sei »wie immer« in der Geschichte linker Parteien: »Werden die angeblichen parlamentarischen Sicherheitsexperten erst einmal von der Leine gelassen«, folgten »Kriegsgeschrei« und »Rüstungswahn«, so Gleiss. Nur eine starke außerparlamentarische Antikriegs- und Friedensbewegung könne »diesem Unfug ein Ende setzen«.
    Auch aus der Friedensbewegung kam Widerspruch. So sprach Jürgen Wagner, geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen, von einem »völlig durchsichtigen Manöver, vor der Bundestagswahl in Richtung ›Rot-Rot-Grün‹ zu blinken«. Das Vorgehen zeuge von einem »überaus instrumentellen Herangehen an die zentrale Frage von Krieg und Frieden«. Höhns Forderungen seien »gruselig«, so Wagner: »Wären das die Positionen der Linken, würde sie sich von jeglichem ernsthaften Anspruch verabschieden, eine Friedenspartei zu sein.«
    Ekkehard Lentz, Sprecher des Bremer Friedensforums, sagte gegenüber jW, Höhns Papier sei nach einem ähnlichen Vorstoß von Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch im vergangenen August »ein erneuter Versuch, die Partei auf NATO-Kurs zu bringen«. In der Friedensbewegung und in der Linkspartei »sollten die Alarmanlagen klingeln«, so Lentz. Die Äußerungen von Höhn und Bartsch gäben zu großen Sorgen »um die letzte im Parlament vertretene Partei mit friedenspolitisch konsequenter Programmatik« Anlass. Höhn wolle »mitmischen und mitmachen – offensichtlich auch bei zukünftigen Kriegen«.

  43. A) EU startet neue diplomatische Offensive gegen die Vorherrschaft des Dollar
    Wer weltweit als Profiteur aus der Krise herauskommt, und wer den Schaden an seiner Währung zu registrieren haben wird, das ist aktuell Thema europäischer Währungsexperten und der EU-Kommission. Die Form der Krisenbewältigung ist ein Streit über die Vorherrschaft des Dollar:
    “Die globalen Finanzmärkte sind zu sehr auf den US-Dollar angewiesen, um finanzielle Spannungen und Stabilitätsrisiken abzufedern. Sinkende Bewertungen von EU-Unternehmen während der Krise erhöhten das Risiko einer Übernahme einiger strategisch wichtiger EU-Firmen – mit dem Risiko des Verlustes von technologischem Know-how und der Unterbrechung einer Reihe von Wertschöpfungsketten.“
    Die Kommission ist außerdem der Ansicht, dass eine stärkere Rolle für den Euro „größere systemische Stabilität“ bringen würde. Schließlich würde damit das globale Währungsgefüge diversifiziert; die mit geldpolitischen Entscheidungen verbundenen „Schocks“ könnten dementsprechend reduziert werden. (…)
    Die Kommission drängt auch erneut auf die Entwicklung von auf Euro lautenden Derivaten für Energie und Rohstoffe. Darüber hinaus wolle man die Einrichtung von auf Euro lautenden Benchmark-Indizes und Handelsplätzen für neue Energiemärkte, wie beispielsweise Wasserstoff, erleichtern.
    Im Rahmen ihrer Offensive will die Kommission durch „Dialoge, Workshops und Umfragen“ mit Finanzakteuren, Regulierungsbehörden, institutionellen Anlegern und anderen öffentlichen und privaten Akteuren auf Euro lautende Investitionen fördern und die Verwendung des Euro als Rechnungs- und Denominierungswährung erleichtern.
    In Bezug auf das bestehende internationale System der Wirtschaftssanktionen will die EU-Exekutive eine „gründliche Analyse“ der Schwachstellen der EU in Bezug auf die „unrechtmäßige extraterritoriale Anwendung einseitiger Sanktionen durch Drittländer“ durchführen.
    Dieser Schritt zielt darauf ab, erneute Störungen zu vermeiden, wie sie beispielsweise durch die US-Sanktionen gegen den Iran verursacht wurden.”
    https://www.euractiv.de/section/finanzen-und-wirtschaft/news/eu-startet-neue-offensive-gegen-die-vorherrschaft-des-dollar/
    —-
    B) Iran
    Bezogen auf Iran hat man von einer anderen Position der Europäer angesichts der US-Drohungen ratzfatz gar nichts mehr gehört.
    Aktuell wird parteilich vom zdf berichtet:
    “Präsident Hassan Ruhani sieht sich, ein halbes Jahr vor der nächsten Präsidentschaftswahl, einer Mauer von Hardlinern gegenüber, die mit anti-amerikanischen Parolen bei den Wählern punkten wollen.
    Entsprechend gering ist sein Spielraum. Die Forderung Teherans ist klar: Erst müssen die USA ihre einseitigen Sanktionen komplett aufheben, dann könne man über eine Rückkehr zum Atomabkommen reden.
    Für Präsident Biden macht das die Lage schwieriger. Sein designierter Sicherheitsberater Jake Sullivan erklärte zwar am Sonntag, er sehe gute Chancen, das Abkommen von 2015 retten zu können. Der Weg dahin wird aber denkbar steinig. Europa könnte helfen. Aber Brüssel, Paris oder Berlin unternahmen bislang wenig, um den Prozess in Gang zu bringen.”
    https://www.zdf.de/nachrichten/politik/iran-urananreicherung-atomabkommen-100.html

  44. Die Offensive zur Stärkung des Euro ist etwas absurd, während gleichzeitig alle über den hohen Euro klagen.
    Es scheint so zu sein, daß die Euro-Macher und EU-Politiker die Gunst der Stunde nützen wollen, weil sie die USA als etwas angeschlagen einstufen.
    Die schon lange vorgesehene Bankenunion soll kommen – das alte Projekt wird wieder aus der Schublade geholt. Zur Erinnerung, worum es dabei geht:
    Bankenaufsicht – die neue Wunderwaffe?: KANN KONTROLLE ERFOLG GARANTIEREN?
    Die Sache ist zwar beschlossen, aber nie richtig durchgezogen worden, weil der Banksektor doch zum Eingemachten der Staatsfinanzierung und Souveränität gehört.
    Mit dem Lockvögeli „Stärkung des Euro“ sollen also innere Widerstände in der Eurozone niedergebügelt werden. Das zielt auf Italien, Spanien, Frankreich, die ihren Banksektor doch stärkerer Kontrolle unterstellen sollen.
    Da mit der Coronakrise praktisch die Eurobonds geschaffen wurden, sieht die EU und ihre potenteren Staaten in mehr Kontrolle und dadurch Vereinheitlichung ein Mittel, den Euro als Abrechnungs- und Reservewährung zu stärken.
    Ob da etwas draus wird, werden wir sehen.
    Genauso ist es möglich, daß dadurch eine neue Währungskrise losgetreten wird.

  45. Transatlantische Sanktionen (III) (20.01.2021)
    USA verhängen erste Sanktionen gegen ein Unternehmen wegen Beteiligung an Nord Stream 2. Berlin warnt vor Verlust der “europäischen Souveränität”.
    BERLIN/MOSKAU/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Erstmals verhängen die Vereinigten Staaten konkrete Sanktionen gegen ein Unternehmen wegen seiner Beteiligung am Bau von Nord Stream 2. In einer ihrer letzten Amtshandlungen hat die Trump-Administration gestern mitgeteilt, das russische Verlegeschiff Fortuna mit Zwangsmaßnahmen zu belegen. Während Moskau erklärt, man setze dennoch alles daran, die Pipeline fertigzustellen, die russisches Erdgas direkt in die Bundesrepublik leiten soll, steigen wegen der US-Sanktionsdrohungen weitere Unternehmen aus mehreren europäischen Staaten bei Nord Stream 2 aus, darunter der deutsche Bilfinger-Konzern. Der Ausstieg ist nicht ohne Risiko: Die Unternehmen erweisen sich damit als von den Vereinigten Staaten erpressbar – ein Nachteil etwa auf dem hochattraktiven chinesischen Markt. Da Russland den Ausbau der Erdgaspipelines nach China energisch vorantreibt, droht die EU ihre privilegierte Abnehmerposition zu verlieren. Außenminister Heiko Maas hatte schon kürzlich gewarnt,man müsse “nicht über europäische Souveränität” reden, wenn man alles nur noch mache, “wie Washington es will”.
    Kreative Antworten
    Um den Bau von Nord Stream 2 gegen alle US-Sanktionen durchzusetzen, hatte der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern am 7. Januar die Gründung einer Stiftung beschlossen. Hintergrund ist die Hoffnung, die Vereinigten Staaten würden sich bei ihren Zwangsmaßnahmen auf Attacken gegen Privatunternehmen beschränken und von direkten Angriffen auf öffentliche Stellen Abstand nehmen. Die Stiftung soll nun bei Bedarf tun, wozu die am Bau beteiligten Privatfirmen faktisch nicht mehr in der Lage wären, sobald sie von Sanktionen getroffen werden – die erforderlichen Materialien und Maschinen beschaffen und sie für die Arbeiten an der Pipeline bereitstellen. Dazu wird die Stiftung, die vom Bundesland Mecklenburg-Vorpommern lediglich 200.000 Euro erhält, zunächst 20, später bis zu 60 Millionen Euro vom Nord Stream 2-Konsortium bekommen. Weil Erdgas als Brückenenergieträger bei der Umstellung auf erneuerbare Energien gilt, ist die Stiftung als “Stiftung Klima- und Umweltschutz” eingerichtet worden. Die Unterstützung für den Bau der Erdgasleitung ist dabei nur einer ihrer Zwecke. Die US-Sanktionen “zwingen uns dazu, auch kreative Antworten zu entwickeln”, wird etwa der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, zitiert.[1]
    Dienstleister steigen aus
    Sucht die Stiftung die Durchführung des Pipelinebaus selbst zu gewährleisten, so haben sich zu Jahresbeginn nun neue Probleme bei den ergänzenden Dienstleistungen ergeben. Ursache ist, dass Anfang Januar ein weiteres US-Sanktionsgesetz in Kraft getreten ist; richteten sich die früheren Sanktionsgesetze gegen Arbeiten an der Pipeline direkt, so bestraft der Protecting Europe’s Energy Security Clarification Act (PEESCA) auch sekundäre Dienstleistungen wie Versicherungen und Zertifizierungen.[2] Schon am 4. Januar hatte der norwegische Zertifizierer DNV GL (Den Norske Veritas Germanischer Lloyd) mitgeteilt, er müsse wegen PEESCA seine mehrjährige Tätigkeit für Nord Stream 2 mit sofortiger Wirkung stoppen. Ohne Zertifizierung kann keine Erdgasleitung in Betrieb genommen werden.[3] Jetzt bestätigen mehrere Quellen unabhängig voneinander, dass die Zurich Insurance Group, die die Bauarbeiten versichert, ebenfalls ihre Tätigkeit für Nord Stream 2 beenden wird.[4] Ohne eine Versicherung lassen sich risikobehaftete Arbeiten wie der Bau einer Pipeline gleichfalls nicht wirklich durchführen. Zwar kann derjenige Teil der Pipeline, der in deutschen Hoheitsgewässern noch fehlt – es handelt sich um 28 Kilometer -, fertiggestellt werden, weil die US-Sanktionen erst ab einer bestimmten Wassertiefe greifen. Die Zukunft der rund 120 Kilometer, die in dänischen Gewässern fehlen, ist jedoch überaus ungewiss.[5]
    Zukunft ungewiss
    Gestern hat die Trump-Administration nun in einer ihrer letzten Amtshandlungen die Sanktionen erneut ausgeweitet und sie gegen das russische Verlegeschiff Fortuna in Kraft gesetzt. Dabei nutzt Washington den Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA), der am 2. August 2017 volle Geltung erlangte und den US-Außenminister Mike Pompeo am 15. Juli 2020 einer Neuinterpretation unterzogen hat; demnach kann CAATSA jetzt auch auf Projekte wie Nord Stream 2 angewandt werden, die vor dem Inkrafttreten des US-Gesetzes gestartet wurden – eine Entscheidung, die dem Rückwirkungsverbot im Völkerrecht Hohn spricht. Demnach können von nun an Strafmaßnahmen gegen Personen und Unternehmen verhängt werden, die die Fortuna beliefern oder anderweitig unterstützen – etwa durch Dienstleistungen bei einem Hafenaufenthalt. Die weitere Entwicklung gilt als ungewiss. Zwar hat Moskau angekündigt, am Bau der Pipeline festzuhalten. Doch räumt der russische Konzern Gazprom erstmals öffentlich ein, das Vorhaben könne scheitern: Politischer Druck könne unter besonderen Umständen dazu führen, dass ein Projekt wie Nord Stream 2 “ausgesetzt oder eingestellt” werden müsse, heißt es in einer Veröffentlichung des Konzerns.[6]
    Risiken und Nebenwirkungen
    Der Sanktionskampf droht gravierende Folgen für Firmen aus der Bundesrepublik sowie weiteren europäischen Staaten mit sich zu bringen. Zum einen schwächt er europäische Unternehmen in der globalen Konkurrenz. Dass sich, wie gestern bekannt wurde, der Industriedienstleister Bilfinger gleichfalls aus der Arbeit an Nord Stream 2 zurückzieht [7], nimmt ihm Attraktivität in den Augen nicht nur möglicher russischer, sondern vor allem auch chinesischer Auftraggeber. Ähnliches gilt etwa für den Schweizer Spezialschiffbetreiber AllSeas, der bereits Ende 2019 seine Arbeit an Nord Stream 2 eingestellt hatte. Seine damalige globale Monopolstellung hat er verloren: Heute ist Russland in der Lage, die gleichen Tätigkeiten in Eigenregie durchzuführen, ohne für etwaige US-Sanktionen anfällig zu sein. Zum anderen könnten deutsche Unternehmen, sollte Nord Stream 2 tatsächlich eine Bauruine bleiben, ihren bislang privilegierten Zugriff auf russisches Gas verlieren: Russland und China verhandeln inzwischen nicht nur über eine Erweiterung der Pipeline Power of Siberia auf ein Volumen von jährlich 44 Milliarden Kubikmeter – fast so viel wie Nord Stream 2 -, sondern auch über eine weitere Pipeline (Power of Siberia 2). Bereits Ende 2018 hatte das Oxford Institute for Energy Studies (OIES) gewarnt, noch seien “die europäischen Konsumenten und Politiker in der relativ bequemen Position eines Monopolabnehmers russischer Erdgasexporte aus Westsibirien”.[8] Diese Position könnten sie allerdings auch verlieren.
    “Europäische Souveränität”
    Der Machtkampf um Nord Stream 2 hat zudem längst prinzipielle Bedeutung inne. Dabei geht es nicht mehr nur darum, dass die Bundesregierung ihren Zugriff auf Russlands riesige Erdgasvorräte ausbauen will, und auch nicht nur darum, dass Berlin und Brüssel extraterritoriale Sanktionen prinzipiell ablehnen: “Solche Maßnahmen sind inakzeptabel und verstoßen gegen internationales Recht”, hatte beispielsweise EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang November erklärt.[9] Außenminister Heiko Maas ließ sich Ende Dezember mit der Feststellung zitieren: “Wir brauchen nicht über europäische Souveränität zu reden, wenn dann darunter verstanden wird, dass wir in Zukunft alles nur noch machen, wie Washington es will”.[10] Die Bundesregierung werde deshalb “ihre Haltung zu Nord Stream 2 nicht verändern”. Zuletzt hat sich ein Fachmann des renommierten Pariser Institut français des relations internationales (Ifri) zu dem Sanktionskonflikt geäußert. Wie Ifri-Energieexperte Marc-Antoine Eyl-Mazzega urteilt, “zertrampeln die Amerikaner die europäische Souveränität”; die EU stecke “in einem Machtkampf” – und sie unternehme nicht genug, um ihre Interessen gegen Washington zu verteidigen. Ändere sich dies nun nicht, dann würden schon “morgen womöglich weitere Branchen getroffen”.[11]
    Die Interessen der EU (21.01.2021)
    Berlin besteht trotz neuer Kooperation mit den USA auf eigenständiger Weltmachtposition.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung stellt anlässlich der gestrigen Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden eine engere transatlantische Kooperation in Aussicht und beharrt zugleich in zentralen Streitpunkten auf Eigenständigkeit. Trotz aller Zusammenarbeit werde man nicht “mit der neuen Administration immer einer Meinung sein”, teilt Außenminister Heiko Maas mit: Schließlich habe “Europa” eigene Interessen. Kurz vor dem Personalwechsel im Weißen Haus hat die EU mit der Einigung auf ein Investitionsabkommen mit China dem US-“Decoupling”, auf das auch die Biden-Administration setzt, eine klare Absage erteilt. Gestern hat darüber hinaus ein führender CDU-Außenpolitiker ein Plädoyer für eine neue Zusammenarbeit mit Russland publiziert, die Washington klar ablehnt. Beim Streben nach einer eigenständigen EU-Weltmachtposition können Berlin und Brüssel sich auf eine Mehrheit in der Bevölkerung stützen. So sprechen sich laut einer aktuellen Umfrage 67 Prozent der Bewohner von zehn EU-Staaten und Großbritannien für größere militärische Unabhängigkeit aus; zwei Drittel lehnen es ab, sich im Machtkampf gegen China auf Seiten der USA zu positionieren.
    USA: “Kaputt”
    Die Umfrage, die nach der Wahl in den Vereinigten Staaten im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR) von Datapraxis und YouGov durchgeführt wurde, zeigt Ergebnisse, die in weiten Teilen als vorteilhaft für die Berliner Außenpolitik und ihr Streben nach einer größeren Eigenständigkeit der EU gelten können. Die Forderung nach größerer Eigenständigkeit hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai 2017 in die Parole gefasst: “Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen”.[1] In der Umfrage stimmten 67 Prozent der Ansicht zu, “Europa” könne sich “nicht immer auf die USA verlassen”; es müsse deshalb nun die eigenen militärischen Kapazitäten stärken. Gegenteiliger Auffassung waren nur zehn Prozent.[2] Zugleich äußerten 61 Prozent, sie hielten das politische System der Vereinigten Staaten für “kaputt”; der Einschätzung, es funktioniere nach wie vor gut, schlossen sich lediglich 27 Prozent an. Ebenfalls nur 27 Prozent urteilten, man könne sich nach dem Wahlsieg von Donald Trump im November 2016 noch ernsthaft auf die USA verlassen. Durchschnittlich 32 Prozent, in Deutschland sogar 53 Prozent, verneinten dies.
    Mehrheit für Neutralität
    Recht widersprüchlich sind auch sonst die Auffassungen zum Bündnis mit den USA. Zwar waren 57 Prozent der Meinung, ihr Land sei zum Schutz vor einer Militärinvasion in gewissem Maß oder sogar sehr vom Schutz durch die Vereinigten Staaten abhängig.[3] Dies entspricht der in Berlin dominanten Position, die Mitgliedschaft in der NATO sei – unbeschadet aller Bemühungen um den Aufbau eigener Streitkräfte in der EU – nach wie vor unabdingbar. Gleichzeitig ist allerdings die Bereitschaft gering, sich in den Machtkämpfen zwischen den USA und Russland bzw. China klar auf die Seite Washingtons zu schlagen. Insgesamt gingen 57 Prozent davon aus, in zehn Jahren werde China “wahrscheinlich” oder sogar “sicherlich” mehr Macht innehaben als die Vereinigten Staaten; nur 19 Prozent waren vom Gegenteil überzeugt. Dennoch wünschten nur 22 Prozent (Deutschland: 16 Prozent), ihr Land solle sich bei einem konkreten Streit zwischen den USA und China auf US-Seite positionieren; 60 Prozent (Deutschland: 66 Prozent) plädierten dagegen für Neutralität. Fast identische Zahlen ergaben sich für einen Streit zwischen den USA und Russland: 23 Prozent verlangten eine Positionierung auf Seiten der Vereinigten Staaten (Deutschland: 16 Prozent), 59 Prozent (Deutschland: 66 Prozent) favorisierten jedoch Neutralität.
    “Nicht immer einer Meinung”
    Unabhängig von der Frage, wie sich Berlin und Brüssel im Konfliktfall tatsächlich entscheiden würden, bietet demnach die Stimmung in der Bevölkerung der Bundesregierung wie auch der EU Rückendeckung beim außenpolitischen Manövrieren. Prinzipiell wirbt das Berliner Establishment unverändert für eine enge Zusammenarbeit mit der neuen Biden-Administration. Außenminister Heiko Maas bekräftigte gestern, er gehe davon aus, dass es jetzt wieder eine bessere Kooperation zwischen Deutschland und den USA geben werde: Darauf deuteten “alle Signale” hin, “die wir im Moment empfangen”.[4] Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU): “Im Stil, im Ton kann man jetzt wieder über alles reden.” Dabei sagte Röttgen voraus, zahlreiche bisherige Streitpunkte blieben bestehen, etwa der Konflikt um die Höhe des deutschen Militärhaushalts und der Streit die Erdgaspipeline Nord Stream 2 [5]; diese Konflikte seien parteiunabhängig. Maas schloss sich an: “Es wird nicht so sein, dass wir mit der neuen Administration immer einer Meinung sein werden – weil wir in Europa natürlich auch unsere Interessen haben und die Situation in Europa oftmals auch nicht vergleichbar ist.”[6]
    Künftige Konflikte
    Entsprechend haben die Bundesregierung und die EU-Kommission kurz vor dem Personalwechsel im Weißen Haus Positionen festgeklopft, die in Washington Widerspruch erregen. So hat sich die EU – auf maßgebliche Initiative der Bundesregierung – Ende Dezember, noch unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft, auf ein Investitionsabkommen mit China geeinigt, das nicht nur Unternehmen aus der Union das Chinageschäft erleichtern, sondern auch den US-Bemühungen um eine – von Berlin klar abgelehnte – wirtschaftliche Entkopplung (“Decoupling”) von der Volksrepublik entgegenwirken soll.[7] Umgekehrt hat vor kurzem der künftige “Indo-Pazifik-Koordinator” im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten, Kurt Campbell, angekündigt, Washington werde an Chinas “gelenkter Entkopplung” festhalten.[8] Streit darüber ist ebenso absehbar wie bezüglich der am Dienstag vorgestellten Pläne der EU-Kommission, die Rolle des Euro im globalen Finanzsystem zu stärken und so die Dominanz des US-Dollar zu schwächen. Darüber hinaus hat Brüssel vor, die EU-Wirtschaft besser gegen Finanzsanktionen zu schützen – faktisch gegen solche der Vereinigten Staaten (german-foreign-policy.com berichtet in Kürze).[9]
    “Auf Russland zugehen”
    Als Hinweis darauf, dass Berlin dezidiert auf Eigenständigkeit besteht, kann ein Namensartikel des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Johann Wadephul gelten, den die zuverlässig transatlantisch orientierte Frankfurter Allgemeine Zeitung gestern druckte – am Tag der Amtseinführung von US-Präsident Biden. Wadephul erklärt darin, “politisch” habe es “zu jeder Zeit Anknüpfungspunkte zur Zusammenarbeit” mit Russland gegeben; es sei nun “an der Zeit, diese aufzugreifen”.[10] Die Forderung kommt zu einer Zeit, zu der der designierte US-Außenminister Antony Blinken Pläne mitgeteilt hat, die auf eine Verschärfung der Spannungen mit Moskau hinauslaufen; so spricht er sich etwa für einen NATO-Beitritt Georgiens aus.[11] Wadephul weist darauf hin, dass Berlin NATO-Aufnahmegespräche mit Georgien bereits in der Vergangenheit verhindert hat, und plädiert für konkrete Schritte der Kooperation mit Russland – mit dem “Ziel eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok”. Die Forderung, die als ein rotes Tuch für Washington gelten kann, verbindet der CDU-Außenpolitiker mit dem Hinweis, es sei “nicht ausgemacht”, “auf welcher Seite” Moskau im Großkonflikt zwischen dem Westen und China stehe; auch im Hinblick darauf solle die EU nun “auf Russland zugehen und Deutschland dazu den Anstoß geben”.

  46. dass Berlin und Brüssel extraterritoriale Sanktionen prinzipiell ablehnen: „Solche Maßnahmen sind inakzeptabel und verstoßen gegen internationales Recht“

    Soso. Und wie war das mit den Sanktionen gegen Rußland wegen Ukraine & Krim?
    Mitgefangen, mitgehangen.

  47. Biden hat den Bau einer 2. Trans-Öl-Pipeline (Keystone XL) von Kanada gestoppt, und es fragt sich überhaupt, wie es mit dem Fracking in den USA weitergeht.
    Trump hat das ja bedingungslos unterstützt, aber es sieht so aus, als ob das mit den Kosten und Erträgen nicht so hinhaut. Als ob die Vorkommen immer schwerer zugänglich und dadurch die Kosten immer höher werden.
    Mir ist nicht klar, welcher Teil davon sich auf Öl und welcher auf Gas bezieht, aber der Widerstand der USA gegen North Stream II beruht ja auch auf der Grundlage von Flüssiggas-Lieferungen, und ich blicke da nicht durch, in welchem Ausmaß die garantiert sind.

  48. Prinzip Anbiederung
    Linke Friedenspolitik unter Beschuss. Gastkommentar
    Von Ellen Brombacher
    Die heutige Situation, so Matthias Höhn – sicherheitspolitischer Sprecher der Partei – in seinem Anfang der Woche verbreiteten Diskussionspapier, sei kaum vergleichbar »mit 2007, als sich Die Linke gründete, oder mit 2011, als sie ihr bis heute geltendes Programm formulierte«. Mit solch einer Pseudobegründung will er vor dem Wahlparteitag der Linken im ­Juni 2021 jene Positionen in der Partei durchsetzungsfähig machen, die die friedenspolitischen Grundsätze des Parteiprogramms neutralisieren sollen. Es geht um ein die BRD-Staatsräson akzeptierendes Wahlprogramm und letztlich um eine »rot-rot-grüne« Koalition im Bund.
    Die Quintessenz des Höhn-Papiers lässt sich so beschreiben: Es gibt keinen Hauptverantwortlichen für die stetig schlechter werdende internationale Lage. Alle sind schuld. Somit, so der Autor, genüge altes Blockdenken schon lange nicht mehr. Es würde höchste Zeit, dass Die Linke Antworten finde, die jenseits ausgedienter Freund-Feind-Bilder zu finden sind. Das Bild von der NATO – ausgedient? Das Bild vom US-Imperialismus – ausgedient? Das Bild deutscher Friedensverantwortung nach zwei im Interesse des deutschen Kapitals entfesselten Kriegen – ausgedient? Anstelle dessen das Bild von der Äquidistanz.
    Die Militärbudgets der NATO, so Höhn korrekt, betrügen 2019 zusammen 1.040 Milliarden Dollar. Länder wie China, Russland oder Indien hätten jedoch in den vergangenen Jahren teils massiv nachgezogen. Russland hat also mit rund acht Prozent und China mit circa 25 Prozent der Rüstungsausgaben im Vergleich zur NATO massiv nachgezogen?
    »Wichtige Pfeiler internationaler Rüstungskontrolle kamen ins Wanken oder sind bereits eingerissen«, schreibt Höhn. Für ihn scheint es unerheblich, dass die Kündigungen von Kontrollabkommen ausnahmslos von den USA ausgingen.
    Statt zuvorderst für vernünftige, friedliche Beziehungen zu Russland und China zu plädieren, plädiert Höhn dafür, dass Die Linke »sich ernsthaft über Ziele und Mittel einer europäischen Sicherheitspolitik« verständigt. Dazu gehörte in letzter Konsequenz auch die Abgabe der alleinigen nationalen Hoheit über das Militär. Das hieße: Die Linke müsste sich im Bundestag dann nicht mehr zu Bundeswehreinsätzen verhalten. Auch der seit einem Vierteljahrhundert schwelende Streit um die Einzelfallprüfung wäre schlagartig beendet. Vergleichbares gilt für seine Forderung nach Zustimmung unserer Partei zu Auslandseinsätzen im Rahmen der UNO.
    Höhn will eine andere Partei. Nicht nur bei Kommunistinnen und Kommunisten stößt er damit auf unerbittlichen Widerstand. Kochef Bernd Riexinger gibt die Stimmung an der Parteibasis wieder, wenn er sagt, Die Linke habe keinen Grund, ihre friedenspolitischen Prinzipien in Frage zu stellen. Für eine sich als sozialistisch verstehende Partei sind Höhns Vorschläge so unannehmbar, wie es für Karl Liebknecht die Zustimmung zu Kriegskrediten war.
    Grüner Glutkern
    Von Arnold Schölzel
    Was Matthias Höhn kann, können Grüne besser. Der Linke-Mann aus Magdeburg nähert sich eher schüchtern der NATO, um ihr seine Liebe zu gestehen. Hätte er aber am Dienstag den Berliner Tagesspiegel gelesen, wäre sein Eintrag ins NATO-Poesiealbum, den er zuerst dem Spiegel, dann als »Diskussionsangebot« den »lieben Genossinnen und Genossen« in der Linke-Bundestagsfraktion schickte, wohl neu verfasst worden. Der Spiegel nannte zwar die Schurkenstaaten und ihre Repräsentanten in der Fraktion bei Namen – »Heike Hänsel (Venezuela), Sevim Dagdelen (China) oder Alexander Neu (Russland)« –, aber dennoch: So wird das nichts mit »Rot-Rot-Grün«. In der Tageszeitung aus dem Hause Holtzbrinck machen die in der DDR aufgewachsene Theologin und Kovorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung, Ellen Ueberschär, und der Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Patrick Keller, unter der Überschrift »Wir brauchen eine neue Übereinkunft« jedenfalls vor, wie’s geht: Auch bei NATO oder der »Wiederbelebung der transatlantischen Partnerschaft« nicht lange fackeln, sondern zupacken. Wer sich an Donald Trumps Umgangsformen erinnert fühlt, liegt richtig: »Wir« sind wieder wer und können uns so ziemlich alles erlauben. In diesem Fall: »Europa« könne »seine Handlungsfähigkeit nur transatlantisch abgesichert erhalten und ausbauen«, und Joseph Biden wisse, »dass Amerika nur durch die enge Zusammenarbeit mit einem handlungsfähigen Europa die eigene Weltmachtrolle erhalten« könne. Im Klartext: Europa baut seine Weltmachtrolle aus, damit die USA die ihre noch halten können. Ein Deal im Trumpschen Stil, wenn auch nicht in seinem Sinne: Europe keeps America great – Europa hält Amerika großartig.
    Es folgt das Grünen-obligatorische Blabla über »zivilgesellschaftliche Querverbindungen«, wofür sich »jenseits etablierter Eliten« vor allem soziale Bewegungen »junger Menschen und vielfältiger Minderheiten – beispielsweise zur Bekämpfung des Klimawandels und der Überwindung von Rassismus und Sexismus, aber auch zu Themen wie dem Wandel der Arbeitswelt« anbieten. Aber die politische Hardware, sprich Hochrüstung und es den Russen und Chinesen zeigen, folgt alsbald: »Angesichts der neuen geostrategischen Lage braucht die Sicherheitspartnerschaft, der Glutkern des transatlantischen Verhältnisses, eine neue Übereinkunft.« Das ist die Geburt der atomaren Aufrüstung aus dem Geist theologisierender Politlyrik.
    Nämlich: »Die europäischen NATO-Staaten – mit Deutschland an erster Stelle – erhöhen ihre Fähigkeiten zur konventionellen Verteidigung erheblich.« Im Gegenzug bekräftigen die USA ihr »Bekenntnis zur Verteidigung des Bündnisgebiets«, untermauern dies durch dauerhafte militärische Präsenz »sowie durch ihre nukleare Schutzzusage, die Deutschland durch die nukleare Teilhabe unterstützen sollte, solange es Nuklearwaffenstaaten außerhalb der NATO gibt.« In einem Strategiepapier von 19 US- und deutschen Autorinnen und Autoren, das dem Tagesspiegel-Beitrag zugrunde liegt (siehe: anewagreement.org), ist näher beschrieben, worin die »neue geostrategische Lage« besteht: »Die Konfliktstrategie Russlands und sein wachsendes militärisches Potential verlangen amerikanisches Gegengewicht.« Anders gesagt: »Wir« sind noch nicht wieder soweit, um Russland das Fürchten zu lehren, aber gemeinsam schaffen wir das.
    Höhn kann aus solch staatspfäffischem Glaubensbekenntnis zu einem »Glutkern« und aus den Schlussfolgerungen viel lernen. Die Kombination von »junge Menschen und vielfältige Minderheiten« auf die Straße schicken und gleichzeitiger kompletter Militarisierung der Außenpolitik macht den Grünen allerdings gegenwärtig niemand nach. Es ist das Programm der vollendeten Reaktion.

  49. Wohldosierte Repression
    Überschaubare Proteste für Oppositionellen Nawalny in Russland. Unterschiedlich hartes Vorgehen der Polizei, zahlreiche Festnahmen
    Von Reinhard Lauterbach
    Vermutlich mehrere zehntausend Menschen haben am Sonnabend in ganz Russland für die Freilassung des seit seiner Rückkehr ins Land inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny demonstriert. Präzise Teilnehmerzahlen gibt es nicht. Die am gleichen Tag von der britischen Agentur Reuters kolportierte Zahl von 40.000 Demonstrierenden allein in Moskau war offenkundig erheblich übertrieben. Selbst die Moskauer Nawalny-Anhänger sprachen nur von 10.000 Teilnehmenden, Videos von der zentralen Kundgebung am Puschkinplatz lassen auch diese Zahl noch großzügig geschätzt wirken.
    Jüngere Generation
    Größere Demonstrationen gab es auch in St. Petersburg und Nischnij Nowgorod, jeweils einige tausend Protestierende versammelten sich in Nowosibirsk und Wladiwostok. Anderswo, etwa in Jakutsk oder in Samara an der Wolga, blieb die Zahl dagegen im dreistelligen Bereich. Nichtsdestotrotz sprachen gerade in vielen Provinzstädten Teilnehmende in Postings von den größten Protesten vor Ort seit 15 Jahren. Damals waren vor allem Rentner gegen die Umstellung bestimmter Sozialleistungen in Geldzahlungen auf die Straße gegangen. Diesmal waren die Kundgebungen dem visuellen Eindruck nach überwiegend eine Sache der jüngeren Generation.
    Die Polizei war überall mit zahlreichen Einsatzkräften präsent und nahm bis zum Abend landesweit über 2.000 Menschen fest, mehr als die Hälfte davon in Moskau und St. Petersburg. Dabei war sie dem Anschein nach bemüht, übermäßige Brutalität zu vermeiden. Auch als in Moskau ein auf den Geheimdienst FSB zugelassenes Auto aus der Menge mit Schneebällen bombardiert wurde (der Fahrer erlitt dabei eine Augenverletzung), griff sie nicht ein. In St. Petersburg wurde gegen einen Beamten, der einer Demonstrantin in den Bauch getreten hatte, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, und die Polizeiführung entschuldigte sich. Wie das Moskauer Portal rbc.ru am Sonntag meldete, wurden alle festgenommenen Minderjährigen bis zum Abend ihren Eltern übergeben. Auch Nawalnys Ehefrau Julia, die am Nachmittag verhaftet worden war, kam nach einigen Stunden wieder frei. Die Festnahmen scheinen sich in erster Linie gegen potentielle Multiplikatoren gerichtet zu haben: Journalisten und regionale Aktivisten der Bewegung um Nawalny.
    Für den kommenden Sonnabend sind die nächsten Proteste angekündigt. Die Organisatoren der Nawalny-Bewegung sind erkennbar bemüht, eine Situation ähnlich wie in Belarus herbeizuführen: Dauerproteste, die irgendwann das politische Kräfteverhältnis umkehren sollen. Vor allem unter angelsächsischen Experten und in der Presse wird dieses Szenario inzwischen ungeniert diskutiert, auch mit Blick auf die im Herbst bevorstehenden Wahlen zur Staatsduma. Die Gegenaktionen der Staatsmacht scheinen darauf berechnet zu sein, genau dieses Szenario nicht eintreten zu lassen – daher der im Vergleich zur Brutalität der belarussischen Polizei im vergangenen Herbst wesentlich dosiertere Einsatz staatlicher Machtmittel, zumindest am Sonnabend. Im sibirischen Irkutsk verlief die örtliche Demonstration sogar ohne jeden Zwischenfall und ohne eine einzige Festnahme. Es ist, als würden von staatlicher Seite verschiedene Optionen durchgetestet.
    Keine Massen
    Eine Bilanz des Protesttags fällt unentschieden aus. Ein Erfolg für Nawalny ist, dass seine Anhänger innerhalb kurzer Zeit landesweit mobilisieren konnten. Zugunsten der Staatsmacht fällt ins Gewicht, dass die Kundgebungen relativ zur Bevölkerung des Landes bei weitem nicht so groß waren wie die Proteste in Belarus nach der Präsidentschaftswahl. Fehlender Massenanhang “>für die Nawalny-Anhänger aber nicht das entscheidende Problem zu sein. Der russische Politologe Sergej Medwedjew erklärte gegenüber der polnischen Gazeta Wyborcza, die Massen hätten in Russland noch nie entscheidenden Einfluss gehabt. Alle Veränderungen seien stets von »Eliten« und den Bewohnern der großen Städte ausgegangen. Oder vom Ausland. Der britische Russland-Experte in Diensten der New York University, Mark Galeotti, schrieb auf Twitter, er wünsche sich, dass westliche Diplomaten die Demonstrationen »begleiteten«. Einen Anfang machte schon mal die Moskauer US-Botschaft. Sie publizierte auf ihrer Webseite die Sammelpunkte der Kundgebungen.
    Aktionismus in Washington
    USA: Fahrplan für Amtsenthebung Trumps steht. Außenpolitischer Eifer
    Das Verfahren im US-Senat, das dem Expräsidenten Donald Trump eine lebenslange Ämtersperre auf Bundesebene bringen könnte, soll in der zweiten Februarwoche verhandelt werden. Damit wollen die Demokraten Trump wegen des Angriffs seiner Anhänger auf das US-Kapitol am 6. Januar zur Verantwortung ziehen, bei dem fünf Menschen ums Leben gekommen waren. Zunächst soll die Anklageschrift des Repräsentantenhauses mit dem Vorwurf »Anstiftung zum Aufruhr« an diesem Montag abend (Ortszeit) im Senat verlesen werden.
    Mit der späteren Aufnahme soll vermieden werden, dass das Verfahren wichtige erste Initiativen des neuen Präsidenten Joseph Biden verzögert, wie etwa das neue Konjunkturpaket mit einem Volumen von 1,9 Billionen US-Dollar. Zudem ist Biden für die Bestätigung seiner Kabinettsmitglieder auf die Zustimmung des Senats angewiesen. Am Freitag wurde als erster Minister Lloyd Austin für das Verteidigungsressort bestätigt.
    Unterdessen bringt sich der neue US-Präsident außenpolitisch weiter in Stellung. So forderte das Außenministerium am Sonnabend China dazu auf, seinen »militärischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auf Taiwan« einzustellen. Die USA stünden felsenfest zu Taiwan, das von China als abtrünnige Provinz betrachtet wird, und würden der Führung in Taipeh auch weiterhin helfen, eine ausreichende Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu haben.
    Der Vorstoß Washingtons zu einer Überprüfung des Abkommens mit den radikalislamischen Taliban in Afghanistan ist derweil von führenden Regierungsvertretern in Kabul begrüßt worden. Der Übergangsminister für Frieden, Abdullah Chendschani, erklärte am Sonnabend in einem Video, dies müsse zu einem »sofortigen Ende der Gewalt« und einem »dauerhaften Frieden« führen. Washington hatte zuvor angekündigt, zu prüfen, ob die Taliban ihre Verbindungen zu terroristischen Gruppen beendet, die Gewalt in Afghanistan reduziert und sich auf ernsthafte Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung eingelassen haben.
    Gegenüber dem mexikanischen Präsidenten sicherte Biden zu, die zentralamerikanischen Staaten Guatemala, Honduras und El Salvador mit vier Milliarden US-Dollar zu unterstützen, wie Andrés Manuel López Obrador am Sonnabend erklärte. Damit soll die Flucht Zehntausender nach Norden verhindert werden. (dpa/AFP/jW)

  50. Die Linke ist eben in ihrer Widersprüchlichkeit gefangen:
    Friedenspolitik in einer imperialistisch funktionierenden Welt heißt schon, von den internationalen – und nationalen! – Gegensätzen absehen.
    Seit Suttners Buch „Die Waffen nieder!“ könnte man das bemerken.
    Die einzige Lösung dieses Widerspruches wäre, den inneren Klassenfrieden aufzukündigen, aber dann kann man eben nicht als Partei zu Wahlen antreten.

  51. ein auf den Geheimdienst FSB zugelassenes Auto aus der Menge mit Schneebällen bombardiert wurde (der Fahrer erlitt dabei eine Augenverletzung),

    Bei zweistelligen Minusgraden mit offenem Fenster?!
    Selber schuld! 😀

    Die Organisatoren der Nawalny-Bewegung sind erkennbar bemüht, eine Situation ähnlich wie in Belarus herbeizuführen

    Was ist dort eigentlich los?
    Man hört oder liest ja gar nix mehr von den Lukaschenko-müden Massen in Weißrußland.

    Der russische Politologe Sergej Medwedjew erklärte gegenüber der polnischen Gazeta Wyborcza, die Massen hätten in Russland noch nie entscheidenden Einfluss gehabt.

    Man fragt sich, wie sich dann die Bolschewiki durchgesetzt haben? Ohne die ihnen zugetanen Massen hätten sie wohl den Bürgerkrieg nicht gewonnen, und sich gegen die Interventionsarmeen nicht durchgesetzt.
    Die übliche Beschimpfung des Publikums: Schafe, die einen Hirten brauchen.

    er wünsche sich, dass westliche Diplomaten die Demonstrationen »begleiteten«.

    Das würde die Demonstranten allerdings ziemlich diskreditieren – es ist gar nicht sicher, ob die Organisatoren der Demos das gerne hätten. Das würde zu offensichtlich machen, auf wessen Payroll sie stehen.

  52. Euro gegen Dollar (25.01.2020)
    EU will den Euro zu einer führenden Weltwährung aufwerten. Maßnahmen zur Vorbereitung auf künftige Wirtschaftskriege geplant.
    (Eigener Bericht) – Die EU will den Euro zu einer führenden Weltwährung aufwerten und damit den Einfluss des US-Dollar zurückdrängen. Dies geht aus einem “Aktionsplan” der EU-Kommission hervor, der am vergangenen Dienstag verabschiedet wurde – unmittelbar vor der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden. Die Absicht, der EU-Einheitswährung größeren Einfluss zu sichern, wird insbesondere mit dem Scheitern der Bestrebungen Berlins und Brüssels in Verbindung gebracht, die extraterritorialen US-Sanktionen gegen Iran abzuwehren. Entsprechende Schritte hat die Union bereits 2018 in Aussicht gestellt, dabei aber bislang noch kaum Fortschritte erzielt. Gegenwärtig biete nicht zuletzt der Corona-Wiederaufbauplan Aussichten, die Rolle des Euro zu stärken, heißt es: Schließlich avanciere die EU im Zusammenhang mit ihrem 750-Milliarden-Euro-Hilfspaket zu einer der “größten Institutionen der Schuldenausgabe”. Die Pläne, dem Euro größere globale Bedeutung zu verschaffen, gehen mit der Diskussion über weitere Maßnahmen zur Vorbereitung der EU auf künftige globale Wirtschaftskriege einher.
    “Begrüßungsgeschenk” für Joe Biden
    Die EU ist weiterhin entschlossen, die Rolle des Euro als Weltwährung zu stärken und so den Einfluss des US-Dollar zurückzudrängen. Ein Aktionsplan der EU-Kommission, der am Dienstag verabschiedet wurde, nachdem er vorab britischen [1] und deutschen [2] Medien zugespielt worden war, sieht zudem Maßnahmen zum Schutz von Unternehmen aus der Union vor extraterritorialen Sanktionen vor. Der konkrete Zeitpunkt der Veröffentlichung des Aktionsplans – nur einen Tag vor der Vereidigung des neuen US-Präsidenten Joe Biden – sei “nicht sehr freundlich”, hieß es in Kommentaren; schließlich sei das Vorhaben “gegen die Vereinigten Staaten” gerichtet, deren US-Dollar die Weltmärkte dominiere. Der neue Aktionsplan stelle schon das “zweite pikante Begrüßungsgeschenk Brüssels” für die neue US-Administration dar – nach dem Investitionsabkommen, auf das sich die EU und China Ende 2020 im Grundsatz geeinigt hatten [3], ohne sich mit dem Team um Biden “auf eine gemeinsame Strategie gegenüber Peking zu verständigen”. Brüssel und Berlin haben demnach das Interregnum in Washington genutzt, um strategische Weichenstellungen vorzunehmen und Fakten zu schaffen.
    Gegengewicht gegen die USA
    Den Beginn ernsthafter währungspolitischer Souveränitätsbestrebungen der EU datieren deutsche Medien auf den Sommer 2018, als die extraterritorialen US-Sanktionen gegen Iran auch europäische – insbesondere deutsche – Konzerne tangierten. Damals legte das unilaterale Vorgehen der Vereinigten Staaten die Abhängigkeit der EU vom US-Finanzsystem schonungslos offen: Die Trump-Administration drohte Finanzinstituten und anderen Unternehmen aus der Union, die mit Teheran Geschäfte machten, hohe Strafen an – und diese waren nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Im August 2018 forderte Bundesaußenminister Heiko Maaß folglich den Aufbau unabhängiger EU-“Zahlungskanäle”, eines “Europäischen Währungsfonds” sowie eines unabhängigen “Swift-Systems”, um ein “Gegengewicht” zu den USA überall dort bilden zu können, wo diese nach Ansicht Berlins “rote Linien” überschritten.[4] Bereits Ende 2018 kündigte die EU-Kommission eine Reihe von Schritten an, um die “finanzielle Abhängigkeit” der Eurozone vom US-Dollar zu reduzieren.[5] Damals stand der Handel mit Energieträgern im Zentrum der geldpolitischen Bestrebungen Berlins und Brüssels. Die EU-Kommission wollte Konzerne aus der EU dazu ermuntern, ihre Energiebeschaffung fortan in Euro abzuwickeln. Zudem führte Brüssel Gespräche mit Airbus und etlichen Autobauern, um diese zum Umstieg auf den Euro zu bewegen.[6]
    Corona-Hilfen als Chance
    Auch in der aktuellen Erklärung der EU-Kommission, die eine “offene strategische Autonomie” der Union fordert, heißt es in Anspielung auf die Iran-Sanktionen der USA, “unilaterale Aktionen durch Drittstaaten” hätten den “legitimen Handel und Investments von EU-Unternehmen mit anderen Ländern” beeinträchtigt.[7] Zugleich habe eine Untersuchung der Europäischen Zentralbank feststellen müssen, dass die globale Bedeutung des Euro derzeit “auf historischen Tiefstständen” verharre, hieß es in Medienberichten; die EU wolle daher nun in “Nachbarregionen” für die Verwendung des Euro als internationales Zahlungsmittel “werben”.[8] Zudem sollten die Banken- und die Kapitalmarktunion forciert werden. Schließlich werde gerade die massive Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission, auf die sich die Staats- und Regierungschefs der Eurozone im vergangenen Sommer zum Kampf gegen die Coronakrise geeinigt hatten, dazu führen, dass die EU die Chance habe, “eine noch prägendere Kraft auf den Finanzmärkten zu werden”. Da für die “Corona-Hilfen” erstmals im großen Stil EU-Schulden aufgenommen würden, avanciere die EU zu einer der “größten Institutionen der Schuldenausgabe”; dies mache den Euro zu einem wichtigen Faktor auf den Anleihemärkten. Überdies setze Brüssel auf “sogenannte Sozialbonds und Grüne Bonds”, die spezifische Nachhaltigkeitskriterien erfüllten, weshalb sich die EU-Finanzmärkte zu einem “globalen Zentrum für grüne Finanzprodukte” entwickeln könnten.
    Gegen US-Übernahmen
    Um die EU künftig besser vor Sanktionen zu schützen und ihre Kapazitäten für kommende Wirtschaftskriege zu stärken, wird neben den bereits in Diskussion befindlichen Maßnahmen auch ein zunehmender Protektionismus anvisiert.[9] Durch die Ausweitung des sogenannten Blocking Statute könnten in Zukunft Versuche außereuropäischer Konzerne vereitelt werden, Firmen aus der EU zu übernehmen, heißt es; demnach könnten etwa US-Übernahmen in Europa künftig untersagt werden, wenn Brüssel der Ansicht sei, der Erwerb werde dazu führen, dass sich die betroffenen Unternehmen an unilateral verhängte US-Sanktionen gebunden fühlten.
    Zwischen China und den USA
    Dem aktuellen Vorstoß der EU-Kommission sind diverse Publikationen unter anderem des European Council on Foreign Relations (ECFR) vorausgegangen, in denen es hieß, die “bipolare Konkurrenz” zwischen den USA und China werde zu einem “Wandel der Globalisierung” führen.[10] Da beide Großmächte einen konventionellen Krieg aktuell zu vermeiden suchten, gingen sie dazu über, “die Architektur der Globalisierung zu manipulieren”. Sowohl die Volksrepublik als auch die Vereinigten Staaten mischten Geopolitik mit Geoökonomie. Beijing suche mit “strategischen Investitionen” und “staatlichen Hilfen” die Märkte zu manipulieren und so die Position der EU in Drittstaaten zu unterminieren. Die USA wiederum “politisierten” ebenfalls globale Institutionen und Strukturen wie SWIFT, den IWF und die Welthandelsorganisation WTO sowie ihren eigenen Finanzmarkt immer mehr. Es bestehe die Gefahr, dass die EU in den sino-US-amerikanischen Machtkämpfen zerrieben werde.
    Die EU als “geopolitische Macht”
    Die EU müsse deshalb anfangen, als “geopolitische Macht” aufzutreten, und ihre “strategischen Ziele” klar umreißen, heißt es beim ECFR. Hierzu sei es unabdingbar, dass die Union aufhöre, auf geostrategischer Ebene wie eine “fragmentierte Macht” zu agieren. Die Aufgabenteilung, wonach Brüssel für Fragen des internationalen Handels verantwortlich sei, während die EU-Staaten sich mit den geostrategischen Problemen befassten, müsse überwunden werden, da “andere Mächte” sehr wohl “ökonomische Mittel instrumentalisieren, um politische Ziele zu erreichen”. Es gehe vor allem darum, Außenpolitik und Geostrategie in die Debatte um die “Wirtschafts- und Währungsunion” der EU zu integrieren.[11] Dies liefe letztlich auf einen weiteren Souveränitätsverlust insbesondere der Staaten an der Peripherie der EU hinaus, die kaum Möglichkeiten haben, ihre außenpolitischen Interessen in den von Berlin und Paris dominierten Machtstrukturen der EU zu realisieren.
    Vorkehrungen für Wirtschaftskriege
    Neben den derzeit von der EU-Kommission diskutierten Vorschlägen zur Stärkung der Rolle des Euro propagiert der ECFR nicht zuletzt auch eine umfassende “Digitalisierung” der EU-Einheitswährung, um deren “Widerstandsfähigkeit” gegenüber äußerem Druck zu stärken und die Einsichtnahme von Drittstaaten in die Finanzströme der EU zu erschweren. Dies geschieht in Konkurrenz zu entsprechenden Projekten der USA und Chinas.[12] Demnach soll der Aufbau “kollektiver Verteidigungsinstrumente” die EU bei künftigen Wirtschaftskriegen in die Lage versetzen, auf “ökonomische Nötigung” schnell und effizient zu reagieren, heißt es – unter anderem durch das Implementieren von Sanktionen. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang der Aufbau einer “Europäischen Exportbank”, die internationale Zahlungskanäle auch bei US-Sanktionen gegen Drittstaaten offen hielte. Ein “Widerstandfonds” soll Konzernen aus der EU Kreditgarantien und sonstige “Solidaritätsmaßnahmen” zukommen lassen, sofern sie durch Zwangsmaßnahmen dritter Mächte bedroht würden. Zudem müsse der Fluss “sensibler Daten” in die USA mit einem neuen Rahmenabkommen für den IT-Sektor gestoppt werden. Es gehe auch darum, EU-Konzerne vor “gesetzwidriger Datenentwendung” durch chinesische und US-amerikanische Stellen zu schützen. Ein EU-“Büro für Widerstandsfähigkeit” könnte schließlich Marktmanipulationen konkurrierender Großmächte analysieren und konkrete Sanktionsschritte gegen Personen oder Institutionen koordinieren.
    Berliner Geologistik (22.01.2021)
    Staatszentriert und auf Vorkriegsniveau: Deutsche Logistikkonzerne sichern sich internationale Spitzenstellung.
    (Eigener Bericht) – Mit Milliardenbeträgen aus den Covid-19-Programmen subventioniert Berlin seine weltweit führenden Logistikkonzerne. Die in Europa konkurrenzlosen Spitzenunternehmen wie DB Schenker (Deutsche Bahn AG), DHL (Deutsche Post AG), Lufthansa, TUI, DER (Deutsches Reisebüro) oder Kühne & Nagel stabilisieren mit den Staatsgeldern nicht nur vorübergehende Corona-Einbußen; teilweise steigerten sie ihre Umsatz- und Gewinnzahlen 2020 trotz der anhaltenden Wirtschaftskrise um über 5 Prozent. Unternehmen wie DHL (Deutsche Post AG, zu 20 Prozent in Staatsbesitz) kündigen jetzt an, ihren Maschinenpark durch erhebliche Zukäufe aufzustocken, und verbreiten für 2021 und 2022 steigende Gewinnprognosen. Damit ist absehbar, dass die innereuropäische Monopolstellung der deutschen Logistik zu weiteren Zusammenbrüchen regionaler EU-Anbieter führen wird. Die nationale Konzentration des grenzüberschreitenden Transportpotenzials ähnelt inzwischen den Verhältnissen der Vorkriegsjahre. Damals wurde insbesondere Schenker & Co. zugetraut, im Krisen- und Kriegsfall Europa aufzurollen. Die politische Bedeutung des europäischen Transportmonopols erhellt eine Studie, die anlässlich des bevorstehenden Gedenktags am 27. Januar erscheint und die Rolle von Schenker (damals wie heute in Staatseigentum) bei der “Neuordnung des Kontinents” beleuchtet. german-foreign-policy.com bringt heute den ersten Teil der Expertise, die parallel vom “Zug der Erinnerung” veröffentlicht wird.
    Etwa 19 bis 22 Milliarden Euro an Kapitalzuflüssen aus Steuerkassen verbuchen die deutschen Spitzenunternehmen der grenzüberschreitenden Logistik in der Coronakrise. Soweit es sich um Subventionen handelt, die den Stellenabbau eingrenzen, fließen sie vornehmlich in die deutschen Betriebsteile, während Beschäftigte in Auslandsfilialen, etwa in Österreich oder Belgien, prozentual mehr Arbeitsstellen verlieren, so bei der Lufthansa.[1] Die Lufthansa verbucht Kapitalzuflüsse zwischen 9 und 11 Milliarden Euro, die Deutsche Bahn AG und mittelbar DB Schenker erhalten 5 Milliarden (“Eigenkapitalhilfen”). Von Corona begünstigt geht DHL (Deutsche Post AG) durch die Krise. Der Konzern beliefert ein Dutzend EU-Staaten mit Pandemievakzinen und kündigte am 12. Januar an, den Betriebspark um acht Frachtmaschinen des Typs Boeing 777F zu erweitern: Stückpreis laut Liste etwa 200 Millionen US-Dollar.[2] TUI, ein Unternehmen, das in Deutschland als harmloser Urlaubsprofi gilt, erfreut sich öffentlicher Zuschüsse und Kreditlinien, die bis Dezember 2020 über 4 Milliarden Euro ausmachten und mit einer staatlichen Beteiligung aus dem Berliner “Wirtschaftsstabilisierungsfonds” (WSF) zu Jahresbeginn weiter gestiegen sind (auf 25 %).[3]
    “Ständig vor Ort”
    Aber weder TUI (der weltweit größte Touristikkonzern) noch Lufthansa oder DHL sind harmlose Großunternehmen für den Urlaubs- oder Briefverkehr. Ihr ziviler Nutzen verdeckt den staatlichen Zugriff, für den sie etatisiert und bereitgehalten werden: In Friedenszeiten spannen sie ein logistisches Netz, das Warenbewegungen örtlich verdichtet und bis an die Quellen der Wertschöpfungsketten verfolgt werden kann – wichtig für die Geowissenschaften, die Rohstoffforschung und Wirtschaftsspionage. In Zeiten von Krisen und Auslandskonflikten steht dieses Netz (samt der Transporter) zum Umbau bereit. TUI, Lufthansa, DHL oder DB Schenker sind darin fest integriert. “[G]emeinschaftliches Miteinander” [4] verbindet die deutschen Logistikkonzerne und eine steuernde Fachabteilung des Berliner Verkehrsministeriums als Durchgangsstation zu den Notstands- und Militärbehörden der Bundesrepublik. Deren “Mitarbeiter in den Außenstellen sind daher ständig vor Ort und halten den Kontakt” zu den deutschen Logistikunternehmen, heißt es über den staatlichen Bereitschaftsdienst für den “Spannungs- und Verteidigungsfall” beim “Bundesamt für Güterverkehr” (BAG).
    “Systemrelevanz”
    Dann werden aus den bunt beschrifteten Kreuzfahrtschiffen Militärhospitäler für Auslandseinsätze (in Frage kommt TUI), und aus Postfrachtmaschinen werden Truppentransporter (DHL). Das Schienennetz dient der schnellen Verlegung im “Verteidigungseinsatz”, und der Bahn werden “grenzüberschreitende [!] Transporte für die Streitkräfte” “zugewiesen” (auch von Bedeutung für das Bahn-Ressort Schenker).[5] Was in der Corona-Krise die zivile Gesellschaft zu schützen verspricht (“Systemrelevanz”), grenzt das Gesetz [6] aufs Militärische ein: Logistikreserve für “Notstand” und Krieg.
    Geopolitisches Netz
    Wohin die strukturelle Verkoppelung des Staatsapparats mit den expansiven Interessen der Geologistik führen kann, zeigen die Verbrechen der führenden deutschen Logistikunternehmen im NS-“Reich”. Die heutigen Logistikkonzerne der Bundesrepublik verdanken diesen kriminellen Unternehmen ihr Entstehen, etwa Kühne + Nagel (Hamburg), namensidentisch mit der Großspedition, der “eine relative Nähe zum Massenmord” [7] und zu tausendfachen Plünderungen in den deutsch okkupierten Nachbarstaaten nachgesagt werden darf, so in Frankreich. Kühne + Nagel gehört zu den aktuellen Corona-Profiteuren und erhält deutsche Staatsaufträge.[8] Noch deutlicher ist diese Erbschaft bei Schenker, heute ein Unternehmen des staatseigenen DB-Konzerns und namensgleich mit Schenker & Co, das an gewohnheitsmäßigen Bandenverbrechen bei der antisemitisch-antislawischen Vernichtungspolitik führend beteiligt war. Sie vollzog sich im geopolitischen Netz expansiver Vorkriegsinteressen der deutschen Außenpolitik.
    Beschwiegenes Erbe
    Was den Erben dieser Verbrechen gemein ist, so auch dem Unternehmen DER (Deutsches Reisebüro) im REWE-Konzern, ist ihre konstante Weigerung, die eigene Herkunft öffentlich und vollständig aufzudecken. Indem sie das Erbe beschweigen, wollen sie der materiellen Gerechtigkeit entgehen, die sie den Opfern und den Lehren aus der deutschen Geschichte schulden – in welchem Ausmaß, zeigt beispielhaft die Vergangenheit von DB Schenker.
    Die Schenker-Verbrechen (22.01.2021)
    Schenker & Co.: Hehler, Räuber, Mordbeihelfer
    Das weltweit tätige Logistikunternehmen der DB AG, die Deutsche Bahn-Tochter Schenker, steht in der staatlichen Nachfolge einer Verbrecherorganisation. Dies bestätigen neue Dokumente, die der “Zug der Erinnerung” nach Hinweisen britischer Historiker in deutschen Archiven erschließen konnte. Demnach organisierte Schenker für die “Reichsgruppe Industrie” den Beutetransfer der europaweiten Plünderungen in den von der Nazi-Wehrmacht okkupierten Staaten nach Deutschland. Insbesondere in den letzten Kriegsjahren (1943 bis 1945) war Schenker an großangelegten Raubzügen beteiligt, die von Athen im Süden über den gesamten Balkan, von Lissabon im Westen, Oslo im Norden und im Osten von Warschau bis in die Sowjetunion reichten. Die geplünderten Werte flossen in das Vermögen des deutschen Staates, der es mit Konzernen wie Mannesmann, Rheinmetall, Siemens oder AEG teilte. Aber auch harmlos erscheinende Familienbetriebe ließen sich von Schenker & Co. – im Verbund mit der Deutschen Reichsbahn – deportierte Arbeitskräfte und geraubte Rohstoffe aus Osteuropa zuführen.
    Nach Entladung im Reichsgebiet transportierte Schenker auf dem Rückweg an die Front umfangreiche Waffenarsenale, um die deutsche Großraubwirtschaft im “Neuen Europa” militärisch abzusichern. Wie die Dokumente zeigen, erstreckte sich das bandenmäßig betriebene Schenker-Geschäft auch auf Werttransporte der Preußischen Staatsmünze, die im Auftrag der Reichsbank geraubtes Gold in Barren umschmolz und mit einem falschen Prägedatum versah. Damit sollte die Herkunft (unter anderem aus antisemitischen Mordaktionen) verschleiert und das enteignete oder aus den Leichen gebrochene Edelmetall im internationalen Handel unerkannt kapitalisiert werden.
    Weder das Nachfolgeunternehmen von Schenker & Co. (die Deutsche Bahn-Tochter DB Schenker) noch der damalige und heutige Eigentümer von Schenker (der deutsche Staat) scheinen die Schenker-Verbrechen einer umfassenden Aufklärung für wert zu befinden. Aus verständlichen Gründen. Die Erträge aus Hehlerei, Raub und Mordbeihilfe wurden von Berlin nie restituiert. Eine Klärung ist umso dringlicher, als DB Schenker und sein Mutterkonzern zunehmend in Verdacht geraten, ihre global betriebene Wirtschaftsexpansion befördere die Berliner “Weltpolitik”. Das wäre nicht neu. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg galt Schenker als ökonomisch tätige Vorhut deutscher Großmachtsubversion, Schenker-Filialen fungierten als Agentendrehscheiben. In London geriet die regionale Schenker-Niederlassung in Brand, in Osteuropa wurde vor der europaweiten Monopolisierung des Logistikgeschäfts durch Berlin gewarnt.
    Mit Schenker gegen China
    Diese Warnungen kamen zu spät.[1] Zwar galt Schenker in Österreich “als ‘fünfte Kolonne'” [2] der Berliner Außenpolitik, und die sozialdemokratische “Rudé právo” in Prag erhob den Vorwurf, Schenker schmiere tschechische Politiker, um sie als deutsche Einflussagenten einzusetzen [3]; aber die Zielgerichtetheit der Schenker-Umtriebe blieb verborgen. Der unverdächtig erscheinende Auftrag, “den europäischen Verkehr an seinen Quellen zu erfassen” und “ihm die gewünschte Richtung zu geben” [4], zielte auf Krieg. Spätestens seit 1937 war Schenker ein unverzichtbares Instrument der offenen und verdeckten deutschen Aggressionen – nicht nur gegen seine Nachbarstaaten auf dem Kontinent.
    Einen erheblichen Teil des deutschen Waffenhandels, der an internationalen Fronten auf den Krieg in Europa vorbereitete, erledigte Schenker. Allein 50 Prozent dieser Exporte gingen bis 1937 nach China, um die unter deutschen Offizieren stehenden Truppen der Tschiang-Kai-shek-Kräfte gegen die Rote Armee zu munitionieren. Schenker baute seine asiatischen Filialen aus und expandierte in der Folge nach Japan, das zu einem festen logistischen Stützpunkt der Berliner Kriegspolitik wurde.
    “Ausfuhrgemeinschaft für Kriegsgerät”
    In Europa operierte Schenker auf der iberischen Halbinsel, um Waffen für den Putschisten Franco gegen die demokratisch gewählte spanische Regierung in Stellung zu bringen. Die Anlieferungen kamen von der “Reichsgruppe Industrie”, deren Rüstungskartell mit Schenker in einem fast täglichen Austausch stand. Schenker sorgte nicht nur für sichere Transportwege. Das staatliche Unternehmen stellte “Abnahmebeamte” [5] bereit, die das deutsche Kriegsgut durch ausländische Zollsperren schleusten und am Zielort die geheimen Übergaben vornahmen. Bestechung an fremden Grenzen gehörte zum Alltagsgeschäft. Auf diesem Gebiet erfahren und in Spanien tätig war Hans Eltze, der amtliche Vertreter der “Reichsgruppe Industrie”, Referat “Ausfuhrgemeinschaft für Kriegsgerät”.[6] Unter dem Kürzel “AGEKA” sorgte das Exportkartell für die Bündelung des Rüstungstransfers, den Schenker & Co. umsetzte. Nach dem erfolgreichen Putsch in Spanien und der Niederschlagung der Internationalen Brigaden mit den von Schenker bereitgestellten deutschen Waffen siedelte Eltze nach Portugal über. Portugal wurde für die “AGEKA” und damit für Schenker zum Tarnungsland der Material- und Rohstoffimporte, die mit Beginn des deutschen Überfalls auf Polen spätestens ab 1939 unverzichtbar waren (darunter Wolfram). Schenkers “Abnahmebeamte”, die als Hoheitsträger über Madrid nach Lissabon reisten, beglaubigte “Herr Dr. Mörner, Berlin-Wannsee, Drei Lindenstrasse”, Hauptgeschäftsführer der “AGEKA”.
    Kennwort “Bär”
    Mit zunehmenden Materialverlusten und steigendem Nachschubbedarf für den Krieg im Osten nahmen auch die Schenker-Operationen zu. Die Aufträge kamen jetzt vom Oberkommando der Wehrmacht (OKW). Zwecks Einsatz seiner “Abnahmebeamten” ab Grenzbahnhof Perl im Saarland notierte Schenker: “Herr Kuralt hat im Auftrage des OKW mehrere von Perl unter dem Kennwort ‘Bär’ laufende Kriegsmaterialtransporte zu begleiten und zu übernehmen und muß ferner auch Abfertigungen an den spanischen Grenzübergängen durchführen […]. Von der Reise unterrichtet: OKW-Kapitän Flues.” Wegen weiterer Rüstungslieferungen notierte Schenker an anderer Stelle: “Wir haben zurzeit in Portugal grosse, kriegswichtige Transporte durchzuführen, die infolge ihrer ausserordentlichen Bedeutung mit grösster Sorgfalt und Sachkenntnis bearbeitet werden müssen.”
    “Brandeilig”
    Das Oberkommando des Heeres (OKH), nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad mit Rüstungsersatz für die Front beschäftigt, suchte bei Schenker um “Begleitung und Kontrolle von Kriegsmaterialtransporten” nach. Für die wiederholten Lieferungen ins sogenannte Generalgouvernement, also nach Polen, stellte Schenker “unser Gefolgschaftsmitglied” Gustav Hamann “auf die Dauer von 3 Monaten” frei, “Herr Dr. Mörner” von der “AGEKA” wurde unterrichtet. Ebenfalls infolge der Stalingrad-Niederlage ließ Schenker “Kriegsmaterialtransporte” in großem Stil über die Slowakei nach Rumänien anrollen. Zwei rumänische Bündnisarmeen der deutschen Wehrmacht waren in Stalingrad vernichtet worden (1942), die Reste sollten weiterkämpfen. “Da es sich um eine große Anzahl von Transporten handelt”, meldete Schenker im Februar/März 1943 dem Reichswirtschaftsministerium “die wiederholte Ein- und Ausreise” seiner beamteten Schleuser. Aber der Zusammenbruch in Rumänien ließ sich nicht aufhalten. Berlin ordnete deswegen die Verstärkung der Militärkräfte in Rumäniens Nachbarland an – in der faschistisch regierten Slowakei. Schenker stand auch dort bereit. “Da die Angelegenheit brandeilig ist”, notierte die “Zentralleitung” von Schenker, müssten “am Montag, dem 28.II. (1944) in Antwerpen und am Dienstag, dem 29. in Amsterdam, Kriegsmaterial-Transporte, für die Slowakische Wehrmacht bestimmt, verladen” werden. Die Versiegelung nahm ein Schenker-“Gefolgschaftsmitglied” aus Aachen vor.
    Mehrfacher Nutzen
    Binnen weniger Tage schafften Reichsbahn-Waggons den Schenker-Transport – tonnenweise Waffen – mitsamt Schenkers “Gefolgschaftsmitgliedern” von der West- an die Ostfront: eine logistische Leistung. Empfängerin: die “Feldzeuginspektion” des Oberkommandos des Heeres (OKH) an der slowakisch-polnischen Grenze. Die Befürchtungen internationaler Beobachter in der Vorkriegszeit, Schenker operiere als “fünfte Kolonne” der Berliner “Europa”-Politik, wurden überboten: Im Verbund mit der Reichsbahn bewies Schenker, dass sein ständig expandierendes logistisches Netz und die korporativen Strukturen des sozialpartnerschaftlichen Gefolgschaftsregimes mehrfach nutzbar waren – in Friedenszeiten als Kraftpotenzial, um den Zugang zum Markt ohne innere Reibung möglichst grenzübergreifend ökonomisch zu weiten, in Krisen und Krieg, um den Markt mit Gewalt für radikale Methoden des Wertetransfers öffnen zu können. Die logistische Leistung erwies sich als Glanzstück kriminellen Kalküls. War dieses Stadium erreicht, brach die Tarnung der deutschen Expansionspolitik als Vereinigungswerk für den “Großraum Europa” in sich zusammen. Der Widerstand wuchs.
    Großraubwirtschaft
    Im “Großraum Europa” operierte Berlin nun nach Art der Schutzgelderpressung und Bandengewalt: Großraubwirtschaft. Hatte Schenker anfangs den Schein gewahrt und im besetzten Ausland Preisverhandlungen geführt, so wurden die Schenker-Importeure deutlicher, als die militärische Lage die Wertschöpfung antrieb. Im Dezember 1943, die Versorgung an der Ostfront wurde schwieriger, an der Heimatfront sank der Kalorienwert, musste Schenker seinen “Leiter der Fleisch-Abteilung […] wegen grosser Vieh- und Fleischtransporte nach dem Reich” ins deutsch besetzte Dänemark schicken, um “Verhandlungen” mit den “Firmen Bacen Udvalg” in Kopenhagen und in Svensborg mit “C Clausen” anzubahnen. Von gleich zu gleich führte Schenker diese Verhandlungen auf keinen Fall: Die dänische Wirtschaft stand seit August 1943 unter dem Kommando von SS-Brigadeführer Werner Best, das gesellschaftliche Leben in Dänemark unter deutscher Militärgerichtsbarkeit, dänische Zahlungsmittel verloren an Wert.
    “Geschäftsstelle Warschau”
    Im “Generalgouvernement” erübrigten sich Verhandlungen jeder Art, da Schenker mit nackter Gewalt auf das polnische Eigentum durchgreifen konnte. Verhandelt wurde nur noch zwischen den Besatzungsinstanzen über die bevorzugte Zuteilung des Raubguts. Es eilte. Im Januar 1944 notierte Schenker: “Wir haben schnellstens dafür zu sorgen, daß Vieh aus dem Generalgouvernement und den angrenzenden Gebieten nach Deutschland gebracht wird. Herr M. ist als Transportbegleiter vorgesehen und muß die Transporte nach Deutschland bringen, um dann schnellstens wieder zurückzureisen zur Empfangnahme weiterer Sendungen […]. Reiseantritt: Sofort. Reisedauer: 3 Monate.” Ebenfalls 3 Monate setzte Schenker für die Plünderung polnischen Getreides an und schickte “Herrn Leander Maes” nach Krasne im “Generalgouvernement”, ebenfalls im Januar 1944. Die Eile, die Schenker & Co. an den Tag legten, hatte einen triftigen Grund: Die sowjetischen Armeen rückten näher. “Infolge der Kriegsereignisse müssen wir bewährtes Personal zur Abfertigung von Viehtransporten aus den gefährdeten Gebieten sofort einsetzen”, heißt es in den Schenker-Dokumenten am 12. Januar 1944 über die antipolnischen Großraubaktionen. Der Abtrieb polnischer Viehbestände ins “Reich” habe “mehrmalig” zu erfolgen.
    Nachkriegsvorsorge
    Am 19. Januar, wenige Tage später, kündigte Schenker an, zusätzliche Schreibkräfte für die Registratur der in Warschau lagernden Mengen deutschen Raubguts würden benötigt: “Unsere Zweigniederlassung Warschau braucht infolge des größeren Anfalles von Transportaufträgen dringend weitere perfekte Stenotypistinnen”, offenbar für Warenlisten der Warschauer “Geschäftsstelle” vor Verladung in die Reichsbahn-Waggons Richtung Berlin. Im Warschauer Untergrund, der über die logistischen Aktivitäten der deutschen Besatzer gut informiert war, verbreitete sich das Gerücht, womöglich stehe der Zusammenbruch der deutschen Ostfront unmittelbar bevor. Diese Hoffnung war verfrüht, aber bestärkte die Entschlossenheit des polnischen Widerstands.
    Aktien in Prag
    Bevor das deutsche “Vereinigungswerk” für die “Neuordnung Europas” nicht nur in Polen zu Ende ging, beteiligte sich Schenker überall im “Großraum” als Beihelfer und Täter, um die Plünderungen zu vollenden und das fremde Wirtschaftsgut für die Nachkriegszeit zu sichern. Am 11. Januar 1944 setzte die Schenker-“Zentralleitung” “[u]nser Gefolgschaftsmitglied Frau Helene Rex” von Berlin nach Prag in Marsch – “Reisegrund: Wegen Sicherstellung der Unterbringung unserer Aktienurkunden […]. Reisedauer: 14 Tage (wiederholt) (Kurier)”. Die Kuriertätigkeit unterstützte der Geschäftsführer von Schenker, “Herr Dr. Fritz Rapmund” ab 18. Januar und reiste ebenfalls nach Prag: “Ihm obliegt die Erledigung der Verwaltungs- und Finanzgelegenheiten des Gesamtunternehmens”, heißt es über die technischen Vorbereitungen auf einen eventuellen Zusammenbruch der deutschen Großraubwirtschaft in der Tschechoslowakei. “Es sind bei unserem Schwesterunternehmen in Prag verschiedene Fragen aufgekommen, die einer Klärung an Ort und Stelle bedürfen.” Die Rückführung der “Aktienurkunden” nach Berlin sollte einen Wertanspruch belegen können, der sich auf die von Schenker angeeigneten Sub- oder Schwesterunternehmen und deren Kapitalien bezog – Beute aus dem Nationalvermögen der okkupierten Nation, deren Opfer und Leiden Schenker in Anteilscheinen verflüchtigen wollte.
    Tonnenweise Silber
    Auch im besetzten Jugoslawien, beim “Generalbevollmächtigten für die Wirtschaft” Franz Neuhausen, dem Vorkriegsrepräsentanten der Deutschen Reichsbahn und Generalkonsul des Auswärtigen Amtes, herrschte Anfang 1944 Aufbruchstimmung. Im Osten rückten die sowjetischen Heeresverbände vor, im Westen kämpften die Alliierten Italien frei; wesentliche Teile der jugoslawischen Gegenküste waren in den Händen der Bündnispartner von Marschall Titos Partisanenarmee. Neuhausen, ein bekannt korrupter Wirtschaftsbetrüger aus der Vorkriegszeit, raffte sein in Belgrad gehortetes Privatvermögen zusammen und kümmerte sich parallel um die Reichsbahn-Interessen, somit auch um Schenker & Co. Schenker stellte die Logistik bereit, um die von Neuhausen ausgeplünderten jugoslawischen Kupfererze und Edelmetalle per Lkw und Bahn nach Deutschland zu schaffen – darunter tonnenweise Silber.
    *
    (C) Train of Commemoration. Reg. Civil Org. All rights reserved 2021. Zug der Erinnerung e.V.

  53. “Die EU will den Euro zu einer führenden Weltwährung aufwerten und damit den Einfluss des US-Dollar zurückdrängen.”
    “Die EU ist weiterhin entschlossen, die Rolle des Euro als Weltwährung zu stärken und so den Einfluss des US-Dollar zurückzudrängen.”
    Ach, das haben wir ja noch gar nicht gewußt!
    “Ein Aktionsplan der EU-Kommission, der am Dienstag verabschiedet wurde, nachdem er vorab britischen [1] und deutschen [2] Medien zugespielt worden war, sieht zudem Maßnahmen zum Schutz von Unternehmen aus der Union vor extraterritorialen Sanktionen vor.”
    Jetzt also einen “Aktionsplan”. Das wird die USA endlich in die Schranken weisen. Na gut, bei North Stream 2 natürlich leider noch nicht.
    “Den Beginn ernsthafter währungspolitischer Souveränitätsbestrebungen der EU datieren deutsche Medien auf den Sommer 2018”
    So spät? Ich dachte, schon die Einführung des Euro wäre ernst gemeint gewesen.
    Leider hat sich aber gezeigt,
    “dass die globale Bedeutung des Euro derzeit „auf historischen Tiefstständen“ verharre, hieß es in Medienberichten; die EU wolle daher nun in „Nachbarregionen“ für die Verwendung des Euro als internationales Zahlungsmittel „werben“.”
    Na, dann man zu!
    “Da für die „Corona-Hilfen“ erstmals im großen Stil EU-Schulden aufgenommen würden, avanciere die EU zu einer der „größten Institutionen der Schuldenausgabe“; dies mache den Euro zu einem wichtigen Faktor auf den Anleihemärkten.”
    Dann brauchen die doch einfach nur noch mehr Schulden machen, und schon wird der Euro zur Nr. 1.
    “Beijing suche mit „strategischen Investitionen“ und „staatlichen Hilfen“ die Märkte zu manipulieren und so die Position der EU in Drittstaaten zu unterminieren.”
    Kein Wunder das EUler darob befürchten,
    “Es bestehe die Gefahr, dass die EU in den sino-US-amerikanischen Machtkämpfen zerrieben werde.”
    Aber da gibt es ja eine einfache Patentlösung, an die nur leider während der letzten Jahre, ja was sage ich, Jahrzehnte niemand gedacht hat:
    “Die EU müsse deshalb anfangen, als „geopolitische Macht“ aufzutreten, und ihre „strategischen Ziele“ klar umreißen”
    “der Aufbau „kollektiver Verteidigungsinstrumente“ [soll dehalb] die EU bei künftigen Wirtschaftskriegen in die Lage versetzen, auf „ökonomische Nötigung“ schnell und effizient zu reagieren.”
    Ja, wenn jetzt nicht, wann dann? Oder andersrum, daraus wurde all die Jahre nichts, was soll denn jetzt die Wende bringen?

  54. @NN
    Die Währungsoffensive der EU habe ich schon weiter oben kommentiert.
    Hinzu kommt, daß der Austritt Großbritanniens da auch noch einiges durcheinandergebracht hat. Die Londoner City war der führende Finanzplatz der EU, Frankfurt kann ihn nicht gleichwertig ersetzen.
    Ich dachte immer, SWIFT gehört auch zur City, aber es hat seinen Sitz in Belgien und in der Schweiz. Die dritte Abteilung sitzt in den USA, und die USA haben auf das SWIFT-System mehr Einfluß, als es der EU recht ist.
    https://de.wikipedia.org/wiki/SWIFT

  55. @Neoprene

    die EU wolle daher nun in „Nachbarregionen“ für die Verwendung des Euro als internationales Zahlungsmittel „werben“.“

    Welche Nachbarregionen sie wohl im Sinn hat?
    Montenegro, Kosovo und Bosnien sind zwar zweifellos Erfolgsstories für die Einführung des Euro, aber waren doch kein weltgeschichtlicher Durchbruch.
    Wie es in den restlichen Nachfolgestaaten Jugoslawiens aussieht, kann man nur raten, aber offenbar ist der Euro dort als Ankerwährung nicht so gefestigt, wie es der EU recht wäre. Möglicherweise halten sie als Reservewährung zumindest auch noch Dollar. Ähnlich dürfte es in der Ukraine sein. Auch Moldawien ist vermutlich kein 100%-Euro-Satellit.
    Interessant ist das ehemalige Französisch-Westafrika. In den Staaten Algerien, Mali, Niger und einigen anderen waren die Währungen auf dem Franc basiert. Was dort genau geschah, nachdem Frankreich den Euro eingeführt hatte, läßt sich vielleicht irgendwo herausfinden.
    Die wichtigste „Nachbarregion“ wäre zweifelsohne Rußland. Hier gibt es aber ein Mißverhältnis zwischen Sanktionen, Krim- und Nawalny-Geschrei einerseits und währungspolitischer Zusammenarbeit andererseits. Zweitens gibt es ein Mißverhältnis zwischen den Absichten der EU und dem Eigeninteresse Rußlands.
    Die EU kann also nur Druck auf subalterne Hungerleider-Staaten ausüben, die tragen aber dann zur Erstarkung des Euro nicht viel bei.

  56. Weiter Gezänk um Nord Stream 2
    Trotz neuer EU-Attacken beginnt Verlegeschiff mit Tests und Vorbereitungen
    Trotz der politisch von NATO und EU inszenierten Aufregung wegen der Festnahme zahlreicher Demonstranten in Russland geht es allmählich weiter beim Bau der Gaspipeline Nord Stream 2. Das Spezialschiff »Fortuna« habe südlich der dänischen Insel Bornholm mit Vorbereitungen und Tests begonnen. Dies ist nötig, bevor Verlegearbeiten aufgenommen werden können, wie das Management von Nord Stream 2 am Montag mitteilte. »Alle Arbeiten werden in Übereinstimmung mit geltenden Genehmigungen durchgeführt«, hieß es.
    Die »Fortuna« war Mitte Januar aus dem Wismarer Hafen ausgelaufen, lag dann vor dem Rostocker Hafen, bevor sie Ende vergangener Woche Richtung Bornholm aufbrach. Das Schiff war vergangene Woche im Rahmen von sogenannten Strafmaßnahmen gegen ein russisches Unternehmen von der mittlerweile abgelösten US-Regierung Trump als »blockiertes Eigentum« eingestuft worden.
    Indessen tobt der politische Kampf von Befürwortern und Gegnern des Projekts weiter. So warnte SPD-Bundestagsfraktionsvize Achim Post davor, die Debatten um Russlands Vorgehen gegen Alexej Nawalny sowie um die Pipeline Nord Stream 2 miteinander zu vermischen. Dies halte er für vollkommen falsch, sagte Post am Montag gegenüber dpa: »Warum man mit Sanktionen genau an dem Punkt ansetzen sollte, an dem es einem selbst am meisten schadet, ist mir schleierhaft. Natürlich brauchen wir die Gasenergie als Brückentechnologie und brauchen Nord Stream 2 als Alternative zum schmutzigen Frackinggas aus den USA.«
    Grünen-Chefin Annalena Baerbock verkündete im ARD-Hauptstadtstudio indes andere Losungen: »Diese Pipeline konterkariert die geostrategischen Interessen der Europäer, ist ganz gezielt gegen die Ukraine gerichtet, sie ist eine Wette gegen die europäischen Klimaziele, konterkariert alle EU-Sanktionen gegenüber Russland und ist damit ein absolut fatales Projekt.«
    Nach Angaben von Hauptinvestor Gasprom sind 94 Prozent der Pipeline fertiggestellt. Sie besteht aus zwei Leitungssträngen mit einer Länge von jeweils rund 1.230 Kilometern und soll künftig jedes Jahr zusätzlich 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas Richtung BRD pumpen. (dpa/jW)

  57. Der Kern des Westens (27.01.2021)
    Grünen-Parteistiftung wirbt für Erhöhung des Militäretats und nukleare Teilhabe – gemeinsam mit NATO-Generälen.
    BERLIN (Eigener Bericht) – Die Parteistiftung von Bündnis 90/Die Grünen wirbt mit einem Aufruf für eine “substantielle Erhöhung” des deutschen Militäretats und für ein Festhalten an der Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland. Die “nukleare Teilhabe” sei ein “Kernelement der strategischen Verbindung” zwischen den USA und der Bundesrepublik, heißt es in dem Appell, den die Heinrich-Böll-Stiftung zur Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden auf ihrer Website veröffentlicht hat. Als “Autoren und Unterzeichner” werden unter anderem die Vorsitzende der Grünen-Stiftung sowie ein Generalleutnant a.D. der Bundeswehr genannt, der 2014 als hochrangiger NATO-Funktionär federführend mit der NATO-Neuausrichtung gegen Russland befasst war. Die Grünen, denen bis heute nachgesagt wird, gewisse einst friedensbewegte Spektren an sich binden und politisch neutralisieren zu können, öffnen sich seit einiger Zeit zunehmend für die Bundeswehr. Schon seit Jahren besonders unter Spitzenverdienern populär, positionieren sie sich im globalen Machtkampf gegen Russland und China als Speerspitze bei der Verteidigung der westlichen Hegemonie.
    “Innovative Konzepte”
    Prinzipielle Offenheit für Militäreinsätze aller Art zeichnet sich bei Bündnis 90/Die Grünen seit geraumer Zeit ab. In ihrer Regierungspraxis hat die Partei einer Kriegsbeteiligung der Bundeswehr ohnehin nie im Wege gestanden; das zeigt nicht nur ihre Zustimmung zur Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan Ende 2001, sondern vor allem die Befürwortung einer deutschen Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien im Jahr 1999. Letzterer wurde ohne UN-Mandat geführt und war damit, wie der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder inzwischen öffentlich eingestanden hat, klar völkerrechtswidrig. Die Bereitschaft, ohne Zustimmung des Sicherheitsrats zu operieren, ist im jüngsten Grundsatzprogramm der Partei vom November 2020 nun auch ausdrücklich festgehalten. So heißt es, “wenn multilaterale Prozesse in den Vereinten Nationen … dauerhaft blockiert” seien, seien “Vorreiter*innen und innovative Konzepte” gefragt.[1] Ein wenig präzisiert hat dies kurz nach dem Parteitag die Grünen-Bundesvorsitzende Annalena Baerbock. Befragt zu dem hypothetischen Fall, ein “Genozid” finde statt, und der UN-Sicherheitsrat sei “blockiert”, antwortete die Parteichefin: “Es gibt eine internationale Schutzverantwortung.”[2] Das Konzept der “Schutzverantwortung” (“Responsibility to Protect”, R2P) soll Kriegen ohne UN-Mandat Legitimität verleihen. Freilich ist es völkerrechtlich nicht allgemein anerkannt.
    “Von höchster Priorität”
    Auch einer weiteren Hochrüstung der Bundeswehr stellen sich Bündnis 90/Die Grünen nicht entgegen. Schon 2019 waren mit Cem Özdemir und Tobias Lindner zwei hochrangige Politiker der Partei um Sympathiewerbung für die Truppe bemüht; nach ihrer gemeinsamen Teilnahme an einer “dienstlichen Informationsveranstaltung” der deutschen Streitkräfte sprach Özdemir, der sich für PR-Zwecke bei der Fahrt in einem Kampfpanzer des Modells Leopard 2 hatte fotografieren lassen, von einem “tolle(n) Programm” und “sehr positive(n) Eindrücke(n)”.[3] Die Befürwortung der Aufrüstung wird im Grünen-Grundsatzprogramm gegenwärtig als “Fürsorgepflicht des Parlaments gegenüber den aktiven … Soldat*innen” bzw. als “Verpflichtung, sie entsprechend ihrem Auftrag und ihren Aufgaben … auszustatten”, etikettiert.[4] Zum Auftrag der Truppe gehören laut Baerbock gegebenenfalls auch Kampfeinsätze (“robuste Militäreinsätze”), die jegliches Rüstungsvorhaben legitimieren.[5] In einem aktuellen Aufruf, den die Parteistiftung von Bündnis 90/Die Grünen (Heinrich-Böll-Stiftung) unlängst publiziert hat, heißt es nun, “die europäischen NATO-Staaten – mit Deutschland an erster Stelle -” müssten “ihre Fähigkeiten zur konventionellen Verteidigung erheblich” stärken; dies setze eine “substantielle Erhöhung des Verteidigungshaushaltes voraus”.[6] In der Bundesregierung müsse “eine einsatzbereite Bundeswehr von höchster Priorität” sein.
    Die Grünen und die Generäle
    Der Aufruf ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zu seinen Autoren bzw. Unterzeichnern gehören – neben der Vorsitzenden der Heinrich-Böll-Stiftung Ellen Überschär – diverse Mitarbeiter transatlantischer Außenpolitik-Think-Tanks (Atlantik-Brücke, German Marshall Fund of the United States, Aspen Institute Deutschland sowie mehrere weitere), darüber hinaus aber vor allem Patrick Keller, Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), des zentralen Strategiezentrums der Bundesregierung, sowie zwei ranghohe Militärs: Brigadegeneral a.D. Rainer Meyer zum Felde vom Institut für Sicherheitspolitik in Kiel sowie Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Brauß, möglicherweise Mitautor, zumindest aber Unterzeichner des von der Böll-Stiftung publizierten Appells, amtierte im Verlauf seiner langen, erfolgreichen Karriere von Oktober 2013 bis Juli 2018 als Beigeordneter NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung; als solcher war er im Jahr 2014 federführend mit der Neuausrichtung der NATO gegen Russland befasst (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Die offen zur Schau gestellte programmatische Nähe der grünen Parteistiftung zu hochrangigen Ex-NATO-Militärs ist in dieser Form neu.
    Die nukleare Teilhabe
    Bemerkenswert an dem Böll-Papier ist darüber hinaus die Forderung, die NATO auszubauen. Zum einen fordern die “Autoren und Unterzeichner”, den transatlantischen Militärpakt “nicht nur als militärisches, sondern auch als politisches Bündnis zu stärken”.[8] Zum anderen sprechen sie sich dafür aus, “in aller Welt … strategische Partner … enger an den Kern des Westens zu binden”; dies gelte vor allem für Staaten “im Indo-Pazifik”, insbesondere für “Australien, Japan und Südkorea”. Nicht zuletzt dringt das Böll-Papier offen darauf, “dass Deutschland an der Nuklearen Teilhabe festhalten und nötige Modernisierungsschritte umsetzen muss”. Bei Bündnis 90/Die Grünen galt Nukleare Abrüstung traditionell als eine unverzichtbare Kernforderung. Allerdings konstatieren Beobachter seit geraumer Zeit ein vorsichtiges Abrücken davon. So verlangt das aktuelle Grundsatzprogramm kein “sofortiges”, sondern nur “ein zügiges Ende der nuklearen Teilhabe”.[9] “Zügig” wird nicht definiert. Tobias Lindner, Obmann der Grünen im Verteidigungsausschuss des Bundestags, präzisierte im November, er setze darauf, es werde “2030 oder 2035” womöglich ein “window of opportunity” geben, in dem man mit Moskau über atomare Abrüstung sprechen könne.[10] Der Böll-Aufruf erklärt nun die Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland und die Bereitstellung deutscher Kampfjets für ihren Abwurf zum “Kernelement der strategischen Verbindung zwischen den transatlantischen Partnern”.
    Speerspitze des Westens
    Der Vorstoß der Grünen-Parteistiftung in Sachen Militarisierung und Nuklare Teilhabe erfolgt parallel zu einer Zuspitzung der Außenpolitik der Partei, die immer aggressiver gegen China und gegen Russland mobilisiert – und sich damit als Speerspitze im Kampf um die Festigung der im Niedergang begriffenen globalen Hegemonie des Westens profiliert. “Putins Russland ist kein Partner für uns, sondern ein Gegner”, erklärte unlängst der Grünen-Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir.[11] Der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer gilt als einer der extremsten Scharfmacher gegen China; er war etwa – an der Seite eines Ex-CIA-Spezialisten sowie von Hardlinern vom ultrarechten Flügel der US-Republikaner – an der Bildung einer internationalen Parlamentarierallianz beteiligt, die mittlerweile öffentliche Kampagnen gegen China orchestriert.[12]
    Liebling der Eliten
    Bündnis 90/Die Grünen gilt schon seit Jahren als “Partei der Besserverdienenden”, die bei einem globalen Abstieg des Westens mehr als andere zu verlieren haben. Bereits 2004 zeigten Umfragen, dass Mitglieder der Grünen beim Durchschnittseinkommen die Mitglieder der FDP – zuvor die Nummer eins – klar überholt hatten.[13] 2013 bestätigte eine Umfrage, dass der Anteil der Spitzenverdiener an den Grünen-Parteianhängern deutlich über demjenigen bei FDP-Anhängern lag.[14] Vor rund einem Jahr konstatierte der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, die Grünen seien “in der unteren Hälfte unserer Gesellschaft nur ganz wenig präsent”.[15] Ein aktuelles “Elite-Panel”, für das 517 Spitzenvertreter von Politik, Wirtschaft und Verwaltung befragt wurden, zeigt nun, dass die deutschen Eliten eindeutig eine Koalitionsregierung aus Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU favorisieren. So sprechen sich nur noch 25 Prozent von ihnen für eine Koalition aus Unionsparteien und FDP aus (Platz zwei); ein sogenanntes Jamaika-Bündnis aus CDU/CSU, FDP und Grünen käme demnach mit 14 Prozent auf Platz drei. Auf Platz eins auf der Wunschliste der deutschen Eliten steht für die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl mit rund 36 Prozent der Befragten Schwarz-Grün.[16]

  58. Bei den Grünen sieht man schön, was ein mit allen Wassern gewaschener Bürgermeister im Roman „Verwandte“ von Zsigmond Móricz sagt:
    „Oh, die Opposition … Die Opposition ist notwendig. Wenn es keine Opposition gibt, so glaubt niemand, daß die Angelegenheit in Ordnung geht. …
    Wenn aber sogar die Opposition zustimmt, so ist die Sache gegessen. …
    Jeder ist in seiner Jugend Opposition. Wer über 40 ist und noch immer in der Opposition, aus dem wird nix. Aber wer nicht bei der Oppostion ist, bevor er 30 ist – aus dem wird auch nix. … Erst warteten wir im Flur … Dann gingen wir hinein zum Alten (Ferenc Deák). … Damals sagte der: Wer nicht schön ist, bis er 20 ist, nicht gscheit ist, bis er 30 ist, und nicht reich ist, bevor er 40 ist – aus dem wird nie etwas.“ (Rokonok, 1932)

  59. Enteignung eines Unrechtsstaates:
    Geben die USA Milliardenvermögen von Venezuela an Multi weiter?
    US-Bezirksrichter genehmigt Verkauf der beschlagnahmten Öl-Firma Citgo. Guaidó-Leute “vertreten” Venezuela im Verfahren
    Citgo ist seit 1986 zur Hälfte und seit 1990 komplett im Besitz von PDVSA. Die Firma betreibt in den USA drei Raffinerien und ein Netz von über 5.300 Tankstellen in rund 30 Bundesstaaten. Ihr Wert wird auf rund acht Milliarden US-Dollar geschätzt.
    https://amerika21.de/2021/01/247151/verkauf-citgo-venezuela-betruegerisch

  60. Moskau verteidigt Maßnahmen
    Nach Protesten von Nawalny-Anhängern in Russland: USA und EU machen Druck
    Nach neuen ungenehmigten Demonstrationen in Russland für den inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny hat der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, das Vorgehen der Einsatzkräfte verteidigt. »Natürlich muss die Polizei Maßnahmen gegen Teilnehmer dieser illegalen Kundgebungen ergreifen«, sagte Peskow am Montag in Moskau der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Es habe eine »ziemlich große Anzahl« von Rowdys und Provokateuren »mit mehr oder weniger aggressivem Verhalten« gegenüber den Behörden gegeben, so Peskow.
    Bei den Demonstrationen für eine Freilassung Nawalnys gab es am Sonntag Berichten oppositioneller Medien zufolge mehr als 5.100 Festnahmen. Wie die russische Nachrichtenagentur TASS meldete, war die Anzahl der Protestierenden niedriger als in der vergangenen Woche, insgesamt sei die Situation ruhiger gewesen.
    Die USA und einige EU-Staaten machen unterdessen Druck wegen Moskaus Vorgehen gegen die Nawalny-Anhänger. Bereits am Sonntag hatte US-Außenminister Antony Blinken über den Kurznachrichtendienst Twitter mitgeteilt, Washington verurteile »die anhaltende Anwendung brutaler Taktiken gegen friedliche Demonstranten und Journalisten durch die russischen Behörden in der zweiten Woche in Folge«.
    Das russische Außenministerium warf den USA hingegen eine Einmischung in innere Angelegenheiten vor. Die US-Botschaft in Moskau hatte zuvor genaue Treffpunkte und Uhrzeiten von Demonstrationen aufgelistet. Washington fördere nicht genehmigte Proteste und wolle so versuchen, Russland »im Zaum zu halten«, schrieb das Ministerium bei Facebook.
    Frankreich hat derweil mit Blick auf die Ereignisse in Russland erklärt, den Stopp des Baus der Gaspipeline Nord Stream 2 zu befürworten. Frankreichs »Europa-Staatssekretär« ­Clément Beaune sagte am Montag im Sender France Inter auf die Frage, ob er dafür sei, Nord Stream 2 aufzugeben: »In der Tat, wir haben das bereits gesagt.« Letztlich sei dies allerdings »eine deutsche Entscheidung«, so ­Beaune. (dpa/jW)
    Krokodilstränen im Westen
    Proteste der Nawalny-Anhänger
    Von Reinhard Lauterbach
    Natürlich sind das keine schönen Bilder, wenn die russische Polizei Festgenommene zwingt, sich mit dem Gesicht in den Schnee zu legen, oder Demonstranten zusammenknüppelt. Aber Alexej Nawalny und seine Leute streben den Regimewechsel an – da erstaunt es nicht, dass das »Regime« diese Herausforderung annimmt.
    Im übrigen gehört das Produzieren von Opfern zu den Kernstrategien »bunter Revolutionen«, um den Gegner moralisch ins Unrecht zu setzen. Und bevor jetzt jemand von »Relativierung der Gewalt« redet: Haben nicht die von den Regierungen »demokratischer« EU-Länder zu verantwortenden Polizeieinsätze beim Hamburger G-20-Gipfel, zuvor in Genua, in den Schatten gestellt, was die russische Polizei an Gewalt zumindest bislang gezeigt hat?
    Da werden im Westen derzeit sehr viele Krokodilstränen vergossen. In Wahrheit wissen sie auch in Berlin und Brüssel aus eigener Praxis: Damit muss rechnen, wer sich mit einer Staatsmacht anlegt, die nicht beabsichtigt, Kritiker zu politischer Wirkung kommen zu lassen. Nawalnys Stabschef Leonid Wolkow hat sich anscheinend nach Berlin abgesetzt. Einerseits verständlich – die Rolle des Märtyrers ist schon besetzt. Aber, um den alten Schiller zu zitieren: Vom sichern Port lässt sich’s gemächlich raten und zu neuen Protesten aufrufen.
    Derweil vollführt Bundesaußenminister Heiko Maas neue diplomatische Akrobatenstücke. Nach einem Treffen mit seinen EU-Amtskollegen vor einigen Tagen erklärte er, neue Sanktionen könne Russland vermeiden, wenn es Nawalny nach seinem Haftprüfungstermin freilasse. Geht’s noch? Auf der einen Seite Rechtsstaatlichkeit in Russland einfordern – und auf der anderen Seite verlangen, dass das Gericht, das über Nawalnys Haft zu entscheiden hat, sich gefälligst an Vorgaben aus Brüssel halten solle?
    Die Wahrheit ist natürlich eine andere: Solche Sanktionen zielen nicht darauf ab, Erfolg in der Sache zu haben. Sie sind Show. Jeder im Auswärtigen Amt, der nur ein bisschen Ahnung von Russland hat, könnte Maas darlegen, dass a) generell ein in die Enge getriebenes »Regime« und b) insbesondere der russische Präsident solchen Anliegen schon aus Prinzip nicht Folge leisten werden. Demütigen lässt sich Wladimir Putin nicht, das überlässt er der Bundeskanzlerin im Verhältnis zu den USA und deren Geheimdiensten.
    Dass auf dem Sanktionsspielplatz auch innereuropäische Konkurrenz ausgetragen wird, machte unterdessen in dankenswerter Weise Frankreich deutlich. Sein »Europastaatssekretär« Clément Beaune erklärte, Paris sei mit Blick auf Moskaus Vorgehen gegen Nawalny und seine Anhänger dafür, den Bau von »Nord Stream 2« einzustellen. Also ein Projekt, das Frankreich – es erhält sein Erdgas aus Algerien und braucht wegen seines hohen Atomstromanteils ohnehin nicht soviel davon – nichts bringt und dessen eventueller Wegfall Paris nichts kostet. Im Saale Heiterkeit.

  61. Bidens Schattenkabinett
    Weltgrößter Vermögensverwalter Blackrock profitiert von Konjunkturprogrammen und übernimmt Schlüsselpositionen in der US-Regierung
    Von Simon Zeise
    Wachablösung im Weißen Haus. Bislang hatten die Investmentbanker von Goldman Sachs ein Abo auf Führungsposten. Sie stellten drei der letzten vier Finanzminister. Doch das scheint sich zu ändern. »Government Sachs«, wie die Banker bislang wegen ihrer Nähe zur Regierung genannt wurden, sind unter Präsident Joseph Biden bislang leer ausgegangen.
    Statt dessen gewinnt der weltgrößte Vermögensverwalter Blackrock an Einfluss im Kabinett. Brian Deese, der zuletzt den Bereich »nachhaltiges Investieren« leitete, wird nationaler Wirtschaftsberater; »Senior Advisor« Adewale Adeyemo stellvertretender Finanzminister.
    »Investmentbanken sind in der Folge der Finanzkrise und der Reregulierung in den USA nicht mehr die Masters of the Universe«, sagte Börsenexpertin Heike Buchter gegenüber jW. Buchter berichtet seit Jahren von der Wall Street in New York. Ihr Buch »Blackrock: Eine heimliche Weltmacht greift nach unserem Geld« ist im vergangenen Jahr bereits in zweiter Auflage erschienen. Sie sagt, die »uncoolen« Vermögensverwalter hätten den Goldmännern den Titel abgenommen. »Und Blackrock ist mit Abstand der größte und der einflussreichste der neuen Herrscher der Wall Street.« Die Verbindungen zwischen dem Vermögensverwalter und der Regierung seien sehr eng. »Ehemalige Obama-Offizielle wie Brian Deese, Bidens wichtigster Berater, gingen zu Blackrock und überwinterten dort die Trump-Jahre. Jetzt sind sie wieder in Washington.« Blackrock-Chef Lau­rence »Larry« Fink sei bereits für die Rolle als Hillary Clintons Finanzminister ins Spiel gebracht worden, unter der Regierung von Donald Trump habe er eher Abstand gehalten.
    Entscheidend sei, dass Blackrock in der Krise mehr als eine Billion Dollar an verwaltetem Vermögen eingesammelt hat. »Profitiert hat der Konzern von der Rekordjagd der Börse, bei der viele Anleger dabei sein wollten«, erläuterte Buchter. Ganz konkret habe die Rettungsaktion der Federal Reserve (Fed), der US-Notenbank, Fink geholfen. Die Notenbank habe Unternehmensanleihen und sogar ETF, also Anleihefonds, gekauft, um die Kreditmärkte zu stabilisieren. »Das hat für einen regelrechten Run auf solche Fonds gesorgt, und davon hat Blackrock mit seinen Fonds kräftig profitiert. Das heißt, es floss mehr Kapital zu, und damit generierten sie mehr Verwaltungsgebühren für Blackrock.« Das Pikante daran sei: »Die Kriterien für das Anleiheaufkaufprogramm der Fed wurden von Blackrocks Beratungseinheit entwickelt«, so Buchter. Der Vermögensverwalter entwarf also die Konjunkturprogramme, von denen er später profitierte, und nahm im nächsten Schritt zentrale Posten der US-Regierung ein. Buchter sagte hierzu: »Die Fed und Blackrock verweisen natürlich auf die Trennung zwischen dem Fondsgeschäft und der Beratungstätigkeit.«
    Trotzdem hat der Vorgang zumindest ein Geschmäckle. Auf jW-Nachfrage erklärte Blackrock, der Konzern habe als »Treuhänder der Federal Reserve« agiert. Daher habe man dieses Mandat nach »alleinigem Ermessen der Fed« und in Übereinstimmung mit deren detaillierten Anlagerichtlinien ausgeführt, um die Kreditmärkte umfassend zu unterstützen und das Ziel der Regierung zu erreichen, den Zugang zu Krediten für US-Unternehmer und die US-Wirtschaft zu unterstützen. Punktum. Fink handelt also nur im Auftrag der Regierung. Zur Personalpolitik werde man sich nicht äußern.
    Der Blackrock-Chef kann also jede Verantwortung von sich weisen, sich zurücklehnen und genüsslich zusehen, wie der Vermögensverwalter von den Rettungspaketen der Regierung profitiert: »Ich denke, wir werden den Markt im Jahr 2021 weiterhin stark sehen«, sagte Fink am 14. Januar gegenüber CNBC. Die Aktienmärkte hätten noch »Room to run«. Die Zinsen seien tief, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Geldpolitik expansiv bleibt, sei hoch. Deshalb würden Anleger weiterhin in die Märkte getrieben.
    Damit alles weiterhin so geschmiert läuft, ist bei Blackrock Barbara Novick da. Sie steht an der Spitze der Blackrock-Lobbyorganisation »Global Public Policy Group«, die mit einem Etat in Höhe von 25 Millionen Dollar in Washington die Finanzmarktregulierung aufweichen soll. Denn Fink habe eine »krankhafte Angst« davor, dass der Finanzkonzern als »systemrelevant« eingestuft wird, berichtete die Wirtschaftswoche am 15. Januar mit Verweis auf dessen Vertraute. Würde Blackrock mit diesem Attribut versehen, müsste sich der Vermögensverwalter strengeren Regeln unterwerfen. Dann stünde Fink wieder auf einer Stufe mit den ordinären Investmentbankern.

  62. Ein komischer Satz:
    „Bislang ist aber noch nicht klar, ob er mit dem inhaftierten Oppositionspolitiker oder Vertretern seines Lagers zusammenkommen wird.“
    Soll da im Ernst behauptet werden, daß Borell möglicherweise dem „Oppositionspolitiker“ im Häfn seine Aufwartung machen wird?!
    Was ist eigentlich aus Chodorkowski geworden?
    Die ganze Nummer wurde doch bereits einmal in allen Aufzügen durchgespielt.

  63. Krieg der Mitschnitte
    Russland veröffentlicht abgehörtes Gespräch zwischen Nawalny-Mitarbeiter und britischem Diplomaten
    Von Reinhard Lauterbach
    Russland hat begonnen, mit Gegenrecherchen auf die Publikation von Alexej Nawalny über die angebliche Luxusresidenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin am Schwarzen Meer zu reagieren. Am Montag veröffentlichte RT ein Video, das den »Exekutivdirektor« von Nawalnys »Stiftung zur Korruptionsbekämpfug«, Wladimir Aschurkow, im Gespräch mit dem damaligen Zweiten Sekretär der britischen Botschaft in Moskau zeigen soll. Das Treffen fand – offenbar 2012 – in einem Moskauer Restaurant statt und wurde vom Geheimdienst FSB vom Nachbartisch aus mitgeschnitten. Darin bittet die als Aschurkow bezeichnete Person den britischen Diplomaten um »zehn oder 20 Millionen Dollar«, um die Tätigkeit der Opposition ausweiten zu können, und um die Bereitstellung von Informationen zu mutmaßlicher Korruption in Russland, die »uns nicht zugänglich sind« – im Klartext: um Erkenntnisse westlicher Geheimdienste.
    Der britische Gesprächspartner ließ sich demnach auf direkte Zusagen nicht ein, um die Opposition nicht als »ausländischen Agenten« dastehen zu lassen. Im Sommer 2012 war die erste Version eines entsprechenden Gesetzes eingebracht worden, worauf er Bezug nahm. Statt dessen verwies er ihn dem Video zufolge auf die Organisation Transparency International, die ebenfalls durch Großbritannien mitfinanziert werde. Aschurkow selbst hat Russland 2014 verlassen, um einer drohenden Strafverfolgung zu entgehen, und genießt seit 2015 politisches Asyl in Großbritannien.
    In der Hauptsache, der Widerlegung der Vorwürfe Nawalnys aus seinem Zweistundenfilm »Ein Palast für Putin«, ist die offizielle russische Pu­blikationspolitik dagegen weniger eindeutig. So gab es im Staatsfernsehen und auf dem Videokanal Mash vergangene Woche Reportagen, in denen gezeigt wird, dass das vom Oppositionspolitiker angesprochene Objekt eine unfertige Baustelle sei. Insbesondere sei von der angeblich luxuriösen Innenausstattung nichts zu sehen.
    Das Problem ist dabei, dass Nawalny in seinem Film überhaupt nicht bestritten hat, dass der »Putin-Palast« aktuell eine Baustelle ist. Er führte das in seinem Kommentar darauf zurück, dass in den Wänden Schimmel aufgetreten sei und deshalb die gesamte Innenausstattung für die Sanierung wieder herausgerissen worden sei. Auch dass die luxuriösen Innenräume so, wie sie im Film gezeigt werden, keine realen Aufnahmen waren, sondern Special Effects, wird im Text – wenn auch eher halblaut – zugegeben. Hergestellt wurde das Video übrigens im Auftrag einer Produktionsfirma aus Kalifornien in einem Studio im Schwarzwald, wo sich Nawalny einige Wochen aufhielt – angeblich zur Erholung.
    Im Kern stellt sich heraus, dass der Vorwurf Putins, der Film sei eine »Kompilation«, also Zusammenstellung, zwar einerseits zutrifft, andererseits aber als Argument wenig hergibt. Denn natürlich ist jeder Dokumentarfilm eine solche Kompilation. Im Falle Nawalnys gehen die Vorwürfe rund um den »Palast« im Kern auf ein Schreiben des Petersburger Unternehmers Sergej Kolesnikow an den damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew aus dem Jahre 2010 zurück. Darin hatte Kolesnikow, dessen Unternehmen nach seinen Worten am Bau des Objekts in den nuller Jahren beteiligt gewesen war, Medwedew auf verschiedene Korruptionspraktiken rund um den Bau hingewiesen. Der Brief wird allerdings von Nawalny nicht nach der Originalquelle zitiert, sondern nach einer Trackingseite. Die Quelle ist also nicht eindeutig zurückzuverfolgen.
    Auch dass Putin erklärt hat, der Palast gehöre weder ihm noch seinen direkten Verwandten, entkräftet Nawalnys Vorwürfe nicht wirklich. Denn Nawalny hat dies auch nicht behauptet, sondern stellt genau ein Netz von Strohleuten dar, auf die das Objekt formal registriert sei. Der Bezug zu Putin stützt sich bei Nawalny auf Äußerungen von Bauarbeitern in sozialen Netzwerken, die er allerdings in die Montagen der Interieurs hineinkopiert hat.
    Zuletzt hat sich Putins ehemaliger Judopartner Arkadi Rotenberg als angeblicher Eigentümer gemeldet – allerdings erst zehn Tage nach der Veröffentlichung des Videos. Er wolle in dem Objekt ein Hotel errichten, so Rotenberg. Allerdings verweist Nawalny darauf, dass nach Flug- und Seekarten, die er einblendet, rund um das Objekt eine Flugverbotszone gelte und auch das Seegebiet unmittelbar vor dem Objekt auf eine Seemeile ins Meer für die Schiffahrt gesperrt sei. Dies, so Nawalny, werde wohl kaum zugunsten eines noch im Bau befindlichen Hotelprojekts verfügt; allerdings hinderte die offizielle Flugverbotszone Nawalnys Leute nicht, Luftaufnahmen der Anlage zu machen – offenbar mit Drohnen.
    Weitere Punkte in Nawalnys Film sind in der Sache anekdotisch – so eine Rechnung über den angeblichen Kauf eines Toilettenpapierhalters für 1.038 Euro aus dem Jahre 2020 –, aber sie verweisen darauf, dass die von Aschurkow 2012 mutmaßlich angebahnte Zusammenarbeit der Nawalny-Organisation mit westlichen Geheimdiensten offenbar zustande gekommen ist. Denn während man Grundbucheinträge noch als Journalist recherchieren kann, gilt dies für Kontoauszüge definitiv nicht mehr. Die britische Botschaft in Moskau lehnte einen Kommentar zu dem RT-Video übrigens ab. Man äußere sich grundsätzlich nicht zu »irgendwelchen ins Netz gestellten Aufnahmen«.
    »Westen zwingt uns Nawalny als Führer auf«
    Proteste in Russland aus dem Ausland befeuert. Linke gegen einen »neuen Jelzin«. Ein Gespräch mit Sergej Udalzow
    Interview: Franziska Lindner
    Bei den Protesten gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin in den Jahren 2011/12 waren Sie führend mit dabei und verbrachten anschließend mehrere Jahre im Gefängnis. Gegenüber der aktuellen Protestbewegung zur Unterstützung Alexej Nawalnys haben Sie eine kritische Haltung eingenommen. Warum?
    Zwischen der aktuellen Situation und der von 2011/12 bestehen große Unterschiede. Damals gab es eine breite Oppositionskoalition, in der es linken Kräften gelang, eine sozialistische Agenda recht erfolgreich in die Proteste einzubringen. Es gab eine relativ gleichberechtigte Zusammenarbeit verschiedener politischer Gruppen im Kampf für faire Wahlen. Seitdem hat sich viel verändert. Unter anderem gab es die Maidan-Ereignisse in der Ukraine, bei denen unsere liberalen »Partner« eine absolut inakzeptable Haltung einnahmen und offen auf der Seite der westlichen Staaten mitspielten. Die Koalition zerbrach.
    Warum ist der Versuch einer Übernahme der jetzigen Proteste, also das Umlenken der Forderungen und Ziele durch linke Kräfte, keine Option?
    Es ist keine leichte Aufgabe, Proteste in Russland anzuführen, deren Agenda im Ausland formuliert wird. Die linken Bewegungen in Russland halten es für sinnvoll, eine eigene Agenda zu entwickeln und Protestaktionen mit sozialen Forderungen durchzuführen, die für Millionen arbeitender Russinnen und Russen wichtig sind. So zur Ausweitung der Gewerkschaftsrechte, zur Erhöhung der Löhne und Renten, zur Rücknahme der Erhöhung des Rentenalters, zur Einführung einer progressiven Einkommenssteuer und zur Verstaatlichung der Bodenschätze. Die nächste derartige Aktion ist russlandweit für den 23. Februar geplant.
    Die westlichen Medien stellen Nawalny als alleinigen Anführer der Opposition gegen Putin dar. Wie groß ist die tatsächliche Unterstützung für ihn?
    Sie wird weit übertrieben. Umfragen zufolge unterstützen ihn derzeit etwa drei bis vier Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung, vor allem in den Großstädten. Die westlichen und hiesigen liberalen Medien zwingen uns Nawalny künstlich als einzigen und unangefochtenen Führer der Opposition und alternativlosen Gegner Putins auf. Das ist eine sehr schlechte Wahl für das russische Volk, da es keine Demokratisierung, sondern eine drastische Umverteilung des Volkseinkommens zu Ungunsten der Mehrheit der Bevölkerung bedeuten würde. Wir respektieren die Teilnehmer der jüngsten Proteste, die aufrichtig empört sind über die ungerechte soziale und politische Ordnung in Russland. Doch gerade das Vorhaben, den »schlechten« Putin durch einen anderen »guten und ehrlichen« Führer der Bourgeoisie zu ersetzen, stellt nur eine Verschiebung dar. Strategische Unternehmen und Banken blieben insbesondere unter Nawalny wie unter Putin und anderen Liberalen in privater Hand. Sie alle verteidigen das Eigentum der Oligarchen. Dies ist nicht im Interesse des Volkes, es bringt unweigerlich neues Elend und Leid und kann von linken Kräften nicht unterstützt werden.
    In einem Ihrer Artikel nennen Sie Nawalny den »neuen Jelzin«. Wie meinen Sie das?
    Nawalnys autoritäre Tendenzen, seine Rhetorik und seine enorme Unterstützung aus dem Westen erinnern an Boris Jelzins Aufstieg zur Macht um 1990. Dafür war er bereit, die Integrität der Sowjetunion zu opfern. Hoffentlich sind die Menschen im heutigen Russland weise und lassen nicht zu, dass ein »neuer Jelzin« in so einem Szenario an die Macht kommt. Das könnte mit dem Zerfall des Landes enden.
    Wo verortet sich die Organisation Linke Front im linken russischen Politspektrum?
    Die Linke Front ist ein Zusammenschluss außerparlamentarischer Organisationen in Russland sowie einzelner Unterstützer einer sozialistischen Entwicklung. Sie ist das Bindeglied zwischen der Parlamentsfraktion der Kommunistischen Partei Russlands und linker Organisationen außerhalb des politischen Systems. Unsere Strategie ist es, eine fähige dritte Kraft aufzubauen, die eine fortschrittliche Alternative zur kapitalistischen Unterdrückung bietet, nicht für den Kreml oder Washington arbeitet und bereit ist, durch die Synthese von Parlaments- und Straßenaktivität um die politische Macht zu kämpfen.
    Sergej Udalzow ist Vorsitzender der russischen oppositionellen Organisation Linke Front
    _______________
    Ukraine verbietet drei Nachrichtensender
    Kiew. Mit einem beispiellosen Erlass hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij drei oppositionelle Nachrichtensender verbieten lassen. Das Verbot sieht unter anderem den Entzug der Sendelizenzen, TV-Frequenzen und die Sperrung von Konten für vorerst fünf Jahre vor, wie das Präsidentenbüro in der Nacht zum Mittwoch mitteilte. Die Abschaltung der Sender ZIK, News One und 112 erfolgte in der Hauptstadt Kiew sofort.
    Der Schritt wurde mit einer angeblichen Gefährdung der nationalen Sicherheit und Verbreitung von russischer Propaganda begründet. Die Sender bezeichneten in einer gemeinsamen Erklärung das Verbot als »Abrechnung mit unbequemen Medien«. (dpa/jW)

  64. Biden stoppt US-Truppenabzug aus Deutschland
    Washington. US-Präsident Joseph Biden hat die unter seinem Vorgänger Donald Trump ausgearbeiteten Pläne zum Abzug von 12.000 US-amerikanischen Soldaten aus Deutschland vorerst gestoppt. Bis zum Abschluss einer »gründlichen Überprüfung« des Vorhabens werde es keinen Truppenabzug geben, sagte Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan am Donnerstag im Weißen Haus. Am Mittwoch hatte bereits der US-Oberbefehlshaber in Europa, General Tod Wolters, angekündigt, dass die Pläne auf Eis gelegt würden. Trump hatte im Juni 2020 ohne vorherige Abstimmung mit Berlin den Teilabzug der US-Soldaten angekündigt und den Schritt unter anderem mit den aus seiner Sicht zu geringen Rüstungsausgaben Deutschlands begründet. Der Entscheidung zufolge sollte ein Drittel der damals 36.000 Soldaten in Deutschland in die USA zurückkehren oder in andere europäische NATO-Länder verlegt werden. Das Vorhaben traf auf nahezu einhelligen Widerstand beim »sicherheitspolitischen« Establishment in Washington und bei deutschen »Transatlantikern«. Dass bereits in Trumps Amtszeit mit der Umsetzung der Pläne begonnen wurde, verhinderte ein gegen den Willen des Präsidenten verabschiedetes Gesetzespaket zum Verteidigungshaushalt. (dpa/jW)
    _________________
    Kleiner Sieg in Den Haag
    Internationaler Gerichtshof erklärt Klage Irans gegen US-Sanktionen für zulässig
    Von Knut Mellenthin
    eschlossenen Vertrags. Rechtlich war dieser Schritt bedeutungslos, da der Vertrag zweifellos noch gültig war, als Iran den Rechtsstreit zum IGH getragen hatte. Am 23. August 2019 brachten die USA Einwände gegen die Zuständigkeit des Gerichts und die Zulässigkeit der iranischen Klage vor. Dieser Einspruch wurde mit dem Urteil vom Mittwoch zurückgewiesen.
    Der Sprecher des State Department, Edward Price, erklärte kurz nach Bekanntwerden der Entscheidung, gegen die kein Einspruch mehr möglich ist, das Außenministerium habe »großen Respekt« vor dem IGH, sei aber »enttäuscht«, dass das Gericht sich nicht den »wohlbegründeten rechtlichen Argumenten« der USA angeschlossen habe. Price kritisierte zugleich die iranische Regierung, die das Urteil bereits als Sieg feiert, und verwies darauf, dass es sich lediglich um einen vorläufigen Spruch und noch nicht um eine Entscheidung in der eigentlichen Streitsache handelt. In der nächsten Phase des Verfahrens werde man darlegen, warum Teherans Klage keine Berechtigung habe. Die US-Regierung sei sich »Irans bösartiger Aktivitäten« bewusst und werde deshalb ihre »wichtigen diplomatischen Anstrengungen« fortsetzen.
    ______________
    Finanzierter Protest
    Nach »Künstler«-Aktion in Havanna: Weitere Hintergründe zu Personen und US-Auftraggebern
    Von Volker Hermsdorf
    Eine Woche nach dem Protest angeblicher Künstler vor dem Kulturministerium in Havanna verdichten sich Hinweise darauf, dass die Aktion am 27. Januar von Anfang an als Auftritt für die Medien geplant war und zumindest ein Teil der 22 dort anwesenden Systemgegner dafür bezahlt worden ist. Allein neun Teilnehmer waren im Auftrag »unabhängiger Medien« dort, die von US-Behörden und -Diensten finanziert werden. Unter den restlichen 13 weist nur ein Teil eine Biografie als »Künstler« auf. Trotzdem verbreitete im Anschluss die rechte »Internationale Gesellschaft für Menschenrechte« (IGFM) in seltener Übereinstimmung mit der Tageszeitung ND – der Tag, es habe »Repression«, »Übergriffe«, »Gewalt« und »Unterdrückung« gegen ein »Bündnis aus Künstlern und Intellektuellen«, »Bürgerrechtlern« und »jungen Menschenrechtlern« gegeben. Der Vorstand der Partei Die Linke übernahm diese Version anscheinend ungeprüft und erklärte in einem mittlerweile heftig kritisierten Beschluss vom 23. Januar: »Wir treten ein für eine Fortsetzung des Dialogs in Kuba mit kritischen Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten zur Demokratisierung der kubanischen Gesellschaft.«
    Genau das, eine Beteiligung an dem seit zwei Monaten geführten Dialog zwischen dem Kulturministerium (Mincult) und Hunderten von Künstlern aller Bereiche und aus allen Teilen des Landes, hatte die kleine Gruppe Protestierender am Mittwoch vergangener Woche jedoch abgelehnt. Die meisten von ihnen waren aus anderen Gründen gekommen, einige von Auftraggebern aus dem Ausland dort hinbeordert worden. So schrieb Nelson Julio Álvarez Mairata, ein kubanischer Zuarbeiter des in Florida herausgegebenen Onlineportals ADN Cuba, am 30. Januar im Contrablog »Tremenda Nota«, dass ihn die ADN Cuba-Direktorin »am Morgen des 27. Januar anrief, um über einen weiteren Protest vor dem Mincult« zu informieren. »Mehrere meiner Kollegen hatten sich schon auf den Weg gemacht«, berichtete der sich »unabhängig« nennende Reporter.
    Vor Ort habe er mit der in Miami lebenden ADN-Redakteurin Yaima Pardo dann darüber gesprochen, »wie und zu welcher Zeit« die Liveaufnahmen gedreht werden sollten, erklärte Álvarez in einem auf Facebook geposteten Video. Er gestand auch, Geld für die Teilnahme an der Aktion erhalten zu haben. »Mein Honorar für die Arbeit betrug an diesem Tag ungefähr zwischen 150 und 200 US-Dollar«, sagte Álvarez. Wie ADN ihm das Geld schicke, verschwieg er. »Ich weiß nur, dass eine Person mir das Geld ins Haus bringt. Es ist nie dieselbe; ich meine, ich weiß nicht, ob es eine Agentur ist … Ich weiß, dass es einfach jemand ist, der eines Tages an meine Tür klopft oder mich anruft und mir das Geld gibt«, erklärte Álvarez. Sein ebenfalls zu der Aktion beorderter »Kollege« Mauricio Mendoza, dessen Handy Kulturminister Alpidio Alonso zur Seite gestoßen hatte, als er es diesem direkt vors Gesicht hielt, wird von Diario de Cuba bezahlt, einer von Contras in Madrid herausgegebenen Onlinezeitung.
    Was auf die jungen Systemgegner wie eine fürstliche Entlohnung wirkt, sind jedoch Peanuts, gemessen an den Beträgen, die diese »unabhängigen Medien« aus der US-Staatskasse erhalten. Wie der US-Journalist Tracey Eaton am 12. Oktober in seinem Blog »Cuba Money Projekt« berichtete, wurde ADN Cuba im vergangenen Jahr durch die dem US-Außenministerium unterstehende Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) mit 410.710 US-Dollar gefördert. Diario de Cuba erhielt – laut Eatons Recherchen – in den vergangenen zwei Jahren 675.398 US-Dollar durch die vom US-Kongress finanzierte Stiftung »National Endowment for Democracy«.
    Propaganda für die US-Blockadepolitik ist für die Betreiber derartiger Portale ein lukratives Geschäft. Wie Eaton weiter herausfand, machte Washington im Zusammenhang mit den seit November verstärkten Aktionen der sich als »Künstler« bezeichnenden »San-Isidro-Bewegung« zusätzliche Gelder locker. Am 24. November stellte das State Department bis zu eine Million US-Dollar für neue Programme zur Verfügung. Deren Ziel sei es, »die Kapazität unabhängiger zivilgesellschaftlicher Gruppen in Kuba zu stärken, bürgerliche und politische Rechte auf der Insel zu fördern und die Rechenschaftspflicht kubanischer Beamter für Menschenrechtsverletzungen zu erhöhen«.
    Vergiftete Solidarität
    Gastkommentar zum Vorstandsbeschluss der Partei Die Linke zu Kuba
    Von Ulla Jelpke
    »Solidarität mit Kuba« lautet ein Beschluss des Parteivorstandes der Linken vom 23. Januar 2021. Die Linke verurteilt die Verschärfung der US-Sanktionen gegen Kuba und drückt Unterstützung für die Kampagne »Für ein Ende der Blockade gegen Kuba!« aus. Verurteilt werden Versuche, die Regierung Kubas durch Regime-Change-Aktivitäten aus dem Ausland zu stürzen. Doch genau darauf läuft der letzte Absatz des Beschlusses raus. Denn dort heißt es scheinbar harmlos: »Für Die Linke gilt, Menschenrechte sind universell, sie gelten für jede und jeden – überall! Wir treten ein für eine Fortsetzung des Dialogs in Kuba mit kritischen Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten zur Demokratisierung der kubanischen Gesellschaft.«
    Irritierend ist die Arroganz, mit der der kubanischen Gesellschaft hier unterstellt wird, nicht demokratisch zu sein. Erinnert sei an die breite gesellschaftliche Debatte über eine neue, im Februar 2019 in einem Referendum mit 86,8 Prozent der Stimmen angenommene kubanische Verfassung, zu der die Bevölkerung mit fast 800.000 Vorschlägen beitrug, aus denen sich schließlich 760 Änderungen des ursprünglichen Dokuments ergaben. Dass diese Verfassung, in der Menschenrechte und der sozialistische Rechtsstaat verankert sind, mit Leben gefüllt werden muss, dass es bürokratische Hemmnisse und Fehlentwicklungen gibt, dass die sozialistische Demokratie ausgebaut werden muss, dafür brauchen die Kubaner keine Nachhilfe aus Europa. Denn das lässt sich jeden Tag in der Tageszeitung der kubanischen Kommunistischen Partei, der Granma, nachlesen.
    Ein Kommentar in der Tageszeitung ND unter der bezeichnenden Überschrift »Ein guter Tabubruch« macht klar, wer die »kritischen Künstler« sind, mit denen der Linke-Vorstand den Dialog einfordert. Es geht um die von der abgewählten Trump-Regierung und dem venezolanischen Putschisten Juan Guaidó unterstützte San-Isidro-Bewegung (MSI), deren Anhänger zum Teil in sozialen Netzwerken die US-Regierung offen zu einer Invasion Kubas aufgerufen haben.
    Als »kritischer Künstler« gilt offenbar auch ein vom ND als »oppositioneller Rapper« bezeichneter Trump-Anhänger namens Denis Solís. Ob dessen Inhaftierung auf Kuba rechtsstaatlich und taktisch klug ist, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Dass ein Dialog mit einem rabiaten Antikommunisten, der laut den kubanischen Behörden Kontakte zu terroristischen Gruppen in den USA unterhalten soll, für die kommunistische Regierung wenig Sinn macht, ist dagegen offensichtlich. Die kubanische Regierung ist um den Dialog mit kritischen Künstlern bemüht und hat diesen bereits im November mit protestierenden Kulturschaffenden begonnen. Doch dessen Fortsetzung zwei Monate später wurde durch Provokateure unter anderem aus der San-Isidro-Bewegung mit Störaktionen vereitelt, die auf medienwirksame Bilder für das Ausland abzielten.
    Der Linke-Beschluss zur Solidarität mit Kuba erweist sich als Trojanisches Pferd des Antikommunismus. Denn es ist nicht möglich, gleichzeitig solidarisch zu sein mit dem sozialistischen Kuba und mit denjenigen, die einer US-Invasion das Wort reden. Dass nicht allen Vorstandsmitgliedern die Hintergründe bewusst waren, ist anzunehmen. Doch auch der Vorwurf, dass es einigen weniger um Solidarität mit Kuba ging als darum, gegenüber der olivgrünen Regime-Change-Partei und der SPD Regierungsfähigkeit zu demonstrieren, steht im Raum. Um diesen Verdacht einer vergifteten Solidarität zu entkräften, sollte es jetzt für die Partei Die Linke höchste Zeit sein, mit ganzer Kraft für ein Ende der Blockade gegen Kuba einzutreten.
    Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag

  65. Zu diesem unsäglichen Video und Geschwätz um diesen angeblichen Palast erinnere ich mich, daß Putin vor ca. einem Jahrzehnt den Plan vorgestellt hat, mehrere staatliche „Residenzen“ errichten zu lassen.
    Damit waren Hotels mit angeschlossenen Konferenzsälen gemeint, wo man hohe Staatsgäste empfangen und sich mit ihnen beraten könnte, ohne das Areal zu verlassen. Komfort, Funktionalität und Sicherheit sollten gewährleistet sein.
    Eine davon war auf der Russischen Insel bei Vladivostok geplant, eine irgendwo bei Kaliningrad und dann noch eine oder zwei dazwischen.
    Es scheint, daß die Außenpolitik sich anders entwickelt hat und nach solchen Bauten kein Bedarf mehr bestand. Auf der Russischen Insel wurde jedenfalls keine solche Residenz gebaut.
    Aber es kann sein, daß dieses Gebäude das einzige ist, was im Zusammenhang mit der ganzen Erschließung Sotschis von diesem Projekt übriggeblieben ist.

  66. Bundesregierung droht Moskau nach Ausweisung
    Berlin. Die Bundesregierung hat die Ausweisung von drei EU-­Diplomaten, darunter ein Deutscher, aus Russland scharf kritisiert und mit Konsequenzen gedroht. »Wir halten diese Ausweisung für ungerechtfertigt und glauben, dass das eine weitere Facette in dem ist, was ziemlich fernab von Rechtsstaatlichkeit im Augenblick gerade in Russland zu beobachten ist«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Freitag. Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte, die Ausweisung sei »in keiner Weise gerechtfertigt« und beschädige das Verhältnis Russlands zu Europa weiter. Russland hatte zuvor drei Diplomaten aus Deutschland, Polen und Schweden zu unerwünschten Personen erklärt. Die Diplomaten des schwedischen und polnischen Konsulats in St. Petersburg sowie ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Moskau hätten an nicht genehmigten Protesten teilgenommen. (dpa/jW)
    Der Feind bleibt gleich
    US-Präsident gibt außenpolitischen Kurs vor – gegen Russland und China
    Die »America First«-Politik von Donald Trump soll Geschichte sein: In seiner ersten außenpolitischen Grundsatzrede seit seinem Amtsantritt hat US-Präsident Joseph Biden eine stärkere Führungsrolle seines Landes und eine Rückkehr zu traditionellen Bündnissen angekündigt. Der Demokrat verkündete bei einem Besuch im Außenministerium in Washington am Donnerstag (Ortszeit) außerdem das »Einfrieren« der Pläne seines Vorgängers für einen US-Truppenabzug aus Deutschland. Sein Verteidigungsminister Lloyd Austin werde eine umfassende Untersuchung der weltweiten US-Truppenpräsenz vornehmen. So lange lägen die Abzugspläne seines Vorgängers auf Eis. Die Bundesregierung begrüßte die Entscheidung. Es sei immer die Überzeugung Berlins gewesen, dass die Stationierung der US-Streitkräfte in Deutschland »der europäischen und transatlantischen Sicherheit dient und in unser beiderseitigem Interesse ist«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag.
    »Amerika ist zurück. Die Diplomatie ist zurück«, sagte Biden. Er wolle »Schulter an Schulter« mit den traditionellen US-Verbündeten zusammenarbeiten und »autoritären Staaten wie China und Russland« entschiedener entgegentreten. Als größten Konkurrenten bezeichnete Biden China. Die USA seien bereit, mit Beijing zusammenzuarbeiten. Man werde der chinesischen Regierung aber aus einer »Position der Stärke« gegenübertreten. In bezug auf Russland erklärte er, unter seiner Führung werde die Regierung in Washington nicht »kuschen«. Er werde auch nicht zögern, die »Kosten« für Russlands Handeln zu erhöhen. Moskau reagierte prompt. Bidens Rede sei von einer »sehr aggressiven und nicht konstruktiven Rhetorik« geprägt gewesen, hieß es aus dem Kreml. Trotz »sehr vieler Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlicher Ansätze in Schlüsselfragen« hoffe Moskau aber, dass es »eine Grundlage für Gespräche« geben werde.
    Biden kündigte weiter ein Ende der US-Unterstützung für die von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz gegen die Ansarollah (»Huthi«) im Jemen-Krieg an. Die US-Unterstützung für »offensive Militäreinsätze im Jemen, einschließlich wichtiger Waffenverkäufe« werde beendet. Zu einer möglichen Rückkehr der USA in das internationale Atomabkommen mit dem Iran äußerte sich Biden in seiner Grundsatzrede nicht. (dpa/jW)
    Tonkorrekturen
    Außenpolitik der USA unter Biden
    Von Reinhard Lauterbach
    Vom Standpunkt vieler Angehöriger des US-amerikanischen Politestablishments ist die Bilanz der vier Jahre unter Donald Trump ernüchternd. Das zeigen genug Bücher enttäuschter Insider: China wurde nicht in die Schranken gewiesen, Russland ist nicht zusammengebrochen. Statt dessen sind Verbündete angesäuert – so die BRD – und der internationale Ruf, der als »Soft power« das Herrschen erleichtert, ist ruiniert. Das liegt zwar nicht an der Person Trump. Vielmehr ist es umgekehrt: Dass er Präsident werden konnte, zeigt, dass die weltweite Dominanz der USA erstmals seit Jahrzehnten an objektive Grenzen stößt.
    Trump war die Verkörperung dieser Unfähigkeit der USA, ihre Dominanz anders als in rohen Verlaufsformen durchzusetzen. Joseph Biden verkündet jetzt: »America is back« – zurück auf der Bühne, und dort natürlich auf dem Platz des Vorsitzenden. Drunter tun es die USA auch unter Biden nicht, und wenn etwas neu gestartet wird, dann ist es der Hegemonialanspruch: Schnell kündigte der US-Präsident Sanktionen gegen Myanmar an. Und Wladimir Putin drohte er, Washington werde künftig dessen angeblich aggressive Handlungen »nicht mehr hinnehmen«. Fünf Jahre Sanktionen waren also »hinnehmen«, nur weil sie faktisch erfolglos gewesen sind. Dass die USA vorhaben, sich in künftige russische Wahlen einzumischen, schreibt ihre Carnegie-Stiftung, aus der der neue CIA-Chef rekrutiert worden ist, ganz offen.
    Einstweilen hat Biden den »New START«-Vertrag mit Moskau um fünf Jahre verlängert – jedoch nur, weil Russland bei einigen Raketentypen im Moment den USA technisch voraus ist. Es geht darum, Zeit fürs Nachziehen zu gewinnen. Den russischen Vorschlag, das Abkommen gleich um 20 Jahre zu verlängern, überhörte Biden hingegen. Ansonsten will er die US-Truppen in Deutschland doch nicht verringern und »unseren Bündnissen wieder die Muskeln antrainieren, die sie durch jahrelange Vernachlässigung verloren haben«.
    Das »Muskeltraining der Allianzen« kann allerdings auch einmal taktische Korrekturen bedeuten, etwa im Fall von Nord Stream 2. Wenn das Handelsblatt diese Woche richtig informiert hat, läuft Bidens »Angebot« darauf hinaus, dem BRD-Kapital sein billiges russisches Erdgas zu genehmigen, aber die Berliner Regierung zu verpflichten, Washingtons politische Ziele gegenüber Moskau zur Bedingung für die Abnahme dieses Gases zu machen. Also Russland internationale Botmäßigkeit abzuverlangen – in Bidens Jargon: »Diplomacy is back«.
    Die alten Ziele, aber mit besseren Manieren vorgetragen – solange das hilft. Denn worauf das hinausläuft, beklagt vom anderen Ende der Welt der ehemalige australische Ministerpräsident Kevin Rudd im aktuellen Heft der Zeitschrift Foreign Policy: Die USA und China stünden »knapp vor einem Krieg«, ihre Konkurrenz sei »unausweichlich«. Ob das denn wirklich sein müsse, fragt Rudd. Soviel ist klar: Er wird nicht gefragt werden.
    Streitobjekt Nord Stream 2
    USA haben offenbar BRD Bedingungen für Duldung der deutsch-russischen Ostseepipeline gestellt
    Von Reinhard Lauterbach
    Kommt Bewegung in den Streit um Nord Stream 2? Nach Angaben des Handelsblatts (Dienstagausgabe) haben die USA der Bundesregierung ein Angebot gemacht, über eine Aufhebung der gegen das Gasprojekt Nord Stream 2 verhängten oder angedrohten Sanktionen zu verhandeln. Politisches Ziel der US-Administration sei dabei zu verhindern, dass die Leitung – die den Gastransit durch die Ukraine technisch überflüssig machen würde – nicht gegen diese und andere osteuropäische Staaten ausgenutzt wird. Das Blatt schreibt unter Berufung auf Berliner »Regierungskreise«, dass Washington zum Beispiel eine Zusage des Bundeskabinetts erwarte, den Betrieb von Nord Stream 2 zu stoppen, sobald Russland seinerseits den Transit durch die Ukraine beende. Das impliziert auch, dass die BRD Russland veranlassen müsste, den geltenden, bis 2024 laufenden Transitvertrag mit der Ukraine zu verlängern. Das rechte polnische Magazin Wprost will abweichend davon erfahren haben, die Bedingung der USA für eine Duldung der Pipeline sei, dass die BRD ihre Rüstungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöht.
    Eine offizielle Bestätigung für diese Meldungen gab es zunächst nicht; allerdings hatte, ebenfalls gegenüber dem Handelsblatt, Mitte Januar Joseph Bidens außenpolitischer Berater Richard Nicholas Burns der Bundesregierung eine Art Nullösung vorgeschlagen: die Unterbrechung der Bauarbeiten, um Zeit für »vertrauliche und entspannte Gespräche« zu bekommen. Gleichzeitig erhielt Washington eine Art Drohkulisse gegen das Projekt aufrecht. Der Sprecher des Außenministeriums, Edward Price, erklärte am Mittwoch, die USA würden die Baustelle »aus der Nähe beobachten«, und sobald Bauarbeiten einsetzten, träten Sanktionen gegen die Beteiligten in Kraft.
    Wahrscheinlich vor diesem Hintergrund treten die Arbeiten an Nord Stream 2 seit Mitte Januar geradezu demonstrativ auf der Stelle. An der geplanten Leitungstrasse etwa 15 Seemeilen südlich der dänischen Ostseeinsel Bornholm ankern seit Tagen das russische Verlegeschiff »Fortuna« und einige Hilfsschiffe. Doch was die »Fortuna« dort macht, ist weniger klar. Von seiten des Betreibers, der in der Schweiz registrierten Gesellschaft Nord Stream 2 AG, hieß es jüngst, einstweilen seien »technische Tests« der eingesetzten Ausrüstung geplant. Das ist insofern erstaunlich, als solche Tests ja zuvor das ganze Jahr des Stillstands auf der Baustelle hätten durchgeführt werden können. Zudem hat Russland das leistungsfähigere der beiden in der Ostsee stationierten Verlegeschiffe, die »Akademik Tscherski«, offenbar wieder abgezogen. Das Schiff liegt seit mindestens einer Woche im Hafen von Wismar. Die Nord Stream 2 AG hatte auch erklärt, man wisse nicht, wann der eigentliche Bau weitergehen werde. Die aktuellen Genehmigungen für die »Fortuna« gelten bis Ende Mai. Ob der Bau rein technisch bis dahin zu realisieren ist, beurteilen verschiedene Quellen unterschiedlich.
    Auffällig ist auf der politischen Seite, dass der in den vergangenen Tagen nochmals aufgeflammte rhetorische Widerstand gegen Nord Stream 2 in der EU wieder abflaute. Der französische Europastaatssekretär Clément Beaune, der sich für einen Abbruch des Projekts ausgesprochen hatte, wurde einen Tag später von Außenminister Jean-Yves Le Drian zurückgepfiffen. Dieser erklärte, Paris werde sich in die Entscheidungen der deutschen Regierung nicht einmischen. In Polen erklärte ein Vertreter des dem Außenministerium unterstehenden Thinktanks »Institut für Oststudien«, er habe das »Bauchgefühl«, dass die Leitung fertiggebaut würde, und dass Polen nicht mehr viel dagegen tun könne. Ein anderer Energieexperte erklärte, die Leitung sei für Polen nicht mehr so schädlich, wie sie noch vor ein paar Jahren gewesen wäre. Der Hintergrund ist, dass Polen den Bezug von Gas aus Russland Ende 2022 einstellt; bis dahin soll neben einem erweiterten Flüssiggasterminal in Swinoujscie auch eine Unterseepipeline, »Baltic Pipe«, zum Transport von norwegischem Erdgas nach Polen fertig sein.

  67. Kuba-Krise bei Linkspartei und ND
    Kein Mitglied des Vorstandes der Partei Die Linke hat gegen einen bewusst von rechten Kräften eingebrachten Antrag gegen die sozialistische Insel votiert. ND offen für Konterrevolution
    Von Dietmar Koschmieder
    Die Linke hat das Problem schon lange: Zwar lassen viele Wählerinnen und Wähler (und nicht wenige Mitglieder der Parteibasis) vieles mit sich machen, aber wenn es um die Themen Krieg und Frieden, die Haltung zu Russland und zur internationalen Solidarität vor allem mit Kuba geht, wird dort oft eine klare Positionierung gefordert: Nie wieder Krieg! Klare Kante gegen die Verteufelung und Verächtlichmachung der Russen! Politische Solidarität mit dem sozialistischen Kuba! Diesen Umstand haben rechte Fraktionen und Funktionäre in der Partei meistens berücksichtigt, auch weil gelegentliche Ausrutscher, über die ihre wahre Haltung offenbar wurde, zu heftigen Reaktionen an der Basis führten.
    So sprach Gregor Gysi Mitte der 1990er Jahre vom verbliebenen Diktator Fidel Castro, dessen Tage gezählt seien – was an der Basis allerdings nicht gut ankam. Etwa zehn Jahre später unterstützten einige Europaabgeordnete aus der Linkspartei.PDS-Fraktion eine kubafeindliche Resolution des Europäischen Parlaments. Dies führte zu so heftigen Protesten innerhalb der Partei, dass zurückgerudert werden musste. In der Resolution war die Rede von Menschenrechten, der Förderung von Systemgegnern und von der Entwicklung von Demokratie in Kuba – die zustimmenden linken Abgeordneten störte damals offensichtlich nicht, dass solche Forderungen ausgerechnet von den Faschisten nahestehenden Kräften aus dem Umfeld der spanischen Volkspartei (PP) ins Parlament eingebracht wurden.
    Wenn also am 23. Januar 2021 der Vorstand der Partei Die Linke eine Erklärung verabschiedet, in der das sozialistische Kuba mit erhobenem Zeigefinger darauf hingewiesen wird, dass Menschenrechte universell seien, dass die kubanische Gesellschaft zu demokratisieren und mit Contras der Dialog zu führen sei, ist das zunächst nichts Neues. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass nicht ein einziges Mitglied dieses Gremiums – und damit auch keiner der anwesenden Kuba-Freunde – gegen diesen Antrag gestimmt hat! Obwohl der bewusst von rechten Kräften der sogenannten emanzipatorischen Linken wenige Monate vor wichtigen Landtags- und Bundestagswahlen lanciert wurde. Sie konnten auf einen faulen Kompromiss setzen, weil damit eine offene kontroverse Diskussion vermieden werden sollte.
    Wenn sich Linke solcher Taktik unterwerfen, ist das im harmlosesten Fall eine unglaubliche politische Dummheit. Denn dass dieser Beschluss sofort dafür genutzt wird, über staatsfinanzierte antikubanische Kräfte in den USA Dissidenten in Kuba anzufeuern, lag auf der Hand. So titelte am 3. Februar der kubafeindliche Sender Radio Televisión Martí: »Die deutsche Linke trifft eine historische Entscheidung: Sie unterstützt Kritiker des kubanischen kommunistischen Regimes«. Aber auch die parteieigene Zeitung ND (ehemals Neues Deutschland) wird von den Konterrevolutionären lobend erwähnt, weil sie schon tags zuvor den Beschluss als »guten Tabubruch« bezeichnete. Im ND werden nicht nur Unwahrheiten von Contras kolportiert, sondern die gewünschte Entwicklung bündig zusammengefasst: »Der von der Linken mit ihrem Beschluss eingeschlagene Weg könnte richtungsweisend für eine kritisch-solidarische Begleitung (…) einer neuen Generation sein, die sich ebenso wie die Revolutionäre von 1959 für ein freies Kuba einsetzen.« Der Revolution soll also die Konterrevolution folgen, so offen stand das bisher selten in der einstmals sozialistischen Tageszeitung.
    Nichts Neues ist die fortschreitende Sozialdemokratisierung vieler Mandatsträger, Funktionäre und Gremien der Partei Die Linke. Entscheidend ist die Frage, ob es dort und in der Wählerschaft noch genügend linke Kräfte gibt, die sich dafür einsetzen, dass sich die Partei in Fragen der internationalen Solidarität und der Friedenssicherung nicht komplett den anderen im Bundestag vertretenen Parteien anpasst – und sich damit vollständig überflüssig macht.
    Antikubanische Blase
    Von Arnold Schölzel
    Ein Matthias Höhn kommt nicht allein. Seine Aufforderung an Die Linke, »jenseits ausgedienter Freund-Feind-Bilder« netter zu NATO, EU-Truppen und Bundeswehr im Ausland zu sein, beantwortete deren Vorstand am 23. Januar mit einer markigen Antwort unter dem Titel »Keine Aufweichung friedenspolitischer Position« – ohne Erwähnung Höhns. Das ist nicht erstaunlich, denn Höhns Prinzip der »Äquidistanz« – »Alle sind an allem gleich schuld« oder »Die einen sagen so, die anderen so« – ist so etwas wie die Praxisformel für das Gremium. Also verabschiedete es auf Antrag der »Emanzipatorischen Linken«, einer Art Katja-Kipping-Stiftung, einen Beschluss zur Solidarität mit Kuba, in dem diese einerseits bekräftigt, andererseits die Äquidistanz zum Prinzip erhoben wird: Kuba hat demnach Bedarf an »Fortsetzung eines Dialogs« mit Kritikern und an »Demokratisierung«. Ulla Jelpke hat das am Donnerstag in jW zu Recht »vergiftete Solidarität« genannt.
    Es lässt sich auch sagen: Einerseits der NATO Avancen machen, andererseits der kubanischen Regierung undemokratisches Verhalten und Missachtung der Menschenrechte unterstellen kommt zwei Eintrittskarten fürs Mitregieren gleich. Beides ergibt sich aus Höhns Prinzip.
    In der Praxis geht es um die hohe Schule des parlamentarischen Verbiegens. Wer in der Opposition Regierung spielt, darf selbstverständlich imperialistische Aggression nicht imperialistische Aggression nennen. Deswegen bieten sich für Höhn bei einer EU-Armee »Einspar- und Abrüstungspotentiale« an, so dass er von den »humanitären Interventionen« der NATO oder der EU zum Export von Demokratie und Menschenrechten ruhig absehen kann. Analog heißt das für Kuba: Setzt gefälligst den »Dialog« fort und redet nicht über Kontras oder gar US-Politik. Was passiert aber, wenn nach dem hochmögenden Urteil des Linke-Parteivorstandes die »Demokratisierung« durch »Dialog« nicht vorankommt?
    Das kann ungefähr ahnen, wer die Tageszeitung ND – Der Tag liest. Dort erläutert am Dienstag Kolumnist Matti Steinitz, früher Autor der sich links gebenden, radikal antikommunistischen Wochenzeitung Jungle World und Mitarbeiter der Universität Bielefeld, der Vorstandsbeschluss sei »ein guter Tabubruch«. Erstmals habe sich die Linkspartei »mit Kritiker*innen der kubanischen Regierung solidarisiert«. Das mag formal richtig sein, die Haltung selbst ist in der Partei nicht neu: Zur ewigen Distanzierung von sozialistischen Ländern gehörte bei Gelegenheit stets auch die von Kuba – ob Gabriele Zimmer im EU-Parlament oder die Charakterisierung Che Guevaras anlässlich seines 90. Geburtstags im Neuen Deutschland mit »Gewaltorgien, Mackertum und Heldenverehrung«. Steinitz triumphiert zu Recht und scheut folgerichtig die Kolportierung von Contra-Lügen nicht, wenn er zum Beispiel behauptet, der kubanische Kulturminister habe sich persönlich »an Übergriffen mit mehreren Verletzten gegen friedliche Demonstranten« beteiligt. Wörtlich zitiert er aus Kuba allein eine Bloggerin, die in einem von ihm selbst gegründeten Netzwerk mitarbeitet. Das heißt wohl »Blase«. Argumente sind ansonsten die Warnung, dass »die alten Reflexe hier in die Irre« führen – gemeint ist Solidarität mit der Kubanischen Revolution – und »der autoritäre Umgang des Staates mit den jungen Menschenrechtler*innen« dessen »Verunsicherung« bezeuge. Steinitz folgt den ältesten Reflexen antikommunistischer Propaganda. Warum Tatsachen, wenn es Meinungen gibt?
    So kommt auf den Höhn noch einer drauf: Wo Steinitz die humanitäre Intervention in Kultur und politischer Ideologie vollzieht, kann die durch die EU-Armee irgendwann einmal folgen. Bei strenger Äquidistanz.

  68. Das antikubanische Treiben der EU, wo sich Spanien unter der PP als Avantgarde profilieren wollte, erhielt einen ziemlichen 2012 Dämpfer, als 2 antikommunistische Jugendfunktionäre einen Autounfall verursachten, bei dem 2 kubanische Dissidenten starben.
    siehe dazu:
    https://amerika21.de/meldung/2012/10/64886/carromero-haft
    Dadurch erlitt das Unternehmen, eine antikommunistische Opposition außerhalb Havannas aufzubauen, Schiffbruch.
    Jetzt soll da offenbar wieder EU-weit neu durchgestartet werden. Wieder ein Versuch, Einigkeit über einen gemeinsamen Feind herzustellen.
    Die Linke will sich damit offenbar Wählerstimmen aus dem bürgerlichen Lager holen.
    Was die North Stream II-Angelegenheit angeht, so nehme ich an, daß Rußland sowieso nicht vorhätte, den Gastransport durch die Ukraine aufzuhören. Da hängen ja Österreich, Ungarn, die Slowakei, Tschechien, der Balkan und Rumänien dran. Also so eine Vereinbarung unterschreibt Rußland problemlos. Für Rußland wäre es sogar von Vorteil, wenn die Verpflichtung der Ukraine, das gelieferte und verwendete Gas auch zu bezahlen, in einem Vertrag mit der Schutzmacht EU schriftlich fixiert wird.
    Für die EU ist wichtig, daß diese ungewollte Subvention der Ukraine durch Gasklau und nicht gezahlte Gasrechnungen weiter aufrecht bleibt, als eine der wenigen sicheren Einkommensquellen der ukrainischen Kleptokratie.
    Es fragt sich allerdings, wie die Forderung präsentiert wird. Weil nach dem Nawalny-Theater ist anzunehmen, daß die EU oder Deutschland möglicherweise nicht den nötigen diplomatischen Tonfall finden werden.
    Wenn die Vereinbarung zustandekommt, wird sie wieder Anlaß für endlose Streitereien um Gasmengen, Gaspreise und nicht gezahlte Rechnungen geben.

  69. Berliner Brücken
    Bau von Nord Stream 2 fortgesetzt
    Von Jörg Kronauer
    Jetzt wird also weitergebaut: Man habe begonnen, die nächsten Rohre für Nord Stream 2 zu verlegen, teilte die Projektgesellschaft für die deutsch-russische Erdgaspipeline am Samstag mit. Die jüngste Zwangspause, verursacht durch die Verhängung von US-Sanktionen, scheint damit zumindest fürs erste überwunden. Der Streit um die Erdgasleitung aber dauert unvermindert an.
    Hintergrund ist zum einen, dass die Bundesregierung – und mit ihr die EU – in der zweiten Jahreshälfte 2020 den Druck auf Russland verschärft hat, gipfelnd zunächst in der Verhängung neuer Strafmaßnahmen gegen Moskau im Oktober. Offizieller Anlass ist diesmal der Fall Alexej Nawalny, und längst ist die nächste Sanktionsrunde im Gespräch. Wozu? Berlin hat im Armdrücken mit Moskau um den beherrschenden Einfluss in Osteuropa in den vergangenen Jahren keinerlei Fortschritte erzielen können – peinlich für einen Staat, der sich immer wieder zur Ordnungsmacht südlich und östlich seiner Grenzen erklärt hat, der aber nicht einmal den Anspruch des »Minsk-Prozesses« einlösen kann, die Verhältnisse in der Ostukraine einigermaßen im Sinne seines Schützlings Kiew zu regeln: Russland hält beharrlich und bislang erfolgreich dagegen. Berlin und Brüssel erhöhen also den Druck.
    Davon ausgenommen ist allerdings nach dem Willen der Bundesregierung Nord Stream 2. Am Sonntag hat Wirtschaftsminister Peter Altmaier per Megaphon (Bild) bekräftigt, worauf sich Kanzlerin Angela Merkel am Freitag abermals festlegte: Die Pipeline bleibe von etwaigen neuen Sanktionen »erst einmal unberührt«. Längst geht es nicht mehr nur darum, ein für die deutsche Erdgasbranche bedeutendes Projekt gegen Attacken abzuschirmen. Der Streit ist zur Grundsatzfrage geworden: Gelingt es Berlin diesmal, sich in einem Konflikt gegen Washington durchzusetzen, wenigstens an einer Stelle dessen leidige extraterritoriale Sanktionen abzuwehren? »Wir brauchen nicht über europäische Souveränität zu reden, wenn darunter verstanden wird, dass wir in Zukunft alles nur noch machen, wie Washington es will«: So hat es Ende Dezember Außenminister Heiko Maas formuliert.
    Antirussischen Hardlinern, die es nicht nur in Polen und im Baltikum, sondern auch in Berlin zur Genüge gibt, passt das freilich nicht. Sie setzen in den eskalierenden globalen Machtkämpfen auf den engstmöglichen Schulterschluss mit den USA – die Grünen etwa, deren Abgeordneter Cem Özdemir kürzlich erklärte, »Putins Russland« sei »kein Partner für uns, sondern ein Gegner«; daher müsse man Nord Stream 2 stoppen. Die transatlantische Hardcorefraktion in den Berliner Eliten spielt dabei zusehends va banque. Darauf hat am Wochenende Frank-Walter Steinmeier hingewiesen. »Die Energiebeziehungen«, warnte der Bundespräsident, seien »fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa«; man müsse sich gut überlegen, ob man sie wirklich »vollständig und ersatzlos« abbrechen wolle. Wohin ein Abbruch aller Brücken nach Russland führen kann, das lehrt die deutsche Geschichte.
    Koloniale Methoden (08.02.2021)
    Russischer Außenminister erhebt schwere Vorwürfe gegen die EU und ihre Sanktionspolitik. Brüssel bemüht sich um russischen Covid-19-Impfstoff.
    BERLIN/BRÜSSEL/MOSKAU (Eigener Bericht) – Die russische Regierung setzt sich gegen die zunehmenden Sanktionen und Sanktionsdrohungen der EU zur Wehr. Außenminister Sergej Lawrow hat den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell am vergangenen Freitag in einer Pressekonferenz scharf attackiert; EU-Diplomaten stufen den Vorfall als herben Minuspunkt für Brüssel ein. Lawrows Ministerium hatte unter anderem – in Verteidigung gegen Vorwürfe aus der EU, in Russland herrsche beispiellose Polizeigewalt – eine Sammlung von Videoaufnahmen publiziert, die schwere Fälle brutaler Polizeigewalt in der EU sowie in den USA zeigen. Borrell gestand Polizeiübergriffe im Westen offiziell ein. Darüber hinaus weist Moskau drei Diplomaten aus der EU aus, denen es eine Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen vorwirft. Für Berlin kommt dies zu einem heiklen Zeitpunkt: Es sucht den dramatischen Mangel an Covid-19-Impfstoffen durch den Erwerb des russischen Vakzins Sputnik V zu beheben, das hierzulande bis vor kurzem abschätzig beurteilt wurde; darüber hinaus ist es bei wichtigen außenpolitischen Vorhaben auf Moskau angewiesen.
    Die Russlandpolitik der EU
    Ziel der Gespräche, die der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell Ende vergangener Woche in Moskau führte, war es, die bevorstehende Brüsseler Debatte über die Russlandpolitik der Union vorzubereiten. Diese steht beim nächsten Treffen der EU-Außenminister am 22. Februar sowie daran anschließend beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 25./26. März auf dem Programm. Schon vorab hieß es, Borrell werde vor allem sondieren, bei welchen Themen eine gewisse künftige Kooperation möglich sei. Die Rede war etwa von einer denkbaren Abstimmung bezüglich des Atomabkommens mit Iran, das die EU ebenso wie Russland aufrechterhalten bzw. wiederbeleben will. Zudem hieß es, es solle unter anderem auch über die Lage in Nah- und Mittelost sowie in Nordafrika gesprochen werden. Vor allem in Syrien, in gewissem Maß auch in Libyen verfügt Moskau heute über starken Einfluss; wollen Berlin und die EU sich weiterhin mit einer Vermittlerrolle in Libyen profilieren, führt an Absprachen mit Russland faktisch kaum ein Weg vorbei.[1] Borrells Reise nach Moskau war am Mittwoch vergangener Woche bei einem Treffen des Stellvertretenden Generalsekretärs für politische Angelegenheiten im Europäischen Auswärtigen Dienst, Enrique Mora, mit Russlands Vizeaußenminister Alexander Gruschko vorbereitet worden. Am Freitag traf Borrell dann Außenminister Sergej Lawrow.
    Westliche Polizeigewalt
    Moskau hat Lawrows Treffen mit Borrell genutzt, um nach den stetigen Attacken der EU im Fall Nawalny – einschließlich neuer Sanktionen [2] – in die Gegenoffensive zu gehen. Bereits vorab hatte das russische Außenministerium, auf die jüngsten EU-Proteste wegen des Vorgehens russischer Polizisten gegen Pro-Nawalny-Demonstrationen Bezug nehmend, ein Video publiziert, das brutale Polizeiaktionen gegen Demonstranten in westlichen Staaten zeigt. So ist zu sehen, wie am Boden liegende Demonstranten hart mit Schlagstöcken traktiert, mit einem Fahrrad überrollt und in einem Fall sogar von einem Polizeiauto überfahren werden. Ausschnitte zeigen, wie Demonstranten gewürgt oder mit dem Strahl eines Wasserwerfers an Wände geschleudert werden. Schauplätze sind laut Aussage des Ministeriums mehrere EU-Staaten (Frankreich, Österreich, die Niederlande, Finnland, Polen sowie Tschechien) und die USA. Auf der Pressekonferenz im Anschluss an das Treffen mit Lawrow nach dem Video befragt, räumte Borrell ein, “exzessive Polizeigewalt” gebe es “nicht nur in Russland”.[3] Allerdings stehe es den Opfern im Westen stets offen, die Täter vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. Die Fakten stützen Borrells Behauptung nicht. So wurden nach Zählung von Bürgerrechtlern im vergangenen Jahr 1.127 Personen von US-Polizisten getötet; davon landeten lediglich 16 Fälle vor Gericht.[4] Bei der Niederschlagung der Proteste der gilets jaunes (“Gelbwesten”) durch Frankreichs Polizei verloren 24 Demonstranten durch Gummigeschosse ein Auge; auch Todesopfer waren zu beklagen.[5] Justizielle Folgen hatte dies kaum.
    “Dialog statt Ultimaten”
    Lawrow attackierte Borrell zudem hinsichtlich der westlichen Sanktionspolitik. Anlass war die auf der Pressekonferenz gestellte Frage, wie die EU zu den jüngsten US-Sanktionen gegen Kuba stehe. Borrell war vor seinem Wechsel zur EU als Außenminister Spaniens tätig gewesen; Spanien wiederum hat starke Wirtschaftsinteressen in Kuba, die von den US-Sanktionen massiv geschädigt werden (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Borrell antwortete, die EU lehne das US-Embargo gegen Kuba eindeutig ab: “Wir erwarten, dass die US-Administration ihre Position zu Kuba revidiert.”[7] Lawrow nutzte dies, um unter klarem Bezug auf die Sanktionspolitik der EU zu fordern, “dass wir illegitimen, einseitigen Druck und die Nutzung von Embargos und Blockaden vermeiden sollten”: Man könne nur “durch Dialog ohne Ultimaten, Strafmaßnahmen und einseitige Aktionen” mit seinen Partnern kooperieren; bei wirtschaftlichen Repressalien handele es sich um “Methoden und Werkzeuge aus der kolonialen Vergangenheit”.[8] Zum Streit im “Fall Nawalny”, der die jüngsten EU-Sanktionen gegen Russland begründet hat, wies Lawrow darauf hin, dass Moskau auf inzwischen vier Rechtshilfeersuchen zwecks Aufklärung des Falls “keine Antwort” aus Berlin erhalten hat.[9] Die Bundesregierung wiederum verweigert weiterhin eine Auskunft, wieso bislang jede Antwort auf die Rechtshilfeersuchen ausbleibt.[10]
    Aus Russland ausgewiesen
    Zu der für Brüssel überaus ungewohnten verbalen Gegenoffensive kommt hinzu, dass Moskau gegen drei Diplomaten aus der EU vorgeht, denen es vorwirft, an nicht genehmigten Pro-Nawalny-Demonstrationen teilgenommen zu haben. Betroffen sind Diplomaten aus Deutschland, Schweden und Polen. Die Regierungen aller drei Länder weisen den Vorwurf zurück; Außenminister Heiko Maas droht, sollte Moskau “diesen Schritt nicht überdenken”, werde er “nicht unbeantwortet bleiben”.[11] Auch die Ausweisung der drei Diplomaten ist in dieser Form ungewohnt: Griffen bislang üblicherweise westliche Staaten zu solchen Maßnahmen, um Russland weiter unter Druck zu setzen, so liegt die Initiative diesmal bei Moskau, das sich offen gegen westliche Übergriffe wehrt.
    Sputnik V
    Für Berlin kommt all dies zu einem recht heiklen Zeitpunkt. So haben Politiker in Berlin sowie in Brüssel inzwischen mehrfach erklärt, Interesse am Bezug oder gar an der Lizenzproduktion des russischen Covid-19-Impfstoffs Sputnik V zu haben. Hintergrund ist das umfassende Versagen der EU-Kommission bei der Beschaffung von Vakzinen (german-foreign-policy.com berichtete [12]), das die Union nun sogar über den Kauf von Impfstoffen bei ihrem Rivalen Moskau nachdenken lässt. Bislang wurde Sputnik V in Deutschland abschätzig beurteilt; so hieß es etwa, “Putin” wolle das Vakzin, das nur “spärlich geprüft” sei, hauptsächlich als “Werbemaßnahme” nutzen.[13] Im November hatte die EU Ungarn ausdrücklich vor der Nutzung des Impfstoffs “gewarnt”. Jetzt, da die Union selbst die Anwendung des Mittels in Betracht zieht, heißt es unter Bezug auf aktuelle Studien, Sputnik V sei “ohne Zweifel wirksam”.[14] Moskau ist offenbar zur Unterstützung der Union mit dem Vakzin bereit, wenngleich unklar ist, wie es auf etwaige neue EU-Sanktionen reagieren würde, wie sie gegenwärtig im Gespräch sind. Dabei scheint das Haupthindernis freilich ein anderes zu sein: Berichten zufolge dürfte sich die Zulassung von Sputnik V in der EU, die, entgegen anderslautenden Äußerungen, offenbar noch nicht beantragt wurde, über mindestens vier Monate in die Länge ziehen. Der frühestmögliche Zeitpunkt für die Nutzung des Impfstoffs wäre demnach im Juni.[15] Andere Länder, die eine weniger bürokratische Notfallzulassung erteilen, nutzen das Vakzin schon jetzt.
    Auf dem letzten Loch
    Ukraine drohen Stromausfälle. Kraftwerke ohne Kohlevorräte, Bergleute ohne Lohn
    Von Reinhard Lauterbach
    Eigentlich hätte das ausgerechnet in Energodar (»Energiespender«) südlich von Saporischschja nicht passieren sollen. Schließlich ist die Ortschaft am Dnipro-Stausee von Kachowka Standort eines AKW. Aber ihren Strom, Fernwärme und Wasser erhält sie aus einem Kohlekraftwerk. Und das schaltete sich am vergangenen Mittwoch zur Zeit des abendlichen Spitzenverbrauchs automatisch ab. Zwei Stunden lang, von 19.26 bis 21.26 Uhr, saß die 50.000-Einwohner-Stadt im Dunkeln, und weil die Kühlwasserpumpen des AKW ebenfalls stillstanden, musste dieses auf Notbetrieb umschalten. Angeblich war ein Kurzschluss im Fernleitungsnetz die Ursache, aber so sicher scheint das nicht zu sein. Jedenfalls wurde eine Sonderkommission berufen, um dem Störfall nachzugehen.
    Schwindende Vorräte
    Solche Stromausfälle drohen in nächster Zeit häufiger vorzukommen. Wie das Portal Strana.ua recherchierte, sind in einer Reihe von Kohlekraftwerken der Zentralukraine die Vorräte auf ein Fünftel des Sollbestands gesunken. Im Kraftwerk Uglegorsk im ukrainisch kontrollierten Teil des Donbass lagerten statt der benötigten 76.000 Tonnen Gaskohle nur noch 6.000 Tonnen. In Zmijiwka bei Charkiw sind die Bunker nach Recherche des Portals nur noch zu zwei Prozent gefüllt. Und das mit Kohle, deren Heizwert fraglich ist, weil sie sich unter dem Einfluss von Regen und Schnee in eine Art schwarzen Matsch verwandelt habe. Selbst im Vergleich zum Februar 2020 seien die Vorräte um mehr als die Hälfte geringer.
    Warum diese Notlage? Der staatliche Energieversorger Centrenergo, der etwa ein Fünftel des ukrainischen Strommarkts abdeckt, beliefert die Industriebetriebe des Oligarchen Igor Kolomojskij mit Strom zu Discountpreisen unter den Selbstkosten. Das ist politisch gewollt, weil sonst diese Betriebe stillstünden. Als Folge fehlt den Kraftwerken Geld, um den Bergwerken Kohle abzukaufen, und die Gruben können ihrerseits den zum eigenen Betrieb nötigen Strom nicht mehr kaufen, reduzieren also die Förderung – und bleiben den Bergleuten den Lohn schuldig. Michail Volynec, langjähriger Chef der »Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft«, fühlt sich an die wüsten 1990er Jahre erinnert.
    Ein weiterer Faktor kommt hinzu: Die Kohlekraftwerke müssen verstärkt einspringen, weil drei AKW-Blöcke des Atomkraftwerks Saporischschja zu Wartungsarbeiten stillstehen. Das hat wiederum bei den Kohlekraftwerken niemand vorhersehen können und wohl auch nicht wollen: Schließlich binden hohe Brennstoffvorräte Kapital und senken die Rentabilität.
    Kritische Situation
    Jetzt, wo überdies noch eine Phase strengen Frostes ins Haus steht, sind sich plötzlich alle der kritischen Situation im Energiesektor des Landes bewusst und warnen vor großflächigen Abschaltungen: von der Bergleutegewerkschaft, die bei der Gelegenheit beklagt, dass sich die Regierung im Zuge der angeblichen »Dekarbonisierung« der Wirtschaft darum drücke, die Bergbauinfrastruktur aufrecht zu erhalten, bis hin zum nationalen Regulierungsamt. Dieses schloss nicht aus, dass sogar das landesweite Stromverbundnetz zusammenbrechen könnte.
    Als Notlösung wird jetzt der Import entweder von Strom aus Belarus oder von Kohle aus Kasachstan diskutiert. Die ist freilich teurer als die heimische und muss auch erst noch herantransportiert werden – über russisches Territorium. Den Import aus Russland oder am Ende sogar aus den abtrünnigen Republiken des Donbass aber schließt die Ukraine aus politischen Gründen aus.

  70. Schon die Wortwahl „Druck auf Rußland machen“ drückt das Wunschdenken aus, nicht die Realität.
    Man kann feindselige Akte setzen (Sanktionen, Manöver, Diplomaten-Ausweisungen) und häßliche Reden schwingen, aber es hat sich doch in den letzten 2 Jahrzehnten gezeigt, daß die russische Politik davon völlig unbeeindruckt ihren Weg geht.
    Also ist dieses Gerede von „Druck machen“ ein Ausdruck der Selbstüberschätzung und ein Nicht-Zur-Kenntnis-Nehmen-Wollen der eigenen beschränkten Möglichkeiten, einer Großmacht gegenüberzutreten.

  71. Positionspapier: Mehr Geld für die Bundeswehr
    Berlin. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und die militärische Führung versuchen mit vermeintlichen Bedrohungsszenarien durch Russland mehr Geld für die Bundeswehr zu fordern. »Die Bundeswehr ist heute für die Herausforderungen und Bedrohungen von morgen noch nicht ausreichend vorbereitet«, heißt es in einem Positionspapier der Ministerin und des Generalinspekteurs Eberhard Zorn, das am Dienstag den Obleuten im Bundestag übermittelt wurde. Es lag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Deutschen Presseagentur vor. Veränderungen der Sicherheitslage und rasanter ökonomischer und technologischer Wandel stießen auf Streitkräfte, die angeblich »unterfinanziert«, »nicht ausreichend vorbereitet« und »einseitig auf Auslandseinsätze ausgerichtet« seien. Als »strategischen Konkurrenten« nennt das Positionspapier Russland, das seine »militärischen und politischen Drohungen in jüngster Zeit verschärft« habe. Beide kündigten an, Projekte wie die bodengebundene Luftverteidigung, die Eurodrohne und die Beschaffung eines schweren Transporthubschraubers vorantreiben zu wollen. Im Mai sollten Eckwerte für die »Bundeswehr der Zukunft« erlassen werden.
    Das Papier fand im Parlament sofort erwartbare Unterstützer bei der Union: »Um handlungsfähig zu bleiben und weder als Bundesrepublik Deutschland noch als Bündnis NATO oder EU erpressbar zu werden, müssen wir unsere Bundeswehr an den Erfordernissen der Zukunft ausgerichtet aufstellen und angemessen, auskömmlich, sowie verlässlich finanzieren«, forderte der außen- und sicherheitspolitische Sprecher der CSU im Bundestag, Reinhard Brandl. Kritik kam hingegen von der Opposition, so aus der Partei Die Linke. (dpa/jW)
    Höhn tritt nach
    Sicherheitspolitischer Sprecher der Linke-Bundestagsfraktion kritisiert Entwurf für Wahlprogramm
    In der Partei Die Linke dauert der Angriff des rechten Parteiflügels auf bislang verbindliche Elemente der außen- und friedenspolitischen Beschlusslage der Partei an. Am Dienstag wandte sich der sicherheitspolitische Sprecher der Linke-Fraktion im Bundestag, Matthias Höhn, gegen einschlägige Formulierungen in dem Entwurf für das Bundestagswahlprogramm, der am Montag in Berlin vorgestellt worden war. Höhn lehnt das »kategorische Nein« der Parteiführung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, das im Bundestagswahlprogramm festgeschrieben werden soll, ab. »Die Vereinten Nationen müssen gestärkt werden«, sagte er den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (Dienstagausgaben).
    Die Vereinten Nationen seien »die Alternative zum Recht des Stärkeren«, sagte er. »Einen kategorischen Ausschluss jedweder deutscher Hilfe bei friedenserhaltenden UN-Missionen halte ich darum nicht für richtig.« In dem Entwurf, den die Kovorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger vorgestellt hatten, ist ein Nein zu sämtlichen Auslandseinsätzen der Bundeswehr enthalten – also nicht nur zu Kampfeinsätzen, sondern auch zu sogenannten friedenserhaltenden Maßnahmen unter dem Dach der Vereinten Nationen. Der Entwurf soll nun innerparteilich diskutiert und auf einem Parteitag im Juni beschlossen werden. Die bisherige außen- und friedenspolitische Linie der Linkspartei gilt als Haupthindernis für eine eventuelle »rot-rot-grüne« Koalition nach der nächsten Bundestagswahl.
    Die Linke bleibe bei ihrer »harten Haltung« beim Thema Auslandseinsätze der Bundeswehr, hatte Riexinger am Montag gesagt. Man sei »grundlegend gegen Militäreinsätze der Bundeswehr im Ausland«. Diese dienten nicht der Herstellung von Frieden und Demokratie und verschärften Konflikte.
    Höhn hatte erst im Januar versucht, mit einem Diskussionspapier zur Sicherheitspolitik friedenspolitische Grundsätze der Linkspartei zu schleifen. Riexinger hatte diesen Vorstoß Höhns zurückgewiesen und gegenüber jW betont, dass Die Linke »als Friedens- und Abrüstungspartei klar sein« müsse. (AFP/jW)
    ___________________
    Warnschuss aus Moskau
    Beziehungen zwischen Russland und EU
    Von Jörg Kronauer
    An einem »historischen Tiefpunkt« seien sie angelangt, die Beziehungen der EU zu Russland: So hat sich zu Wochenbeginn ein Sprecher der EU-Kommission geäußert. Die Einschätzung trifft zu, und doch ist sie allenfalls die halbe Wahrheit. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hatte sich Ende vergangener Woche nach Moskau begeben, um dort einzelne Optionen für eine künftige Kooperation zu eruieren. Vor allem der Bundesregierung war daran gelegen, weil sie für manche Vorhaben – Nord Stream 2, Libyen – trotz aller Konflikte weiter auf Russland angewiesen ist. Daher hatte sie Borrells Reise gegen Attacken vor allem aus Polen sowie den baltischen Staaten unterstützt. Russlands Außenminister Sergej Lawrow brüskierte nun aber nach den Gesprächen Borrell vor den Augen der Öffentlichkeit; zudem wies Moskau drei Diplomaten dreier EU-Staaten aus. Am Montag diskutierte das Europaparlament darüber – geifernd vor Wut.
    Dass es zwischen Brüssel und Moskau kracht wie kaum zuvor, ist allerdings kein abstrakter »Tiefpunkt«. Die Ereignisse Ende vergangener Woche haben vielmehr eine neue Phase eingeleitet. War man bisher gewohnt, dass die EU – wie der Westen insgesamt – stets von neuem auf Russland eindrosch, mal wegen Syrien, mal wegen Libyen, mal wegen Nawalny, der Anlass spielte letztlich keine Rolle, so setzt sich Moskau nun offensiv zur Wehr: Das Außenministerium hat pünktlich zu Borrells Besuch ein Video veröffentlicht, das brutale Polizeigewalt im Westen dokumentiert. Lawrow hat zudem die Sanktionsorgien des Westens als »Werkzeuge aus der kolonialen Vergangenheit« attackiert, und die Ausweisung der Diplomaten hat klargestellt, dass Moskau eine direkte Einmischung in seine inneren Angelegenheiten nicht mehr toleriert. Soll heißen: Eine punktuelle Kooperation, wie sie Borrell mit Lawrow besprach, gibt es nur unter der Bedingung, dass Mindeststandards eingehalten werden – vor allem die Achtung auch der russischen Souveränität.
    Lawrows Warnschuss ähnelt demjenigen, den Wladimir Putin abgab, als er Anfang 2007 auf der Sicherheitskonferenz ankündigte, Moskau werde sich, wenn der Westen mit seinen »Farbrevolutionen« und seinen völkerrechtswidrigen Kriegen (Jugoslawien, Irak) gegen russische Interessen fortfahre, zu wehren wissen. Im Westen nahm man das nicht ernst, bis Russland nach dem Umsturz in der Ukraine die Krim aufnahm. Danach war das Geschrei groß, und der Westen begann den Konflikt mit Moskau zu eskalieren. Auch diesmal tobt die EU, erneut werden Eskalationsforderungen laut. Entscheiden sich Berlin und Brüssel auch dieses Mal, nicht den Ausgleich mit Moskau zu suchen, sondern im Konflikt noch einen Gang hochzuschalten, dann darf man sich sicher sein: Mit dem »historischen Tiefpunkt« ist der absolute Tiefpunkt längst nicht erreicht. Man kann statt eines Rivalen, mit dem man immerhin ab und zu noch kooperiert, auch einen offenen Feind zum Nachbarn haben.
    Fehlstart der Kampagne
    Russland: Umfragen zeigen, dass Nawalnys Anti-Putin-Film keine politische Wirkung gehabt hat. »Bewegung« macht Pause
    Von Reinhard Lauterbach
    Der Paukenschlag, der Alexej Nawalnys Video über den angeblichen Putin-Palast am Schwarzen Meer sein sollte, ist ausgeblieben. Das belegen Umfragen, die das mit dem Oppositionellen erkennbar sympathisierende Lewada-Institut in Moskau Anfang Februar gemacht hat. Die am Montag veröffentlichten Ergebnisse zeigen erstens, dass die über 100 Millionen Klicks, die das Video auf Youtube gehabt hat, nur zum geringeren Teil aus Russland selbst kamen. Und dass von den befragten erwachsenen Russen nur 26 Prozent das Video gesehen haben und weitere zehn Prozent sich als halbwegs über den Inhalt informiert erklärten. Jeweils gut 30 Prozent erklärten, nichts oder fast nichts über den Film zu wissen.
    Natürlich gibt es Unterschiede in den Alterskohorten. Der Anteil derjenigen, die den Film gesehen haben, ist unter jungen Menschen und Internetaffinen höher als bei jenen, die ihre Informationen aus dem staatlichen Fernsehen beziehen. Aber was noch wichtiger ist: 77 Prozent der Befragten gaben an, ihre Einschätzung des russischen Präsidenten Wladimir Putin habe sich durch den Film nicht geändert. Bei drei Prozent soll die Wertschätzung des Staatschefs sogar gewachsen sein, 17 Prozent erklärten, ihre Haltung zu Putin sei kritischer geworden. Im Klartext: Der Film hat diejenigen in ihrer Haltung bestärkt, die dem Präsidenten sowieso negativ gegenüberstehen, aber der Durchbruch in der Breite der Gesellschaft ist Nawalny nicht gelungen. Als Politiker vertrauen ihm nach einer anderen Umfrage des Lewada-Instituts fünf Prozent der Russen, verglichen mit 29 Prozent, die in einer offenen Frage ihr Vertrauen gegenüber Putin aussprachen. Bei der üblicherweise parallel gestellten geschlossenen Frage »Billigen Sie die Arbeit Wladimir Putins?« liegt die Menge derjenigen, die mit Ja antworten, praktisch unverändert bei 64 Prozent.
    Besonders geschadet haben sich die Anhänger Nawalnys durch ihre anfänglich selbst an Schulkinder gerichteten Aufrufe, zu den Protesten zu kommen – da sei »was los«. Mit dieser Erwartung haben nicht wenige jugendliche Festgenommene gegenüber der Polizei ihre Anwesenheit begründet. Große Teile der Eltern- und Großelterngeneration haben darin offenbar eine mutwillige Gefährdung ihrer Kinder bzw. Enkel gesehen. Dem die Ergebnisse interpretierenden Autor Denis Wolkow vom Lewada-Institut – ob er mit dem Stabschef Nawalnys, Leonid Wolkow, verwandt ist, der die Proteste von Berlin aus koordiniert, ist nicht bekannt – fiel dazu nichts anderes ein als eine Publikumsbeschimpfung: Das negative bis gleichgültige Echo der Bevölkerungsmehrheit zeige deren traditionelle »Trägheit«.
    Als Reaktion auf die vielen Verhaftungen von Demonstrierenden und das allenfalls durchwachsene Echo in der Masse der Bevölkerung hatte der Stab Nawalnys zunächst angekündigt, die Proteste bis zum Frühling auszusetzen. Am Dienstag hatte es sich Stabschef Wolkow anders überlegt und forderte für kommenden Sonntag zu einer »ganz neuen Kundgebungsform« auf: Die Menschen sollten in die Innenhöfe ihrer Wohnblocks gehen und mit den Lampen ihrer Handys in die Luft leuchten.
    Parallel dazu rief Wolkow in einer von der polnischen EU-Vertretung veranstalteten Videokonferenz Vertreter diverser EU-Staaten, Großbritanniens, der USA, Kanadas und der Ukraine dazu auf, weitere Sanktionen gegen Personen aus dem Umfeld Putins zu verhängen. Ob es Beschlüsse oder Zusagen gegeben hat, wurde nicht mitgeteilt.
    Einstweilen beschränken sich Russland und die EU auf die spiegelbildliche Ausweisung von Diplomaten. Russland hatte damit begonnen, weil mehrere Mitarbeiter von EU-Gesandtschaften an den Nawalny-Protesten am 31. Januar teilgenommen haben sollen. Inzwischen forderten mehrere EU-Staaten ihrerseits russische Diplomaten zum Verlassen ihrer Länder auf. Politischere Sanktionen sind unwahrscheinlich. Wie am Montag ein Vertreter des Auswärtigen Amts auf einer Onlineveranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung zur »russischen Zivilgesellschaft« sagte, sei ein Ausschluss Russlands aus dem Europarat überaus zweischneidig. Denn damit verlöre der Westen einen entscheidenden Hebel, Russland »Menschenrechtsverstöße« vorhalten zu können.

  72. Ein Medien-Guantanamo
    Ukrainischer Präsident ordnet Abschaltung von drei Fernsehsendern wegen »Desinformation« an. US-Botschaft: »Passt schon«
    Von Reinhard Lauterbach
    Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat die Abschaltung von drei als oppositionsnah geltenden Fernsehsendern angeordnet. Der Erlass vom 2. Februar betrifft wie vergangene Woche gemeldet die Sender 112 UA, ZIK und News On. Alle gehören dem Geschäftsmann Taras Kosak, der auch Abgeordneter der größten Oppositionspartei »Oppositionsplattform für das Leben« ist. Ganz geschlossen sind die Sender nicht; man kann sie zwar nicht mehr über die ukrainischen Kabelnetze empfangen, aber im Internet sind sie weiter präsent – noch.
    Zur Begründung berief sich Selenskij auf Erkenntnisse seines Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, die er jedoch nicht im einzelnen offenlegte. Präsidentensprecherin Julia Mendel sagte, die Sender seien »Werkzeuge des Kriegs gegen die Ukraine« und aus Russland finanziert gewesen. Die Abschaltung erfolge zum Schutz der »nationalen Sicherheit«.
    Schon die Einführung der Blockade war freilich nach ukrainischem Recht gesetzwidrig, weil Senderschließungen nur aufgrund eines Gerichtsurteils stattfinden dürfen. Dasselbe gilt für die »Sanktionen«, die gleichzeitig gegen die Person und das Vermögen des Senderbesitzers Taras Kosak verhängt wurden. Nach ukrainischem Recht sind nämlich solche Eingriffe grundsätzlich nur gegenüber Ausländern oder ausländischen juristischen Personen möglich. Kosak ist dagegen ukrainischer Staatsbürger, und seine Sender sind ebenfalls in der Ukraine registriert – gewesen. Die Sanktionen verfolgen darüber hinaus das offenkundige Ziel, Kosaks geschäftliche Existenz zu vernichten und seine politische Tätigkeit zu unterbinden: Auf fünf Jahre wurde ihm die Verfügung über sein gesamtes Vermögen ebenso entzogen wie das passive Wahlrecht.
    Warum sich Selenskij entschloss, drei gegenüber seiner Person kritische Sender von der Antenne zu nehmen, ist in der Ukraine relativ unstrittig: Selenskij wolle die Möglichkeit der »Oppositionsplattform« einschränken, ihre Positionen unters Volk zu bringen. Denn die Plattform würde, wenn demnächst Wahl wäre, als stärkste Partei ins Kiewer Parlament einziehen. Auch die persönlichen Zustimmungswerte Selenskijs sind von den 73 Prozent, mit denen er 2019 gewählt wurde, auf inzwischen nur noch knapp 20 Prozent gesunken. Den Sendern prorussische Propaganda vorzuwerfen, ist auch nicht so einfach: Sie luden gezielt auch ukrainisch-nationalistische Politiker ein, und von denen vornehmlich die dümmsten, wie etwa die öfter mit hysterischen Ausfällen gegen russischsprachige Kassiererinnen aufgefallene Autorin Larisa Nizoj. So demonstrierten sie für die Aufsichtsbehörde Pluralismus und diskreditierten gleichzeitig das Berufsukrainertum vor ihrem hauptsächlich im russischsprachigen Osten und Süden der Ukraine lebenden Publikum.
    Vor allem aber machten sie sich zur Stimme des Protests gegen die ständigen Erhöhungen öffentlicher Tarife in der Ukraine, wie sie auf Forderung des Internationalen Währungsfonds durchgesetzt werden. Zuletzt war es zum Jahreswechsel eine Erhöhung der Preise für Gas und Warmwasser um 50 Prozent. Und sie brachten diese Politik mit der »Fernsteuerung« der Ukraine durch ihre westlichen Geldgeber in Verbindung. Mit diesem im Kern nationalistischen Argument – im Umkehrschluss: eine wirklich ukrainische Regierung würde ihren Bürgern dies nicht zumuten – war die Linie des Senders prinzipiell auch anschlussfähig im patriotischen Spektrum des ukrainischen Medienpublikums.
    Als Reaktion auf das Vorgehen Selenskijs gegen die drei Sender gab es eine Protestresolution des ukrainischen Journalistenverbandes, aber auch Rückhalt von etwas mächtigeren Institutionen. Die Kiewer US-Botschaft schrieb auf Twitter, die USA unterstützten »die Bemühungen der Ukraine, der böswilligen Einflussnahme Russlands entgegenzuwirken, um ihre Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen«. Beide Länder müssten zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass »Desinformation als Waffe gegen souveräne Staaten eingesetzt« werde. Einen Tag später wies die Botschaft dann den Gedanken zurück, sie habe Selenskij zu der Aktion angestiftet.
    Naheliegend ist diese Vermutung trotzdem. Wenn nun die USA, die zum Beispiel in Polen alle Angriffe der Regierungspartei PiS auf den dem US-Medienkonzern Discovery gehörenden und die liberale Opposition unterstützenden Fernsehsender TVN regelmäßig als Anschlag auf die »Redefreiheit« verdammen, hier einer Zensurmaßnahme grünes Licht geben, deutet das darauf hin, dass in der Ukraine ausgetestet werden soll, wie die »Informationskriege« der Zukunft ausgefochten werden können und wieviel Zensur sich das Publikum zumuten lässt. Ähnlich dem Verfahren, mit dem die Regierung von George W. Bush ihr Gefangenenlager für mutmaßliche Al-Qaida-Kämpfer außerhalb des Geltungsbereichs der US-Verfassung in Guantanamo einrichtete, um den Insassen die auf US-Boden formal geltenden Bürgerrechte und Berufungsmöglichkiten vorzuenthalten, ist nicht ausgeschlossen, dass die ersten Exempel des »Kampfes gegen die Desinformation« in der Ukraine statuiert werden sollen. Schon gibt es Überlegungen, den abgeschalteten Sendern auch den Zugang zu Googles Videoplattform Youtube und zu Twitter zu sperren.

  73. Links zu Texten über die deutsche Bundeswehr u.ä.
    a) … neuerdings unterwegs in Portugal
    https://tages-politik.de/Innenpolitik/Bundeswehreinsatz_gegen_Corona_in_Portugal-Febr._2021.html
    b) Debatte über anzuschaffende Kampfdrohnen
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/kampfdrohne
    c) Die Partei ‘Die Linke’ diskutiert über ihre eigene Meinungsvielfalt zu Ansichten zu Krieg und Frieden
    https://www.heise.de/tp/features/Wer-will-es-schon-Krieg-nennen-5050639.html

  74. Erste Kratzer
    Washington verhängt nach Protesten in Myanmar Sanktionen. US-Verbündete in Asien ziehen nicht mit
    Von Jörg Kronauer
    In Myanmar dauern die Proteste gegen den Putsch unvermindert an. Am Donnerstag gingen in zahlreichen Städten des Landes den sechsten Tag in Folge Zehntausende auf die Straßen, um von den herrschenden Militärs die Freilassung der inhaftierten Staatsrätin Aung San Suu Kyi und aller anderen festgenommenen Politiker sowie die Rückkehr zur Demokratie zu fordern. Verlangt wird inzwischen zunehmend auch, die Verfassung aus dem Jahr 2008, die den Militärs zahlreiche Sonderrechte gewährt, durch eine neue zu ersetzen, um die Streitkräfte zu entmachten.
    Dabei gewinnen die Proteste offenbar an Breite. Zuletzt schlossen sich laut der Onlineplattform The Irrawaddy zahlreiche Mitarbeiter diverser Behörden und Ministerien an. Vereinzelt wurde gemeldet, Polizisten seien zu den Demonstranten übergelaufen. Die Polizei geht dabei immer härter gegen die Proteste vor, setzt neben Schlagstöcken, Wasserwerfern und Gummigeschossen zumindest punktuell auch scharfe Munition ein. Eine Demonstrantin liegt seit Dienstag in kritischem Zustand im Krankenhaus.
    Internationale Reaktionen
    Die Repressionskräfte erhöhten zudem den Druck auf die entmachtete Regierungspartei National League for Democracy (NLD). Nach der Durchsuchung und Verwüstung der NLD-Parteizentrale wurden am Mittwoch abend mindestens sechs hochrangige NLD-Politiker festgenommen, darunter ein enger Berater von Suu Kyi. Darüber hinaus versuchen die Militärs laut Berichten, Teile der zahlreichen Sprachminderheiten vor allem aus den Grenzgebieten zu China, die in Myanmar ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, auf ihre Seite zu ziehen. Einige von diesen haben sich den Protesten angeschlossen, andere bleiben hingegen auf Distanz – eine Folge davon, dass die NLD Belange der Minderheiten regelmäßig ignoriert hatte. Ob es den Militärs letzten Endes gelingen wird, die Minderheiten, gegen die sie ihrerseits zumeist mit großer Brutalität vorgegangen sind, zu spalten, scheint allerdings fraglich.
    Währenddessen dauern die diplomatischen Auseinandersetzungen um die internationalen Reaktionen auf den Putsch an. US-Präsident Joseph Biden kündigte am Mittwoch (Ortszeit) an, die USA würden noch diese Woche neue Sanktionen in Kraft setzen – zusätzlich zu denen, die vor Jahren gegen mehrere führende Militärs wegen der Massaker an der muslimischen Rohingya-Minderheit verhängt wurden. Die Strafmaßnahmen sollen weitere Verantwortliche für den Putsch treffen. Darüber hinaus soll Vermögen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar (824 Millionen Euro), das der myanmarische Staat in den USA besitzt, dem Zugriff des Putschregimes entzogen werden. Biden stand unter Druck, seiner lautstark vorgetragenen Demokratierhetorik im ersten Ernstfall seiner Amtszeit Taten folgen zu lassen. Zudem kündigte er an, sich nicht nur weitere Sanktionen vorzubehalten, sondern auch bei anderen Staaten für deren Einsatz zu werben. Neuseeland hat bereits eigene Zwangsmaßnahmen in Kraft gesetzt, die EU wird sich laut dem Außenbeauftragten Josep Borrell auf dem Außenministertreffen am 22. Februar mit dem Putsch in Myanmar befassen.
    Antichinesische Vorbehalte
    Unklar sind die Erfolgsaussichten. Der wirtschaftliche Einfluss der Vereinigten Staaten und der EU in Myanmar ist trotz der Öffnung des Landes für westliche Unternehmen vor gut einem Jahrzehnt gering. Dass China, der Staat mit dem mit Abstand größten Wirtschaftseinfluss in Myanmar, Sanktionen gegen das Land verhängen wird, kann nach aktuellem Stand als ausgeschlossen gelten, wenngleich Beijing in den vergangenen Jahren vor allem mit der jetzt entmachteten Suu Kyi kooperierte – immer erfolgreicher, wie Sebastian Strangio, Südostasienexperte des Washingtoner Asienportals The Diplomat, und weitere Kenner des Landes bestätigen. Aus US-Sicht unerfreuliche Schwierigkeiten zeichnen sich allerdings mit Indien ab, das sich in den vergangenen Jahren die Vorbehalte der myanmarischen Militärs gegen Beijing zunutze gemacht und seine Kooperation mit ihnen systematisch intensiviert hat. Die Vorbehalte der Generäle resultieren aus dem dominanten Wirtschaftseinfluss Chinas sowie daraus, dass die Volksrepublik bis heute gute Beziehungen zu einigen Minderheiten in Myanmar unterhält.
    Indien, neben Japan eine zweite zentrale Säule der US-amerikanischen Anti-China-Strategie, lässt tatsächlich deutliche Vorbehalte dagegen erkennen, die myanmarischen Generäle ernsthaft unter Druck zu setzen. So vermeidet die Regierung in Neu-Delhi nicht nur penibel das Wort »Putsch«, sie konnte sich auch nach einem Gespräch zwischen Ministerpräsident Narendra Modi und Biden am Montag nicht zu einer kritischen Äußerung über den Staatsstreich durchringen. Kommentatoren indischer Leitmedien drängen darauf, Sanktionen gegen Myanmar unbedingt zu vermeiden, um in dem Land nicht Einfluss an China zu verlieren. Ähnliches ist aus Japan zu hören, wo einflussreiche Politiker ebenfalls warnen, Sanktionen würden die myanmarischen Generäle, zu denen man gute Kontakte aufgebaut habe, der Volksrepublik in die Arme treiben. Das asiatische »Bündnis der Demokratien«, das Biden gegen China in Stellung bringen will, droht in der Außendarstellung erste Kratzer zu bekommen.

  75. Militäraufblähung
    NATO zu Rüstung und Afghanistan
    Arnold Schölzel
    War da was mit der NATO? Seit 2016 taten die deutschen Großmedien so, als stehe mit Donald Trump im Weißen Haus das baldige Ende des Paktes ins Haus. Als Emmanuel Macron kürzlich das Bündnis »hirntot« nannte, breitete sich Endzeitstimmung aus. Nur Annegret Kramp-Karrenbauer blieb standhaft und riskierte Krach: Sie sei gegen die vom Franzosen vorgeschlagene »strategische Autonomie« der Westeuropäer, ohne USA sei die »Verteidigung« eine »Illusion«. Ami, bleib bitte dabei – beim fast 20jährigen Zertrümmern Afghanistans, auf der Beute »Camp Bondsteel« im Kosovo, einer der größten US-Militärbasen in Europa, beim Aufmarsch an der russischen Grenze und demnächst in den Gewässern vor China. Die Zeit klärte im November in einem Kommentar auf: Macron und Kramp-Karrenbauer »haben gemeinsam, dass beide mehr Geld dafür ausgeben wollen.«
    Das wird bei der Videokonferenz der NATO-Verteidigungsminister gestern und heute ratifiziert. Laut NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist es der Hauptpunkt ihrer Tagesordnung. Die Süddeutsche Zeitung, die am Mittwoch ein Interview mit ihm veröffentlichte, schrieb in die Dachzeile darüber: »Neuanfang bei der NATO«. Der in die Allianz eingebettete Medienschaffende hält gern am Propagandaschwindel fest, den er produziert hat. Die erste Frage an Stoltenberg lautete daher: »Hätte die NATO eine zweite Amtszeit von Donald Trump überstanden?« Als hinge deren Existenz davon ab, welche Figur im Weißen Haus gerade die Interessen der eigenen Landsleute oder die anderer zertritt. Die NATO war und ist eine Erscheinungsform des tief im zeitgenössischen Kapitalismus verwurzelten Militarismus. Dessen Aufblähen ließ vor mehr als 130 Jahren den historischen Materialisten Friedrich Engels ebenso wie Helmuth von Moltke vor einem Weltkrieg warnen. Das ist heute aktueller denn je. Die damals aufkommende Herrenvolkideologie kommt in den NATO-Staaten voran oder ist bereits dominant. Das war nach dem Sieg über den Faschismus selbst im Kalten Krieg so nicht möglich. Die konterrevolutionäre NATO-Gründungsaufgabe, die Zerstörung der Sowjetunion und ihrer Verbündeten sowie die Rekonstruktion des deutschen Imperialismus, war deswegen 1990 nicht erledigt, im Gegenteil. Der neue Kalte Krieg ist da und die NATO sein Garant.
    Ihre »Leistung« im »heißen« Krieg allerdings ist dürftig. Im Kosovo kehrt keine Ruhe ein, der in Afghanistan ist verloren. Ein wichtiges Ziel allerdings wurde erreicht: Es bleiben Militärbasen, die strategische Einkreisung Russlands und Chinas ist gewährleistet. Um die geht es neben der Sicherung von Handelswegen und »unseren« Rohstoffen. Also hören 29 Minister artig dem neuen US-Kollegen zu, ob die USA aus Afghanistan abziehen wollen. Dann werden die 29 entscheiden, ihre Truppen am Hindukusch zu lassen. Sie können nicht anders, solange das ­Monstrum nicht aufgelöst ist.
    Die Dauerkriege des Westens (I) (16.02.2021)
    Gipfeltreffen erörtert Perspektiven für europäische Militärintervention im Sahel. Dort wächst der Widerstand gegen die Truppen aus der EU.
    BERLIN/PARIS/BAMAKO (Eigener Bericht) – Auf einem heute zu Ende gehenden Sahel-Gipfel suchen Berlin und Paris nach Perspektiven für die desaströs verlaufende Militärintervention in Mali und dessen Nachbarstaaten. Der dortige Einsatz hatte Anfang 2013 mit dem Ziel begonnen, die Jihadisten, die damals Malis Norden beherrschten, zu besiegen und ihren terroristischen Aktivitäten ein Ende zu setzen. Nach rund acht Jahren vor allem europäischer Operationen im Sahel haben sich jihadistische Milizen zusätzlich in Zentralmali und außerdem in den Nachbarländern Niger sowie Burkina Faso festgesetzt; sie nutzen dabei ältere, sich zuspitzende sozioökonomische Konflikte, um neue Anhänger und Kämpfer zu rekrutieren. Immer wieder kommt es zu Massakern zwischen Milizen verschiedener Sprachgruppen mit Todesopfern in bis zu dreistelliger Zahl. Die Bundeswehr ist mit bis zu 1.500 Soldaten im Rahmen einer UN-Mission und eines EU-Ausbildungseinsatzes zugegen. Während vor Ort zunehmend Proteste gegen die europäische Truppenpräsenz laut werden, schwanken Berlin und Paris zwischen weiterer Militarisierung und ersten Diskussionen über eine Exit-Strategie.
    Französische Kampftruppen
    Hintergrund des aktuellen Sahel-Gipfeltreffens, das am gestrigen Montag in Tschads Hauptstadt N’Djamena begonnen hat und heute zu Ende gehen soll, ist zunehmende Unruhe – auch, aber nicht nur in Paris – über die Entwicklung der groß angelegten Militärintervention in der Region. Die Hauptrolle im Krieg gegen jihadistische Milizen im Sahel hat weiterhin Frankreich inne, das seine Kampftruppen im Rahmen seiner Opération Barkhane Anfang vergangenen Jahres von 4.500 auf 5.100 Soldaten aufgestockt hat. Im Grundsatz wird es dabei von der Einsatztruppe der “G5 Sahel”-Staaten (Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad) unterstützt; allerdings läuft dies bislang noch nicht rund. Paris wünscht schon seit geraumer Zeit seine Truppen im Sahel zu reduzieren – zum einen, um seine Streitkräfte zu entlasten, zum anderen, um Kosten zu sparen: Frankreichs Ausgaben für den Krieg im Sahel wurden von 2018 bis 2020 auf gut eine Milliarde US-Dollar pro Jahr geschätzt.[1] Präsident Emmanuel Macron hat in seiner Neujahrsansprache bekräftigt, eine “Anpassung” der “militärischen Anstrengungen” seines Landes anzustreben.[2] Dies ist auch Gegenstand des aktuellen Gipfels, zu dem die Staatschefs der G5 Sahel-Länder nun in N’Djamena zusammengekommen sind; Macron und Deutschlands Außenminister Heiko Maas nehmen per Videoschaltung teil.
    Deutsche Militärtrainer
    Berlin ist in besonderem Maß involviert, weil sich die seit inzwischen gut acht Jahren andauernde Militärintervention in Mali zum zweiten bedeutenden Schwerpunkt der Bundeswehr neben dem Einsatz in Afghanistan entwickelt hat. Zum einen sind bis zu 1.100 deutsche Soldaten im Rahmen der UN-Mission MINUSMA vor allem in Malis Norden stationiert; MINUSMA hat im Kern die Aufgabe, ihr Einsatzgebiet zu stabilisieren. Punktuell leistet MINUSMA der Opération Barkhane Unterstützung, etwa bei der Logistik; allerdings handelt es sich nicht um einen Kampfeinsatz. Für ihre Operationen stehen den deutschen Soldaten unter anderem Spähpanzer des Typs Fennek und Aufklärungsdrohnen des Typs Heron zur Verfügung. Begleitend hat die Luftwaffe einen Lufttransportstützpunkt in Nigers Hauptstadt Niamey eingerichtet, der deshalb besonders nützlich ist, weil er näher am nordmalischen Kriegsgebiet liegt als Malis Hauptstadt Bamako.[3] Darüber hinaus beteiligt sich die Bundeswehr am EU-Ausbildungseinsatz EUTM Mali; Berlin hat die Obergrenze für das deutsche Kontingent im Frühjahr 2020 von 350 auf 450 Soldaten angehoben, was allerdings bislang nur theoretische Bedeutung hat, da EUTM Mali wegen der Covid-19-Pandemie zur Zeit nur recht eingeschränkt tätig ist. Von den rund 16.000 malischen Soldaten, die EUTM Mali inzwischen ausgebildet hat, sind aktuell weniger als 10.000 einsatzbereit.[4]
    Milizen und Massaker
    Die Bilanz der Militärintervention, die mit ihren drei großen Säulen (Opération Barkhane, MINUSMA, EUTM Mali) aktuell ins neunte Jahr geht, ist desaströs. Es ist nicht gelungen, Malis Norden wirksam zu stabilisieren. Stattdessen haben sich jihadistische Milizen inzwischen auch im Zentrum des Landes festgesetzt, wo sie – teilweise aus ökologischen Gründen eskalierende – sozioökonomische Konflikte nutzen, um Anhänger und Kämpfer zu rekrutieren (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Längst haben die bewaffneten Konflikte auch Malis Nachbarstaaten Niger und Burkina Faso erreicht [6]; zuletzt brachten am 2. Januar 2021 Milizionäre mehr als 100 Einwohner zweier Dörfer in der Region Tillabéri im Südosten Nigers um. Zu den Milizen, die im Sahel operieren, gehören die mit Al Qaida verbundene Jamaat Nusrat al Islam wal Muslimin (JNIM) sowie ein regionaler Ableger des IS, gegen die schwerpunktmäßig Angriffe der Opération Barkhane geführt werden. Wie die International Crisis Group in einer aktuellen Untersuchung berichtet, kommt konfliktverschärfend hinzu, dass sich die Streitkräfte der Sahel-Staaten bei ihren Operationen vor Ort nicht selten auf lokale Milizen stützen, die wiederum ihrer eigenen Agenda folgen. Dies spitzt die Konflikte, nicht zuletzt solche zwischen verschiedenen Sprachgruppen, weiter zu.[7]
    “Marionette der Neokolonialisten”
    Zusätzlich wächst im Sahel der Unmut über die westliche Truppenpräsenz. Kommt es bereits seit Jahren immer wieder zu heftigen Protesten in Malis Norden gegen MINUSMA [8], so haben diese inzwischen längst auch das Zentrum des Landes erreicht. Als im vergangenen Jahr Demonstranten gegen Malis damalige Regierung unter Präsident Ibrahim Boubacar Keïta auf die Straße gingen, attackierten sie diese nicht nur wegen ihrer Korruption, sondern auch als “Marionette eines neokolonialen Frankreich”, dessen Militäroperationen im Land sie aufs Schärfste anprangerten.[9] Dabei werden, wenngleich in etwas geringerem Maß, immer wieder auch Proteste gegen Truppen anderer europäischer Staaten laut; die International Crisis Group beschreibt die Stimmung als “weitverbreitete Feindseligkeit gegenüber der westlichen Intervention im Sahel”. Dies beschränkt sich nicht auf Mali. Als im Frühjahr 2020 in Niger Demonstranten gegen die dortige Regierung unter Präsident Mahamadou Issoufou auf die Straße gingen, die sie schwerer Korruption bezichtigten, protestierten sie auch gegen deren internationale Verbündete. Zu diesen gehört nicht zuletzt die Bundesregierung, die mit Issoufou unter anderem bei der Flüchtlingsabwehr kooperiert [10]; zuletzt telefonierte Kanzlerin Angela Merkel am 2. Februar mit ihm, um die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Niger zu erörtern [11].
    Schlimmer denn je
    Auf dem aktuellen Sahel-Gipfeltreffen steht das weitere militärische Vorgehen zur Debatte. Paris will, nicht zuletzt mit Blick auf den dramatischen Absturz seiner Wirtschaft infolge der Covid-19-Pandemie, seine Kosten deutlich senken und fordert auch deshalb weiterhin Unterstützung durch andere Staaten ein. Zuletzt hat es eine neue Task Force gegründet (“Task Force Takuba”), an der sich Sondereinheiten anderer EU-Mitglieder beteiligen und deren Aufgabe insbesondere darin besteht, Spezialkräfte der Sahel-Staaten zu trainieren und sie in Einsätze zu begleiten. Damit soll die Opération Barkhane entlastet werden. Allerdings läuft das Vorhaben relativ schleppend an: Zusätzlich zu 115 französischen sind bislang lediglich 30 estnische und 30 tschechische Elitesoldaten im Takuba-Rahmen im Einsatz; erst Anfang Februar hat die Entsendung von bis zu 150 schwedischen Militärs begonnen.[12] Die Bundeswehr beteiligt sich nicht – eine Fortsetzung ihres traditionellen Kurses, in Afrika nach Möglichkeit nicht unter französischer Führung und allenfalls parallel zu französischen Einsätzen zu intervenieren. Unklar ist freilich die langfristige Perspektive. Mittlerweile werden erste Debatten über eine “Exit-Strategie” geführt.[13] Käme es zum Abzug der Streitkräfte aus der EU – auch der Bundeswehr -, dann hätten diese nur eines erreicht: Die Sahel-Staaten befinden sich in einem schlimmeren Zustand denn je zuvor.
    Die Dauerkriege des Westens (II) (17.02.2021)
    NATO-Verteidigungsminister wollen Entscheidung über Abzug aus Afghanistan verschieben. Der EGMR bestätigt: Deutsches Massaker in Kunduz bleibt straflos.
    BERLIN/KABUL (Eigener Bericht) – Vor dem heute beginnenden Treffen der NATO-Verteidigungsminister zeichnet sich eine Verlängerung der Militärintervention in Afghanistan ab. War von dem virtuellen Treffen zunächst ein Beschluss über den Abzug der Truppen erwartet worden, so heißt es nun, man warte zunächst die Entscheidung Washingtons in der Sache ab. Die Trump-Administration hatte vergangenes Jahr eine Vereinbarung mit den Taliban geschlossen und einen Abzug bis zum 30. April angestrebt. Die Biden-Administration fordert nun Änderungen am Abkommen und will dabei den Abzug hinauszögern: Verließen die westlichen Truppen das Land wie geplant, wäre die erneute Machtübernahme der Taliban kaum zu vermeiden – eine schwere Niederlage für den Westen. Allerdings droht ein verlängerter Verbleib am Hindukusch den Krieg erneut eskalieren zu lassen. Während Afghanistan bei einem Abzug in katastrophalem Zustand zurückgelassen würde, bleibt ein Massaker an afghanischen Zivilisten, das auf Befehl eines deutschen Obersts geschah, laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) straflos.
    Kurswechsel in Washington
    Die aktuelle Debatte über eine mögliche Verschiebung des NATO-Truppenabzugs aus Afghanistan folgt einem erneuten abrupten Kurswechsel in den Vereinigten Staaten. Den Abzug der US-Einheiten – damit zugleich aber auch implizit denjenigen der NATO-Truppen – hatte die Trump-Administration in ihrem am 29. Februar 2020 mit den Taliban geschlossenen Abkommen einseitig festgelegt; als Termin war der 30. April 2021 geplant. Das hatte bei den NATO-Verbündeten, nicht zuletzt bei der Bundesregierung, für einige Unruhe gesorgt: Die Bundeswehr ist, wie die Einheiten der anderen am Hindukusch operierenden Staaten, bei ihrem Einsatz auf die Kooperation mit den US-Streitkräften angewiesen; ohne diese sind wichtige militärische Fähigkeiten nicht abgedeckt. Jetzt zieht die Biden-Administration erneut einen plötzlichen Kurswechsel in Betracht. Zur Begründung dient ein Bericht der Afghanistan Study Group, die der US-Kongress im Dezember 2019 eingesetzt und die im April 2020 die Arbeit aufgenommen hat – nach der Unterzeichnung des Abkommens mit den Taliban. In dem am 3. Februar präsentierten Bericht heißt es nun, man müsse, um den eigenen Interessen am Hindukusch Geltung zu verschaffen, die Abzugsbedingungen modifizieren; insbesondere sei der bislang geplante Abzugstermin zu verschieben. Damit steht nun plötzlich ein längerer Verbleib auch der Bundeswehr in Afghanistan im Raum.[1]
    Wertlose Verträge
    Washingtons erneuter plötzlicher Kurswechsel ist mit äußeren wie auch inneren Schwierigkeiten verbunden. Nach außen stellt er zum wiederholten Mal die Vertragstreue der westlichen Vormacht in Frage. Bereits der Bruch des Atomabkommens mit Iran durch die Trump-Administration hatte nicht nur in Teheran die Frage aufgeworfen, was ein Vertrag mit den USA noch wert sei, wenn ein Regierungswechsel genüge, um ihn vollständig zu entwerten. Die aktuellen Pläne der Biden-Administration stellen jetzt ein zweites von den Vereinigten Staaten geschlossenes Abkommen zur Debatte; Anlass ist wieder ein Regierungswechsel in Washington. Darüber hinaus brockt der plötzliche Kurswechsel auch den Verbündeten beträchtliche Probleme ein. So hat etwa auch die Bundeswehr längst mit dem Abzug begonnen; wichtiges Material, darunter schwere Artillerie, ist bereits abtransportiert. Auch sind Truppenteile, die bei einer Fortsetzung des Einsatzes benötigt würden, schon nach Deutschland zurückverlegt worden; laut Berichten sind etwa 60 Elitesoldaten des Kommando Spezialkräfte im Dezember in die Bundesrepublik heimgekehrt.[2] Sollten die Taliban nicht zu einer Vertragsrevision bereit sein und bei einem etwaigen Ausbleiben des NATO-Abzugs ihre Angriffe auf die westlichen Streitkräfte wieder aufnehmen, hätten diese ein ernstes Problem.
    Ein strategisches Dilemma
    Dabei gilt die Lage, in der sich der Westen am Hindukusch befindet, ohnehin als politisch prekär. Wird der Abzug wie geplant bis zum 30. April realisiert, dann haben die westlichen Staaten keine Mittel, mit denen sie eine mögliche erneute Machtübernahme der Taliban in Kabul verhindern können; ihr fast 20 Jahre währender Krieg am Hindukusch wäre dann faktisch gänzlich erfolglos geblieben – dies zu einer Zeit, zu der auch westliche Kriege in weiteren Weltregionen, etwa im Sahel [3], nicht zu der bei Kriegsbeginn jeweils lautstark versprochenen Verbesserung der Verhältnisse führen. Nehmen die Taliban aber bei einer einseitigen US-Verschiebung des Abzugs ihre Kampfhandlungen gegen die westlichen Truppen wieder auf, dann bestünde die einzige Alternative zu einem – in der Außenwirkung fatalen – überstürzten Rückzug des Westens unter Feuer in einer Fortführung des Kriegs. Diesen hatte schon die Obama-Administration zu beenden versucht, um sich auch militärisch voll und ganz auf den Machtkampf gegen China konzentrieren zu können, den sie unter dem Stichwort “Pivot to Asia” zu verstärken begann.[4] Bereits Obama scheiterte mit dem Abzug. Die Trump-Administration hat ihn ebenfalls zwecks Fokussierung auf China in die Wege geleitet. Gelänge er auch dieses Mal nicht, dann blieben US-Kräfte auch weiterhin in Zentralasien gebunden und stünden nicht gegen die Volksrepublik bereit.
    In desaströsem Zustand
    Jenseits dieses strategischen Dilemmas befindet sich Afghanistan nach einer mehr als 19 Jahre währenden westlichen Truppenpräsenz in einem desaströsen Zustand. Experten schätzen den Anteil der Distrikte, die bereits jetzt von den Taliban kontrolliert werden, auf mehr als die Hälfte. Laut Angaben der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) kamen im Jahr 2020 – trotz des US-Abzugsabkommens mit den Taliban – 2.958 Zivilisten durch Kampfhandlungen oder Attentate ums Leben, mehr als im Jahr zuvor (2.817). Seit 2018 wurden am Hindukusch mindestens 65 Journalisten sowie Menschenrechtler ermordet. Der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsschwelle lebt, lag bereits im Jahr 2017 mit 54,5 Prozent höher als im Jahr 2002 – und seither ist er noch weiter gestiegen. Im November 2020 waren laut Angaben von Hilfsorganisationen 11,1 Millionen Afghanen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.[5] Während die Zahl der Familien stieg, die pandemiebedingt ihren Lebensunterhalt verloren hatten, nahm die Zahl derjenigen rasant zu, die ihre Kinder arbeiten lassen mussten, um genug Geld zum Überleben zur Verfügung zu haben. Nach wie vor verfügen 41 Prozent aller Schulen nicht über Schulgebäude. Der Analphabetismus unter den 15- bis 24-Jährigen liegt bei 35 Prozent.[6]
    Das Massaker von Kunduz
    Unterdessen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sichergestellt, dass Massaker westlicher Militärs an afghanischen Zivilisten straflos bleiben können. Der EGMR hatte sich mit dem Massaker von Kunduz vom 4. September 2009 befassen müssen, bei dem auf Befehl des deutschen Obersts Georg Klein eine Menschenmenge rund um zwei havarierte Tanklaster bombardiert worden war. Dabei kamen laut offiziellen Angaben 91, laut unabhängigen Zählungen 142 Menschen zu Tode – weitgehend oder sogar vollständig Zivilisten. Klein hatte den Angriff befohlen, obwohl zwei US-Bomberpiloten eindringlich vor ihm gewarnt und sich zunächst sogar geweigert hatten, ihn auszuführen, weil große Zweifel an seiner Angemessenheit und Zulässigkeit bestanden. Sämtliche Versuche, die Tat durch die deutsche Justiz zu ahnden oder doch zumindest den Überlebenden und den Nachkommen der Todesopfer Entschädigung zusprechen zu lassen, scheiterten. Gestern hat nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geurteilt, dies sei korrekt; Deutschland habe mit den justiziellen Ermittlungen, die freilich zu nichts führten, seinen Verpflichtungen Genüge getan.[7] Damit bleibt eines der schlimmsten Massaker aus dem Afghanistankrieg straflos: ein deutliches Omen für künftige Kriege der Bundeswehr.
    “Ehrgeiz in der Sicherheitspolitik” (15.02.2021)
    Verteidigungsministerin und Bundeswehr-Generalinspekteur veröffentlichen gemeinsames Positionspapier zur “Bundeswehr der Zukunft”.
    BERLIN (Eigener Bericht) – Der Konflikt mit Russland gewinnt in den militärischen Planungen Berlins gegenüber den bisherigen Auslandseinsätzen im globalen Süden an Gewicht. Dies geht aus einem Positionspapier (“Gedanken zur Zukunft der Bundeswehr”) hervor, das Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn vergangene Woche veröffentlicht haben. Hatte die Bundesregierung das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr seit den 1990er Jahren zunächst vor allem auf Auslandseinsätze vorrangig in Nah- und Mittelost und in Afrika ausgerichtet, so orientiert sie seit 2014 verstärkt auf die strategischen Anforderungen der Großmachtkonflikte mit Russland und China. Dabei habe sich die Lage inzwischen noch weiter “zugespitzt”, heißt es in dem Positionspapier. Es gelte daher etwa, die Rolle der Bundesrepublik als strategische militärlogistische “Drehscheibe” in Richtung Osten auszubauen. Das aktuelle Positionspapier soll bei der stärkeren Fokussierung der Bundeswehr insbesondere auf den Machtkampf gegen Russland nur ein erster Anstoß sein; im Laufe der nächsten Monate sollen weitere Schritte folgen.
    Auslandseinsätze in aller Welt
    Unmittelbar nach dem Ende des Kalten Kriegs hatte die Bundesrepublik begonnen, die Bundeswehr, deren Hauptaufgabe zuvor in der militärischen Positionierung gegen die realsozialistischen Staaten Ost- und Südosteuropas und die Sowjetunion bestanden hatte, auf Auslandseinsätze weit jenseits des NATO-Bündnisgebiets auszurichten. Dies fand einen ersten Ausdruck in den Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Jahr 1992, in denen die “Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt” zu einem Ziel der deutschen “Sicherheitspolitik” erklärt wurde.[1] Die Orientierung auf Auslandseinsätze prägte die praktischen Einsätze der Bundeswehr von den Kriegen gegen Jugoslawien und in Afghanistan über die Marineoperationen am Horn von Afrika bis zur Intervention in Mali; ihren Niederschlag fand sie nicht zuletzt im Weißbuch der Bundeswehr aus dem Jahr 2006 und in den Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Jahr 2011. Letztere maßen Auslandseinsätzen – unter Schlagworten wie “internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung” – besonderes Gewicht bei.
    Wendepunkt 2014
    Seit einigen Jahren vollziehen Deutschland und der NATO-Machtblock eine strategische Umorientierung auf den Großmachtkonflikt mit Russland. Anlass waren Moskaus Reaktionen auf die westliche Umsturzpolitik in der Ukraine, insbesondere die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation 2014. Die Vorbereitung auf einen Konflikt mit Russland wird dabei zur rein defensiven Maßnahme erklärt, die Rolle des Aggressors wird einzig und allein Russland zugeschrieben; dabei sind die Spannungen eine logische Konsequenz und damit eine absehbare Folge der westlichen Ostererweiterungspolitik seit 1990. Offiziell festgeschrieben wurde die neue Politik Berlins im Bundeswehr-Weißbuch von 2016. Darin ist die Rede allgemein von einer “Renaissance klassischer Machtpolitik” und einer erhöhten “Gefahr gewaltsamer zwischenstaatlicher Konflikte – auch in Europa und seiner Nachbarschaft”; konkret heißt es, Russland habe sich zur “Herausforderung für die Sicherheit auf unserem Kontinent” entwickelt. Zwar heißt es zugleich noch einschränkend, “nachhaltige Sicherheit und Prosperität in und für Europa” seien “auch künftig nicht ohne eine belastbare Kooperation mit Russland zu gewährleisten”.[2] Dennoch steht die im Rahmen des eskalierenden Konflikts mit Russland vollzogene Umorientierung auf die sogenannte Landes- und Bündnisverteidigung im Weißbuch gleichgewichtig neben der Orientierung auf zuvor dominante Militärinterventionen insbesondere in Nah- und Mittelost und in Afrika.
    “Zugespitzte Sicherheitslage”
    Am 9. Februar haben nun Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn ein Positionspapier veröffentlicht, das unter dem Titel “Gedanken zur Bundeswehr der Zukunft” großes Gewicht auf die “Landes- und Bündnisverteidigung” und damit auf den Machtkampf gegen Russland legt. Es sei eine neue “verdichtete sicherheitspolitische Gesamtsituation” entstanden, die bisher “öffentlich noch wenig wahrgenommen” werde, jedoch “real” sei, heißt es in dem Papier.[3] Es sei daher “wichtig, über die zugespitzte Sicherheitslage und die Notwendigkeit der Investitionen [in Auf- und Umrüstung des Bundeswehr] offen und in klarer Sprache Rechenschaft abzulegen”. China sei zu einem “machtvollen und immer häufiger sichtbar ausgreifenden Akteur” geworden; Russland verschärfe seine “militärische[n] und politische[n] Drohungen” gegen den Westen. Daraus ergäben sich “sehr konkrete Bedrohungen für Deutschland”. Von punktueller Kooperation mit Russland ist keine Rede mehr; stattdessen bemängeln Kramp-Karrenbauer und Zorn nachdrücklich, man “spüre”, dass die Bundeswehr – zuletzt mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Jahr 2011 – “einseitig auf Auslandseinsätze im internationalen Krisenmanagement ausgerichtet” worden sei.[4] “Mit Blick auf die Landes- und Bündnisverteidigung” zeige aktuell der Corona-Inlandseinsatz der Bundeswehr (german-foreign-policy.com berichtete [5]) “deutlich die Schwachstellen im Hinblick auf territoriale Strukturen und Führungsprozesse”. Für die “Landes- und Bündnisverteidigung” benötige Deutschland allerdings auch Soldaten, die “im Kampf bestehen”.
    Erhöhte Einsatzbereitschaft
    Wie es in dem Papier weiter heißt, seien zwar “erste Schritte” auf dem Weg zu einer “vielfältig einsetzbaren” Bundeswehr getan; es sollten nun aber weitere folgen. Die Einsatzbereitschaft der Truppe müsse “noch wirksamer erhöht werden”. Dabei reiche es nicht aus, “einfach die Streitkräfte der Vergangenheit [zu] vergrößern”: Die Bundeswehr benötige “dringend” High-Tech-Fähigkeiten und Innovationen. Zu priorisierende “kritische” Bereiche seien unter anderem eine “umfassende moderne Luftverteidigung” und die Fähigkeit zum “schnellen Transport leistungsfähiger Kräfte”. Die Bundeswehr sei “trotz erheblicher Zuwächse” im Verteidigungshaushalt “weiterhin unterfinanziert”; um zeit- und kostenaufwendige Beschaffungsvorhaben durchführen zu können, benötige sie ein verlässlich planbares, weiter steigendes Budget. Ein “Bundeswehrplanungsgesetz” solle deshalb den Um- und Aufrüstungsvorhaben ein “solides, mehrjähriges Fundament” geben. Zudem weisen Kramp-Karrenbauer und Zorn mit “besonderem Nachdruck” darauf hin, “Verteidigung” als “gesamtstaatliche Aufgabe” dürfe nicht ausschließlich aus den Mitteln des Verteidigungshaushaltes bestritten werden, sondern müsse “breit getragen” werden. Nicht zuletzt erwarteten auch die militärischen NATO-“Partner … zurecht größere deutsche Ambitionen”.
    “Breites militärisches Profil”
    Mehr Geld für mehr Personal, Material und Innovationen sollen der Bundeswehr ein “breites militärisches Profil” geben, heißt es schließlich; das sei “kein Luxus, sondern eine strategische Notwendigkeit”, denn die “Bundeswehr der Zukunft” solle eine Vielzahl von Aufgaben übernehmen: Sie solle “andockfähig” sein, um Deutschland als Rahmennation multinationaler Verbände eine militärische Führungsrolle innerhalb Europas zu sichern; zudem solle die Bundesrepublik zur strategischen militärlogistischen “Drehscheibe” in der “Mitte Europas” werden. Darüber hinaus sehen Kramp-Karrenbauer und Zorn die deutschen Streitkräfte auch als “first responder”: Sie sollten “schneller als alle anderen bei Krisenfällen insbesondere an den Außengrenzen von NATO und EU zur Stelle sein” – und zwar im Baltikum und in Südosteuropa, im Mittelmeer wie in Nord- und Ostsee gleichermaßen. Darüber hinaus soll die Bundeswehr trotz der strategischen Schwerpunktsetzung auf die Konflikte mit Russland und China auch weiterhin “Truppensteller” im “internationalen Krisenmanagement” bleiben. Die Verteidigungsministerin und der Bundeswehr-Generalsekretär sprechen ausdrücklich von “Ehrgeiz … in der Sicherheitspolitik”.

  76. Verordnete Aufholjagd
    Deutschland und Frankreich wollen Wasserstoffproduktion ankurbeln und Rückstand bei Halbleitern und Cloud-Computing verringern
    Von Jörg Kronauer
    Deutschland und Frankreich treiben mit neuen Schritten die Aufholjagd der Europäischen Union bei ökologischen und digitalen Technologien voran. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire trafen am Dienstag zusammen (online), um neue Industrieprojekte und eine Anpassung der EU-Industriestrategie zu besprechen. Ein Schwerpunkt lag auf drei Vorhaben in den Bereichen Wasserstoffwirtschaft, Cloud-Computing und Mikroelektronik, die besonders kraftvoll gefördert und deshalb zum »Important Project of Common European Interest« (IPCEI) erklärt werden sollen. Das IPCEI-Format ist von der EU eingeführt worden, um die Zahlung staatlicher Beihilfen zu erleichtern.
    Der Nutzung von Wasserstoff wird eine bedeutende Rolle beim Umbau der Energieversorgung zugeschrieben. Der Aufbau einer »europäischen Cloud« (Massendatenspeicher in sogenannten Serverfarmen) soll es Unternehmen aus der Staatengemeinschaft ermöglichen, sich von US-amerikanischen Cloudsystemen zu lösen und damit dem (direkten) Zugriff von US-Geheimdiensten zu entgehen. Die ehrgeizigen Projekte sollen zum Teil aus dem sogenannten Coronawiederaufbaufonds der EU finanziert werden.
    Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht aktuell das dritte Vorhaben, das als IPCEI besonders gefördert werden soll – der Ausbau einer eigenen »europäischen« Halbleiterproduktion. Dass eine solche in der EU nur in eher geringem Maß vorhanden ist, hatte zuletzt wegen eines akuten Mangels an Halbleitern in der Automobilindustrie Schlagzeilen gemacht. Weil die betroffenen Hersteller und ihre Zulieferer wegen der Pandemie zu wenig davon bestellt hatten und die Nachlieferungen auf sich warten ließen, mussten einige große Fertigungsstätten zu Jahresbeginn die Produktion herunterfahren. Altmaier hatte Ende Januar in Taiwan um Hilfe bitten müssen, wo mit TSMC der größte Halbleiterauftragsproduzent der Welt seinen Sitz hat.
    In der Tat werden laut Angaben der Semiconductor Industry Association (SIA) zur Zeit gerade einmal acht Prozent aller Halbleiter in Europa hergestellt, 77 Prozent hingegen in Asien – in China, Taiwan, Südkorea und Japan. Das soll sich nun ändern.
    »Unsere Abhängigkeit von Asien ist übermäßig und nicht hinnehmbar«, hatte Le Maire vor seinem Treffen mit Altmaier mit Blick auf den Halbleitermangel geäußert. »Sie macht uns verwundbar.« Dies gilt aus der Perspektive von Wirtschaftsstrategen um so mehr, als die Halbleiterindustrie, wie Ex-Siemens-Chef Josef Käser kürzlich im Handelsblatt (27. Januar) erläuterte, »ein viel wichtigerer Schlüssel« für die Digitalisierung sei »als Software und die Cloud«: Weil »immer mehr Funktionalität auf dem Chip« integriert werde, bestimme die Branche quasi »die DNA der Digitalisierung«. Um den Rückstand der Halbleiterindustrie in der EU wettzumachen, sind freilich gewaltige Investitionen und ein langer Atem vonnöten. Die Unternehmensberatung McKinsey beziffert die erforderliche Investitionssumme auf mindestens 50 Milliarden US-Dollar (41 Milliarden Euro) und schätzt den zeitlichen Rückstand in wichtigen Sparten wie Prozessoren, Speicher und KI-Chips auf mindestens zehn Jahre. Altmaier hatte Anfang Februar mitgeteilt, er hoffe, mit allerlei Maßnahmen – darunter auch das neue Mikroelektronik-IPCEI – »einen deutlich zweistelligen Milliardenbetrag« zusammenzubekommen.
    Neben den drei IPCEI-Vorhaben bekräftigten Altmaier und Le Maire am Dienstag auch ihr Ziel, gemeinsam die EU-Raumfahrtpolitik voranzutreiben. Unter anderem soll eine abgestimmte Position zu Trägersystemen und zur »New Space Economy« entwickelt werden. Die Weltraumwirtschaft gilt als hochprofitabler Zukunftsmarkt. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat daher mehrfach den Aufbau eines »Weltraumbahnhofs« in der Bundesrepublik gefordert.
    Altmaier und Le Maire einigten sich schließlich noch auf ein gemeinsames Positionspapier, das zusätzlich zur Förderung der Digitalisierung großen Wert auf die Stärkung von Ökotechnologien legt, darunter zum Beispiel die Entwicklung von Biokraftstoffen für die Luftfahrt. Nicht zuletzt wird in dem Papier die Absicht betont, die industrielle Autonomie der EU zu stärken. Aus der beliebten Formel »ökologisch-digital« wird damit die künftig womöglich häufiger zu hörende Trias »ökologisch, digital und resilient«.

  77. Nato will “Bürden teilen”
    Die Finanzierung der Luftüberwachung oder des Unterhalts einer Flotte aus der Gemeinschaftskasse soll “Anreize für Alliierte setzen, mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen”.
    Iran-Atomabkommen: Große Nato-Länder sprechen sich ab
    Nach einer weiteren Zuspitzung des Atomstreits mit dem Iran beraten Deutschland, Frankreich und Großbritannien mit den USA über das weitere Vorgehen.
    Auf Zeit gespielt (19.02.2021)
    Konflikt um das Atomabkommen mit Iran dauert an. Fortbestehende Sanktionen treiben die Bevölkerung ins Elend und womöglich in die Revolte.
    BERLIN/TEHERAN (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung fordert Iran im Streit um den Bruch des Atomabkommens durch die USA zum wiederholten Mal zur Erfüllung der US-Forderungen auf. Teherans Versuch, mit gezielten eigenen Verstößen gegen Bestimmungen des Abkommens den Druck auf Washington zur Aufhebung der Sanktionen zu erhöhen, sei ein Spiel “mit dem Feuer”, warnte Außenminister Heiko Maas am gestrigen Donnerstag. Anschließend erklärte er in einer gemeinsamen Stellungnahme mit seinen Amtskollegen aus Frankreich, Großbritannien und den USA, Iran dürfe die “Verifikationsmaßnahmen” der IAEA auf keinen Fall einschränken. Iran hatte damit unter Hinweis darauf gedroht, es sei “inakzeptabel”, wenn ein Abkommen lediglich von einer Vertragspartei eingehalten werde, von den anderen aber nicht. Auch Deutschland hält den Vertrag de facto nicht ein – weil es Berlin nicht gelungen ist, das Iran-Geschäft europäischer Unternehmen gegen die US-Sanktionen abzusichern. Der Westen kann im Machtpoker um das Atomabkommen auf Zeit spielen – weil die US-Sanktionen die Bevölkerung verelenden lassen und sie womöglich in die Revolte treiben.
    “Genug von schönen Worten”
    Iran hat in den vergangenen Tagen den Druck auf die Vereinigten Staaten erneut erhöht, das Atomabkommen aus dem Jahr 2015 wieder einzuhalten und die vertragsbrüchig in Kraft gesetzten Sanktionen umgehend aufzuheben. Schon im Mai 2019, ein Jahr nach dem Bruch des Abkommens durch die Trump-Administration, hatte Teheran begonnen, auch seinerseits einige Verpflichtungen aus der Vereinbarung nicht mehr zu erfüllen; so wurden in den Atomanlagen etwa modernere Zentrifugen in Betrieb genommen oder die Urananreicherung auf 20 Prozent heraufgesetzt, um die USA zur Einstellung der Sanktionen zu bewegen.[1] Jetzt hat die iranische Regierung angekündigt, ab kommendem Dienstag (23. Februar) kurzfristig anberaumte Inspektionen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nicht mehr zu gestatten sowie freiwillige Transparenzmaßnahmen zu stoppen: Es sei “inakzeptabel”, wenn nur eine Seite eine Vereinbarung einhalte, alle anderen aber nicht, wird Außenminister Mohammed Javad Zarif zitiert.[2] Teheran habe “genug von schönen Worten und Versprechen”, teilt Revolutionsführer Ali Khamenei mit. Präsident Hasan Rohani stellt in Aussicht, “binnen Stunden” den Vertrag wieder vollständig zu erfüllen, sollten die westlichen Vertragsparteien dies ebenfalls tun: “Wenn nicht, gehen wir unseren eigenen Weg.”
    “Das kann dauern”
    US-Präsident Joe Biden, zu dessen Amtszeit als Vizepräsident das Atomabkommen ausgehandelt und schließlich auch unterzeichnet worden war, hat zwar vor seiner Wahl eine Rückkehr zu der Vereinbarung in Aussicht gestellt, bremst nun aber. Bereits am 27. Januar hatte Außenminister Antony Blinken erklärt, Iran müsse den ersten Schritt tun und alle Verstöße gegen das Abkommen beenden; dann würden die Vereinigten Staaten erst die Einhaltung aller Verpflichtungen durch Teheran überprüfen, bevor sie ihrerseits die Beendigung ihres Vertragsbruchs in Erwägung ziehen würden.[3] Blinken stellte klar, dies könne “eine Weile dauern”. Am 7. Februar hat Biden diese Position bekräftigt: Auf die Frage, ob Washington, das das Atomabkommen zuerst gebrochen hat, auch zuerst zu ihm zurückkehren und die Sanktionen gegen Iran aufheben werde, antwortete der US-Präsident mit “Nein”.[4] Zusätzlich hat die Biden-Administration klargestellt, dass ihr die einfache Rückkehr zu dem sehr aufwendig ausgehandelten Vertrag nicht genügt; sie verbindet sie vielmehr mit der Forderung, Teheran müsse sich auf neue Verhandlungen zur Reduzierung seines Einflusses im Nahen und Mittleren Osten einlassen. Dazu wiederum ist – nach aktuellem Stand – Teheran nicht bereit.
    Washington vor Gericht
    Iran kann sich in den Auseinandersetzungen unter anderem auf Rechtssprüche des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag stützen. Teheran hatte das oberste Gericht der Vereinten Nationen bereits 2018 wegen des Bruchs des Atomabkommens durch die Trump-Administration angerufen. Daraufhin hatte der IGH Anfang Oktober 2018 die Vereinigten Staaten in einer einstweiligen Verfügung aufgefordert, zumindest einige Sanktionen außer Kraft zu setzen – diejenigen, die etwa den zivilen Luftverkehr in Iran gefährdeten oder die die humanitäre Hilfe dort beeinträchtigten.[5] Prinzipiell muss Beschlüssen des IGH Folge geleistet werden; allerdings hat der Gerichtshof im Zweifelsfall keine Machtmittel, dies durchzusetzen. Washington erklärte im Herbst 2018, der IGH sei in der Angelegenheit “nicht zuständig”, und legte offiziell Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung ein. Dies hat das Gericht nun Anfang Februar abgewiesen. Ned Price, Sprecher des US-Außenministeriums, behauptete darauf zwar, Washington habe “großen Respekt” vor dem UN-Gericht. Eine zumindest partielle Aufhebung der US-Sanktionen gemäß dem IGH-Spruch erfolgte allerdings nicht. Das Hauptverfahren, dessen Beginn der IGH noch nicht festgelegt hat, kann Jahre dauern.[6]
    Verelendung durch die Sanktionen
    Washington kann bei dem zeitraubenden Poker um die Rückkehr zum Atomabkommen darauf setzen, dass wegen der Sanktionen die Verelendung der iranischen Bevölkerung und damit zugleich der politische Druck auf die iranische Regierung täglich weiter zunimmt. Schätzungen zufolge ist etwa der iranische Ölexport, die wichtigste Einnahmequelle des Landes, wegen der US-Sanktionen von rund 2,6 Millionen Barrel pro Tag im Januar 2017 auf gerade einmal 290.000 Barrel pro Tag eingebrochen; der Rial hat mehr als zwei Drittel seines Werts verloren, Irans Wirtschaftsleistung ist seit 2018 um elf Prozent abgestürzt. Der durchschnittliche Lebensstandard ist deutlich gesunken, während inzwischen laut Schätzungen von Experten 55 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle leben.[7] Die Covid-19-Pandemie hat die Lebensverhältnisse weiter verschlechtert und die Verelendung verstärkt. Gelinge es der Regierung nicht, nach dem ersehnten Ende der Pandemie die Armut wieder zu senken, “dann könnte sie sich politischer und sozialer Instabilität gegenübersehen”, wurde kürzlich ein iranischer Ökonom zitiert; man müsse eine “Explosion der Verbitterung” befürchten, urteilt ein Wirtschaftsfunktionär aus Teheran.[8]
    Vor dem Scheitern
    Berlin hat in den vergangenen Jahren versucht, sich als Garantiemacht des Atomabkommens eine eigenständige weltpolitische Position zu sichern. Bereits vor Jahren hatte die Bundesregierung großspurig angekündigt, ein Instrument zu schaffen, das es ermöglichen solle, unter Umgehung der US-Sanktionen Geschäfte mit Iran zu tätigen. 2019 gründeten Berlin, Paris und London dazu im EU-Rahmen das Finanzvehikel INSTEX (Instrument in Support of Trade Exchanges) mit Sitz in Paris.[9] In der Praxis ist INSTEX wirkungslos geblieben und gescheitert – ein schwerer Schlag für den Anspruch der Bundesrepublik, in der internationalen Politik eigene Positionen auch gegen die Vereinigten Staaten durchsetzen zu können. Aktuell führt die Bundesregierung ihre Bemühungen um das Atomabkommen ansatzweise fort; so hat Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch mit Irans Präsident Rohani telefoniert und dabei um “positive Signale” geworben, “die Vertrauen schaffen und die Chancen auf eine diplomatische Lösung erhöhen”.[10] Gestern hat Außenminister Heiko Maas freilich den Druck auf Teheran erhöht: “Iran spielt mit dem Feuer”. Für Washingtons Weigerung, die Sanktionen umgehend aufzuheben, müsse man Verständnis haben: Es sei für Biden “nicht so einfach”, Maßnahmen der Trump-Administration “auf den Kopf zu stellen”.[11] Damit steht nach INSTEX nun auch das Bemühen Berlins, prinzipiell eine eigenständige Position im Atomkonflikt mit Iran zu bewahren, vor dem Scheitern.

  78. Was die Aufrüstung und den Imperialismus angeht, so läßt sich feststellen, daß das System der konzessionierten Souveränität offenbar ausgedient hat und Besatzungsregimes in den Vordergrund treten – auch deshalb, weil die Rivalen immer mehr vorrücken.
    Es geht also darum, Territorien zu besetzen, wie seinerzeit im Kolonialismus.
    Das ist allerdings kostspielig, und es fragt sich, wie lange sich das so wie bisher über Schulden finanzieren läßt.
    Die Formulierung „treiben mit neuen Schritten die Aufholjagd … voran“, ist ein etwas verhatschtes Bild. Aber es gibt die Wirklichkeit durchaus wieder. Die technologische Rückständigkeit soll mit Absichtserklärungen und vorgestellten Kraftakten wieder gut gemacht werden.
    Dabei fehlt es an allem.
    Wie war das noch einmal Schröder mit seiner Agenda 2010: „Wir haben den besten Billiglohnsektor!“ – und die Spitzentechnologie kaufen wir ein, so war das wohl weitergedacht. Sollen doch andere die Kosten dafür tragen!
    Was seinerzeit als Erfolgsweg gepriesen wurde, hat sich inzwischen als Sackgasse erwiesen.

  79. Er ist wieder da
    Virtuelle »Sicherheitskonferenz« soll transatlantischen Pakt erneuern. US-Präsident nicht zum ersten Mal dabei
    Von Jörg Kronauer
    US-Präsident Joseph Biden hat am Freitag im Rahmen des G-7-Videogipfels und einer anschließenden Onlineminiversion der Münchner »Sicherheitskonferenz« seinen ersten größeren Auftritt in Europa seit Amtsantritt absolviert. Im Zentrum der Gespräche und der Reden standen die globale Impfkampagne gegen die Covid-19-Pandemie und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Bidens Teilnahme wurde als »Rückkehr« der Vereinigten Staaten in eine aktive Bündnispolitik bzw. in den vorgeblich gemeinsamen globalen Kampf gegen die Pandemie interpretiert und von Politik wie Leitmedien weithin gelobt. In München ist der US-Präsident ein alter Hase: Er hatte bereits 2009, 2013 und 2015 als Vizepräsident an der Sicherheitskonferenz sowie 1980 an deren Vorläuferin, der »Wehrkundetagung«, teilgenommen.
    Die G-7-Staaten beschränken sich, was die globale Covid-19-Impfkampagne anbelangt, zur Zeit weitgehend auf ihre eigene Immunisierung, die zudem im Fall der Europäischen Union auch noch peinlich schleppend verläuft. Deshalb sind sie gegenüber China und Russland in Rückstand geraten. Diese haben längst begonnen, auch ärmere Länder zu versorgen. Um dem damit verbundenen Verlust an Ansehen und Einfluss entgegenzuwirken, hatte Biden bereits vor dem G-7-Gipfel mitgeteilt, die USA würden vier Milliarden US-Dollar für die globale Impfkampagne zur Verfügung stellen. Die Bundesregierung zahlt 1,5 Milliarden Euro, die EU weitere 500 Millionen, 200 davon als Kredit. Das löst das Kernproblem freilich nicht, das darin besteht, dass westliche Vakzine überhaupt erst wieder erhältlich sind, wenn die reiche Welt ihre Impfkampagnen beendet und keinen eigenen Bedarf mehr hat. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte daher vorgeschlagen, sofort gut fünf Prozent der vorhandenen Impfdosen an die ärmere Welt abzugeben. Der britische Premierminister Boris Johnson drang auf größere Mengen. Freilich ist das für ihn nicht schwer: Britannien wird im Sommer die Impfungen abschließen können; der Konzern Astra-Zeneca (Cambridge) kooperiert bei den Vakzinen schon jetzt mit zahlreichen weniger wohlhabenden Ländern.
    An der Miniversion der Münchner Sicherheitskonferenz – sie soll noch dieses Jahr in gewohntem Format nachgeholt werden, sofern die BRD die Pandemie mit Erfolg bekämpft – nahmen neben Biden unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel, Macron und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg teil. Hatte die Tagung 2020 unter dem Titel »Westlessness« die schwindende globale Dominanz der transatlantischen Mächte thematisiert, so stand sie dieses Jahr unter dem Motto »Beyond (jenseits, jW) Westlessness«; Untertitel: »die transatlantische Kooperation erneuern«. Exakt dies, eine Zusammenarbeit mit Washington, in der deutsche bzw. EU-Interessen möglichst umfassend berücksichtigt werden, erhoffen sich Berlin und Brüssel von Biden. Dabei würden die Konflikte mit Russland und China »einen ganz prioritären Platz« einnehmen, hatte Sicherheitskonferenz-Leiter Wolfgang Ischinger prognostiziert. Ischinger geht davon aus, dass sich die China-Politik der neuen US-Administration nicht sehr von der Trumpschen unterscheiden wird. Weil Berlin unverändert auf seiner Wirtschaftskooperation mit der Volksrepublik besteht, zeichnen sich neben dem Wunsch zum Schulterschluss auch erste Spannungen ab.
    Beschworene Einheit
    Politisierung von Nord Stream 2
    Von Reinhard Lauterbach
    Ein Gutes hat die Pandemie immerhin: Die dreitägige Propagandaveranstaltung unter dem Titel »Münchner Sicherheitskonferenz«, vormals Wehrkundetagung, schrumpft dieses Jahr auf drei Stunden zusammen, vorher gibt’s im selben Aufwasch einen virtuellen Gipfel der G-7-Staaten. Eine klimaschonende Alternative zu einer Liveshow, an der nach dem Urteil von Experten das Wichtigste ist, was ohnehin hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wird. Das ist den Jetlag nicht wert, Joseph Biden ist ja auch nicht mehr der Jüngste.
    Im übrigen kann er ja immer noch seine Lobbyisten vorschicken, damit sie medial ein bisschen Lärm schlagen. Zum Beispiel Norbert Röttgen (CDU). Der forderte jetzt, über die Ostseepipeline Nord Stream 2 ein Moratorium zu verhängen und Russland eine »international rechtsverbindliche Verpflichtung« abzuverlangen, die Leitung »niemals als geopolitische Waffe gegen unsere Partner in Zentral- und Osteuropa auszunutzen«. Sprich: die Ukraine, für die die Einnahmen aus dem Transit russischen Gases essentieller Bestandteil des Staatshaushalts sind, dauerhaft zu alimentieren; oder Polen, das zwar selbst den Bezug russischen Gases 2022 auslaufen lässt, aber natürlich am Transit immer noch gern verdienen würde. Lächerlich. Niemand, der an einer Landstraße eine Frittenbude betreibt, kann dagegen klagen, wenn der Staat daneben eine Autobahn baut und ihm deshalb die Kunden wegbleiben. Zumal sich Russland, wenn es wirklich so aggressiv wäre, wie es die Ukraine unterstellt, vom Gastransit durch das Nachbarland nicht abhalten ließe, dieses erobern zu wollen. Im Gegenteil. Dieser Transit wäre für einen unterstellten russischen Angreifer erst recht ein Argument, bei der Eroberung keine halben Sachen zu machen. Das ist, mit Verlaub, Bullshit.
    Immerhin wird selbst Norbert Röttgen realistischer, wenn auch in kleinen Schritten. Vom Abbruch des Projekts spricht er nicht mehr. Man solle Russland, wenn es die genannte Selbstverpflichtung unterschreibe, »erlauben, die Pipeline zu Ende zu bauen«. Sehr gnädig. Da hat der studierte Jurist Röttgen offenbar übersehen, dass es im Recht den Begriff des »Vertrauensschutzes« gibt: Nord Stream 2 ist rechtskräftig genehmigt, da gibt es nachträglich nichts mehr draufzusatteln. Würde sich die Bundesregierung auf so etwas einlassen, setzte sie sich milliardenschweren Schadensersatzforderungen der Betreiber aus. Wer politisiert hier eigentlich das Projekt?
    Und was ist bei der virtuellen Siko sonst noch im Progamm? Auch nichts Neues: Bekenntnisse zu noch mehr Aufrüstung, Pflege der Feindbilder Russland und China, Klagen über alte und neue »Bedrohungen« der westlichen Hegemonie alias »liberale Weltordnung« und Beschwörungen des dagegen angeblich nötigen »Zusammenhalts«. Wer den so methodisch beschwört, der weiß, was ihn untergräbt: die Interessen der Beteiligten.
    Auch in ihrer Miniversion stößt die Sicherheitskonferenz in München auf Widerstand: Für 14 Uhr am Sonnabend ruft das Aktionsbündnis gegen die NATO-Tagung zu einer Antikriegskundgebung auf dem Marienplatz auf.

  80. Klarheit statt Vernebelung
    Notwendiger Nachtrag zur Kritik am Entwurf des Wahlprogramms der scheidenden Vorsitzenden der Partei Die Linke
    Von Sevim Dagdelen, Ulla Jelpke, Ellen Brombacher, Lydia Krüger, Steffen Niese, Isabelle Casel, Andrej Hunko, Justo Cruz
    Die Verteidigung des Wahlprogrammentwurfs der beiden scheidenden Vorsitzenden der Partei Die Linke durch Bernd Riexinger in der jungen Welt vom 15. Februar ist besser als der Entwurf. Anlass zur Kritik an diesem Entwurf gibt es reichlich, und die Formulierung dieser Kritik sollte nicht als Falschbehauptung und Geltungsdrang abgetan werden. Dazu ist der Anlass auch viel zu ernst.
    Wir fragen uns dabei, warum die beiden Parteivorsitzenden mit ihrem Entwurf an die Öffentlichkeit vorgeprescht sind, ohne die inhaltliche Expertise der Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaften abgefragt oder den Text mit dem Parteivorstand vorher auch nur beraten zu haben. Und wer den Beitrag von Bernd Riexinger in der jW liest, mag kaum glauben, dass er und Katja Kipping den von ihnen verantworteten, 137 Seiten umfassenden Entwurf bis ins Detail studiert haben. »Wir sind gegen jegliche Auslandseinsätze der Bundeswehr, und wir werden uns an keiner Regierung beteiligen, die aufrüstet und auf Militarisierung setzt«, bekräftigte der Kovorsitzende in der jW ausdrücklich. Doch im Entwurf des Wahlprogramms findet sich diese klare Positionierung leider nicht. Und während Riexinger dem Antiimperialismus in der jW das Wort redet, taucht im Entwurf zum Wahlprogramm noch nicht einmal der Begriff »Imperialismus« auf. Weltweite soziale Gerechtigkeit sei durchzusetzen, indem man den »entfesselten Raubtierkapitalismus (…) endlich an die Leine« nehmen wolle.
    Hätte Riexinger einiges von dem, was er in der jW geschrieben hat, schon in den Programmentwurf genommen, dann gäbe es in der Tat weniger Anlass zur Widerrede. Allein, uns bleibt jetzt nur die konkrete Kritik am Wahlprogrammentwurf der Vorsitzenden, auch weil fälschlicherweise der Eindruck entstanden ist, es handele sich um ein Dokument der Partei Die Linke.
    Die Verteidigung des Entwurfs nach dem Muster, es stünde doch viel Gutes und Richtiges drin, ist nicht haltbar, da sich an zentralen Stellen widersprüchliche Formulierungen finden. Zentrale und nach wie vor aktuelle Forderungen aus unserem Wahlprogramm 2017 tauchen dafür nun nicht mehr auf.
    In der Gesamtschau ist dieser Entwurf daher als Versuch einer Relativierung der friedenspolitischen Positionen der Partei und der internationalen Solidarität zu werten. Nicht der Ruf nach »weniger Geld für Aufrüstung« (Seite 114), sondern die Forderung nach einem Abzug der US-Truppen aus Deutschland und der Schließung von Ramstein sowie aller anderen US-Militärbasen müssen in ein friedenspolitisches Programm für das 21. Jahrhundert. Wer einer »Modernisierung« der Friedenspolitik das Wort redet und dabei die internationale Solidarität mit Kuba vergisst, wen in verschiedenen Formulierungen eine Ambivalenz in puncto Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht stört, die oder der setzt sich dem Verdacht aus, dahinter gewichtige Änderungen bei den friedenspolitischen Positionen zu verbergen. Es ist auch befremdlich, jetzt zu erklären, man solle sich nicht zu sehr an einzelnen Formulierungen in einem 137-Seiten-Papier aufhängen, nachdem die anfängliche Verteidigungslinie, die inkriminierten Passagen stünden gar nicht im Entwurfstext, nicht mehr zu halten war.
    Der jW-Artikel »Absage an die Friedenspolitik«, der in einem ersten Aufschlag außen- und friedenspolitische Positionsverschiebungen im Kipping-Riexinger-Entwurf für das Programm zur Bundestagswahl kritisiert, hat viel Aufmerksamkeit gefunden – und hektische Aktivitäten waren die Folge. Mittlerweile wurde eine große Nebelmaschine angeworfen, um die Kernpunkte der Kritik unkenntlich zu machen. Elf Seiten umfasst eine Gegenüberstellung zu angeblichen Falschbehauptungen in der politischen Bewertung, die vom Karl-Liebknecht-Haus in die Partei und an die Fraktion im Bundestag verschickt und auf der Homepage der Partei dokumentiert wurde. Die Übersicht unter dem Titel »Argumente statt Schattenboxen. Was tatsächlich zu Abrüstung und Friedenspolitik im Entwurf des Linken-Bundestagswahlprogramms steht« wurde vom Bereich Strategie und Grundsatzfragen im Auftrag der Parteivorsitzenden erstellt und hat in wesentlichen, wenn auch nicht allen Punkten Eingang gefunden in Riexingers Replik in der jW. Ohne die aufgegriffenen Zitate aus dem Entwurf widerlegen oder entkräften zu können, werden den Autorinnen »Falschaussagen« und »Suggestionen« unterstellt, »die ›Fake News‹ nahekommen«, die der Partei Die Linke und der Friedensbewegung einen »Bärendienst« erweisen würden. Dass Riexingers jW-Artikel in Teilen schlicht im Widerspruch zu dem von ihm gemeinsam mit Kipping verantworteten Programmentwurf steht, erweckt den Eindruck eines Verwirrspiels. Warum wohl?
    1. Auslandseinsätze der Bundeswehr beenden, aber keine Absage an neue Auslandseinsätze?
    »Die Bundeswehr muss aus allen Auslandseinsätzen zurückgezogen werden und darf nicht in neue Auslandseinsätze entsandt werden« – hieß es eindeutig im Programm zu den Bundestagswahlen 2017. Im aktuellen Wahlprogrammentwurf von Kipping/Riexinger fehlt der entscheidende zweite Halbsatz. Somit bleibt eine Entsendung der Bundeswehr in neue Auslandseinsätze offen. Man könnte den Verweis auf diesen Halbsatz als pure Wortklauberei abtun, hätte es nicht genau darum Diskussionen in der Bundestagsfraktion gegeben. Und vor dem Hintergrund der Initiative von Matthias Höhn für mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr mit UN-Mandat muss hier ein klares Stoppzeichen gesetzt werden. Auslandseinsätze der Bundeswehr – und nicht nur »Kampfeinsätze«, wie es eingrenzend an anderer Stelle im Programmentwurf heißt (Seite 103) – werden von Die Linke ohne Wenn und Aber abgelehnt. Sie sind friedensgefährdend und treiben die Militärausgaben weiter nach oben. Eine Friedenspartei darf hier keinen Interpretationsspielraum zulassen.
    2. Warum Konfrontationspolitik gegenüber Russland nicht mehr klar benennen?
    Wir teilen ausdrücklich die Warnung von Riexinger in der jW, dass auch mit dem neuen US-Präsidenten Joseph Biden keineswegs eine Entspannung zu erwarten ist: »Biden setzt den Konfrontationskurs gegenüber China fort. Mit Biden werden US-Interventionskriege der angeschlagenen Weltmacht, die weiter militärisch dominiert, wahrscheinlicher. Das verweist auf die Kontinuität imperialer Interessen.« Weiter schrieb Riexinger: »Der Einsatz für ein friedliches Verhältnis zu Russland und China statt ständiger Drohgebärden (wie etwa NATO-Manöver an der russischen Grenze) und der Einsatz für globale Abrüstung gehören für uns zusammen. Niemals dürfen wir uns mit einer imperialistischen Regime-Change-Politik gemein machen, die sowohl von den USA wie der EU verfolgt wird.« Wir schlagen vor, diese politisch richtigen Feststellungen aus Riexingers jW-Beitrag direkt ins Wahlprogramm aufzunehmen. Denn bislang lauten die verharmlosenden, weil Äquidistanz verratenden Passagen: »Die USA und die EU versuchen, ihre Vormachtstellung gegen Russland und China zu verteidigen (sic!).« (Seite 103) bzw. »In den internationalen Beziehungen gibt es eine Eiszeit. Die USA und ihre Verbündeten auf der einen, China und Russland auf der anderen Seite haben den Sicherheitsrat und die Vereinten Nationen (UNO) in den vergangenen Jahren blockiert.« (Seite 111)
    An dieser Stelle sei an die klare Kritik der Konfrontationspolitik gegenüber Russland im Wahlprogramm von 2017 erinnert: »Ein geeintes soziales Europa kann nur als ein Projekt des Friedens eine wirkliche, demokratische Zukunft haben (…). Die NATO dehnt ihren Einflussbereich bis an die Westgrenze Russlands aus. (…) Viele Menschen in unserem Land sind beunruhigt wegen der Verschlechterung der Beziehungen Deutschlands und der EU zu Russland. Von einem gemeinsamen Haus Europa, von der Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges spricht heute keiner mehr. Statt dessen findet mitten in Europa, in der Ukraine, ein heißer Krieg statt. Zwischen der EU und Russland bestimmen Sanktionen und Gegensanktionen das Bild. Wo Abrüstung geboten wäre, dominiert auf beiden Seiten verbale und militärische Aufrüstung. Diplomatie und militärische Zurückhaltung sind ins Abseits geraten. Wir halten diese Konfrontationspolitik für fatal.«
    Wir erwarten, dass so wie in unserem 2017er Programm auch jetzt die Konfrontations- und Einkreisungspolitik der USA und der NATO-Verbündeten gegenüber Russland klar benannt wird. Die gewaltige Aufrüstung der NATO gegenüber Russland ist ein friedensgefährdender Aggressionsakt und muss von uns als solcher kritisiert werden. Eine Äquidistanz, mit der die mehr als 1.000 Milliarden Dollar Militärausgaben der NATO 2019 mit den 64 Milliarden Dollar Russlands gleichgesetzt werden, spricht der Realität Hohn.
    3. Rüstungsexporte nur perspektivisch einstellen?
    Die Linke muss bei ihrer prinzipiellen Ablehnung von Rüstungsexporten bleiben und darf ein generelles Ausfuhrverbot nicht auf die lange Bank schieben. Um in diesem Punkt Missverständnisse oder Fehlinterpretationen zu vermeiden, sind wir für die Streichung des Satzes »Perspektivisch wollen wir alle Rüstungsexporte aus Deutschland einstellen.« (Seite 104) Und wir schlagen für das Wahlprogramm die Präzisierung vor: »Die Linke fordert ein gesetzliches Verbot von Rüstungsexporten.«
    Das Geschäft mit dem Tod kostet weltweit Menschen das Leben. Alle 14 Minuten stirbt ein Mensch durch eine deutsche Waffe. Deshalb wollen wir Rüstungsexporte nicht nur »perspektivisch« einstellen, sondern umgehend und für alle Waffengrößen. Denn Kleinwaffen sind genauso tödlich wie große Waffen. Wir sollten hier keine Priorisierungen zulassen. Der Kipping-Riexinger-Entwurf lässt diesbezügliche Klarheit vermissen.
    4. Die EU weniger aufrüsten?
    Zwar findet sich im Entwurf die Absage, Ausgaben mit militärischen Bezügen aus dem EU-Haushalt zu finanzieren (Seite 118). Doch diese richtige Position wird im EU-Kapitel wieder dahingehend relativiert, dass man nur »weniger Geld für Aufrüstung und mehr Geld für öffentliche Investitionen« ausgeben wolle (Seite 114). Außerdem heißt es wenige Zeilen zuvor: »Es braucht in Europa endlich höhere Steuern für Reiche und Konzerne. Gelder aus dem EU-Haushalt müssten umgewidmet werden: weniger Ausgaben für militärische Aufrüstung – mehr für solidarische und ökologische Zukunftsprojekte.« (Seite 113) Das sind Formulierungen, die nicht nur im Widerspruch zum Grundsatzprogramm der Partei mit seiner Verpflichtung auf Abrüstung stehen. Es sind auch keine guten Handlungsanleitungen bei der Frage, wie Die Linke sich gegenüber einem EU-Haushalt verhalten sollte, der eben diese EU-Aufrüstung ins Werk setzt. Wir wollen keine EU, die weniger aufrüstet, sondern eine EU, die abrüstet. Hier muss das Wahlprogramm die eindeutige Orientierung geben, dass wir auch einen Haushalt, der etwas weniger Geld für Aufrüstung bereitstellt, ablehnen werden.
    5. Warum keinen Abzug der US-Truppen mehr fordern?
    Angesichts der von Bernd Riexinger skizzierten Bedrohungslage durch die USA wäre es folgerichtig, an der Forderung nach Schließung aller US-Militäreinrichtungen in Deutschland festzuhalten und das auch im Wahlprogramm expressis verbis zu bekräftigen. Wir können uns nicht vorstellen, dass die Forderung nach einem Abzug der US-Truppen aus Deutschland und der Schließung der US-Basen wie Ramstein von den beiden Vorsitzenden schlicht vergessen wurde. Die jetzige kurze Passage bezieht sich allein auf die Infrastruktur für den Drohnenkrieg, so wie sich dies auch in Wahlprogrammen der Grünen findet: »Einsatz und Steuerung von Kampfdrohnen aus der Militärbasis in Ramstein durch die US-Armee wollen wir endlich stoppen. Kein Drohnenkrieg von deutschem Boden.« (Seite 105) Lasst uns hier so präzise sein wie im Wahlprogramm 2017 mit Aussagen wie: »Vom Boden der Bundesrepublik Deutschland aus dürfen keinerlei militärische Drohneneinsätze in anderen Ländern koordiniert oder geleitet werden. Die militärischen Standorte in Deutschland, die derzeit an solchen Drohnenkriegen beteiligt sind – wie Ramstein, das AFRICOM und das EUCOM – müssen geschlossen werden.« Und weiter: »Alle ausländischen Militärbasen in Deutschland müssen geschlossen werden. Entsprechende Verträge, auch mit den USA im Rahmen von Aufenthaltsvertrag und dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, werden gekündigt. Die Infrastruktur in der Bundesrepublik darf nicht genutzt werden, um völkerrechtswidrige Kriege und menschenrechtswidrige Maßnahmen wie die Verschleppung von Gefangenen zu ermöglichen.« Sowie: »Wir wollen die US- und NATO-Infrastruktur in Deutschland beseitigen, die für den Aufmarsch gegen Russland, eine verheerende Regime-Change-Politik sowie ganz allgemein für Interventionskriege genutzt wird.« Es gibt keinen Grund, hinter unsere Positionen von 2017 zurückzufallen, auch wenn SPD und Grüne sich einem US-Truppenabzug verweigern.
    6. Warum ein Fonds für Regime-Change-Politik?
    Ausdrücklich lehnen wir die Bereitstellung von Mitteln ab, die je nach Interpretation auch für Regime-Change-Aktivitäten eingesetzt werden können. Im Wahlprogrammentwurf von Bernd Riexinger und Katja Kipping wird gefordert: »Wir wollen die Zivilgesellschaft fördern statt Deals mit Diktatoren schließen! Dazu werden wir einen Fonds auflegen zur Förderung von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich weltweit für Demokratie, Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit einsetzen, ihn wollen wir mit substantiellen finanziellen Mitteln ausstatten.« (Seiten 112/113) Hier geht es wohlgemerkt nicht um Mittel einer linken Parteistiftung zur Unterstützung von Gleichgesinnten in aller Welt. Was auf den ersten Blick als Mittel internationaler Solidarität erscheinen könnte, kann sich sehr schnell – ob beabsichtigt oder nicht – als Fördertopf zur Finanzierung »bunter Revolutionen« erweisen. Die Zurückweisung von Kritik an diesem Interventionsinstrument mit einem Verweis auf den Wikipedia-Eintrag zu »Zivilgesellschaft«, wie sie sich in der von den Parteivorsitzenden in Auftrag gegebenen Entgegnung des Bereichs Strategie und Grundsatzfragen findet, ist hier so wenig überzeugend wie die Feststellung von Riexinger in der jW, man würde »mit Kanonen auf Spatzen schießen«.
    7. Warum kein Bekenntnis mehr zur Solidarität mit Kuba?
    Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Debatten über Solidarität mit dem sozialistischen Kuba ist es aus unserer Sicht ein besonderes Versagen, die Solidarität mit Kuba nicht – wie noch 2017 – in das Wahlprogramm aufgenommen zu haben. Der Bereich Strategie und Grundsatzfragen im Karl-Liebknecht-Haus merkt dazu an: »Die Frage ist, ob das Gegenstand von einem Wahlprogramm sein soll. Die Kuba-Solidaritätsarbeit ist in der Partei fest verankert. Stellungnahmen zu politischen Entwicklungen anderer Länder wie den Wahlen in Venezuela sind sinnvoller in Form von Positionspapieren des PV, der Internationalen Kommission oder von Parteitagen.« Das halten wir für eine völlige Vernebelung. Wir denken nicht, dass es falsch war, was Die Linke in ihrem Wahlprogramm 2017 unmissverständlich bekundet hat: »Wir setzen uns für die vollständige und bedingungslose Aufhebung der US-Blockade gegen Kuba ein, inklusive der Drittstaatenregelung der US-Blockade. Wir unterstützen die Normalisierung der Beziehungen zu Kuba und fordern eine gleichberechtigte, solidarische Zusammenarbeit.« Und weiter: »Wir verurteilen die Destabilisierungsversuche der Europäischen Union (EU) und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gegen Venezuela. Wir fordern, dass der Handelskrieg gegen die Wirtschaft des Landes und gegen die Versorgung der Bevölkerung eingestellt wird. Wir treten solchen Versuchen auf internationaler Ebene energisch entgegen. Die sozialen Veränderungen, die durch die linken Regierungen in Lateinamerika in Gang gesetzt wurden, haben Millionen Menschen wirtschaftliche Perspektiven und demokratische Teilhabe ermöglicht. Wir unterstützen die linken Regierungen und die selbstbestimmten regionalen Integrationsprozesse in Lateinamerika.«
    8. Warum nicht mehr auf eine Wende in der Türkei-Politik dringen?
    SPD-Außenminister Heiko Maas plädiert für weitere deutsche Rüstungslieferungen und Wirtschaftshilfen an die Türkei, obwohl Erdogans faschistisch-islamistische Regierungskoalition dabei ist, ganze Regionen in Brand zu setzen. Die Türkei soll in der NATO und als Türsteher der EU gegen Schutzsuchende an der Seite der Bundesregierung gehalten werden, auch wenn die Kurden dabei zugrunde gehen. Dafür werden die anderen EU-Staaten von der Bundesregierung in Mithaftung genommen. Uns fällt kein Grund ein, warum Riexinger und Kipping die noch im Wahlprogramm 2017 eingeforderte Wende der Türkei-Politik jetzt nicht mehr erwähnen. Gerade vor dem Hintergrund völkerrechtswidriger Militärinterventionen der türkischen Armee im Norden des Irak und der anhaltenden Besatzung im Norden Syriens, der Kanonenbootpolitik der mit deutscher Hilfe hochgerüsteten türkischen Marine gegen die EU-Mitglieder Griechenland und Zypern im östlichen Mittelmeer sowie eines drohenden Verbots unserer Partnerpartei HDP in der Türkei sollte Die Linke hier weiter Flagge zeigen. Das Programm von 2017 hat auch hier nichts an Aktualität eingebüßt: »Wir treten für eine radikale Wende der deutschen und europäischen Türkei-Politik ein. Wir stehen an der Seite der Demokraten in der Türkei und fordern einen sofortigen Stopp der Rüstungsexporte und der Lieferungen von Rüstungsfabriken. Die Linke setzt sich für die Freilassung der politischen Gefangenen in der Türkei ein und steht allen Versuchen, dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan unter die Arme zu greifen, wie mit einer Erweiterung der Zollunion, entgegen.«
    Aus all diesen Gründen mahnen wir dringend Veränderungen am Wahlprogrammentwurf von Die Linke an. Es braucht eine Partei, die auch 2021 friedenspolitisch eindeutig und klar Kurs hält und sich nicht in Zweideutigkeiten verliert. Eine klare Zurückweisung der Konfrontationspolitik gegenüber Russland, bei der die Aggression der NATO-Staaten unmissverständlich benannt wird, ist dabei genauso wichtig wie die Absage an alle Auslandseinsätze und ein Eintreten für ein gesetzliches Verbot von Rüstungsexporten, das nicht auf die lange Bank geschoben wird. Wir rufen alle Kräfte in unserer Partei dazu auf, eine Relativierung unserer friedenspolitischen Positionen und internationalen Solidarität nicht zuzulassen.

  81. Brinkhaus fordert radikale Reform der BRD-Staatsverfassung …
    https://www.tagesschau.de/inland/brinkhaus-jahrhundertreform-101.html
    Mehr Zentralisierung und mehr Machtkonzentration bei der Berliner Regierung …
    vergisst aber dabei darauf hinzuweisen, dass genau dieser gegensätzliche Kleinkrams in jedem Ländle nicht nur Einnerungen an die mittelalterliche Kleinstaaterei in Deutschland wachrufen. Sondern vor allem an SPD und GRüNE, die mit dem Schlachtruf “Reform” und “mehr Autonomie” die Gegensätzlichkeiten jeglicher Komkurrenz zu Beginn dieses Jahrtausends allenthalben erst so richtig mobil gemacht haben.
    So dass jede autonom gewordene Schule selber ihren natürlich obendrein gekürzten Etat autonom verwalten darf. Nur wenn an der Behördenspitze ein Neuer seinen Job beginnt, wird allenthalben eine generelle neue Variante von diesem oder jenem auch mal von oben verordnet.
    Stattdessen sollen die Schulen nun autonom festlegen, welche Klassen in welcher Reihenfolge und welches reduzierte Putzpersonal nun die Klassenzimmer fegen oder gar die Toiletten säubern und reparieren dürfen. Ansonsten sollen Gelder eingesetzt werden, um attraktive Projekte anzuleiern, um neue Schülermassen auf Schulen zu ziehen, und sie anderen Schulen wegzuziehen. Das erbringt dann nämlich bei höheren Anmldezahlen auch höhere Kopfprämien, so dass die eine oder andere Schule die generellen Kürzungen nicht so bemerkt. Falls sie erfolgreich gegen andere Schulen um höhere Schülerzahlen konkurriert hat.
    Und eigene Sinnsprüche über die famose Eigentümlichkeit dieser Schule werden allenthalben geschmiedet: um sich von denselben Sprüchen der Nachbarschule abzusetzen. Ein Markenbewusstsein muss her.
    Reform leider geglückt, wie man sich bei der Besichtigung des Zerfalls an fast jeder deutschen Schule anschauen kann. Ein Fremdwort für die Wucht der Konkurrenz der Schulen gegeneinander gibt es ja auch schon: (Noch ein…) “Reformstau….”

  82. @Leser
    Ich weiß bei einigen deiner letzten 2 Beiträgen nicht, worum es geht.
    Also weder hier, was Verfassung, Schulautonomie, gekürzte Budgets und Imperialismus miteinander zu tun haben, noch bei dem anderen Beitrag, wo es irgendwie, aber eben auch nur irgendwie um die Konvertibilität der Währungen, den Euro, die Deutsche Einheit gehen soll.
    Tip: Kürzere Sätze und Konzentration aufs Thema.

  83. Teheran bleibt skeptisch
    Erpressung militärischer und geopolitischer Zugeständnisse: USA und EU winken dem Iran mit »neuen diplomatischen Möglichkeiten«
    Von Knut Mellenthin
    Der Iran scheint bereit, unter Einbeziehung der USA über deren Rückkehr ins Format des 2015 abgeschlossenen Wiener Abkommens zu sprechen. Das ergibt sich aus Äußerungen des stellvertretenden Außenministers Abbas Araghchi in einem Fernsehinterview, das am Sonnabend gesendet wurde. Araghchi war de facto Leiter der iranischen Delegation bei den Wiener Verhandlungen, sofern nicht in Ausnahmefällen Außenminister Mohammed Dschawad Sarif selbst daran teilnahm.
    US-Präsident Donald Trump hatte am 8. Mai 2018 den Austritt aus den Vereinbarungen (englisch abgekürzt JCPOA) und allen damit verbundenen Verpflichtungen verkündet. Teheran hatte sich daraufhin ein Jahr lang mit dem Versprechen der europäischen Vertragspartner Deutschland, Frankreich und Großbritannien zufriedengegeben, sie würden trotz der US-Sanktionen an normalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen festhalten und den Iran für seine Verluste wegen des Bruchs der Vereinbarungen durch Washington entschädigen. Nachdem keine Taten des Trios folgten, stellte der Iran schrittweise die Erfüllung seiner eigenen Verpflichtungen aus dem Abkommen ein.
    Trumps Nachfolger Joseph Biden erklärte im Wahlkampf 2020, dass er zur Rückkehr in den JCPOA und damit auch zur Aufhebung der sogenannten nuklearbezogenen Sanktionen bereit sei. Später machte er das aber davon abhängig, dass vorher die iranische Seite wieder alle Verpflichtungen zur Einschränkung ihres zivilen Atomprogramms erfüllen müsse. Teheran besteht jedoch darauf, dass zuerst alle US-Sanktionen »bedingungslos« und überprüfbar »wirksam« aufgehoben werden müssten, bevor eigene Schritte folgen könnten.
    Sarif hatte vor kurzem vorgeschlagen, eine Lösung dieses Streits um den Zeitplan der Rückkehr zum Status quo könnte vom Außenpolitikchef der EU, dem Spanier Josep Borrell, »koordiniert« werden. Das Wiener Abkommen sieht eine solche Funktion des jeweiligen EU-Amtsinhabers – 2015 war das noch die Italienerin Federica Mogherini – ausdrücklich vor. Inzwischen hat sich Borrell an die Beteiligten mit der Frage gewandt, ob sie zu einem Treffen im Kreis der ursprünglichen Unterzeichner des JCPOA bereit seien. Das sind neben den USA und dem Iran auch Russland, China, Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Am Donnerstag hat der Sprecher des US-Außenministeriums, Edward Price, einer solchen Einladung zugestimmt.
    Die Auskunft, die Araghchi am Sonnabend im iranischen Fernsehen zu dieser Frage gab, lautete zusammengefasst: Der Iran sei dabei, das Angebot Borrells zu prüfen, und befinde sich darüber in Beratungen »mit unseren Freunden und Partnern wie etwa China und Russland«. Teheran werde im Anschluss seinen Standpunkt mitteilen.
    Der Iran wird sich voraussichtlich ab Dienstag nicht mehr an das freiwillige »Zusatzprotokoll« mit der Internationalen Atomenergiebehörde (englisch abgekürzt IAEA) halten, das deren Inspektoren erweiterte Überwachungs- und Kontrollrechte einräumt. Dieser Schritt bedeute jedoch keinen Abbruch der Zusammenarbeit mit der IAEA und auch keinen Ausschluss ihrer Inspektoren aus den Atomanlagen des Landes, wie zahlreiche Sprecher Irans in diesen Tagen immer wieder versicherten.
    Die Außenminister der USA, Frankreichs, Deutschlands und Großbritannien hatten am Donnerstag in einer gemeinsamen Erklärung gewarnt, »dass es eine gefährliche Entscheidung wäre, den Zugang der IAEA zu beschränken«. Der Iran solle »die Konsequenzen einer so schwerwiegenden Maßnahme abwägen, insbesondere jetzt, da sich neue diplomatische Möglichkeiten eröffnen«.
    In Teheran werden die angeblichen Chancen jedoch skeptisch bewertet: Biden will offenbar mit Unterstützung der Europäer die von Trump verhängten Sanktionen bestehen lassen, um den Iran zur Aufgabe seiner Raketenentwicklung und zum Verzicht auf seine Bündnispolitik in der Region zu erpressen. Nach Aussagen aller maßgeblichen iranischen Politiker ist nichts davon verhandelbar.
    Wölfe und Schafe wohlauf
    Iran einigt sich mit Internationaler Atomenergiebehörde auf Übergangslösung
    Von Knut Mellenthin
    Eine russische Redensart, die auf Leo Tolstoi zurückgeht, sagt: »Mögen die Wölfe satt werden und die Schafe heil bleiben!« Dieses Prinzip kennzeichnet die Vereinbarung, die am Sonntag zwischen dem Iran und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) geschlossen wurde.
    Der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, war am Wochenende aus aktuellem Anlass nach Teheran gekommen, um über die künftige Gestaltung der Überwachung der iranischen Atomanlagen zu verhandeln. Seine wichtigsten Gesprächspartner waren der Chef der iranischen Atombehörde, Ali Akbar Salehi, und Außenminister Mohammed Dschawad Sarif. Zuvor hatten die Iraner der IAEA am 15. Februar ihre Absicht mitgeteilt, sich ab diesem Dienstag nicht mehr an das freiwillige »Zusatzprotokoll« halten zu wollen, das den internationalen Inspektoren außergewöhnliche Kontrollmöglichkeiten sichert. Die Regierung in Teheran folgte mit dieser Ankündigung den Vorgaben eines Gesetzes, das am 1. Dezember vom Parlament beschlossen worden war.
    Über das Verhandlungsergebnis äußerten sich alle zufrieden. Grossi twitterte: »Intensive Beratungen führten zu einem guten Resultat. Eine zeitweilige technische Verständigung wurde erreicht. Die IAEA wird ihre notwendige Kontroll- und Überwachungstätigkeit im Iran fortsetzen.«
    Auf der anderen Seite behauptete der Sprecher des Teheraner Außenministeriums, Said Khatibsadeh, die Vereinbarung mit der IAEA liege vollständig im Rahmen des am 1. Dezember verabschiedeten Gesetzes und stelle eine »bemerkenswerte technische und diplomatische Errungenschaft« dar. Parlamentssprecher Mohammed Baqer Qali­baf interpretierte, die Anwendung des Zusatzprotokolls werde am Dienstag eingestellt. Jede Art von Zugang der IAEA-Inspektoren über das sogenannte Safeguards Agreement hinaus sei von diesem Tag an »absolut verboten und illegal«. Gemeint ist damit die verpflichtende Kontrollvereinbarung, die mit der Mitgliedschaft im Atomwaffensperrvertrag untrennbar verbunden ist.
    Tatsächlich geht aus dem Wortlaut der gemeinsamen Erklärung von Grossi und Salehi jedoch hervor, dass für einen Zeitraum von zunächst drei Monaten Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten vereinbart wurden, die zwar geringer sind als die im Zusatzprotokoll vorgesehenen, die aber andererseits doch eindeutig über den Rahmen des Safeguards Agreements hinausgehen. Naturgemäß handelt es sich um umfangreiche und komplizierte technische Details. Sie sind in einem Anhang zur gemeinsamen Erklärung festgehalten, auf dessen strenge Vertraulichkeit die iranische Regierung schon vor dem Eintreffen Grossis in Teheran großen Wert gelegt hatte.
    Worum es dabei unter anderem gehen könnte, geht aus einer separaten Stellungnahme der iranischen Atombehörde nach Abschluss der Verhandlungen hervor: Man werde die Speicherung relevanter Daten, darunter insbesondere die permanente Live­überwachung der Atomanlagen durch Monitore, fortsetzen, aber diese der IAEA erst zur Verfügung stellen, wenn alle Sanktionen aufgehoben würden. Sollte das nach drei Monaten noch immer nicht der Fall sein, würden die Daten, einschließlich der Überwachungsvideos, gelöscht.
    Grossi hofft offenbar, die jetzt vereinbarte Übergangsregelung nach Ablauf der Dreimonatsfrist verlängern zu können. Die technische Verständigung ermögliche, »dass andere politische Beratungen auf anderen Ebenen stattfinden können«, und stabilisiere die Lage, erklärte der IAEA-Chef nach seiner Rückkehr aus Teheran.
    Opfer auf Anklagebank
    Zum Streit über das Iran-Atomabkommen
    Von Knut Mellenthin
    Auf den ersten Blick scheint der Sachverhalt klar: Die USA schlossen gemeinsam mit ihren europäischen Verbündeten Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie ihren Gegnern Russland und China im Juli 2015 einen Vertrag mit dem Iran. Er sah vor, dass Teheran sich zu langjährigen Einschränkungen seines zivilen Atomprogramms verpflichtete, aber im Gegenzug von den westlichen Strafmaßnahmen befreit wurde, die sich direkt auf seine nuklearen Aktivitäten bezogen.
    Es dauerte nicht einmal drei Jahre, bevor die USA am 8. Mai 2018 verkündeten, dass das Abkommen für sie keine Gültigkeit mehr habe und dass alle Sanktionen, auf die sie feierlich verzichtet hatten, wieder in Kraft treten würden. Für den nicht ganz unvorhersehbaren Fall eines Vertragsbruchs durch einen der Unterzeichner ermächtigte das Wiener Abkommen alle Vertragsparteien, ihre eigenen Verpflichtungen »ganz oder teilweise« zu ignorieren. Daran ist nichts Außergewöhnliches oder Bemerkenswertes.
    Die europäischen Verbündeten der USA schafften es trotzdem, den Iran zwölf Monate lang von einer im Grunde selbstverständlichen sofortigen Reaktion abzuhalten. Sie erreichten das durch das Versprechen, sie würden trotz der US-Sanktionen an der in Wien zugesagten Normalisierung der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zum Iran festhalten und darüber hinaus nach Wegen suchen, den Iran für die durch den Vertragsbruch ihres wichtigsten transatlantischen Partners entstandenen Verluste zu entschädigen. Nachdem aber rein gar nichts geschehen war und das vom europäischen Trio gepriesene »neue Verrechnungssystem« Instex sich als Nullnummer erwiesen hatte – es war auf dieser Grundlage genau ein Vertragsabschluss zustande gekommen –, begann der Iran seit Mai 2019 schrittweise seine eigenen Verpflichtungen aus dem Wiener Abkommen zu ignorieren. Dass er dazu berechtigt war, ist nach den Maßgaben von Vernunft und Ehrlichkeit nicht zu leugnen.
    Aber dennoch: Im Januar dieses Jahres kam ein neuer US-Präsident auf den Thron, der alle Schuld für die letzten vier Jahre auf seinen Vorgänger schiebt und grundsätzlich ignoriert, dass dieser nicht als schrulliger Privatmann, sondern als ordentlich gewählter Präsident das staatliche Handeln der USA bestimmt hat. Joseph Biden müsste nicht extra niederknien – das fällt mit 78 Jahren fast so schwer wie das Wiederaufstehen –, aber eine Entschuldigung bei den Menschen des Iran, die unter den Sanktionen und durch den Vertragsbruch seines Landes schwer gelitten haben, ist überfällig.
    Statt dessen: Iran sitzt plötzlich nicht nur für Biden, sondern auch für dessen europäische Verbündete auf der Anklagebank und soll sich ihr Vertrauen durch Zugeständnisse auf geopolitischem und militärischem Gebiet erst einmal neu verdienen. Das ist verrückt. So funktioniert die Welt im Jahre 2021 denn doch nicht mehr. Hoffentlich.

  84. Defensive Kraftmeierei
    Münchener NATO-Tagung
    Von Jörg Kronauer
    Drei Dinge konnte man von der Onlineminiversion der Münchener »Sicherheitskonferenz« am späten Freitag nachmittag mitnehmen. Das erste: Die Mächte Nordamerikas und Westeuropas wollen sich im Machtkampf gegen Russland und China in den kommenden Jahren wieder enger abstimmen – »Schulter an Schulter« vorgehen, wie es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen formulierte. »Das transatlantische Bündnis ist zurück«, erklärte US-Präsident Joseph Biden, während Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach, Deutschland stehe »für ein neues Kapitel der transatlantischen Partnerschaft bereit«. Gemeinsam stelle man »eine gewaltige und einflussreiche Macht« dar, protzte EU-Ratspräsident Charles Michel, und von der Leyen setzte dem kraftmeiernden Getöse noch eins drauf, die Wiederbelebung des alten transatlantischen Pakts sei »ein Signal an die Welt«.
    Lautstarkes Einigkeitsgeprahle: Das lässt man los, wenn man dem Gegner Angst einjagen und die eigenen Reihen schließen will. Und es stimmt ja – niemand sollte das Potential des Westens, brachiale Gewalt anzuwenden, unterschätzen. Allzu viele Länder vom Irak bis Libyen, von Iran bis Venezuela können ein bitteres Lied davon singen. Nur: Auch auf der Münchener Videokonferenz ließen sich die transatlantischen Differenzen nicht gänzlich verdecken, obwohl erstmals seit langem ausschließlich Politiker aus den USA sowie aus Westeuropa geladen waren. Man müsse »der Bedrohung aus Russland begegnen«, forderte Biden. Merkel stimmte ein, man solle dringend »eine gemeinsame transatlantische Russland-Agenda entwickeln«, verlangte dann aber sogleich, diese habe auch »kooperative Angebote« zu beinhalten – man denke etwa an Nord Stream 2. An der Pipeline hält die Bundesregierung bis heute fest. Transatlantik-Koordinator Peter Beyer rief unsanft in Erinnerung, dass Biden die Trumpschen Strafzölle gegen die EU immer noch nicht aufgehoben hat. Man werde auch in Zukunft »nicht immer Interessengleichheit« haben, hielt Merkel trocken fest.
    Und das dritte neben stolzen Bündnisbeschwörungen und schwärenden Dissonanzen? Biden hielt es mit Blick auf den Machtkampf gegen China für notwendig zu betonen: »Wir können dieses Rennen um die Zukunft gewinnen.« Gewinnen können impliziert, dass ebenso gut auch das Gegenteil eintreten kann. Ein indirektes Eingeständnis, den Machtkampf auch verlieren zu können, wäre aus dem Mund eines US-Präsidenten noch vor wenigen Jahren schwer vorstellbar gewesen. Und um den Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen, man tue vielleicht besser daran, einen Konflikt, den man nicht sicher beherrscht, zu deeskalieren, setzte Biden den Machtkampf, ganz Kalter Krieger, fort: Man müsse »beweisen«, dass das demokratische »Modell kein Relikt der Geschichte« sei. Auch hier: Der Westen muss »beweisen«, ist also in der Defensive. Es wird für ihn so langsam ernst.
    Russland will Rückkehr zu »Open Skies«-Abkommen
    Moskau. Russland sieht noch Chancen für eine Rückkehr zum Vertrag über militärische Beobachtungsflüge, setzt den USA aber eine Frist bis zum Sommer. Wenn die neue US-Regierung bereit sei, vollständig zu dem Abkommen zurückzukehren, dann werde Moskau entsprechende Schritte »konstruktiv prüfen«, sagte der im Außenministerium für Rüstungsfragen zuständige Diplomat Konstantin Gawrilow am Montag in Moskau. »Wir setzen auf den gesunden Menschenverstand und echte Schritte zur Wahrung des Vertrags.« Präsident Wladimir Putin hatte zuletzt bei einem Telefonat mit seinem US-Amtskollegen Joseph Biden vereinbart, Gespräche über eine Rückkehr zum »Open Skies«-Abkommen über militärische Beobachtungsflüge über die NATO-Staaten und Russland zu erörtern.
    Nach dem Ausstieg der USA hatte auch Russland seine Mitgliedschaft dort aufgekündigt. Dieses Ausstiegsverfahren werde in Russland bis zum Sommer dauern, sagte Gawrilow. Bis dahin könne Washington seine Bereitschaft zur Weiterarbeit erklären. »Die Russische Föderation wird nicht auf unbestimmte Zeit warten können. (…) Es bleibt wenig Zeit zum Nachdenken.« Russland wolle seinem Ziel verpflichtet bleiben, Vertrauen und Sicherheit im militärischen Bereich aufzubauen, meinte der Leiter der russischen Delegation für Abrüstungsgespräche. Der »Open Skies«-Vertrag war 1992 geschlossen worden und trat 2002 in Kraft. Er erlaubt es den Vertragsstaaten, jährlich eine bestimmte Zahl vereinbarter Beobachtungsflüge über dem Staatsgebiet anderer Staaten durchzuführen. (dpa/jW)
    _____________
    Politische Frühjahrsbestellung
    Ukraine beschlagnahmt Vermögen des Oppositionellen Wiktor Medwedtschuk und seiner Frau. Vorwurf: »Terrorfinanzierung«
    Von Reinhard Lauterbach
    Die Ukraine hat einen weiteren Schritt auf dem Weg zur politischen und wirtschaftlichen Ausschaltung der größten Oppositionspartei des Landes getan. Am Freitag ordnete Präsident Wolodimir Selenskij auf Antrag des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates (SNBO) an, das Vermögen des Geschäftsmanns und Politikers Wiktor Medwedtschuk und seiner Ehefrau Oksana Martschenko für drei Jahre zu beschlagnahmen. Medwedtschuk ist einer der Leiter der »Oppositionsplattform – Für das Leben«, die von ihren Gegnern als »prorussisch« bezeichnet wird. Seine Frau ist unter anderem Moderatorin beim Fernsehsender 1+1, bzw. sie war es. Denn auch ihr Anteil von 20 Prozent an diesem Sender wurde konfisziert.
    Zum Verhängnis wurde Medwedtschuk offenbar eine Äußerung im Fernsehsender News One, der neben zwei anderen Anfang Februar bereits als angebliche Quelle russischer Propaganda geschlossen worden war. Dort hatte er im September 2018 erklärt, er verwalte das Vermögen seiner Frau. Zu diesem Vermögen gehört wiederum nach Recherchen der von den USA ins Leben gerufenen Antikorruptionsbehörde der Ukraine eine Raffinerie in Nowoschachtinsk im Gebiet Rostow am Don. Von dort, so der Vorwurf, würden die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk – im ukrainischen Sprachgebrauch »Terroristen« – mit Treibstoffen versorgt. Andere inzwischen offengelegte Vorwürfe laufen darauf hinaus, dass das Kapital für den Erwerb der drei angeblichen Desinformationssender über gewundene Umwege aus dem Verkauf von Kohle aus dem Donbass an ukrainische Energieversorger gekommen sei.
    Dass die ukrainischen Behörden zweieinhalb Jahre brauchten, um Medwedtschuk aus einer womöglich unbedachten Äußerung einen geschäftlich-politischen Strick zu drehen, deutet darauf hin, dass der wirkliche Anlass für das Vorgehen zum jetzigen Zeitpunkt nicht Benzinlieferungen an die »Volksrepubliken« des Donbass sind. Auch weil die gewollte Auswirkung der Sanktionen der Bankrott von Medwedtschuks Geschäftsimperium ist: Ihm ist nämlich jede Art von Verfügung über sein Vermögen verboten, selbst um beispielsweise Büromieten zu zahlen. Ein Hinweis auf die tatsächlichen Motive liegt in der Befristung der Maßnahme auf drei Jahre. Bis dahin sollten nämlich die nächsten Parlaments- und Präsidentenwahlen in der Ukraine gelaufen sein.
    Medwedtschuk ist der einzige ukrainische Politiker, der in den vergangenen Jahren Zugang zu Russlands Präsident Wladimir Putin hatte. Der ist Taufpate seiner Tochter. Medwedtschuk hat diese Kontakte mehrfach genutzt, um zum Beispiel den Austausch von Gefangenen oder auch Exportmöglichkeiten für ukrainische Betriebe nach Russland einzufädeln. Die von Medwedtschuk mit geleitete Partei »Oppositionsplattform« war im vergangenen Jahr längere Zeit in den Umfragen stärkste politische Kraft. Vor allem im russischsprachigen Osten und Süden der Ukraine würde sie wohl auch jetzt noch der Präsidentenpartei »Diener des Volkes« gefährlich werden.
    Zumal die Ukraine seit Anfang dieses Jahres einiges tut, um vor allem dort für Unmut zu sorgen. Seit dem 16. Januar müssen auch Dienstleister jeder Art, etwa Einzelhändler, im Umgang mit Kunden »die Staatssprache verwenden«: also Ukrainisch. Die Folge ist eine Welle von Ärger bis hin zu offener Gewaltanwendung. So kam es am 14. Februar in einem Kiewer Lokal zu einem Zwischenfall, als zwei betrunkene Kunden die Kellnerin anpöbelten, warum sie nicht Ukrainisch rede. Als ein Gast die Frau in Schutz nahm, zog einer der beiden Kämpfer für das Ukrainische, übrigens Stadtratsmitglied für die faschistische Partei Swoboda, ein Messer und hielt es dem Mann an die Kehle. In Odessa reagierte der Betreiber eines koscheren Take-away-Ladens auf das Sprachgesetz, indem er seine Speisekarte in dem ukrainisch-russischen Mischdialekt »Surschik« abfasste. Das kostete ihn die Demolierung seines Ladens und eine Hasskampagne wegen »Verspottung der ukrainischen Sprache«. Viele der Kommentare in den sozialen Medien waren offen antisemitisch.
    ______________
    Verbindung nach Washington
    Weitere Details zu Söldnermission in Libyen aufgedeckt. »Blackwater«-Chef und Trump-Vertrauter leugnet Beteiligung
    Von Tim Solcher
    Rund neun Monate nachdem Ermittler der Vereinten Nationen (UN) erstmals eine Geheimoperation westlicher Söldner im Libyen-Krieg aufdeckten, kommen weitere Details über Ausmaß und Hintermänner der sogenannten Operation Opus ans Licht. Diese zeigen, wie private Einsatzkräfte 2019 Waffen und weitere militärische Ausrüstung nach Libyen schmuggelten, um dort den abtrünnigen General Khalifa Haftar bei der Eroberung der Hauptstadt Tripolis zu unterstützen. Die Untersuchungen stützen sich auf Flugprotokolle, Finanzunterlagen sowie Zeugenberichte. Schlüsseldokument ist der Situationsbericht eines mutmaßlich Beteiligten, der die Vorgänge der Operation minutiös nachzeichnet und der Washington Post vorliegt.
    Demnach seien im Juni 2019 mindestens zwanzig Männer privater Sicherheitsunternehmen aus Südafrika, Großbritannien, Australien, Malta, Frankreich und den USA in Bengasi, der Operationszentrale Haftars, gelandet. Im Gepäck: Waffen, Nachtsichtbrillen, aufblasbare Schnellboote, Kampfdrohnen sowie eine mobile Kommandozentrale. Das Unternehmen sei aber bereits im Vorfeld an der missglückten Beschaffung von drei Kampfhubschraubern des Typs »­AH-1F Cobra«, hergestellt in den USA, gescheitert. Die sollten von »Team Opus« in der jordanischen Hauptstadt Amman erworben werden. In letzter Minute hätten sich die dortigen Behörden dem Deal verweigert, offenbar aus Angst, wegen fehlender offizieller Freigabe durch Washington gegen US-Vorschriften zu verstoßen. Zwar hätten die »Opus«-Mitglieder darauf beharrt, die Rückendeckung der US-Regierung und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zu haben, dafür seien aber trotz einer »Flut von Anrufen« nach Washington keine Belege gefunden worden. Aus Angst vor der Reaktion Haftars hätten die Söldner daraufhin Libyen überstürzt verlassen.
    Haftar galt damals als der eigentliche »starke Mann Libyens« und wurde von zahlreichen Staatschefs hofiert. Den UN-Ermittlern zufolge soll er im April 2019 den Deal mit einer Gruppe privater Sicherheitsunternehmen eingefädelt haben. Die wichtigsten Unterstützer seien die in Dubai ansässigen Firmen »Opus Capital Assets« und »Lancaster 6« gewesen. Letztere wird vom ehemaligen australischen Luftwaffenpiloten Christiaan Durrant geführt. Der Australier hat die Vorwürfe nach Informationen der Washington Post gegenüber den UN-Ermittlern zurückgewiesen und behauptet, lediglich am Aufbau eines »Logistikzentrums« zur Sicherung der Ölinfrastruktur in Libyen beteiligt gewesen zu sein. Durrant ist allerdings eng mit dem US-Amerikaner Erik Prince verbunden, der den UN-Berichten zufolge die Hauptperson hinter der »Operation Opus« ist.
    Prince ist Gründer der unter anderem für Kriegsverbrechen im Irak verantwortlichen privaten Sicherheitsfirma »Blackwater« und gilt als enger Vertrauter von Expräsident Donald Trump. Er soll den Untersuchungen zufolge am 14. Mai 2019 in Kairo Kontakt zu General Haftar aufgenommen und ihm das Söldnerprogramm vorgestellt haben. Darauf deute nicht zuletzt die Überführung von drei seiner Flugzeuge nach Libyen zum Zeitpunkt der »Operation« hin. Gegenüber der New York Times (Sonntagausgabe) bestritt Prince in einem Telefonat nicht nur jegliche Beteiligung an »Opus«, sondern auch seinen Einfluss auf Trump. Fakt ist: Am Tag nach dem Treffen zwischen Prince und Haftar äußerte der US-Präsident in einem Telefongespräch mit dem libyschen General seine Anerkennung ob dessen »bedeutender Rolle bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Sicherung der Ölressourcen Libyens«, wie die Zeitung berichtet. Vier Tage später erteilte Trump der Offensive Haftars auf die von der UNO anerkannte »Einheitsregierung« in Tripolis seinen Segen – was einmal mehr einer radikalen Kehrtwende in der US-Außenpolitik entsprach.
    Ob die Enthüllungen unmittelbare Auswirkungen auf den derzeitigen Friedensprozess in Libyen haben, ist zweifelhaft. Schließlich hat sich bei den Verhandlungen herauskristallisiert, dass Haftar nach wie vor ein wichtiger Akteur im fragilen innerlibyschen Kräfteverhältnis ist, der (vorerst) gebraucht wird. Und auch die Verbindung der Geheimmission nach Washington kann ganz praktisch durch das westliche Narrativ relativiert werden, wonach die vier Jahre unter Trump lediglich ein Alptraum waren, aus dem man nun erwacht ist.

  85. “Das Bündnis ist wieder da” (22.02.2021)
    Biden und Merkel werben für “transatlantische Partnerschaft”. Differenzen zu Russland, China und Strafzöllen bestehen dennoch fort.
    BERLIN/MÜNCHEN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Fortdauernde transatlantische Differenzen überschatten die auf der Münchner Sicherheitskonferenz zelebrierte vorgebliche Einigkeit zwischen den USA und Westeuropa. US-Präsident Joe Biden äußerte auf der Konferenz, die am Freitag pandemiebedingt nur in einer Online-Kurzversion stattfinden konnte: “Das transatlantische Bündnis ist wieder da.” Kanzlerin Angela Merkel erklärte, Deutschland stehe “für ein neues Kapitel der transatlantischen Partnerschaft bereit”. Während beide Seiten sich darauf vorbereiten, den Druck auf Russland und China zu intensivieren, hielt Merkel am Freitag fest, die Bundesrepublik wünsche auch weiterhin “kooperative Angebote” an Russland; gemeint ist unter anderem die Erdgaspipeline Nord Stream 2, die die USA auch unter ihrem neuen Präsidenten ablehnen. Ähnliche Differenzen zeichnen sich in der Chinapolitik ab: Das Chinageschäft gilt als unverzichtbar für zahlreiche deutsche Konzerne. Trotz Drängens der EU hat Washington nicht einmal die Trump’schen Strafzölle zurückgenommen und verschärft zum Unmut der Union sogar den “Buy American Act”.
    “Beyond Westlessness”
    Die Organisatoren der Münchner Sicherheitskonferenz um den langjährigen Spitzendiplomaten Wolfgang Ischinger hatten die diesjährige Veranstaltung thematisch als Kontrapunkt zur letztjährigen Tagung konzipiert. Jene hatten sie unter das Motto “Westlessness” gestellt – ein Kunstwort, das den Blick auf den geringer werdenden Einfluss des Westens auf die internationale Politik richten sollte. In einem Begleitheft zur Sicherheitskonferenz 2020 wurde entsprechend der französische Präsident Emmanuel Macron mit dem Urteil zitiert: “Wir waren an eine internationale Ordnung gewöhnt, die auf der westlichen Hegemonie seit dem 18. Jahrhundert beruht hatte. Die Dinge ändern sich.”[1] Ischinger hatte damals für entschlossene Einflussmaßnahmen plädiert, um das Ruder herumzureißen oder zumindest den Abstieg des Westens zu bremsen. Die am Freitag abgehaltene Online-Kurzversion der Konferenz stand nun unter dem Motto “Beyond Westlessness” (“Jenseits der Westlessness”) und diente vor allem dazu, nach den Zerwürfnissen in der Ära Trump einen neuen transatlantischen Schulterschluss zu zelebrieren. Erstmals waren außer UN-Generalsekretär António Guterres und WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus lediglich führende Politiker des alten Westens eingeladen, darunter neben US-Präsident Joe Biden Bundeskanzlerin Angela Merkel und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
    “Ein Signal an die Welt”
    Tatsächlich nahmen demonstrative Bekenntnisse zu einer Erneuerung des transatlantischen Pakts auf der Videokonferenz breiten Raum ein. US-Präsident Biden äußerte in seiner Rede: “Amerika ist wieder da. Das transatlantische Bündnis ist wieder da. Und wir blicken nicht zurück, wir blicken nach vorn, gemeinsam.”[2] Kanzlerin Merkel erklärte, Deutschland stehe “für ein neues Kapitel der transatlantischen Partnerschaft bereit”.[3] EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekundete: “Es liegt an uns, an den Vereinigten Staaten und Europa, unsere Kooperation wieder zu stärken. … Schulter an Schulter. Denn wenn wir vorangehen, geht es nicht nur darum, sich zu verbünden. Das ist ein Signal an die Welt.”[4] EU-Ratspräsident Charles Michel wiederum drang darauf, EU und USA müssten “sich zusammentun”, um “größeren Wohlstand für unsere Bürger” zu schaffen: “Lasst uns unsere Partnerschaft zu einem Kraftzentrum für eine bessere Welt machen”. Die EU wolle ihrerseits “ein starker und verlässlicher Partner sein”.[5] Die Veranstalter der Tagung teilten anschließend mit, man habe miteinander “über den Wiederaufbau und die Erneuerung des transatlantischen Bündnisses” diskutiert.[6] Der Videozusammenkunft vom Freitag werden noch in diesem Jahr weitere Veranstaltungen und nach Möglichkeit eine große Konferenz im gewohnten Präsenzformat folgen.
    Russland: “Auch kooperative Angebote”
    Dabei zeichnet sich ungeachtet aller Bündnislyrik längst klar ab, dass bisherige transatlantische Differenzen in erheblichem Maß fortbestehen. Dies gilt zum Beispiel für die Russlandpolitik. Zwar hat Kanzlerin Merkel am Freitag auf der Videokonferenz konstatiert, man sei weder im Streit um die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation noch im “Minsker Prozess” in nennenswertem Ausmaß vorangekommen: “Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir eine gemeinsame transatlantische Russland-Agenda entwickeln”.[7] In der Tat haben Berlin und Brüssel mit Blick auf das bisherige Scheitern ihres Anspruchs, mit dem “Minsker Prozes” als Ordnungsmacht in der Ostukraine aufzutreten, ihre Russlandpolitik – recht ähnlich wie Washington – im Herbst mit neuen Sanktionen verschärft [8]; am heutigen Montag verhandeln die EU-Außenminister zudem über die Verhängung weiterer Zwangsmaßnahmen. Allerdings hat Merkel am Freitag zugleich betont, die gemeinsame Russlandpolitik von EU und USA müsse auch “kooperative Angebote beinhalte[n]”. Dies trifft beispielsweise auf die Erdgaspipeline Nord Stream 2 zu, an der die Bundesregierung festhalten will – nicht zuletzt, um ihre Eigenständigkeit gegenüber den USA zu demonstrieren (german-foreign-policy.com berichtete [9]). In Washington macht hingegen der Kongress Druck, die US-Sanktionen gegen den Bau der Pipeline auszuweiten.[10]
    China: “Vielleicht noch komplizierter”
    Anhaltende Differenzen zeichnen sich außerdem in der Chinapolitik ab. Biden forderte auf der Münchner Videokonferenz, die transatlantischen Mächte müssten sich “gemeinsam auf einen langfristigen strategischen Wettbewerb mit China vorbereiten”: “Der Wettbewerb mit China wird heftig sein”; doch werde man letzten Endes “das Rennen um die Zukunft gewinnen können”.[11] Merkel hingegen sagte voraus, “eine gemeinsame Agenda gegenüber China” zu entwickeln werde “vielleicht noch komplizierter” sein als die Einigung auf eine gemeinsame Russlandpolitik.[12] Ursache ist, dass Berlin trotz einer verschärften machtpolitischen Konfrontation auch eine fortdauernde wirtschaftliche Kooperation mit Beijing anstrebt. Dem dient unter anderem das neue Investitionsabkommen zwischen der EU und der Volksrepublik, auf das sich beide Seiten Ende 2020 im Grundsatz geeinigt haben.[13] Im Gegensatz dazu hat die Biden-Administration, die erst kürzlich eine Pentagon-Task Force zur Überarbeitung der militärischen Strategien gegen China eingesetzt hat, weiterhin aggressive ökonomische Maßnahmen gegen die Volksrepublik im Visier. Dies laufe “dem europäischen Wunsch, die wirtschaftlichen und kommerziellen Beziehungen zu China aufrechtzuerhalten, diametral entgegen”, urteilt beispielsweise der Europa-Direktor des Washingtoner Think-Tanks Carnegie Endowment, Erik Brattberg.[14]
    Strafzölle und “Buy American”
    Transatlantische Streitigkeiten dauern nicht zuletzt in den Handelsbeziehungen an. So drängt die EU die Biden-Administration bislang vergeblich, die Strafzölle aufzuheben, die die Trump-Administration gegen Einfuhren aus der Union verhängt hat: Diese sind unverändert in Kraft. Es kommt hinzu, dass US-Präsident Biden in einer seiner ersten Amtshandlungen eine Verordnung erlassen hat, die den Grundsatz, dass US-Regierungsbehörden nur im eigenen Land produzierte Waren und nur US-Dienstleistungen erwerben sollen, noch strikter fasst als zuvor: Der bisher zulässige Anteil im Ausland produzierter Bauteile an den entsprechenden Waren wird reduziert; Ausnahmegenehmigungen sollen ebenfalls noch seltener erteilt werden als bereits zuvor. Bidens Verschärfung des “Buy American Act” stößt in Berlin und Brüssel auf schweren Unmut – nicht zuletzt, da das betroffene Auftragsvolumen auf stolze 600 Milliarden US-Dollar geschätzt wird. Vergangenen Donnerstag bekräftigte Valdis Dombrovskis, Vizepräsident der EU-Kommission, Brüssel werde genau “prüfen”, ob Bidens “Buy American”-Praktiken den Regeln der WTO entsprächen.[15] Am Freitag hat nun darüber hinaus der Berliner Regierungskoordinator für die transatlantischen Beziehungen, Peter Beyer, gefordert, “die Zeit der Strafzölle” müsse “ein Ende haben”: “Ich erwarte, dass hier bald richtig Tempo gemacht wird.”[16] Die gewünschte Entspannung ist freilich noch nicht in Sicht.

  86. Die Sache mit der Unterstützung Haftars in Libyen ist insofern bemerkenswert, als in den österreichischen Medien und in der österreichischen Außenpolitik die Tripolis-Regierung gestützt wurde – die ja auch von der EU als legitime betrachtet wurde. El-Sarradsch wurde hofiert, war auf Besuch in Wien.
    Hafter galt als Russenknecht, und Artikel über die angebliche Wagner-Söldnertruppe geisterten durch die Medien.
    Es war dann lustigerweise die Türkei, die für klare Verhältnisse sorgte und die Haftar-Truppe in die Schranken wies, sodaß derzeit wieder ein ähnliches Patt herrscht wie vor 2 Jahren.
    Wenn man sich aber zurückerinnert, so lebte Haftar lange in den USA und kriegte auch Geld vom CIA. Er war eigentlich nach dem Sturz Ghaddafis der Kandidat der USA, wurde aber später fallengelassen, als sich herausstellte, daß er nicht die Durchsetzungskraft hatte, die sich die USA von ihm erhofften. In Tripolitanien hatte er keine Unterstützung, und die Ermordung des US-Botschafters in Benghasi warf auch ein schlechtes Licht über seine Autorität in der Cyrenaika.
    Die Trump-Regierung hat ihn offenbar wieder als ihren Mann aktiviert.
    Warum?
    Um der EU das Leben schwer zu machen?

  87. Die Geopolitik des European Green Deal (I) (24.02.2021)
    Energiewende führt zu außenpolitischen Umbrüchen: Petrostaaten drohen ins Wanken zu geraten; Konkurrenz um andere Rohstoffe nimmt zu.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Experten sagen bei einer Verwirklichung des European Green Deal “tiefgreifende geopolitische Konsequenzen” voraus. Wie es in einer aktuellen Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR) heißt, wird insbesondere die Abkehr von der Nutzung fossiler Energieträger zu größeren Umbrüchen in der internationalen Politik führen. So stehen nicht nur Petrostaaten allgemein vor dramatischen Verlusten, die das Herrschaftsmodell mancher von ihnen, darunter Saudi-Arabien, ernsthaft bedrohen. Gefährdet ist auch die Stabilität von Ländern, die vor allem die EU beliefern, so etwa mehrere Staaten Nordafrikas, darunter Algerien. Allerdings werden die Umbrüche Erdgasproduzenten vermutlich erst nach 2030 treffen, weil Erdgas als Brückenenergie für den Übergang zu erneuerbaren Energien gilt. Deren Nutzung bringt neue Rohstoffabhängigkeiten mit sich, etwa von Lithium, dessen Konsum rasch um ein Vielfaches steigen wird. Zudem zeichnet sich die Indienststellung nordafrikanischer Länder als Lieferanten von Sonnen- und Windenergie ab. Die Umbrüche betreffen auch die globale Großmächterivalität.
    “Tiefgreifende geopolitische Konsequenzen”
    Der European Green Deal, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 11. Dezember 2019 im Europaparlament öffentlich vorstellte [1], wird “tiefgreifende geopolitische Konsequenzen” mit sich bringen. Das bestätigt eine Analyse, die der European Council on Foreign Relations (ECFR) kürzlich veröffentlicht hat. Wie der ECFR konstatiert, zielt der Green Deal zwar im Kern darauf ab, die Wirtschaft der EU zu dekarbonisieren, um die Union bis spätestens 2050 klimaneutral zu machen; damit sind zunächst vor allem weitreichende innereuropäische Umbrüche verbunden. Allerdings ergeben sich unmittelbare außenpolitische Konsequenzen aus der Tatsache, dass im Mittelpunkt die Umstellung von der Nutzung fossiler Energieträger auf erneuerbare Energien steht. Länder, die bislang Öl, Gas oder Kohle in die EU lieferten, sind auf lange Sicht mit dem Verlust eines bedeutenden Absatzmarktes konfrontiert: Im ersten Halbjahr 2020 kauften die EU-Staaten trotz der Coronakrise Energieträger im Wert von monatlich 17,7 Milliarden Euro.[2] Hinzu kommt ein absehbar dramatischer Preisverfall bei Öl und Gas, der auch Petrostaaten treffen wird, die die Union nicht oder nur in geringem Umfang beliefern. Länder wiederum, die für die Energiewende bedeutende Ressourcen besitzen, können auf neuen Einfluss in der globalen Konkurrenz hoffen.
    Herrschaftsmodell bedroht
    Vom sich langfristig abzeichnenden Verlust ihres Öl- und Gasabsatzmarktes EU sind vor allem Länder in der südlichen und östlichen Nachbarschaft Europas betroffen. Wie der ECFR konstatiert, gilt dies im Osten etwa für Aserbaidschan und Kasachstan, die gegenwärtig rund 72 bzw. rund 68 Prozent ihrer Energieexporte in der Union absetzen. Im Süden müssen drei Länder Nordafrikas erhebliche Verluste einkalkulieren: So gingen zuletzt gut 64 Prozent der Energieexporte Libyens in die EU, 60 Prozent der Öl- und Gasausfuhren Algeriens und 44 Prozent der Lieferungen Ägyptens.[3] Welche politischen Konsequenzen das mit sich bringen kann, erläutert der ECFR am Beispiel Algerien. Das Land erzielt 95 Prozent seiner gesamten Exporterlöse aus dem Verkauf fossiler Energieträger, die zugleich 60 Prozent des gesamten Staatsetats finanzieren. Es kommt hinzu, dass die Macht der algerischen Herrschaftseliten, wie der ECFR konstatiert, nicht zuletzt auf der festen Kontrolle der Energievorräte des Landes beruht. Zwar wird beim Erdgas, dessen drittgrößter EU-Lieferant Algerien ist, in diesem Jahrzehnt noch nicht mit größeren Einbrüchen gerechnet. Auf lange Sicht sind in Algerien allerdings Wirtschaft und Herrschaftsmodell bedroht. Die EU wiederum müsste womöglich mit neuen Unruhen südlich ihrer Grenzen rechnen.
    Ungewissheiten am Persischen Golf
    Empfindliche Einbrüche drohen auch den Petrostaaten am Persischen Golf, wenngleich sie ihre Energierohstoffe vor allem nach Asien verkaufen; Irak etwa liefert nur 20 Prozent, Saudi-Arabien nur zehn Prozent seiner Ressourcen in die EU. Beide wären freilich, ebenso wie etwa auch Iran, davon betroffen, dass die Preise für Öl und Gas deutlich fallen werden, sobald die EU ihre Käufe, aktuell rund ein Fünftel des globalen Konsums, deutlich reduziert. Der Absturz dürfte umso stärker ausfallen, als auch China sowie unter ihrer neuen Administration wohl ebenfalls die Vereinigten Staaten den Umstieg auf erneuerbare Energien vorantreiben. Zwar können die Golfstaaten ihre Bodenschätze billiger fördern als andere Länder; auch deshalb wird etwa saudischem Öl in Sachen Klimabilanz ein Vorteil gegenüber russischem oder US-Öl zugeschrieben.[4] Doch baut Saudi-Arabiens Herrschaftsmodell darauf auf, aus den bislang überbordenden Öleinnahmen einen massiv aufgeblasenen Beamtenapparat von rund 30 Prozent aller Erwerbstätigen sowie umfangreiche Sozialleistungen an die einheimische Bevölkerung zu zahlen. Bereits die Einführung einer Mehrwertsteuer Anfang 2018 und ihre Erhöhung von fünf auf 15 Prozent im Sommer 2020 war in der Bevölkerung nicht populär. Gelingt es nicht, Saudi-Arabiens Wirtschaft auf die Zeit nach der Ölära vorzubereiten, sind größere Unruhen am Persischen Golf nicht auszuschließen.
    Wasserstoff statt Öl
    Während der European Green Deal den traditionellen Petrostaaten erhebliche Schwierigkeiten zu bereiten droht, entstehen neue Chancen für andere Länder – etwa für diejenigen, die für die Wasserstoffstrategie Deutschlands und der EU von Bedeutung sind. Hintergrund ist das Vorhaben, die Dekarbonisierung etwa des Flug- und des Schiffsverkehrs sowie von Teilen der industriellen Produktion, etwa der Stahlherstellung, mit Hilfe von Wasserstoff zu erreichen. Dazu soll mit Hilfe von erneuerbaren Energien Wasser per Elektrolyse in Wasser- und Sauerstoff aufgespalten werden; Wasserstoff kann dann – etwa mit Brennstoffzellen, wie sie längst in einigen U-Booten verwendet werden – als Energiequelle genutzt werden. Weil die in Deutschland verfügbaren erneuerbaren Energien dazu nicht ausreichen, ist die Herstellung von Wasserstoff in großen Mengen etwa in Nordafrika geplant. Mit Marokko hat die Bundesregierung bereits im Jahr 2019 eine Vereinbarung geschlossen, die unter anderem eine Zusammenarbeit bei der Herstellung “grünen” Wasserstoffs vorsieht. Eine ähnliche Kooperation ist auch mit weiteren Ländern Nordafrikas im Gespräch (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Der ECFR schlägt vor, Algerien eine entsprechende Zusammenarbeit anzubieten, um ausfallende Erlöse aus dem Export fossiler Rohstoffe zu ersetzen. Damit ließe sich, urteilt der Think-Tank, “das gegenwärtige Regime” in Algier “stützen”.[6]
    “Neue Formen von Abhängigkeit”
    Geostrategische Verschiebungen ergeben sich schließlich auch daraus, dass der European Green Deal zwar auf eine Reduzierung des Verbrauchs fossiler Energieträger zielt, den Konsum mancher anderer Rohstoffe allerdings deutlich ausweitet; daraus können schon bald, wie es in einer im Namen der International Renewable Energy Agency (IRENA) erstellten Analyse heißt, “neue Formen von Abhängigkeit und Verwundbarkeit” entstehen. So wird beispielsweise zur Herstellung von Batterien für Elektroautos Lithium benötigt, das in Chile und Argentinien, in Australien sowie in China gefördert wird; die weltgrößten Vorräte liegen im Salar de Uyuni im andinen Hochland Boliviens, dem größten Salzsee weltweit. Streit um das dortige Lithium, auf das sich ein deutsches Unternehmen Ende 2018 den Zugriff gesichert hatte, hat im Hintergrund des jüngsten Putschs in Bolivien am 10. November 2019 eine Rolle gespielt (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Mit Blick darauf, dass der Lithiumverbrauch in der EU bis 2030 auf das 18-Fache, bis 2050 sogar auf das 60-Fache des jetzigen Volumens steigen könne, wenn es gelinge, die Batterieproduktion in der EU wie gewünscht zu stärken [8], fordert EU-Vize-Kommissionspräsident Maroš Šefčovič: “Wir müssen, was Rohstoffe anbelangt, viel strategischer vorgehen.”[9] Damit zeichnen sich neue Machtkämpfe etwa um den Zugriff auf Lithium ab.
    Großmächterivalität
    Daneben nimmt schon jetzt die globale Konkurrenz um weitere Rohstoffe zu, deren Verbrauch der European Green Deal ausweitet – darunter Seltene Erden. Die Konkurrenz betrifft nicht zuletzt die globale Großmächterivalität. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.

  88. Ich habe gerade in einem Ökonomen-Lesekreis gelernt, was für eine Augenauswischerei die ganze Energiewende ist.
    Die meisten „erneuerbaren“ Energien, also Wasser, Wind oder Sonnenenergie brauchen aus verschiedenen Gründen zu ihrer Herstellung mehr Energie als sie erzeugen.
    Bei den Wasserkraftwerken ist es so, daß z.B. in einem wasserkraftreichen Land wie Österreich alles schon verbaut ist, was sich energietechnisch sinnvoll ausnützen läßt.
    Bei unserem größten Speicherkraftwerk, den Tauernkraftwerken mit Limberg- und Moserbodensperre auf der Kapruner Seite und der Margaritzen-Sperre beim Glockner ist drunter ein total perforiertes Bergmassiv, wo in der Nacht herum-, hinüber und hinauf gepumpft wird. Das ganze rechnet sich nur, weil aus dem Ausland billiger Nachtstrom eingekauft wird.
    Außerdem sind die alpinen Stauseen endlich, weil die Gletscher abschmelzen.
    Bei den Windkraftwerken sind alle guten Plätze in Europa, wo viel Wind geht, schon verbaut. Alle weiteren haben eine schlechtere Ausnutzung und liefern nur mehr ein Viertel des Jahres oder weniger Strom. Dafür sind diese Windparks aber recht aufwendig, von den Störungen für die Umgebung ganz zu schweigen.
    Die Solarzellen kosten sehr viel in der Herstellung, vor allem die guten, die länger halten. Die rechnen sich nur, weil sie aus China kommen, das dafür als Energiequelle Braunkohle verwendet und sie dadurch relativ günstig herstellt. China verfügt auch über die dazu nötigen Rohstoffe.
    Die saubere Energie wird mit schmutziger erzeugt und China ist also Energie-Exporteur.
    Gegenden, wo viel Sonneneinstrahlung ist, unterstehen fremden Gewalten. Erstens ist es arrogant, so zu tun, als wäre die Sahara sozusagen der Hinterhof der EU, und zweitens ist es riskant. (Terror, Regierungswechsel)
    Das dritte sind die Transportkabel und -röhren, die auch Unsummen verschlingen und aufgrund der klimatischen Bedingungen regelmäßig erneuert werden müssen.
    Die Energiewende bedeutet also, andere Kontinente energiemäßig auszubeuten, und auch das ist endlich – mit welchem Geld kauft man dort ein?
    Auch dort herrscht Marktwirtschaft. Und der Euro wird nicht ewig existieren.

  89. Wasserstofftechnologie ist totale Zukunftsmusik. Und die Geopolitischen Verschiebungen durch den Minderverbrauch der EU werden auch überschätzt. Das Öl wird dann eben nach China oder in andere Länder transportiert. Auf Unruhen als Folge der Umstrukturierung der Energieversorgung der EU glaube ich eigentlich auch nicht. “Neue Formen der Abhängigkeit” wird es allerdings geben.

  90. Nichts ausschließen
    Auf dem Weg zur »Regierungsbereitschaft«: Am Freitag und Sonnabend wählt der Bundesparteitag von Die Linke einen neuen Vorstand
    Von Nico Popp
    Man kann Susanne Hennig-Wellsow nicht vorwerfen, sie sage nicht offen, wofür sie als Vorsitzende der Partei Die Linke stehen wird. Und auch nicht, dass sie bislang keinen neuen Ton in die Debatte über den zukünftigen Kurs der Partei eingebracht habe. Es sei »die Partei«, sagte sie am Mittwoch dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, die »die Richtung unserer Politik im Bundestag bestimmt«. Diese Feststellung darf man in einer Partei, in der die Bundes- und Landtagsfraktionen sich weitgehend verselbständigt haben, durchaus als Kampfansage auffassen. Vor wenigen Tagen erst hatte ein Mitglied des scheidenden Bundesvorstandes gegenüber jW analysiert, dass die Linkspartei sich einem Zustand nähere, in dem »die Mitglieder gar nichts, die Vorstände wenig und die Fraktionen alles zu sagen haben«.
    Falsch liegt allerdings, wer annimmt, dass die Thüringer Landes- und Fraktionschefin eine Stärkung der Autorität »der Partei« gegenüber den Fraktionen anstrebt, um diese wieder enger an Programm und aktuelle Beschlusslage anzubinden. Am Mittwoch bekräftigte sie gegenüber dpa, was sie auch bei anderen Gelegenheiten zu Protokoll gegeben hat: »Wir müssen vorbereitet sein, sollte sich das Fenster zu einer Regierungsbeteiligung in diesem Jahr öffnen.« Und: »Ich werbe dafür, uns regierungsbereit zu machen.«
    Die Herstellung von »Regierungsbereitschaft« wird hier ohne Zweifel verstanden als die Herbeiführung eines Zustandes, den die eventuellen »Partner« unter dem Stichwort »Regierungsfähigkeit« einfordern. Dafür muss noch der eine oder andere Akzent anders gesetzt und ein Stapel programmatisches Altpapier entsorgt oder wenigstens neu arrangiert werden. Auch der politisch-moralische Haushalt der Partei, in der sich viele Mitglieder unterhalb der Ebene der Vorstände und Fraktionen aus Sorge um das sozialistische und friedenspolitische Profil einer Umarmung durch SPD und Grüne auf Bundesebene entziehen wollen, muss aufgemöbelt werden – die Begeisterung für ein »grün-rot-rotes« Projekt wirkt nämlich sogar bei denen müde und gespielt, die dafür Werbung machen.
    Kurzum: Hennig-Wellsow wird, wenn sie sich am Sonnabend zur Wahl stellt, die Kandidatin der militanten »Regierungslinken« sein. Es ist nahezu sicher, dass sie gewählt wird. Mit einer gewissen Spannung wird allerdings auf ihr Wahlergebnis gewartet: Den meisten Delegierten dürfte klar sein, dass dieses Votum auch als Gradmesser für die Unterstützung, die das Projekt der Zurichtung der Partei für eine »Regierungsfähigkeit« auf Bundesebene genießt, interpretiert werden wird. Das gilt auch für die Kandidatur von Matthias Höhn, dessen »Diskussionangebot« zur Außen- und Sicherheitspolitik in den vergangenen Wochen für Unruhe sorgte, für den stellvertretenden Parteivorsitz.
    Vorerst weniger eindeutig positioniert sich in der Regierungsfrage die hessische Landtagsfraktionschefin Janine Wissler, die neben Hennig-Wellsow für das Amt der Kovorsitzenden kandidiert. Im September vergangenen Jahres hatte Wissler in einem Pressegespräch in Wiesbaden bekräftigt, sie fühle sich dem linken Flügel der Partei zugehörig. Manches deutet indes darauf hin, dass das für sie mitnichten ausschließt, im Zweifelsfall den Weg für eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei auch auf Bundesebene freizumachen. Im Gespräch mit der Taz legte Wissler vor einigen Tagen Wert auf die Feststellung, in Hessen sei »›Rot-Rot-Grün‹ zweimal nicht an uns gescheitert«. Zwar halte sie eine Regierung mit SPD und Grünen im Bund nicht für wahrscheinlich; man solle aber »nichts ausschließen«. Über »Regierung oder Opposition« wolle man »anhand von Inhalten« und der Frage, »ob wir Veränderungen durchsetzen können«, entscheiden. Da unklar und für Interpretationen offen ist, was für »Inhalte« und »Veränderungen« hier gemeint sind, kann jeder offensive Regierungsfreund mit so einer Einschränkung leben.
    Das Rennen um den Parteivorsitz scheint, da namhafte weitere Kandidaturen fehlen, vorab entschieden zu sein – auch wenn ein Genosse, der dem Vorstand eines ostdeutschen Landesverbandes angehört, am Mittwoch gegenüber jW einschätzte, dass bei diesem Parteitag »einige Überraschungen« möglich sind, da sich in und unter den »sortierenden Netzwerken« zuletzt manches verschoben habe. Dazu komme, dass in den neuen Parteivorstand viele Kandidatinnen und Kandidaten drängten, »von denen niemand so genau sagen kann, wie sie ticken«.
    Als offen galt auch das Rennen um den Posten des Bundesgeschäftsführers. Hier bewarben sich Amtsinhaber Jörg Schindler und der Leiter des Büros der Bundestagsfraktion, Thomas Westphal. Ein Delegierter deutete insbesondere diese Kandidatur gegenüber jW als Symptom für verdeckte Richtungskämpfe und Risse in der Strömungsarchitektur: Schließlich mute es »fast verrückt« an, unmittelbar vor sechs Landtagswahlen und einer Bundestagswahl den Bundesgeschäftsführer auszutauschen. Hinter den Kulissen wurde unterdessen intensiv nachverhandelt: Am Mittwoch nachmittag hieß es, Westphal ziehe seine Kandidatur zurück.
    Hintergrund: Aus dem Quark
    Der mehrfach verschobene, nun dezentral und online stattfindende Linke-Bundesparteitag konstituiert sich am Freitag um 13 Uhr. Am Nachmittag ist die Generaldebatte angesetzt, für den Abend sind zwei Stunden für die Beratung des Leitantrags und weiterer Anträge vorgesehen. Am Sonnabend sollen die Vorsitzenden- und Vorstandswahlen stattfinden. In den letzten Tagen vor dem Parteitag haben sich mehrere führende Akteure der Partei kritisch über deren Zustand geäußert. Der Bundestagsabgeordnete Jan Korte, dem im vergangenen Jahr Ambitionen auf den Parteivorsitz nachgesagt wurden, sagte am Montag gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: »Wir können nicht damit zufrieden sein, wie wir zur Zeit dastehen – zumal Die Linke gerade eine riesige Chance hat, die soziale Ungleichheit, die Zustände in den Krankenhäusern und die Privatisierung des Gesundheitswesens zu thematisieren«. Da sei die Partei zwar glaubwürdig, aber »bisher nicht richtig aus dem Quark gekommen. Das muss jetzt dringend anders werden«. Die scheidende Parteichefin Katja Kipping beschwerte sich gegenüber der Zeitung ND – der Tag (Montagausgabe) darüber, dass die beiden Vorsitzenden einerseits »möglichst gar nichts entscheiden« sollen, andererseits aber erwartet werde, dass sie »alle Probleme« lösten. Sahra Wagenknecht kritisierte am Dienstag gegenüber dem Spiegel einmal mehr, dass Die Linke zunehmend in »teuren Trendvierteln«, aber immer weniger in Plattenbauten gewählt werde. Sie hoffe, dass »die neue Führung es besser macht als die alte. Dass sie die Partei wieder zusammenführt, statt nur das eigene Lager zu pflegen«. Der aktuelle Umfragetrend für die Partei sei nicht ermutigend; in den aktuellen Debatten komme man kaum vor: »So sollten wir nicht weitermachen.« (np)

  91. @Kehrer
    Der Wasserstoff ist im Energiezusammenhang nur als Speichermedium im Spiel. Wenn z.B. viel Wind ist, könnte man dann, wenns wahr ist, die überschüssige Windenergie in Wasserstoff speichern. Derzeit wird sie irgendwie in den Rauchfang geschossen, so weit ich das verstehe.
    Der Wasserstoff generiert jedenfalls keine Energie.

  92. Verschärfter Konflikt
    Ärger in Irans Parlament über neue Vereinbarung mit Internationaler Atomenergiebehörde. US-Präsident koordiniert sich enger mit Israel
    Von Knut Mellenthin
    Der Konflikt zwischen den USA und ihren Verbündeten einerseits und dem Iran andererseits scheint sich nach dem Personalwechsel im Weißen Haus zu verschärfen, statt abzumildern. Seit Dienstag gelten für die Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in den iranischen Nuklearanlagen restriktivere Bedingungen. Statt des freiwilligen »Additional Protocol« gilt nur noch das »Safeguards Agreement«, das für alle Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrags obligatorisch ist. Die Regierung in Teheran folgte mit diesem Schritt dem Zeitplan eines Gesetzes, das am 1. Dezember vorigen Jahres vom iranischen Parlament beschlossen wurde.
    Die Wirklichkeit ist jedoch etwas komplizierter: Für eine Übergangszeit von mindestens drei Monaten gilt eine detaillierte Vereinbarung, die den Inspektoren der internationalen Behörde mehr Rechte und Optionen gibt als die im »Safeguards Agreement« vorgesehenen. Die Einzelheiten stehen in einem Anhang, der als vertraulich deklariert ist. Um die Bedingungen auszuhandeln, war IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi am Wochenende nach Teheran gekommen (siehe jW vom 23.2). Der Italiener äußerte sich zufrieden über das Ergebnis: Es ermögliche für die nächste Zeit die Fortsetzung der erforderlichen Maßnahmen.
    Khamenei als Vermittler
    Die Vereinbarung löste jedoch Ärger und Protest bei der Parlamentsmehrheit aus, die seit der letzten Wahl im Februar 2020 von den sogenannten Prinzipalisten, außerhalb Irans meist als »Hardliner« bezeichnet, gestellt wird. Sie sehen im Vorgehen Präsident Hassan Rohanis einen Verstoß gegen das Gesetz vom 1. Dezember. Ihrer Ansicht nach hätten sie in die Verhandlungen mit Grossi einbezogen werden müssen und sollten an allen künftigen Gesprächen über die IAEA-Kontrollen beteiligt werden. Die Rede ist sogar von einer Klage gegen Rohani. Da aber der »oberste Revolutionsführer« Ali Khamenei beide Seiten aufgefordert hat, die Meinungsverschiedenheiten nicht eskalieren zu lassen, sondern ruhig zu diskutieren, scheint eine Verschärfung des innenpolitischen Konflikts vorerst nicht zu drohen. Anders als vielfach außerhalb des Irans dargestellt, spielt Khamenei hauptsächlich die Rolle eines Vermittlers, dem es um den Zusammenhalt des »Establishments« – dieser Ausdruck wird in dem Land tatsächlich offiziell gebraucht – geht.
    Am schärfsten hat die israelische Regierung auf die Vereinbarung zwischen der IAEA und den Iranern reagiert. Außenminister Gabriel Aschkenasi, ein ehemaliger Generalstabschef der Streitkräfte, behauptete am Mittwoch, mit den jetzt geltenden Regeln würden »die letzten Überreste der Kontrollmöglichkeiten der IAEA zerstört«. Das ist zum einen offensichtlich unwahr und stellt außerdem eine bemerkenswerte Anmaßung dar. Israel selbst gewährt der Behörde, einer Unterorganisation der Vereinten Nationen, nicht die geringsten Einblicke in seine Atomanlagen und bei seinen Nuklearwaffen.
    Verteidigungsminister Benjamin Gantz, der Vorsitzende der Partei Blau-Weiß und ebenfalls ein ehemaliger Chef des Generalstabs, behauptete ohne die Spur von Beweisen, der Iran installiere »Hunderte technisch fortgeschrittener Zentrifugen in geheimen Anlagen«. So weit ist bisher nicht einmal Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gegangen.
    Drohungen aus Tel Aviv
    Zugleich forderte Gantz am Mittwoch internationale Maßnahmen gegen den Iran. Dieser stelle nicht nur »eine große Gefahr für den Staat Israel« dar, sondern sei auch »ein Problem für die Region und die ganze Welt«. »Wir müssen deshalb mit den Weltmächten zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass ein Abkommen mit dem Iran, falls ein solches unterzeichnet wird, sein Atomprogramm und seine Aktivitäten in Syrien beendet.« Die israelischen Streitkräfte, so Gantz weiter, bereiteten sich ständig auf die Möglichkeit vor, dass es nötig werden könnte, »operative Pläne zu aktivieren«.
    Die neue US-Regierung hat sofort nach Antritt des Präsidenten Joseph Biden vor gut fünf Wochen erste Gespräche mit Israel und Saudi-Arabien aufgenommen, um deren Forderungen und Befindlichkeiten bei ihrer »Iran-Diplomatie« und bei eventuellen späteren Verhandlungen mit Teheran angemessen berücksichtigen zu können. Vor allem mit der israelischen Regierung soll ein »stiller Dialog« geführt werden, um öffentliche Auseinandersetzungen wie zur Amtszeit von Barack Obama (2009–2017) zu verhindern.
    Hintergrund: Netanjahus Synchronstimme
    Als Politiker ist der Sozialdemokrat Heiko Maas ein Witz. Aber in allem, was im weitesten Sinn den Staat Israel angeht, ist er wenigstens berechenbar: Der Bundesaußenminister referiert den Standpunkt des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu.
    Am Mittwoch forderte Maas den Iran wieder einmal auf, endlich zu verstehen, dass es wichtig sei, »zu deeskalieren und das auf dem Tisch liegende Angebot der Diplomatie, einschließlich dem der USA, anzunehmen«. Wenn Maas im Zusammenhang mit dem Iran von »Diplomatie« spricht, meint er im wesentlichen das, was Expräsident Donald Trump als »Maximum pressure« zu bezeichnen pflegte, nämlich den Dreistufenplan Sanktionen, Isolierung und Erpressung.
    Die angestrebte »allgemeine Vereinbarung« umriss der SPD-Politiker am 4. Dezember 2020, vier Wochen nach Joseph Bidens Wahlsieg, in einem Interview mit dem Spiegel so: »Eine Rückkehr zum bisherigen Abkommen« – dem 2015 in Wien geschlossenen – »wird ohnehin nicht ausreichen. Es wird eine Art ›Nuklearabkommen plus‹ geben müssen, was auch in unserem Interesse liegt. Wir haben klare Erwartungen an Iran: keine Nuklearwaffen, aber auch kein ballistisches Raketenprogramm, das die ganze Region bedroht. Außerdem muss Iran eine andere Rolle in der Region spielen. Wir brauchen dieses Abkommen, gerade weil wir Iran misstrauen.«
    Das ist zwar nicht die offizielle Position Bidens und des State Departments: Beide sprechen immer noch eindeutig von der Rückkehr der USA in das Wiener Abkommen. Dieser Schritt solle dann als Ausgangspunkt für Gespräche über weiter gehende Forderungen dienen. Aber wie könnten die BRD und ihre europäischen Partner ihre Selbständigkeit gegenüber dem großen Verbündeten besser demonstrieren als durch solche radikalen Alleingänge? Und letztlich trifft Maas wohl auch das, was Biden in Wirklichkeit meint. (km)
    ______________
    Putschversuch in Armenien
    Militär fordert Rücktritt von Ministerpräsident. Paschinjan droht Opposition, Generalstabschef entlassen
    Von Nick Brauns
    In der Kaukasusrepublik Armenien hat sich am Donnerstag die Armee in die infolge eines Machtkampfes zwischen der Regierung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan und der Opposition ausgelöste innenpolitische Krise eingemischt. »Der Premierminister und die Regierung sind nicht mehr in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen», heißt es in einem von 40 hochrangigen Militärs, darunter Generalstabschef Onik Gasparjan, unterzeichneten Memorandum, in dem der Rücktritt der Regierung gefordert wird. Zuvor hatte bereits die größte Oppositionspartei, Blühendes Armenien, nach Großkundgebungen von Zehntausenden Menschen gegen den Regierungschef ultimativ dessen Rücktritt verlangt, »um das Land nicht in einen Bürgerkrieg zu führen und Blutvergießen zu vermeiden«.
    Paschinjan sprach auf Facebook von einem »versuchten Militärputsch«. Die von ihm verfügte Entlassung des Generalstabschefs muss vom Staatspräsidenten noch bestätigt werden. Am Vortag hatte der Premier bereits Vizegeneralstabschef Tigran Khachatrjan entlassen. »Die Situation ist angespannt, aber wir müssen uns einig darin sein, dass es keine Zusammenstöße geben darf«, erklärte Paschinjan am Donnerstag vor Tausenden Anhängern auf dem Platz der Republik in Jerewan. Den Führern der Opposition drohte der Regierungschef mit ihrer Inhaftierung, sollten sie eine »Linie überschreiten«.
    Die nationalistischen Oppositionsparteien machen Paschinjan für die Niederlage im sechswöchigen Krieg um die armenische Exklave Berg-Karabach in Aserbaidschan im vergangenen Herbst verantwortlich, der bis zu 6.000 Menschenleben auf beiden Seiten gekostet hat. Die aserbaidschanische Armee hatte am 27. September 2020 eine Großoffensive zur Rückeroberung des Gebietes gestartet, das sich 1991 für unabhängig erklärt hatte. Gegen die Militärmacht der von der Türkei unterstützen aserbaidschanischen Armee hatten die Truppen von Armenien und der international nicht anerkannten Republik Arzach keine Chance.
    So musste Paschinjan im November einem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen zustimmen. Damit erlangte Aserbaidschan die Kontrolle über die Anfang der 90er Jahre von der armenischen Armee als Schutzgürtel um Berg-Karabach besetzten aserbaidschanischen Provinzen zurück, während in Berg-Karabach eine russische Friedenstruppe stationiert wurde. Neben den Gebietsverlusten sorgten Aufnahmen von aserbaidschanischen Soldaten in sozialen Medien, die armenische Gefangene folterten und enthaupteten und Heiligtümer zerstörten, für Wut in Armenien.
    Paschinjan war 2018 nach Massenprotesten gegen Korruption und Vetternwirtschaft ins Amt gelangt. Er hatte versuchte, Armenien durch Annäherung an die EU aus der einseitigen Abhängigkeit der traditionellen Schutzmacht Russland zu lösen, sein Schicksal dann aber durch das Friedensabkommen völlig in Moskaus Hände gelegt.

  93. Zeit der Abkopplung
    Russland verliert im deutschen Osthandel an Bedeutung. Wachsende Rolle Zentraleuropas. Moskau gewinnt durch Sanktionen an Stärke
    Von Reinhard Lauterbach
    Der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft hat ein zuversichtliches Bild des deutschen Handels mit Osteuropa im angelaufenen Jahr gezeichnet. Wie der Verbandsvorsitzende Oliver Hermes auf dem Onlinejahresauftakt am Donnerstag sagte, ist der Handel zwischen der Bundesrepublik und den 29 Ländern zwischen Polen und Tadschikistan, die der Ostausschuss als Tätigkeitsfeld hat, im Jahr 2020 zwar um acht Prozent auf 423 Milliarden Euro zurückgegangen; das Jahresende habe aber gezeigt, dass die Werte der Zeit vor der Pandemie beinahe wieder erreicht worden seien. Der Handel mit den Ländern Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion umfasst nach Darstellung des Verbandes rund ein Fünftel des gesamten deutschen Außenhandels.
    Allerdings verbergen sich hinter diesen Zahlen Entwicklungen, die im einzelnen so unterschiedlich sind, dass man sich schon fragen kann, ob es noch begrifflich sinnvoll ist, sie unter der Bezeichnung »Osthandel« zusammenzufassen. So ging der Handel zwischen Deutschland und Russland 2020 um mehr als 22 Prozent auf 45 Milliarden Euro zurück. Russland fiel damit als Handelspartner der BRD nicht nur hinter Polen und Tschechien, sondern inzwischen sogar schon hinter Ungarn zurück. Die Zahlen: Außenhandelsumsatz mit Polen 112 Milliarden Euro, mit Tschechien trotz Einbußen um acht Prozent immer noch 82 Milliarden und mit Ungarn trotz eines Rückgangs um sechs Prozent 52 Milliarden. Man kann es auch so formulieren: Auf die drei zentraleuropäischen Kernländer der EU-Erweiterung von 2004 entfällt inzwischen mehr als die Hälfte des gesamten deutschen Osthandels. Alle drei Länder seien inzwischen »zentrale Bestandteile der Lieferketten« der deutschen Industrie, so Hermes. Er beschwerte sich aus dieser Perspektive über die Erschwernisse, die die jüngst eingeführten Grenzkontrollen an der deutsch-tschechischen Grenze für Betriebe aus der BRD mit sich brächten, die auf Zulieferungen aus den Nachbarländern angewiesen seien.
    Schwierigkeiten, die offenbar von einigen der osteuropäischen Länder »kreativ« gelöst werden. Wie in einer Diskussionsrunde der Vertreter der deutsch-slowakischen Außenhandelskammer sagte, haben sich die angesichts der Coronalage in der Slowakei auch dort eingeführten Grenzkontrollen nicht so stark ausgewirkt wie befürchtet. Es würden »kleinere Übergänge« genutzt. Im Klartext heißt das wohl: die Vierzigtonner fahren durch die Maisfelder über die grüne Grenze nach Österreich oder Tschechien, um die Kontrollen zu umgehen.
    Einflussreich ist der Ostausschuss im politischen Berlin immer noch: Immerhin hielt der Bundespräsident ein zehnminütiges Grußwort. Frank-Walter Steinmeier äußerte sein Bedauern darüber, dass die aktuelle russische Führung das Land »stärker als je in den letzten 300 Jahren« von Westeuropa abzuschotten bestrebt sei, und dass viele der »Brücken«, die in den letzten 30 Jahren gebaut worden seien, inzwischen »bröckelten«. Welchen Anteil die eigene Seite hieran habe, reflektierte er nicht. Steinmeier schwor die Wirtschaft darauf ein, dass sie nicht isoliert von der politischen Großwetterlage ihren Geschäften nachgehen könne – im Klartext: Mit einer Aufhebung der antirussischen Sanktionen sei kurzfristig nicht zu rechnen.
    Genau dies hatten am Mittwoch im Wirtschaftsausschuss des Bundestages bei einer öffentlichen Anhörung die meisten geladenen Experten gefordert. Selbst der Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau räumte ein, dass die Sanktionen eine vielfach gegenüber der Absicht gegenteilige Wirkung gehabt und die russische Wirtschaft eher gestärkt hätten. So sei Russland inzwischen Exporteur von Getreide, das habe es seit Jahrzehnten nicht gegeben. Die russischen Banken schwämmen im Geld, trug ein anderer Experte nach, die Staatsfinanzen seien solide, die Verschuldung relativ gering. Michael Harms, Geschäftsführer des Ostausschusses, warnte davor, die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt mit Sanktionen in die Knie zwingen zu wollen. Das könne nicht funktionieren.
    Zurück zu der Veranstaltung vom Donnerstag: In einem weiteren Statement machte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Miguel Berger, deutlich, dass die Bundesregierung nach wie vor an der Fertigstellung der Ostseepipeline Nord Stream 2 festhalte. Die Bundeskanzlerin sei gern bereit, mit den USA einen »Dialog« über das Projekt zu führen – Nord Stream 2 sei für die BRD Chefinnensache – aber für die Bundesregierung sei klar, dass am Ende dieses Dialogs die »Finalisierung des Projekts« stehen müsse. Die Rohrverlegung hat seit Anfang Februar wieder begonnen. Nach Berichten russischer Medien soll die Leitung zum »Tag Russlands« am 12. Juni fertiggestellt sein. Auch in Polen versachlicht sich die Diskussion um Nord Stream 2 allmählich: Das intellektuelle Portal Kulturaliberalna.pl fragte vor einigen Tagen schon, wie die EU langfristig irgendwelchen Einfluss auf Russland bewahren wolle, wenn sie ihm nicht wenigstens die Chance gebe, seine Rohstoffe zu verkaufen.

  94. So geht das nicht weiter
    Linke-Parteitag: Reden der Partei- und Fraktionsspitze. Regierungskurs Thema in Generaldebatte. ND-Belegschaft will am Samstag protestieren
    Von Nico Popp
    Am Freitag mittag hat der 7. Parteitag der Partei Die Linke begonnen. Die rund 550 Delegierten waren pandemiebedingt lediglich online zugeschaltet. In dem zum Messe- und Kongresszentrum umgebauten ehemaligen Postbahnhof am Berliner Gleisdreieck befinden sich die Technik, eine Bühne, die Tagungsleitung und Vertreter der Parteiführung.
    Für den Freitag waren nach der Konstituierung bis zum Abend Reden der aus dem Amt scheidenden Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger sowie der Kovorsitzenden der Bundestagsfraktion Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch, die Generaldebatte und die Antragsberatung vorgesehen.
    Kipping rief die Partei in ihrer letzten Rede als Parteichefin auf, die Frage einer möglichen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zu klären. »Denn die Zeiten verlangen von uns mehr, als einfach an der Seitenlinie zu stehen und das schlechte Spiel der anderen zu kritisieren«, sagte sie. Die aktuell ungünstigen Umfragewerte der Linkspartei führte sie auch auf die Unklarheit in der Frage einer möglichen Regierungsbeteiligung zurück. Eine hierin »unentschiedene« Partei werde insgesamt weniger beachtet. Riexinger sagte in seiner Rede: »Unsere Positionen zum Frieden, gegen alle Auslandseinsätze der Bundeswehr stehen: Wir werden uns an keiner Regierung beteiligen, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt.«
    Kipping und Riexinger nahmen als Ergebnis ihrer Amtszeit in Anspruch, dass die Linkspartei in den vergangenen neun Jahren »moderner« geworden und aus der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken sei. »Wir übergeben eine Partei, die für kommende Auseinandersetzungen gut aufgestellt ist«, sagte Riexinger in seiner Abschiedsrede.
    Für die Generaldebatte hatte die Parteitagsregie lediglich 90 Minuten vorgesehen. Trotz der eingeschränkten Rednerzahl und kurzer Redezeiten von nur zwei Minuten wurde anschließend deutlich, dass das wesentliche, in der Partei kontroverse Thema derzeit die Frage einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene und die Voraussetzungen dafür sind. Einzelne Delegierte warnten davor, Regierungspolitik mit »Gestaltungsmacht« zu verwechseln und eine Bundesregierung zusammen mit »Cum-Ex-Scholz« und »Aufrüstungs-Baerbock« zu bilden. Gefragt wurde, warum die SPD in dem Augenblick, in dem man mit ihr regiere, eine andere Partei sein solle als jetzt, wo man sie in der Opposition scharf kritisiere. Eine Delegierte aus Hessen sagte, sie wolle nicht, dass die Linke demnächst eine Regierungspolitik vertreten müsse, die sich gegen ihre eigene »Kernklientel« richte. Umgekehrt gab es allerdings auch Forderungen, diese Debatte nun »wegzupacken« und zu »verändern« statt »nur zu kritisieren«.
    Der Parteitag lief über weite Strecken zunächst ohne technische Störungen und größere zeitliche Verzögerungen ab. In der Antragsdebatte entstand am Abend indes mitunter der Eindruck, dass Tagungsleitung und Antragskommission nach einer Reihe von Geschäftsordnungsanträgen, Blockabstimmungen und technischer Probleme kurz davor waren, den Überblick zu verlieren. Wortmeldungen von Delegierten (»Das kann so nicht weitergehen«, »missverständlich formuliert«, »Ich fürchte, ich bin nicht der einzige, den das verwirrt«, »Ich finde das einfach unmöglich«) war zu entnehmen, dass phasenweise Unklarheit darüber herrschte, worüber gerade abgestimmt wurde. Der Zeitplan konnte nicht mehr eingehalten werden. Ein Antrag, die offenbar für Verwirrung sorgenden Blockabstimmungen über unterschiedliche Abänderungsanträge zum Leitantrag nicht mehr durchzuführen, scheiterte knapp mit 205 gegen 239 Stimmen. Kurz nach 22 Uhr billigten die Delegierten schließlich den vom Parteivorstand eingebrachten Leitantrag nach einigen kleineren Änderungen mit großer Mehrheit. Anschließend verabschiedete Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler Kipping und Riexinger als Parteivorsitzende.
    Am Samstag steht die Neuwahl der Doppelspitze bzw. des Parteivorstandes auf der Tagesordnung. Zum Auftakt des Parteitages am Samstag wollen Mitarbeiter der parteieigenen Tageszeitung ND ab 8 Uhr mit einer Kundgebung vor dem Veranstaltungsort am Gleisdreieck gegen die am Freitag bekanntgewordenen Pläne der Gesellschafter demonstrieren, die GmbH zum Jahresende aufzulösen. Der Bundesschatzmeister der Linkspartei, Harald Wolf, sagte am Freitag der Nachrichtenagentur dpa: »Wir überlegen, die Eigentümerstruktur zu verändern.« Es gebe aber »noch kein Ergebnis«.
    Eine Option sei, die traditionsreiche Zeitung in eine »neue Gesellschaftsform zu überführen und eine Genossenschaft zu gründen«. Die Gewerkschaft Verdi forderte am Freitag in einer Mitteilung, »dass die zukünftige Genossenschaft tarifgebunden bleibt und die Partei Die Linke als Gesellschafterin offen und transparent kommuniziert«. Letzteres sei, so ein Verdi-Vertreter, bislang nicht der Fall: »Das kann so nicht weitergehen.« Laut Verdi wurde die Belegschaft bereits aufgefordert, eine Genossenschaft zu gründen. Über einen eigens eingerichteten Twitter-Account von Verlag und Redaktion des ND wurden die Delegierten des Linke-Parteitages am Freitag aufgefordert, die Anliegen der Belegschaft beim Parteitag zur Sprache zu bringen.

  95. Mit Schinken und Hartkäse
    Belarus: Treffen Lukaschenko-Putin. Oppositionelle räumt Niederlage ihrer Protestbewegung ein
    Von Reinhard Lauterbach
    Die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja hat die einstweilige Niederlage der von ihr geleiteten Protestbewegung gegen Staatspräsident Alexander Lukaschenko eingeräumt. In einem Gespräch mit der Schweizer Zeitung Le Temps vom Sonnabend sagte die im litauischen Exil lebende Politikerin, ihre Bewegung habe »die Straßen verloren«. Sie äußerte jedoch die Hoffnung, dass sich das im Frühjahr ändern könne, und rief ihre Anhänger zu neuen Straßenkundgebungen am 25. März auf.
    Das Datum wird von den antirussischen Kräften in Belarus als »Tag der Freiheit« begangen. Am 25. März 1918 hatte sich in Minsk eine kurzlebige »belarussisch-litauische Volksrepublik« konstituiert. Im übrigen wolle Tichanowskajas »Koordinationsrat für die Machtübergabe« jetzt versuchen, Berufsverbände für Lehrer, Ärzte und – überraschend – Angehörige der Polizei zu gründen und zu vernetzen. In ihrem Aufruf an die eigenen Anhänger wurden die antirussischen Töne deutlicher. So warf sie Lukaschenko vor, er verkaufe Belarus »stückweise« an Russland als Gegenleistung für dessen Unterstützung.
    Es war nicht das erste Mal, dass sich Tichanowskaja in diesem Sinne äußerte. Schon Anfang dieses Monats hatte sie in einer Videokonferenz mit mehreren EU-Außenministern erklärt, nur stärkerer Druck von außen könne jetzt noch verhindern, dass Lukaschenko die Auseinandersetzung für sich entscheide. Mit der Verhängung weiterer Sanktionen hatte es die EU bislang jedoch nicht eilig. Denn den Planern in Brüssel und in den meisten Hauptstädten ist klar, dass es erstens angesichts des geringfügigen Handels zwischen der EU und Belarus nicht mehr viel einzuschränken gibt, und dass zweitens jeder derartige Schritt die in Minsk Herrschenden nur noch stärker an Moskau binden würde.
    Genau das schien am Montag der Fall zu sein. Lukaschenko und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin trafen sich in Sotschi zu einem eintägigen »Arbeitsbesuch«. Die beiden Präsidenten legten erkennbaren Wert darauf, eine entspannte Atmosphäre zu demonstrieren: Beide trugen Jeans, das Fernsehen zeigte ein Putin-Statement über die »Nähe des russischen und belarussischen Volkes« und die Vielfalt der politischen Kontakte, das Lukaschenko in seiner Erwiderung praktisch Wort für Wort wiederholte. Putin lobte die »schmackhaften und preisgünstigen« belarussischen Lebensmittel, Lukaschenko revanchierte sich mit einem Präsentkorb mit Hartkäse und luftgetrocknetem Schinken aus dem Land. Die eigentlichen Gespräche dauerten allerdings sechs Stunden, unterbrochen von Ausflügen in den kaukasischen Winter auf Snowmobil und Skiern, und über sie wurde nichts mitgeteilt. So wurde insbesondere die zuvor von russischer Seite verbreitete Information nicht bestätigt, Lukaschenko wolle um einen weiteren Kredit in Höhe von drei Milliarden US-Dollar bitten. Minsk hatte dies allerdings ohnehin nie bestätigt.
    In der Frage der von Russland verlangten, tieferen Integration beider Länder kam es offenbar zu keinem Durchbruch. Lukaschenko stellte die Gespräche zwar als weit fortgeschritten dar: Nur noch »sechs oder sieben« von 33 »Roadmaps« zu weiterer Zusammenarbeit müssten noch ausgearbeitet werden, die anderen seien unterschriftsreif.
    Diese Zahl der sechs oder sieben offenen Fragen ist aber seit Monaten unverändert, was nicht auf Bewegung in der Sache hindeutet. Am Montag sagte Lukaschenko, er sei bereit, Russland einen »Ausgleich« dafür zu bieten, dass der Verbrauch russischen Gases im Land nach der Inbetriebnahme des ebenfalls von Moskau finanzierten und gebauten AKW nahe der litauischen Grenze zurückgehen werde. Um den Gasverbrauch – und damit die Einnahmen Russlands – zu stabilisieren, solle die Düngemittelfabrik Grodno Asot in der gleichnamigen Stadt im Westen von Belarus um ein viertes Kombinat erweitert werden. Lukaschenko deutete an, er werde mit dem russischen Gasprom-Konzern die Frage weiter besprechen. Das liest sich, als sollte Gasprom den Verkauf seines eigenen Produkts durch die Investition in die belarussische Fabrik vorfinanzieren.
    Rotlicht: Russisch-belarussische Union
    Von Reinhard Lauterbach
    Als 1991 die Sowjetunion auseinanderbrach, wurde dies in denjenigen Unionsrepubliken, in denen eine regionale nationalistische Bewegung die Regie übernommen hatte, begrüßt. Andernorts wurde das Zerbrechen der Union als Trauma erlebt. Zu diesen Republiken gehörte damals Belarus, dessen regionales Selbstbewusstsein stark von der Erinnerung an den gemeinsamen Kampf gegen Nazideutschland, die hohen Opfer der Besatzungszeit und den erfolgreichen Wiederaufbau mit Mitteln aus der gesamten Union nach 1945 geprägt war. Diese Erinnerung spielte noch bei der Wahl von Alexander Lukaschenko zum Präsidenten 1994 eine Rolle. In Russland wurde umgekehrt der Vorwurf an Boris Jelzin, er habe die Weltmacht UdSSR um seiner Karriere willen gezielt zerschlagen, zu einer ständigen Belastung seines Ansehens im Inland.
    Für eine Reintegration der beiden Staaten sprachen aber auch harte wirtschaftliche und militärische Fakten. So war Russland ab Mitte der neunziger Jahre damit konfrontiert, dass die NATO ihre Ausdehnung nach Osten vorzubereiten begann; Moskau musste daran gelegen sein, an seiner Westflanke zumindest Belarus an sich zu binden. Belarus dagegen blieb für den Absatz der Produkte seiner Volkswirtschaft stark auf den russischen Markt angewiesen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Noch Anfang dieser Woche sprach Lukaschenko bei seinem Besuch in Sotschi davon, dass 70 Prozent der nationalen Wirtschaft an den russischen Markt »angebunden« seien. Außerdem empfahl es sich für Lukaschenko aus innenpolitischen Gründen, der damals starken prosowjetischen Stimmung, der er sein Amt verdankte, Rechnung zu tragen.
    In dieser Situation schlossen Russland und Belarus ab 1996 nacheinander mehrere Abkommen über eine immer weitgehendere Integration ab. Formaler Höhepunkt war der Vertrag über die Gründung eines Unionsstaates beider Länder vom 8. Dezember 1999, also gerade drei Wochen vor dem Rücktritt Boris Jelzins. Nicht explizit bestätigt, aber ziemlich plausibel ist die Vermutung, dass Lukaschenko seinerzeit die Integration auch deshalb vorantrieb, weil er sich für seine eigene politische Karriere das Aufrücken an die Spitze eines künftigen Unionsstaates erhoffte.
    Solange im Kreml der kranke und immer weniger handlungsfähige Jelzin regierte, hatte Lukaschenko Anlass, sich solche Hoffnungen zu machen. Nachdem sich Jelzins Umfeld aber entschieden hatte, Wladimir Putin zum Nachfolger aufzubauen, machte dieser seinem Kollegen in Minsk sehr schnell klar, dass es Russland sein werde, das die Konditionen einer weiteren Annäherung bestimmen werde. Seitdem ist auf beiden Seiten der Drang zu tieferer Integration zum Stillstand gekommen. Russische Forderungen etwa nach einer Währungsunion stießen bei dem Nachbarn auf Widerstand, nachdem Putin deutlich gemacht hatte, dass dies nicht bedeute, dass Lukaschenko seine Wirtschaft mit frisch gedruckten russischen Rubeln sanieren könne. Wenn der belarussische Präsident heute von der Integration redet, meint er in erster Linie die Gewährung von Vorzugspreisen für russische Energieträger. Klassisch war die russische Entgegnung, als Lukaschenko für sein Land Preise wie im russischen Gebiet Smolensk verlangte: Die könne er haben, wenn er Belarus in die Russländische Föderation eingliedere.
    Heute beschränkt sich die russisch-belarussische Union auf eine Zollunion und ein Regime offener Grenzen für den Reise- und Warenverkehr sowie die gegenseitige Anerkennung von Diplomen. An weiteren Schritten besteht insbesondere in Belarus kein großes Bedürfnis in der Gesellschaft. Für das Aufgehen des Landes in Russland sprachen sich zuletzt nur drei Prozent der Befragten aus.
    Kiew will Regeln ändern
    Ukraine will Minsker Abkommen »korrigieren«. Militärische Zwischenfälle im Donbass
    Von Reinhard Lauterbach
    Die ukrainische Führung hat einen neuen Versuch gestartet, die Minsker Vereinbarungen von 2015 zur Beilegung des Konflikts im Donbass in Frage zu stellen. Andrej Jermak, Chef der Präsidialverwaltung in Kiew, sagte am Freitag in einem Fernsehinterview, die Bedingungen seien so, wie sie dort stehen, für die Ukraine praktisch nicht erfüllbar. Sie müssten »korrigiert« werden, denn sie seien 2015 genau mit diesem Ziel formuliert worden. Ähnlich hatte sich zuvor auch schon Staatspräsident Wolodimir Selenskij geäußert.
    In der Tat ist die Realisierung der Bestimmungen über einige unmittelbar militärische Aspekte des Waffenstillstands nicht hinausgekommen. Selbst der Rückzug schwerer Waffen von der Frontlinie wird, so ein ukrainischer Offizier am Wochenende gegenüber dem Portal strana.ua, nicht eingehalten – von beiden Seiten, wie er einräumte. Zuletzt ist die Zahl der militärischen Zwischenfälle entlang der Frontlinie angestiegen. Beide Seiten erleiden dabei Verluste und beschuldigen sich gegenseitig, mit dem Beschuss angefangen zu haben. Etliche der Verluste auf ukrainischer Seite geschehen offenbar beim Minenräumen – es stellt sich die Frage, ob diese Vorfälle sich im Rahmen der schon früher beobachteten Praxis der ukrainischen Armee abspielen, sich das militärisch unbesetzte Niemandsland zwischen den Fronten in kleinen Schritten zurückzuholen.
    Keinerlei Bewegung gibt es dagegen bei den politischen Aspekten der Vereinbarung: der Verpflichtung Kiews, einen Sonderstatus des Donbass einzuführen, eine Amnestie für die Teilnehmer an dem Aufstand gegen den Euromaidan von 2014 zu erklären und lokale Wahlen durchzuführen. Den Endpunkt des damals verabschiedeten Zeitplans, die Rückgewinnung der Kontrolle über die Grenze zwischen dem Donbass und Russland, verlangt Kiew als Vorbedingung für Fortschritte in allen anderen Fragen.
    Genauer gesagt: Einen Sonderstatus droht Kiew für das Donbass durchaus einzuführen – aber keinen, wie ihn das Minsker Abkommen vorsieht. Anfang Februar veröffentlichte das ukrainische »Ministerium für die vorübergehend besetzten Gebiete« einen Gesetzentwurf, der für den Donbass im Falle seiner Rückgewinnung der dortigen Bevölkerung für mindestens zwei Jahre das Wahlrecht vorenthält. Entgegen der Forderung nach einer Amnestie ist die Bestrafung aller Angehörigen des Staatsapparats und des Militärs der »Volksrepubliken« vorgesehen, außerdem die politische Überprüfung aller Personen, die selbst auf unterer Ebene öffentliche Funktionen ausgeübt haben – ohne gerichtliche Kontrolle.
    Eine andere Frage ist, wie die Ukraine ihre Forderung nach einer Änderung der Minsker Bedingungen durchsetzen will. Eine Aufkündigung kommt eher nicht in Frage, weil das Abkommen auch die Grundlage für die EU-Sanktionen gegen Russland ist. Moskau weist westliche Forderungen, »Minsk zu erfüllen«, regelmäßig mit dem Argument zurück, es sei keine Vertragspartei, sondern lediglich Garant des Abkommens. Jermak forderte in dem Interview auch, die USA sollten eine »aktivere Rolle bei der Lösung des Konflikts« spielen. Dem müssten allerdings die Parteien des Minsker Abkommens zustimmen, und zumindest Russland hat hierzu keinen Anlass. Auch ob sich Frankreich und die BRD auf diese Weise an den Rand drängen ließen, müsste sich noch zeigen. Andere ukrainische Politiker wünschen sich angesichts dieser Hürden überhaupt ein »neues Format« der Gespräche, unter Beteiligung der USA und Polens. Die wesentliche Leistung des Formats wäre dann die formelle Erklärung Russlands zur Kriegspartei, verbunden mit neuen Vorwürfen. Was das zur Beilegung des Konflikts beitragen könnte, bleibt offen.
    Hydrogenium statt Erdgas
    Flüchtiger Stoff und politischer Wille: Deutschland und die Ukraine wollen »Wasserstoffpartnerschaft« eingehen
    Von Reinhard Lauterbach
    Als Anfang dieses Monats das Handelsblatt unter Berufung auf einen ungenannten Beamten des Berliner Kanzleramts über eine mögliche Kompromisslinie im Streit mit den USA um die Erdgaspipeline Nord Stream 2 berichtete, nannte die Zeitung als eine der möglichen Gegenleistungen der Bundesrepublik die Unterstützung der Ukraine bei der Produktion von Wasserstoff und dessen Transport in die EU. Auf diese Weise solle das Land als wichtiger Akteur im europäischen Gasmarkt gehalten werden.
    Sollte das tatsächlich eine explizite Forderung der neuen US-Regierung sein, würde sie damit in Berlin offene Türen einrennen. Seit dem Sommer 2020 gibt es ganz offiziell eine »deutsch-ukrainische Wasserstoffpartnerschaft«, verkündet von Wirtschaftsminister Peter Altmaier und seiner ukrainischen Amtskollegin Olga Buslawez. Tochtergesellschaften des Bundeswirtschaftsministeriums wie die Deutsche Energieagentur (Dena) oder die Entwicklungsorganisation GIZ sollen Kiew beim Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur unterstützen. Der notwendige Übergang auf Wasserstoff als neue Antriebsenergie für industrielle Prozesse, aber potentiell auch den Autoverkehr, ist eine der Grundannahmen in den Plänen der Bundesregierung zur »Energiewende« und in Richtung »Klimaneutralität«. Im Dezember schrieb das Handelsblatt in einer Übersicht, die BRD werde etwa 70 Prozent ihres künftigen Wasserstoffbedarfs importieren müssen.
    An dieser Stelle kommt die Ukraine ins Spiel. Sie liegt relativ nah an der EU, und es gibt bereits ein Netz von Gasleitungen. Das wird derzeit für die Durchleitung von russischem Erdgas genutzt, ist aber immer weniger ausgelastet: Die Kapazität der Leitungen liegt bei 120 Milliarden Kubikmetern jährlich, genutzt wird derzeit etwa ein Drittel. Würde die Ukraine diese Leitungen künftig zum Transport von Wasserstoff nutzen, könnte es ihr im Grunde egal sein, ob Russland kaum noch Erdgas durchleitet. Einnahmen bekäme sie dann aus der EU.
    Eine Wasserstoffproduktion in anderen Weltregionen wäre technisch einfacher, aber wegen der großen Entfernungen etwa von Australien oder Chile nach Europa unwirtschaftlich. Allerdings stellt sich die große Frage, ob Wasserstoffexport aus dem osteuropäischen Land für die Beteiligten eine solche »Win-win-Situation« darstellt, wie es die Präsentationen aus den Ministerien suggerieren.
    Beginnen wir mit der Produktion: Diese ist enorm energie- und ressourcenaufwendig. Für die Produktion eines Kilogramms Wasserstoff durch Elektrolyse werden zum Beispiel 55 Kilowattstunden Strom und zehn Liter Wasser gebraucht. Die Frage ist, wo diese benötigten Ressourcen herkommen sollen. Als Standort für Wasserstoffproduktionen kommt in erster Linie der Flusslauf des Dnepr (Dnipro) in Frage. Er ist in UdSSR-Zeiten zu sechs Seen aufgestaut worden, mit je einem Wasserkraftwerk an der Sperrmauer. Der dort erzeugte Strom wäre also theoretisch »grün«, weil aus Wasserkraft erzeugt. Aktuell produzieren die sechs Kraftwerke der »Dnipro-Kaskade« etwa zehn Prozent des Strombedarfs der Ukraine.
    Alternativ könnten auch die insgesamt neun Atomreaktoren in zwei Komplexen das Energieproblem lösen, beide am Unterlauf des Flusses gelegen. Dieser Strom wäre allerdings ökologisch nicht so unbedenklich. Zwar wird bei der Produktion von Atomenergie kein CO2 freigesetzt, aber dafür bestehen die bekannten sonstigen Probleme. Außerdem ist die Verfügbarkeit der dortigen Reaktoren in letzter Zeit nicht mehr sehr hoch: Im AKW Saporoschje (Saporischschja) zum Beispiel lagen zuletzt drei der sechs Reaktoren gleichzeitig wegen Wartungsarbeiten still. Es müssten also zusätzliche Kapazitäten her.
    Schwieriger ist es mit dem Wasser. Hier könnte die Elektrolyse in Konkurrenz zur Nutzung für die Bevölkerung und die Landwirtschaft kommen, zumal im Süden des Landes. Theoretisch verfügbar wäre im wesentlichen die Menge, die früher für die Trinkwasserversorgung der Krim genutzt wurde. Die fließt jetzt ungenutzt ins Schwarze Meer, seitdem Kiew den Kanal 2014 gesperrt hat.
    Die Ukraine ist dabei, sich als Standort für die Produktion von Energie aus erneuerbaren Ressourcen ins Gespräch zu bringen. 2019 legte die dortige Akademie der Wissenschaften einen Atlas der Potentiale des Landes vor. Der weist große Möglichkeiten für die Erzeugung von Wind- und im Süden und Osten des Landes auch Solarstrom aus. Die entsprechende Infrastruktur müsste allerdings erst noch geschaffen werden. Wer sie bezahlen soll, ist unklar.
    Bei weitem noch nicht gelöst ist auch die Frage des Transports des Energieträgers in die EU. Denn erstens sind bestehende Gasleitungen nicht einfach auch für Wasserstoff geeignet. Das Element ist weit flüchtiger als Erdgas, weil seine Moleküle kleiner sind. Dadurch ist Wasserstoff auch in der Lage, Metallwände der Röhren zu durchdringen und in die Atmosphäre zu entweichen. Die Transportverluste wären erheblich. Zudem ist das ukrainische Leitungsnetz technisch marode. Die Kosten für seine Sanierung werden auf etwa die gleiche Höhe geschätzt wie die der Investitionen für den Bau von Nord Stream 2.
    Hintergrund: Pilotprojekt ­Wasserstoff
    Das Interesse der Bundesregierung an der Erzeugung von Wasserstoff in der Ukraine hat zwei Aspekte. Die Nutzung des Produkts als Rohstoff für die »Energiewende« ist nur der eine. Der zweite ist, dass in der Ukraine ein staatlich geförderter Absatzmarkt für deutsche Energietechnologien entstehen soll. Wie Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) im letzten Sommer bei der Verabschiedung der »Nationalen Wasserstoffstrategie« sagte, stehen Unternehmen aus verschiedenen Ländern in den Startlöchern, um sich den Markt für die Anlagen zur Produktion, zum Transport und zur Rückverstromung des gewonnenen Gases zu sichern. Das Spektrum ist breit, und der Markt verspricht, groß zu werden: Sogar Meerwasserentsalzungsanlagen könnten ins Spiel kommen, falls, wie schon diskutiert, die Süßwasserressourcen der ­Ukraine nicht ausreichen sollten. Würden Unternehmen aus der BRD einen mehr oder minder geschlossenen Produktionszyklus rund um die Elektrolyse anbieten können, wäre das ein internationaler Konkurrenzvorteil.

  96. So sei Russland inzwischen Exporteur von Getreide, das habe es seit Jahrzehnten nicht gegeben.

    So ein Unsinn!
    Rußland war lange einer der größten Getreideexporteure der Welt.
    Es war eben eine Folge der Aneignung des Lebensmittelhandels durch die Fridmann-Gruppe, daß jede Menge Lebensmittel aus dem Ausland importiert wurden und die Kolchosen auf ihren Produkten sitzenblieben. Deshalb stellten sie auf Getreide um, weil das auf dem Weltmarkt relativ problemlos absetzbar ist.
    Als 2010 die Waldbrände in Rußland tobten, und ein Teil der Getreideernte gefährdet war, stiegen sofort die Preise für Weizen und noch ein anderes Getreide.
    Es hat sich nach den gegenseitigen Sanktionen eher der umgekehrte Trend eingebürgert, mehr für den Inlands-Lebensmittelmarkt zu produzieren, anstatt wie ein Dritte Welt-Land Agrar-Rohprodukte auszuführen und fertig verarbeitete Lebensmittel einzuführen – sodaß der Getreide-Export zurückgegangen ist.
    „Die Sanktionen waren ein Segen für uns“, sagte mir eine tartarische Landwirtin aus der Wolgagegend 2018.

    wenn sie ihm nicht wenigstens die Chance gebe, seine Rohstoffe zu verkaufen.

    Man beachte den gönnerhaften Tonfall des polnischen „intellektuellen Portals“: Man müsse Rußland „eine Chance geben“ – andere hat es offenbar nicht? – „seine Rohstoffe zu verkaufen“, weil sonst steht es womöglich ohne Geld da.
    Rußland verkauft zum Leidewesen diverser westlicher Politiker inzwischen viel Energie nach China und baut wie wild an Möglichkeiten, die Energie-Transportwege in die andere Richtung zu entwickeln.
    Es ist also nicht auf „Chancen“ angewiesen.
    Es dauert natürlich eine Weile, sich bei Pipelines umzustellen. Das große Flüssiggas-Terminal am nördlichen Eismeer kann eine Pipeline-Verbindung nach China nicht ersetzen.
    Die EU sähe bereits heute ohne die russischen Energielieferungen alt aus. Ein Verzicht auf die würde jedenfalls den Abstieg der Alten Welt besiegeln.

  97. Koordiniert gegen Russland
    Brüssel und Washington belegen Moskau zeitgleich mit neuen Sanktionen
    Die USA haben wegen der Verhaftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny Sanktionen gegen Russland erlassen. Das teilten Regierungsvertreter am Dienstag in Washington mit. Betroffen sind demnach unter anderem mehrere ranghohe Staatsfunktionäre. Die US-Sanktionen wurden am Dienstag in einer koordinierten Aktion mit der EU verkündet. Brüssel hatte kurz zuvor einen entsprechenden Rechtsakt im schriftlichen Verfahren verabschiedet. Betroffen sind demnach der russische Generalstaatsanwalt Igor Krasnow und der Chef des zentralen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin. Zudem richten sich die Sanktionen gegen den Chef des Strafvollzugsdienstes, Alexander Kalaschnikow, sowie den Befehlshaber der Nationalgarde, Wiktor Solotow.
    Vertreter der US-Regierung nannten am Dienstag zunächst keine Namen der Betroffenen ihrer Sanktionen. Sie betonten aber, die Strafmaßnahmen spiegelten im wesentlichen jene der EU wider. Man werde auch das weitere Vorgehen eng mit den europäischen Verbündeten abstimmen. Es gehe darum, Russland für den »Anschlag auf Nawalny« und für dessen Inhaftierung zur Rechenschaft zu ziehen.
    Das Präsidialamt in Moskau erklärte, ein solches Vorgehen der USA würde die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen den beiden Ländern nur noch weiter belasten. Außenminister Sergej Lawrow sagte laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax, sollten die USA Sanktionen beschließen, werde Russland in gleicher Weise reagieren. Wegen des mutmaßlichen Giftanschlags auf Nawalny am 20. August 2020 hatte die EU bereits im vergangenen Jahr Einreise- und Vermögenssperren gegen vermeintlich Verantwortliche aus dem Umfeld von Präsident Wladimir Putin verhängt. Russland revanchierte sich dann mit Einreisesperren gegen leitende Beamte, gab die Namen aber nicht bekannt. Auf seiten der EU kommt erstmals ein im vergangenen Jahr nach US-Vorbild geschaffenes Sanktionsinstrument zum Einsatz, das in den USA unter »Global Magnitsky Act« firmiert und Strafmaßnahmen wegen »Menschenrechtsverletzungen« erlaubt. (dpa/Reuters/jW)
    In der Eskalationsspirale (03.03.2021)
    Brüssel verhängt neue Sanktionen gegen Moskau. Hintergrund sind Einflussverluste der EU gegenüber Russland.
    BERLIN/BRÜSSEL/MOSKAU (Eigener Bericht) – Mit neuen Sanktionen eskaliert die EU den Konflikt mit Russland weiter. Am gestrigen Dienstag hat Brüssel Zwangsmaßnahmen gegen vier russische Amtsträger verhängt: Sie dürfen nicht mehr in die EU einreisen; etwaiges Vermögen in EU-Mitgliedstaaten wird eingefroren. Parallel hat auch Washington neue Sanktionen erlassen; der Schritt hat zum Ziel, transatlantische Einigkeit im Machtkampf gegen Moskau zu demonstrieren. Während die EU ihre Aggression – im Gestus angeblicher moralischer Überlegenheit – als Einsatz für die Menschenrechte deklariert, verschärft sie ihr Vorgehen vielmehr aus machtpolitischen Gründen: Russland hat zuletzt großen Einfluss in Ländern gewonnen, die Berlin als unmittelbares Interessengebiet der EU ansieht – so in Syrien; zudem ist es der Bundesregierung nicht gelungen, sich im Rahmen des “Minsker Prozesses” als Ordnungsmacht östlich der EU gegen Russland durchzusetzen. Um den Druck zu erhöhen, befeuert Brüssel nun – auch mit den Sanktionen – die Nawalny-Proteste; in den deutschen Eliten ist ausdrücklich von “Regimewandel” die Rede.
    Die nächste Sanktionsrunde
    Die EU verschärft ihren Druck auf Moskau und hat dazu am gestrigen Dienstag Sanktionen gegen vier russische Amtsträger verhängt. Betroffen sind der Leiter des zentralen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, Generalstaatsanwalt Igor Krasnow, der Befehlshaber der Nationalgarde, Wiktor Solotow, und der Leiter des Strafvollzugsdienstes, Alexander Kalaschnikow. Die EU wirft ihnen vor, für “schwere Menschenrechtsverletzungen” verantwortlich zu sein, insbesondere für “willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen” sowie für “ausgedehnte und systematische Unterdrückung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit” insbesondere im Fall des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny und seiner Anhänger.[1] Den vier Amtsträgern wird jetzt die Einreise in die EU verweigert; sollten sie Vermögen in einem Mitgliedstaat der Union besitzen, wird dieses eingefroren. Außerdem ist es Personen, Unternehmen und Institutionen in der EU von nun an untersagt, ihnen direkt oder indirekt Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Union weist ausdrücklich darauf hin, dass sie auf Beschluss ihrer Außenminister vom 22. Februar erstmals das neue Sanktionsregime anwendet, das sie am 7. Dezember 2020 eingeführt hat; es ist weit gefasst und richtet sich gegen tatsächliche oder angebliche Menschenrechtsverletzungen aller Art.[2]
    Transatlantisch abgestimmt
    Parallel zur Verhängung der jüngsten EU-Sanktionen haben auch die Vereinigten Staaten neue Zwangsmaßnahmen gegen russische Amtsträger angekündigt – im offenkundigen Bestreben, eine enge transatlantische Abstimmung beim Vorgehen gegen Moskau zu demonstrieren. Betroffen sind sieben Funktionäre sowie 14 Unternehmen bzw. Institutionen, denen vorgeworfen wird, in welcher Form auch immer Verantwortung für das staatliche Vorgehen gegen Nawalny bzw. für seine mutmaßliche Vergiftung zu tragen.[3] Brüssel hatte entsprechende Sanktionen bereits im Oktober beschlossen; Washington zieht nun nach. Bemerkenswert ist, dass weder die EU noch die USA für ihren Vorwurf, russische Staatsstellen hätten Nawalny zu ermorden versucht, Beweise vorgelegt haben; allenfalls wird auf angebliche Geheimdienstinformationen verwiesen. Das Muster prägt die Begründung außenpolitischer Aggressionen durch die westlichen Staaten seit vielen Jahren – vom angeblichen “Hufeisenplan” zur Vertreibung der albanischsprachigen Bevölkerung des Kosovo bis hin zu den angeblichen Massenvernichtungswaffen des irakischen Präsidenten Saddam Hussein. Beides erwies sich im Nachhinein als Lüge. Für die Verantwortlichen in Deutschland wie den Vereinigten Staaten blieben die Lügen und die mit ihnen legitimierten Kriege folgenlos.
    Keine Ordnungsmacht
    Während die EU – im Gestus angeblicher moralischer Überlegenheit – vorgibt, sich mit ihren Sanktionen lediglich für Menschenrechte einsetzen zu wollen, bilden machtpolitische Erwägungen den tatsächlichen Hintergrund. Zum einen hat Moskau in den vergangenen Jahren nennenswerten bis maßgeblichen Einfluss in gleich mehreren Ländern gewonnen, die Berlin als unmittelbares Interessengebiet der EU betrachtet – insbesondere in Syrien, aber auch in Libyen sowie im Konflikt um Bergkarabach.[4] Zum anderen ist es der Bundesregierung nicht gelungen, sich im Konflikt in der Ostukraine mit dem “Minsker Prozess” zur Ordnungsmacht östlich der EU aufzuschwingen; “wir sind in den letzten Jahren nicht vorangekommen”, räumte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 19. Februar auf der Onlineversion der Münchner Sicherheitskonferenz ein. Deshalb sei es “ganz wichtig, dass wir eine gemeinsame transatlantische Russland-Agenda entwickeln”; dies soll den Druck auf Moskau verstärken.[5] Nach den EU-Russland-Sanktionen vom Herbst [6] sind die gestern verhängten Zwangsmaßnahmen ein zweiter konkreter Schritt. Weitere sind in Zukunft nicht auszuschließen, solange Berlin sein Ziel, Moskaus Einfluss zumindest zurückzudrängen, verfehlt.
    Die “Generation Putin”
    Dabei zielen Berlin, Brüssel und Washington mit ihren Nawalny-Sanktionen vor allem darauf ab, Russlands jüngere Generation gegen die Regierung in Moskau zu mobilisieren. Anders als von den westlichen Mächten unablässig behauptet wird, ist Nawalny in Russland nicht wirklich populär: Im Januar ergab eine Umfrage des Lewada-Instituts, dass lediglich 19 Prozent der Bevölkerung die Aktivitäten des Oppositionellen billigten; 56 Prozent lehnten sie explizit ab. Lediglich fünf Prozent gaben an, Nawalny zu vertrauen; 64 Prozent hingegen beurteilten die Aktivitäten von Präsident Wladimir Putin positiv.[7] Nur unter den 18- bis 24-Jährigen, der “Generation Putin”, konnte das Lewada-Institut eine überwiegend mit den Nawalny-Protesten sympathisierende Haltung erkennen: In dieser Altersgruppe stuften 38 Prozent die Proteste positiv ein, während gerade einmal 22 Prozent sie ausdrücklich ablehnten. Nawalny habe “über seine Kanäle in den Sozialen Medien eine direkte Verbindung” zur jungen Generation aufgebaut, erläutert ein Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/Die Grünen). Über die Stoßrichtung der westlichen Agitation, die zur Zeit bei Russlands jüngerer Generation ansetzt, hatte Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, kürzlich erklärt: “Wir wollen … nicht weniger als einen Regimewandel”.[8]
    Russlands Gegensanktionen
    Moskau hat nach der Bekanntgabe der EU- und der US-Sanktionen sofort Gegenmaßnahmen in Aussicht gestellt. Es gehe Brüssel offenkundig darum, “die russische Führung zu diffamieren”, urteilte der einflussreiche Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten im Föderationsrat, Konstantin Kossatschow: “Russland wird zweifellos darauf antworten.”[9] “Wir werden mit Sicherheit antworten”, bekräftigte nach der Bekanntgabe der US-Sanktionen auch Außenminister Sergej Lawrow und erklärte, “Reziprozität” – “eine der Regeln der Diplomatie” – gelte weiterhin.[10] Schon im Dezember hatte Moskau – als Gegenmaßnahme gegen zuvor von Brüssel verhängte Sanktionen – seinerseits ein Einreiseverbot gegen Funktionsträger aus der EU verhängt.[11] Die Eskalationsspirale schreitet voran.
    Die Geopolitik des European Green Deal (II) (02.03.2021)
    Energiewende bringt Verschiebungen in den Beziehungen der EU zu Russland, den Vereinigten Staaten und China mit sich.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Der European Green Deal wird langfristig Umbrüche in den Beziehungen zwischen der EU und Russland, Spannungen mit den USA und neue Vorteile für China mit sich bringen. Dies geht aus einer aktuellen Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR) hervor. Demnach ist ab 2030 damit zu rechnen, dass die Öl-, aber auch die Gaseinfuhren der EU aus Russland deutlich zurückgehen und als verbindendes Element zwischen den beiden in einem harten Machtkampf befindlichen Seiten entfallen. Denkbar scheint, dass Wasserstoff als Energieträger zu einer neuen “Brücke” zwischen Berlin und Moskau wird. Darauf zielen russische Pläne zum Ausbau der Wasserstoffproduktion ab. Neue Spannungen mit den USA sind möglich, weil auch deren Flüssiggasexport in die EU langfristig in Frage steht und darüber hinaus weitere Ausfuhren wegen EU-Umweltbestimmungen leiden könnten. China wiederum ist – als Beinahe-Monopolist bei der Versorgung mit Seltenen Erden und Weltmarktführer bei zentralen Umwelttechnologien – womöglich in der Lage, vom European Green Deal zu profitieren.
    Importrückgang ab 2030
    Erhebliche Konsequenzen aus dem European Green Deal ergeben sich laut Einschätzung des European Council on Foreign Relations (ECFR) unter anderem für die Beziehungen der EU zu Russland. Das Land ist stark auf die Ausfuhr von Öl und Gas angewiesen, der es rund 62 Prozent seiner Exporterlöse verdankt. Die Einkünfte der Branche tragen zudem ein gutes Drittel zum russischen Staatshaushalt bei. Im Jahr 2016 nahm die EU, wie der ECFR festhält, 60 Prozent des russischen Öl- und 75 Prozent des russischen Gasexports ab.[1] Zwar sei für die Jahre bis 2030 noch nicht mit einem Einbruch bei den Öl- und Gaseinfuhren aus Russland zu rechnen, da die Umstellung auf Elektromobilität noch einige Jahre in Anspruch nehmen werde und Gas als Brückenenergie für die Dekarbonisierung gelte. Ab 2030 könne man allerdings von einer starken Reduzierung der EU-Importe russischer Energieträger ausgehen. Der ECFR rechnet mit einer Verlagerung der russischen Energieausfuhren nach China. Tatsächlich nahm die Volksrepublik im Jahr 2018 bereits rund ein Viertel aller russischen Ölexporte ab; inzwischen ist zudem eine erste russisch-chinesische Erdgaspipeline in Betrieb.[2] Darüber hinaus flexibilisiert Moskau den Erdgasexport mit der Umstellung auf Flüssiggas; Experten sehen es auf dem Weg, eine Flüssiggasmacht ersten Ranges zu werden.[3]
    Wasserstoff als “Energiebrücke”
    Unklar ist, ob der vom ECFR prognostizierte langfristige Bedeutungsverlust russischer Öl- und Gasexporte in die EU von künftigen Wasserstofflieferungen teilweise ausgeglichen werden kann. Um die Energiewende zu schaffen, setzt die Bundesregierung nicht zuletzt auf die Nutzung von Wasserstoff als Energieträger (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Dabei hat sie als potenzielle Lieferanten unter anderem die Länder Nordafrikas, insbesondere Marokko, im Visier. Als weitere denkbare Standorte für die Herstellung von Wasserstoff mit Hilfe von Solar- und Windenergie gelten darüber hinaus Saudi-Arabien, Australien, Chile, die Ukraine und Russland. Während der Ukraine ein gewisses Potenzial für die Herstellung “grünen” Wasserstoffs mit Hilfe von Solar- und Windenergie zugeschrieben wird [5], kommt für Russland außer “grünem” auch “türkiser” Wasserstoff in Betracht. Dieser wird aus Erdgas hergestellt, wobei fester Kohlenstoff anfällt, der eingelagert oder weiterverarbeitet werden kann. Für die etwaige Ausleitung in die EU kämen die russischen Erdgaspipelines in Betracht.[6] Moskau hat Ende 2020 in seiner neuen Energiestrategie mitgeteilt, bis 2035 zu einem weltweit führenden Hersteller wie auch Exporteur von Wasserstoff werden zu wollen.[7] Als Kunden hat es auch die Bundesrepublik im Blick. In Wirtschaftskreisen ist von einer neuen “Brücke” zwischen den beiden Ländern die Rede [8]; Siemens und ThyssenKrupp machen sich bereits für den Import aus Russland stark [9].
    Ein transatlantischer “Klimaklub”
    Gewisse Spannungen wird der European Green Deal nach Einschätzung des ECFR zwischen der EU und den Vereinigten Staaten verursachen – dies auch nach Washingtons Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen unter der Regierung von Präsident Joe Biden. Zwar werde es möglich sein, mit der Biden-Administration über gemeinsame Maßnahmen zu verhandeln, urteilt der Think-Tank; Experten schlagen beispielsweise den transatlantischen Zusammenschluss zu einem “Klimaklub” mit einem gemeinsamen CO2-Grenzausgleichssystem vor.[10] Doch werde Biden wegen des zu erwartenden Widerstandes im Kongress insgesamt weniger ehrgeizige Umweltmaßnahmen durchsetzen können als die EU, sagt der ECFR voraus. Man müsse deshalb damit rechnen, dass etwa US-Kfz-Exporte in die Union wegen deren schärferer Abgasnormen auf Schwierigkeiten stießen; die Vereinigten Staaten verkauften im Vorkrisenjahr 2019 Autos im Wert von über 9,4 Milliarden Euro in die EU.[11] Probleme könne es auch mit dem Export landwirtschaftlicher US-Erzeugnisse geben; die EU nimmt immerhin 13 Prozent aller US-Agrarexporte ab. Nicht zuletzt sind vom langfristig schrumpfenden Verbrauch fossiler Energieträger in der Union auch Öl sowie Flüssiggas aus den Vereinigten Staaten betroffen, die im ersten Halbjahr 2020 zum viertgrößten Gaslieferanten der EU aufstiegen – mit einem Anteil von bereits 6,7 Prozent. Ohnehin wird der zu erwartende Fall des globalen Öl- und Gaspreises die USA empfindlich treffen: Sie zählen zu den großen Öl- und Gasexporteuren der Welt.
    Seltene Erden
    Letzteres trifft nicht auf China zu, das Öl und Gas in großen Mengen importieren muss und daher von einem Fall der Weltmarktpreise profitieren würde. Günstig für die Volksrepublik ist zudem, dass es bei der Versorgung mit Rohstoffen, die für die Energiewende unverzichtbar sind, eine herausragende Rolle spielt: bei den sogenannten Seltenen Erden. Diese werden unter anderem für die Herstellung von Windrädern und Solarzellen benötigt; China deckt aktuell rund drei Viertel des globalen Bedarfs.[12] Experten weisen regelmäßig darauf hin, dass Seltene Erden nicht wirklich selten, sondern in einer ganzen Reihe von Ländern zu finden sind. Allerdings sind Förderung und Aufbereitung zeitaufwendig, teuer und in der Praxis oft mit schweren Umweltschäden verbunden – Gründe dafür, dass die westlichen Staaten sich weitgehend aus der Branche zurückgezogen und China den Großteil des wenig attraktiven Markts überlassen haben. Zwar haben westliche Unternehmen aufgrund der Eskalation des Machtkampfs zwischen den USA und China begonnen, wieder in die Förderung Seltener Erden zu investieren; doch sind sie meist immer noch auf die Aufbereitung der Rohstoffe in der Volksrepublik angewiesen. Zumindest kurz- und mittelfristig ist der European Green Deal deshalb mit einer zunehmenden Abhängigkeit der EU von chinesischen Rohstoffen verbunden.
    An der Spitze der Energiewende
    Als für China vorteilhaft kann sich der European Green Deal auch erweisen, weil die Volksrepublik auch bei den für ihn notwendigen Technologien inzwischen eine weltweit führende Rolle spielt. So ist etwa “Chinas Windkraftbranche”, wie die bundeseigene Wirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (gtai) urteilt, “längst in der Weltspitze angekommen” [13]; chinesische Windkraftkonzerne drängen inzwischen zunehmend auch in den europäischen Markt [14]. In China, wo heute fünf der zehn weltgrößten Solarkonzerne ihren Sitz haben, werden laut Angaben der Internationalen Energieagentur rund 60 Prozent aller Solarpanels überhaupt hergestellt.[15] Laut einer Studie der International Renewable Energy Agency (IRENA) aus dem Jahr 2019 hielt die Volksrepublik schon damals rund 29 Prozent aller Patente im Bereich der erneuerbaren Energien – deutlich mehr als die USA (18 Prozent), Japan und die EU (jeweils 14 Prozent).[16] China stehe, resümierte die IRENA, “an der Spitze der globalen Energiewende”. Hinzu kommt, dass die Volksrepublik längst auch bei Elektroautos führend ist. Umwelttechnologien böten “ein riesiges Potenzial für die Kooperation zwischen China und Europa”, urteilt der ECFR, “aber auch für die Verdrängung der europäischen Industrie und das Erreichen chinesischer Technologiedominanz”.[17]
    Die Militarisierung der Welt (01.03.2021)
    Der Westen steht für zwei Drittel aller Militärausgaben und Rüstungsexporte weltweit. Deutschland steigert beides überdurchschnittlich.
    BERLIN (Eigener Bericht) – Europa kann in diesem Jahr mit Hilfe milliardenschwerer deutscher und französischer Rüstungsprojekte zum globalen Aufrüstungszentrum werden. Dies schreibt das International Institute for Security Studies (IISS, London) in seinem aktuellen Rüstungsbericht. Laut IISS-Angaben belaufen sich die Aufwendungen der Staaten Europas ohne Russland für das Militär in diesem Jahr auf 17,5 Prozent aller Militärausgaben weltweit; das ist weniger als der Anteil der Vereinigten Staaten (40,3 Prozent), aber viel mehr als der Anteil Chinas (10,6 Prozent) oder gar Russlands (3,3 Prozent). Zusammen mit Kanada und wichtigen Verbündeten wie etwa Australien, Japan und Südkorea kommt der Westen auf einen Anteil von gut zwei Dritteln an den globalen Militärausgaben. Steigert Berlin die Aufwendungen für die Streitkräfte stärker als der weltweite Durchschnitt, so konnten deutsche Waffenschmieden auch bei ihren Rüstungsexporten ein überdurchschnittliches Wachstum erzielen. Für den Fall, dass teure Rüstungsprojekte in der Coronakrise unter Druck geraten, haben Bündnis 90/Die Grünen einen Ausweg skizziert.
    Der globale Rüstungsboom
    Die globalen Aufwendungen für das Militär sind im vergangenen Jahr erneut gestiegen und haben einen Rekordwert von 1,83 Billionen US-Dollar erreicht. Dies geht aus dem vergangene Woche vorgestellten Rüstungsbericht (“The Military Balance 2021”) des Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) hervor.[1] Demnach übertrafen die weltweiten Rüstungsausgaben im Jahr 2020 den Vorjahreswert um 3,9 Prozent; ihr Anteil an der Weltwirtschaftsleistung stieg damit auf 2,08 Prozent. Den absolut stärksten Anstieg verzeichneten die Vereinigten Staaten, deren offizielle Militärausgaben um 6,3 Prozent auf 738 Milliarden US-Dollar in die Höhe schnellten. Freilich umfassen ihre gesamten Militärausgaben inklusive derjenigen, die in weiteren Etatposten versteckt sind, deutlich mehr und lagen Experten zufolge im Jahr 2020 bei 935,8 Milliarden US-Dollar.[2] Geringer als im Vorjahr gestiegen ist mit 5,2 Prozent der Militäretat Chinas, der 193,3 Milliarden US-Dollar erreichte und weiterhin der zweitgrößte weltweit ist. Der Staat mit dem drittgrößten Militärhaushalt ist Indien, das seinen Rüstungsetat seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi im Jahr 2014 um gut 40 Prozent auf mittlerweile 64,1 Milliarden US-Dollar erhöht hat.[3] Die Region mit dem größten Rüstungsanteil an der Wirtschaftsleistung (5,2 Prozent) ist nach wie vor Nordafrika und Mittelost, wo sich mehrere der wichtigsten Kunden deutscher Waffenschmieden befinden.
    Das globale Aufrüstungszentrum
    Zum globalen Rüstungsboom trägt Deutschland maßgeblich bei. So ist der Bundeswehrhaushalt, der bereits von 2018 auf 2019 um 12,2 Prozent zunahm, von 2019 auf 2020 erneut um 5,6 Prozent gestiegen; für das laufende Jahr sieht er trotz der Coronakrise ein weiteres Wachstum um 2,8 Prozent auf 46,93 Milliarden Euro vor.[4] Dabei liegen die tatsächlichen Militärausgaben – wie im Fall der USA – erheblich höher, weil einzelne Posten in die Etats anderer Ministerien verschoben wurden; dies bestätigt die Tatsache, dass die Bundesregierung für das laufende Jahr einschlägige Ausgaben von 53,03 Milliarden Euro an die NATO meldete, 3,2 Prozent mehr als im Jahr 2020.[5] Dabei war die Bundesrepublik auch nach offiziellen Angaben im Jahr 2020 das Land mit den siebtgrößten Rüstungsausgaben weltweit – laut dem IISS hinter Großbritannien (Nummer 4, 61,5 Milliarden US-Dollar), Russland (60,6 Milliarden US-Dollar) und Frankreich (55,0 Milliarden US-Dollar). Den Anteil der Staaten Europas ohne Russland an den globalen Rüstungsausgaben beziffert das IISS mit 17,5 Prozent – erheblich mehr als der Anteil Chinas (10,6 Prozent) und Russlands (3,3 Prozent). Dabei weist das IISS darauf hin, dass sowohl Deutschland als auch Frankreich für die kommenden Jahre gewaltige Rüstungsvorhaben angekündigt haben; werden sie verwirklicht, dann werde womöglich, da die USA nach den Rüstungssteigerungen der Trump-Ära aktuell kaum nachlegen könnten, “Europa die Region mit dem größten Wachstum bei den globalen Verteidigungsausgaben”, schreibt der Londoner Think-Tank.[6]
    Ein neues “Flottenbauprogramm”
    Tatsächlich sieht das Bundeswehrbudget für das Jahr 2021 eine Steigerung der rüstungsinvestiven Ausgaben – für Forschung, Entwicklung, Erprobung, Beschaffungen – um neun Prozent auf 10,3 Milliarden Euro vor.[7] Zu den milliardenschweren Großprojekten der Streitkräfte gehören neben der Entwicklung eines Kampfjets und eines Kampfpanzers der nächsten Generation – beides gemeinsam mit Frankreich [8] – der Kauf neuer Eurofighter und zahlreicher Transportfahrzeuge sowie die Beschaffung der Eurodrohne. Geplant sind Entwicklung und Beschaffung zahlreicher Kriegsschiffe, insbesondere der Fregatte 126 (vormals: Mehrzweckkampfschiff 180) und des deutsch-norwegischen U-Boots U212 Common Design; in Militärkreisen heißt es dazu, ein neues “Flottenbauprogramm” werde “konkret”.[9] Demnach hat die Marine zusätzlich den Erwerb von Flottendienstbooten der Klasse 424, von Betriebsstofftankern der Klasse 707 sowie von sechs Unterstützungsschiffen als Ersatz für die Tender der Klasse 404 im Visier. Nicht zuletzt sollen für die Spezialkräfte der Marine neun Einsatzboote inklusive Ausrüstung erworben werden – mit der Option auf den Kauf von bis zu zwölf weiteren Booten. Mit den Rüstungsprojekten reagiert die Bundeswehr auf die strategische Umorientierung von Auslandsinterventionen in aller Welt hin zu Großmachtkonflikten, wie sie die Bundesregierung ab 2014 vollzogen hat (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Als etwaige Gegner gelten Russland und in wachsendem Maß China.
    Zweistellige Exportsteigerungen
    Dabei tragen neben der Aufrüstung der Bundeswehr auch die deutschen Rüstungsexporte zur Militarisierung des Westens und seiner globalen Verbündeten bei. Vor knapp einem Jahr kam das Stockholmer Forschungsinstitut SIPRI in einer Analyse der globalen Waffenausfuhren zu dem Resultat, dass Deutschland im Fünfjahreszeitraum von 2015 bis 2019 der viertgrößte Waffenexporteur weltweit war.[11] Die Berechnung von Fünfjahreszeiträumen bietet sich in der Analyse von Rüstungsexporten wegen der großen Schwankungen, die durch einzelne, besonders teure Waffenverkäufe entstehen können, an. Deutsche Waffenschmieden hatten ihre Ausfuhren zudem gegenüber dem Fünfjahreszeitraum von 2010 bis 2014 um 17 Prozent steigern können – deutlich mehr als die globale Zunahme um 5,5 Prozent. Dabei gingen 30 Prozent der deutschen Rüstungsexporte nach “Asien und Ozeanien” – an Staaten, die als regionale Verbündete im Machtkampf des Westens gegen China gelten. 24 Prozent wurden in die Krisenregion Nordafrika/Mittelost geliefert. Die EU – damals noch inklusive Großbritannien – stand 2015 bis 2019 für rund 26 Prozent aller Rüstungsexporte weltweit – weniger als die USA (36 Prozent), aber mehr als Russland (21 Prozent), das vor allem in Indien [12] Marktanteile an den Westen verloren hat. Der transatlantische Westen besorgte damit von 2015 bis 2019 rund zwei Drittel sämtlicher Rüstungsexporte überhaupt – mit deutlich zunehmender Tendenz.
    Das grüne “Verteidigungsplanungsgesetz”
    Unklar ist, ob die Coronakrise die angestrebte weitere rapide Erhöhung der Militärhaushalte ohne weiteres zulässt. Wie das IISS konstatiert, sind etwa die europäischen Staaten zwar bestrebt, an der geplanten Steigerung ihrer Rüstungsausgaben festzuhalten. Für den Fall aber, dass etwa besonders teure Rüstungsvorhaben durch den krisenbedingten Wirtschaftseinbruch unter Legitimationsdruck geraten, hat der verteidigungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Tobias Lindner, vor kurzem Vorschläge vorgelegt. Demnach soll der Deutsche Bundestag alle zehn Jahre ein “Verteidigungsplanungsgesetz” verabschieden, in dem er “die zehn bis 15 wichtigsten Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr festleg[t]”.[13] “Deren Finanzierung”, heißt es weiter, “wird damit eine gesetzliche Aufgabe”, die nicht mehr ohne weiteres zur Disposition steht. Durch die Festlegung einer “Budgetobergrenze” für jedes Projekt würden zugleich der Rüstungsindustrie präzise Vorgaben gemacht, die stetige Preissteigerungen erschwerten: ein Anreiz zu größerer Effizienz in der deutschen Waffenproduktion auch in Zeiten knapper Kassen.
    _______________
    Wiederbelebter Krieg
    Intensivierung der Schusswechsel im Donbass vor Besuch des EU-Ratspräsidenten Michel in der Ukraine. Innenpolitischer Kurs gegen Entspannung
    Von Reinhard Lauterbach
    EU-Ratspräsident Charles Michel hat am Dienstag einen zweitägigen Besuch in der ­Ukraine begonnen. Als ersten Programmpunkt sah das ukrainische Protokoll eine gemeinsame Reise mit Präsident Wolodimir Selenskij ins Frontgebiet im Donbass vor. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die in den vergangenen Tagen intensivierten Schusswechsel genau der Vorbereitung dieses Besuchs dienen sollten. Denn die Demonstration eines aktiven Kriegs zwischen »Russland« und der Ukraine ist zentrales Element der Kiewer Bestrebungen, die EU auf eine antirussische Haltung festzulegen.
    Tote auf beiden Seiten
    Seit etwa zehn Tagen berichten die Streitkräfte der beiden international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk über sich häufende Feuerüberfälle von ukrainischer Seite. Der folgenreichste Zwischenfall passierte Ende Februar am Stadtrand von Gorliwka. Dort wurde ein Zivilist vor seinem Haus von einem ukrainischen Scharfschützen getötet. Die ukrainische Seite räumte dies ein und erklärte, der 22jährige Mann habe zuvor in der Armee der Volksrepublik Donezk gedient. Insgesamt kosteten die Kämpfe am Rande von Gorliwka damals auf beiden Seiten jeweils sieben Soldaten das Leben.
    Meistens bleibt es zwar bei Sachschäden, aber diese werden schwerer. Am Montag zum Beispiel beschossen ukrainische Truppen eine Wohnsiedlung am Rande von Donezk und zerstörten offenbar gezielt die Trafostation, die die ganze Ortschaft mit Strom versorgte. Auch im Südabschnitt der Front östlich von Mariupol intensivierte die ukrainische Seite nach Angaben aus Donezk ihren Beschuss. Aus Kiew wurde die Intensivierung der Kämpfe bestätigt, allerdings der anderen Seite zugeschrieben. Dass am Montag ein Transportfahrzeug der ukrainischen Armee auf eine Mine fuhr, wobei ein Soldat umkam und neun weitere verletzt wurden, ist allerdings eher auf »Friendly Fire« zurückzuführen. Minen im ukrainischen Hinterland können nach der Bewegung der Frontlinien seit 2014 nur von der Ukraine selbst gelegt worden sein.
    Mit Aufmerksamkeit wurde auf Donezker Seite auch eine Pressekonferenz des ukrainischen Armeechefs Ruslan Chomtschak Ende Februar zur Kenntnis genommen. Er hatte mitgeteilt, auf dem Ausbildungsprogramm der gesamten ukrainischen Armee stünden in diesem Frühjahr Straßen- und Häuserkämpfe in städtischer Umgebung. Das wurde in den Volksrepubliken als Drohung mit einer Offensive im weiteren Verlauf des Jahres interpretiert. Die Sorge ist, dass die Ukraine das Format der Minsker Gespräche womöglich verlassen will. Führende Kiewer Politiker haben die dort 2015 vereinbarten Grundsätze für eine Entspannung des Konflikts in den vergangenen Wochen als für die Ukraine unerfüllbar bezeichnet. Im Kern geht es dabei um die geforderte Amnestie für die Aktivisten der Volksrepubliken und die Angehörigen ihres Militärs als Vorbedingung für eine Reintegration des Donbass in die Ukraine.
    Parallel verschärft die Ukraine ihren innenpolitischen Kurs gegen Anhänger einer Entspannung. In den vergangenen Tagen brachten die Partei »Europäische Solidarität« von Expräsident Petro Poroschenko und eine Gruppe von Abgeordneten der nationalistischen Partei »Nationales Korps« praktisch gleichlautende Gesetzentwürfe gegen die »Kollaboration« mit dem »Aggressorstaat« ins Parlament ein. Die Vorlagen richten sich laut Begründung gegen »alle, die die Existenz einer bewaffneten Aggression gegen die Ukraine leugnen, den Konflikt einen Bürgerkrieg nennen oder sonstige Informationstätigkeit in Zusammenarbeit mit dem Aggressor betreiben«. Für solche Aktivitäten sollen langjährige Haftstrafen angedroht werden.
    Antirussische Verschärfung
    Die Gesetzentwürfe sollen offenbar dem staatlichen Vorgehen gegen oppositionelle Sender und Medien nachträglich eine legale Grundlage verschaffen. Die Schließung der drei Fernsehsender 112 Ukraina, Zik und News One Anfang Februar war nur per Erlass des Präsidenten verfügt worden, aber ohne gesetzliche Grundlage und in einigen Punkten sogar offen gesetzwidrig. Als Argument diente, dass die drei Programme, die der »Oppositionsplattform – Für das Leben« nahestehen, die »Informationssouveränität« der Ukraine – also den Anspruch des Staates, der Bevölkerung ausschließlich seine Sichtweise zugänglich zu machen – verletzten und hierdurch »Instrumente des russischen Hybridkrieges gegen die Ukraine« seien. Eine Reihe Journalisten der geschlossenen Sender haben inzwischen ein gemeinsames Nachfolgeprogramm unter dem Namen Perschij Nesaleshnij Kanal (Erster Unabhängiger Sender) gestartet.
    Hintergrund: Urteil gegen Faschisten
    Einerseits gehören rechte Aufmärsche im Schein von Fackeln und bengalischen Feuern unter blau-gelben Fahnen und Symbolen der faschistischen Kollaborationsvereine OUN und UPA inzwischen zur ukrainischen Folklore. Sie finden statt, die Polizei duldet sie, aber sie haben keine besonderen politischen Konsequenzen, solange sie sich auf allgemeine Parolen wie »Nein zur Kapitulation« oder ähnliches beschränken. Alles »Meinungsfreiheit«.
    Andererseits hatten die Veranstaltungen dieser Art, die in der letzten Februarwoche in Kiew stattfanden, schon etwas Spezifisches: Sie richteten sich gegen ein Urteil, das wenige Tage zuvor ein Gericht in Odessa gegen Sergej Sternenko verkündet hatte: sieben Jahre Haft wegen Freiheitsberaubung, schwerer Körperverletzung und illegalem Waffenbesitz. Trotz erdrückender Beweislage forderten rund 2.000 rechte Demonstranten Sternenkos sofortige Freilassung und versuchten, das Gebäude der Präsidialverwaltung zu stürmen.
    Sternenko ist Mitbegründer und zeitweiliger Regionalchef des »Rechten Sektors« in Odessa. Er wurde verurteilt, weil er gemeinsam mit einem – nach Recherchen des Portals strana.ua mehrfach wegen Drogenbesitzes und diverser Wirtschaftsdelikte vorbestraften – Komplizen 2015 einen Lokalpolitiker entführt und über mehrere Stunden in einem Auto und einem Keller brutal misshandelt hatte. Das Verfahren zog sich trotz ziemlich klarer Beweislage mehr als fünf Jahre hin: Zwei Richter erklärten sich für befangen, weil sie offenkundig keine Lust hatten, sich Repressalien seitens des »Rechten Sektors« auszusetzen. Weiter anhängig ist gegen Sternenko ein Verfahren wegen Mordes. Er hat nach Zeugenaussagen 2018 einen politischen Gegner mit Messerstichen tödlich verletzt und seine Freundin veranlasst, den Mord per Handy zu streamen. Er behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben.
    Nach den rechten Protesten gegen das Urteil erklärte der ukrainische Innenminister Arsen Awakow, das Ausmaß der Demonstrationen habe ihn überrascht. Andererseits scheint die aus dem »Euromaidan« hervorgegangene Staatsmacht die »Köpfe und Herzen« der Bevölkerung von Odessa nach wie vor nicht gewonnen zu haben. Vor einigen Tagen gab es folgende Meldung: Ein »ukrainischer Patriot« habe versucht, in einer Straßenbahn einen Mann zur Rede zu stellen, der sich beklagt hatte, seit dem »Maidan« sei die Lebensqualität der einfachen Leute immer schlechter geworden. Auf die Intervention des Nationalisten hin habe praktisch die gesamte Bahn den Meckerer unterstützt: »Hau ab in dein Lwiw, hier gehörst du nicht hin«, »Hier wird russisch geredet« und dergleichen. (rl)

  98. Das Ukranische Wasserstoffprojekt ist eine totale Schnapsidee von Anfang bis Ende.
    1. Wo soll eigentlich die Energie herkommen, um mittels Elektrolyse den Wasserstoff zu produzieren? Da werden zwei Möglichkeiten im Text angeboten. Ein paar Wasserkraftwerke am Dnjepr die 10% des Ukrainischen Strombedarf decken, also überhaupt nicht überschüssig sind, sondern gebraucht werden. Zweitens irgendwelche alten Atomkraftwerke. Super Energiewende. Deutsche Atomkraftwerke werden abgeschaltet, und dafür müssen ukrainische am Netz bleiben. Und mehr Energie gibt es nicht dort.
    2. Was es gibt ist ein für Wasserstoff untaugliches Pipelinenetz, aber nicht den Wasserstoff dafür. “Die Ukraine ist dabei, sich als Standort für die Produktion von Energie aus erneuerbaren Ressourcen ins Gespräch zu bringen.” Ins Gespräch zu bringen – das heißt dort ist nur dann Strom aus erneuerbaren Quellen, wenn irgendjemand dort Windräder und Solarparks baut.
    3. “Wie Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) im letzten Sommer bei der Verabschiedung der »Nationalen Wasserstoffstrategie« sagte, stehen Unternehmen aus verschiedenen Ländern in den Startlöchern, um sich den Markt für die Anlagen zur Produktion, zum Transport und zur Rückverstromung des gewonnenen Gases zu sichern.” Rückverstromung ist das entscheidende Wort. Also aus Energie in Form von Strom wird Wasserstoff gemacht und aus Wasserstoff wieder Strom. Der Wirkungsgrad soll bei etwa 43% liegen.

  99. Sanktionsfuror aus Washington
    Weitere Strafen gegen Russland geplant. Auch Nord Stream 2 im Visier
    Von Jörg Kronauer
    Nach der Verhängung der jüngsten US-Sanktionen gegen Russland am Dienstag dringt Washington schon auf weitere Zwangsmaßnahmen. Die Biden-Administration werte zur Zeit noch eine Reihe von Vorfällen aus, darunter die angebliche Rolle Russlands beim Solarwinds-Hackangriff und die Vorwürfe, Moskau habe den Taliban Prämien für Attacken auf US-Militärs angeboten, teilten Regierungsmitarbeiter in der US-Hauptstadt mit. Es könnten jeweils neue Sanktionen beschlossen werden. »Wir können nicht an dieser Stelle stoppen«, wurde der republikanische Senator Benjamin Sasse zitiert: »Wir müssen jegliche finanzielle Unterstützung für Putins korruptes Regime lahmlegen.« Die Clique um den im Westen als angeblichen Vorzeigeoppositionellen gehypten Alexej Nawalny verlangt mittlerweile nicht nur Zwangsmaßnahmen gegen russische Wirtschaftsmagnaten, sondern, wie das US-Internetportal Daily Beast mitteilte, auch gegen deren Familienangehörige. Der pensionierte US-Diplomat Steven Pifer räumte gegenüber Daily Beast ein, er habe zwar dabei Bauchschmerzen, sei aber der Ansicht, es sei womöglich »Zeit dafür«.
    Gleichzeitig wächst nach der Verhängung der jüngsten Sanktionen der Druck im US-Kongress, auch der Erdgaspipeline Nord Stream 2 mit dem Erlass von Zwangsmaßnahmen den Todesstoß zu versetzen. Die Biden-Administration müsse als nächstes dafür sorgen, dass »Putins lukrativstes Projekt bösartigen russischen Einflusses nie fertiggestellt« werde, verlangte am Dienstag abend der texanische Republikaner Michael McCaul, ein Abgeordneter im Repräsentantenhaus. Das träfe allerdings nicht nur russische, sondern in erheblichem Maß auch deutsche Interessen.
    Moskau warnt eindringlich vor einer Fortsetzung des Sanktionskriegs. Schon die Sanktionen vom Dienstag seien »nichts anderes als eine Einmischung in Russlands innere Angelegenheiten« und »vollkommen inakzeptabel«, stellte Regierungssprecher Dmitri Peskow fest: Man werde mit Gegensanktionen antworten. Maria Sacharowa, Sprecherin des Außenministeriums, bekräftigte, Russland werde weiterhin seine »nationalen Interessen konsequent und entschlossen verteidigen«. Und: »Wir bitten unsere Kollegen dringend, nicht mit dem Feuer zu spielen.«
    Kriegsübung trotz Pandemie (III) (04.03.2021)
    U.S. Army Europe und Bundeswehr bereiten trotz Pandemie das Großmanöver Defender Europe 21 vor – gegen Russland.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Die NATO-Staaten bereiten sich auf ein zweites “Defender Europe”-Großmanöver vor. Mit ersten Aktivitäten ist voraussichtlich im Mai zu rechnen. Die letztjährige Kriegsübung Defender Europe 20 wäre in ihrer ursprünglich geplanten Form das größte US-geführte Manöver in Europa seit dem Ende des Kalten Kriegs gewesen. Defender Europe ist als Manöverserie konzipiert und soll jedes Jahr stattfinden, um das neue Level der Militarisierung Europas aufrechtzuerhalten und auszubauen. Defender Europe 21 ist in einem vergleichbaren Maßstab geplant wie die Übung im vergangenen Jahr; es richtet sich erneut gegen Russland, hat allerdings einen anderen regionalen Schwerpunkt – das Schwarze Meer statt der Ostseeregion. Auch Deutschland ist involviert, einerseits direkt mit eigenen Soldaten, andererseits durch logistische Unterstützungsleistungen. Im vergangenen Jahr war dabei auch zivile Infrastruktur in den Dienst der NATO-Truppen gestellt worden. Die Vereinigten Staaten planen neben den gegen Russland gerichteten Defender Europe-Manövern auch eine Übungsserie Defender Pacific – gegen China.
    Defender Europe 20
    Defender Europe 20 hatte ursprünglich die größte Militärübung von NATO-Truppen in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges werden sollen. Rund 20.000 US-Soldaten sollten im Rahmen des US-geführten Manövers über den Atlantik nach Europa verlegt werden und gemeinsam mit hier stationierten US-Einheiten und mit Truppen verbündeter Staaten Übungen im Rahmen eines übergreifenden Konfliktszenarios abhalten. Insgesamt war die Beteiligung von 37.000 Soldaten aus 16 NATO-Staaten und zwei verbündeten Ländern geplant. Im Kern ging es darum, die Militärs mit einer Vielzahl von Verlegerouten aus den USA quer durch Europa bis zur russischen Grenze vertraut zu machen; ergänzend sollten in verschiedenen Ländern von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer in einem simulierten “Schlachtfeldnetzwerk” zahlreiche Kriegsübungen durchgeführt werden. In seiner Planung griff das Militärbündnis auf Übungsformate zurück, die es in der Region schon seit Jahren regelmäßig durchführt.[1]
    Mit deutscher Beteiligung
    Anfang 2020 war das US-geführte Manöver bereits angelaufen, als die beginnende Covid-19-Pandemie den Militärs einen Strich durch die Rechnung machte und die vollständige Durchführung der Übungspläne verhinderte. Allerdings wurde Defender Europe 20, während in großen Teilen der Welt das zivile Leben in Reaktion auf die Pandemie massiv eingeschränkt wurde, zwar verkleinert, jedoch nicht gänzlich abgesagt. Als im März 2020 die Entscheidung zur Reduzierung des Manöverumfangs fiel, waren bereits knapp 6.000 US-Soldaten in Europa angekommen. Bevor sie zurück über den Atlantik verlegten, führten sie trotz der Pandemie noch einige Kriegsübungen durch (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Die Bundeswehr hatte pandemiebedingt die Manöverteile in Deutschland Mitte März offiziell eingestellt. Dabei hatte die Bundesrepublik für Defender Europe 20 neben militärischer auch in erheblichem Umfang zivile Infrastrukur bereitgestellt (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Der Befehlshaber der U.S. Army Europe, General Christopher Cavoli, gab in einem Interview außerdem an, das deutsche Verteidigungsministerium habe nachträglich den Anteil der Manöverkosten übernommen, die eigentlich die US-Streitkräfte hätten bezahlen müssen – im Rahmen des sogenannten Host Nation Support.[4]
    Defender Europe 21
    Schon im Sommer vergangenen Jahres gaben führende US-Militärs bekannt, Defender Europe 21 sei bereits in Planung und solle von Frühjahr bis Sommer 2021 stattfinden.[5] Diese Ankündigungen bestätigen sich jetzt: Nach Angaben der Bundesregierung ist das Manöver für den Zeitraum zwischen dem 1. Mai und dem 14. Juni 2021 geplant – mit rund 31.000 Soldaten, darunter 430 von der Bundeswehr. Dass weniger deutsche Militärs teilnehmen als im vergangenen Jahr, liegt daran, dass der regionale Manöverschwerpunkt dieses Jahr nicht auf der Ostseeregion, sondern im Süden, am Schwarzen Meer, liegt; besonderes Augenmerk erhält dabei laut General Cavoli die Zusammenarbeit mit Bulgarien und Rumänien.[6] Trotz der großen Entfernung zur Schwerpunktregion wird die Bundeswehr laut Angaben der Bundesregierung ganz wie im vorigen Jahr logistische Aufgaben beim Verlegen der multinationalen Verbände durch Deutschland und weitere Länder des Kontinents übernehmen. Insgesamt hat Berlin bis jetzt 2,9 Millionen Euro für das Manöver eingeplant.
    Defender Pacific
    Wie die Bundesregierung bestätigt, ist die US-geführte Übung Defender Europe inzwischen als alljährlich wiederkehrendes Manöver konzipiert. Dabei werde der geographische Schwerpunkt der Übungsserie in geraden Jahren “im nördlichen, in den ungeraden Jahren im südlichen Bündnisgebiet der NATO” liegen.[7] Hinzu kommt, dass die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr auch eine Manöverserie unter dem Titel Defender Pacific gestartet haben. Bei ihr geht es darum, den Aufmarsch von US-Truppen über den Pazifik gegen China zu proben. Defender Pacific 21 wird sich dabei laut Auskunft der US-Streitkräfte auf den Südwestpazifik fokussieren. Das riesige Gebiet umfasst zahlreiche kleine Inseln und Inselgruppen und reicht bis Australien; im Zweiten Weltkrieg umfasste der alliierte Befehlsbereich Southwest Pacific auch große Teile der Inselwelt Südostasiens, darunter die Philippinen sowie Teile Indonesiens und Malaysias – und nicht zuletzt das Südchinesische Meer.[8] Die Bundeswehr wird sich laut Auskunft der Bundesregierung nicht beteiligen. Allerdings ist für dieses Jahr eine Übungsfahrt eines deutschen Kriegsschiffs durch das Südchinesische Meer bis nach Japan geplant.[9]
    “Nach Osten ausgerichtet”
    “Wir treffen Vorbereitungen, um bereit zu sein, zu kämpfen und zu gewinnen”, äußerte der für Defender Europe zuständige US-General Cavoli im Februar über das Manöver.[10] Ein zentraler Aspekt der Kriegsvorbereitungen ist laut Cavoli die militärische Mobilität in Europa. Die Defender Europe-Manöverserie sei eingeführt worden, um Schwachstellen der Infrastruktur ausfindig zu machen und politische wie regulatorische Hemmnisse abzubauen. Cavoli spricht dabei von einem “informellen Bündnis” der U.S. Army Europe mit der EU, die hohe Summen zur Verbesserung der militärischen Mobilität bereitstellt. Dabei katalogisiere die U.S. Army die bestehende europäische Infrastruktur und teste sie in den Übungen, um dann der NATO mitzuteilen, welche Verbesserungen notwendig seien. Die NATO wiederum leite die US-Wünsche dann an die EU weiter, um ihr zu “helfen, ihre Infrastrukturgelder in dual use-[…]Infrastruktur zu leiten”. Bei militärischen Aspekten der EU-Infrastrukturmaßnahmen hätten die US-Militärs “ein Wörtchen mitzureden”. Die Herausforderung bestehe darin, “dass wir, als die NATO expandierte, in Territorium expandierten, das vorher der anderen Seite angehörte und dessen Militärinfrastruktur für Equipment des Warschauer Paktes ausgelegt und durchweg nach Westen ausgerichtet war. Wir brauchen dagegen Infrastruktur, die auf westliches Equipment ausgelegt und nach Osten ausgerichtet ist” – für den neuen Kalten Krieg, dessen Blockgrenze teilweise bis direkt an die russische Grenze verschoben ist.[11]

  100. Es sieht so aus, als ob die Rüstungsindustrie die einzige Branche weltweit ist, die in den nächsten Jahren sicher wachsen wird.

  101. »New Deal« mit USA gegen Russland und China
    Washington/Berlin. BRD-Außenminister Heiko Maas (SPD) will die Beziehungen zu den USA nach der Ära Trump wieder auffrischen. In seiner ersten größeren Rede zu den transatlantischen Beziehungen seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Joseph Biden bot Maas den Vereinigten Staaten am Dienstag einen »New Deal« an. Dazu soll der angeblich gemeinsame Kampf für mehr Demokratie weltweit gehören. Das schließe zudem eine größere deutsche »Verantwortung« bei der »Lösung von Konflikten in der europäischen Nachbarschaft« und eine gemeinsame geopolitische Strategie gegen die Volksrepublik China und Russland ein. Biden hatte den Europäern in einer Rede bei der Münchner »Sicherheitskonferenz« vor drei Wochen als zentrale Botschaft zugerufen: »Amerika ist zurück.« Maas sagte nun, die Antwort des Bundeskabinetts laute: »Deutschland ist an Ihrer Seite.« (dpa/jW)
    Moskau trotzt der Krise
    Russland: Wirtschaftsleistung schrumpfte 2020 trotz Corona und Sanktionen lediglich um rund drei Prozent
    Von Reinhard Lauterbach
    Russlands Volkswirtschaft ist im Coronajahr 2020 um 3,1 Prozent geschrumpft. Das gab die Statistikbehörde des Landes im Februar bekannt – ein Spitzenergebnis verglichen mit anderen Staaten. Selbst der US-dominierte Internationale Währungsfonds (IWF) konnte nicht umhin, Moskau zu bescheinigen, die »Erwartungen übertroffen« zu haben. Gleichzeitig veröffentlichten Weltbank und OECD Prognosen darüber, wann die Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt; BIP) weltweit wieder das Vorkrisenniveau erreichen könnte. Für die Russische Föderation schließt der IWF nicht aus, dass das bis zum Jahresende geschehen könnte. Die »Industriestaatenorganisation« OECD prognostizierte für den Durchschnitt der Jahre 2019 bis 2022 eine wirtschaftliche Dynamik von plus 0,5 Prozent – in der Sache eine Stagnation, dennoch um einen Zehntelprozentpunkt besser als die Erwartungen der Organisation für die BRD.
    Statistiken sind geduldig. Dennoch könnte hinter der höheren Widerstandsfähigkeit der russischen Volkswirtschaft gegen die Pandemiefolgen auch ein wirtschaftspolitisches Paradigma stehen. Teilweise scheint es um sogenannte Basiseffekte zu gehen. So brach der Dienstleistungssektor im vergangenen Jahr auch in Russland heftig um 24 Prozent ein. Jedoch ist, wie Analysten der niederländischen ING-Bank im Februar schrieben, der Anteil der Dienstleistungen am russischen BIP viel geringer als in den Volkswirtschaften etwa Westeuropas.
    Zweitens hat aber offenkundig die staatliche Wirtschaftspolitik in der Krise stabilisierend gewirkt. So wurden an relativ breite Bevölkerungsschichten gerichtete Hilfspakete im Umfang von vier Prozent der Wirtschaftsleistung gestartet. Relativ breit deshalb, weil etwa von dem staatlichen Programm zur Subventionierung von Hypothekenkrediten natürlich nur diejenigen profitiert haben, die sich den Erwerb einer Wohnung leisten können. Aber das Programm hat den Wohnungsbau und damit einen wichtigen Sektor der Binnenwirtschaft stabilisiert und gleichzeitig über die Kreditsubventionen auch den Bankensektor.
    Drittens zahlt sich jetzt offenbar aus, dass die Wirtschaftspolitik Moskaus seit dem Beginn der Sanktionen verstärkt darauf setzt, das Land gegen ökonomische Risiken aus dem Ausland abzuschirmen. Natürlich ist das nicht vollständig möglich: Russland realisiert nach wie vor einen erheblichen Teil seiner Wirtschaftsleistung mit der Förderung und dem Verkauf von Energierohstoffen ins Ausland – jährlich sind das immerhin 450 Milliarden US-Dollar.
    Vor ein paar Tagen meldeten westliche Quellen, die USA und Großbritannien dächten über neue Sanktionen nach, um die russischen Staatsschulden zu destabilisieren. Einzelheiten wurden nicht mitgeteilt, aber solchen Absichten bieten sich nur wenige Ansatzpunkte. Denn erstens liegt die Staatsverschuldung des Sanktionsziels mit 14 Prozent des BIP sehr viel niedriger als in Westeuropa oder den USA. Die angreifbare Verschuldung des russischen Finanzsektors gegenüber dem Ausland ist zudem seit 2014 mit politischer Rückendeckung um 60 Prozent zurückgefahren worden. Die bisherigen Sanktionen tragen im übrigen dazu bei, dass sich Engagements russischer Banken im Inland mehren: Sie sind weniger riskant als sanktionsbedrohte Investitionen im Ausland. Es kann als Symbol gewertet werden, dass Präsident Wladimir Putin schon im Sommer 2020 den Realisierungstermin einiger der »Nationalen Investitionsprogramme« auf 2030 verschoben und sich bei der Gelegenheit von einem 2018 proklamierten Ziel verabschiedet hat: Russland zu einer der fünf größten Volkswirtschaften der kapitalistischen Welt zu machen. Das würde nicht unbedingt zu einer Politik des Autarkiestrebens passen. 2019 nahm Russland mit seinem BIP laut IWF – berechnet nach Kaufkraftparität – weltweit Platz sechs hinter China, USA, Indien, Japan und der BRD ein.
    Den Preis der auf unbedingte Stabilisierung abzielenden Fiskalpolitik zahlen die Massen über ihre Einkommen. Die gehen seit 2014 kontinuierlich zurück. Doch die Erwartungen westlicher Analysten, Russland werde künftig nicht mehr in der Lage sein, weitere Programme zur Stützung des Konsums in Gang zu setzen, scheinen voreilig. Vermutlich will die Führung ihr Pulver in einer Situation, wo keine wichtigen Wahlen anstehen, nur nicht überhastet verschießen.
    Kooperation bei Wasserstoff
    BRD-Strategiepapier setzt bei Produktion des momentan bevorzugten flexibel einsetzbaren Energieträgers auch auf Russland
    Von Jörg Kronauer
    Die Europäische Union soll im Kampf gegen den Klimawandel eine engere Kooperation mit Russland suchen: Dieser – auf den ersten Blick überraschende – Vorschlag ist in einem Strategiepapier enthalten, das die Bundesregierung im Vorfeld des EU-Gipfels am 25./26. März in Umlauf gebracht hat. Der Gipfel wird sich insbesondere mit den Beziehungen zur Russischen Föderation befassen, die zuletzt immer mehr in Konflikte abglitten.
    Allerdings sieht das EU-interne Papier, aus dem am Wochenende die Financial Times Auszüge zitierte, keine Abkehr von dem Konfliktkurs vor. Die anonymen Autoren erheben in ihm die üblichen Vorwürfe gegen Moskau und plädieren dafür, sich nicht nur eng mit den USA in Sachen Russland-Politik abzustimmen, sondern auch frisches Geld lockerzumachen, um damit »zivilgesellschaftliche Organisationen« in Russland zu unterstützen, sprich: zu versuchen, Moskau die eigenen Bürger auf den Hals zu hetzen. Zugleich heißt es aber, eine gewisse Kooperation mit Russland sei in mancherlei Hinsicht »unersetzlich«, etwa in Nordafrika und in Nahost. Und es stimmt ja: Gegen Moskau werden Berlin und die EU wohl weder in Libyen noch in Syrien einen Fuß auf den Boden bekommen.
    Als ein Feld, auf dem es gelingen könne, eine Arbeitsebene mit der russischen Regierung zu bewahren und so die Voraussetzungen für eine punktuelle politische Kooperation zu schaffen – »Brücken zu bauen«, so lautet der PR-Ausdruck dafür –, identifiziert das Berliner Papier »multilaterale Bemühungen, den Klimawandel zu bekämpfen«. Konkret wird etwa eine Zusammenarbeit bei der Bereitstellung und Nutzung von Wasserstoff als Energieträger genannt.
    Der Hintergrund: Um die »Energiewende« weg von Kohle, Öl und Gas hin zu erneuerbaren Energieträgern zu schaffen, setzen Berlin und Brüssel zunehmend auf Wasserstoff. Das flüchtige Element soll in fernen Ländern – die über mehr Sonne und Wind verfügen als das allzuoft wolkenverhangene Deutschland – gewonnen und dann antransportiert werden, um die in ihm gespeicherte Sonnen- oder Windenergie freizusetzen. In Brennstoffzellen beispielsweise, wie sie schon seit geraumer Zeit U-Boote der deutschen Marine antreiben. Als potentiellen Wasserstofflieferanten haben deutsche Strategen neben den Ländern Nordafrikas seit einiger Zeit auch Russland im Blick. Das muss sich seinerseits früher oder später ohnehin Gedanken machen, wie es seinen Haushalt finanzieren will, wenn – vielleicht schon ab 2030 – die EU immer weniger Erdöl und Erdgas importiert.
    Die Grundidee hat kürzlich Johann Saathoff beschrieben, Berlins Regierungsbeauftragter »für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland«. Der ist zugleich »energiepolitischer Koordinator« der SPD-Bundestagsfraktion. Russland, so schwärmte Saathoff vor rund einem Monat in einem Beitrag für das Handelsblatt, habe auf seiner gewaltigen Fläche eine »rechnerische Kapazität« für Windkraft von »mindestens dem Tausendfachen der heute in Deutschland installierten« Anlagen. Bis dort Windräder zur Gewinnung »grünen« Wasserstoffs installiert seien – gern mit deutscher Technologie, für die sich dadurch neue »Exportchancen« ergäben –, könne Russland »türkisen« Wasserstoff aus Erdgas herstellen, bei dem der anfallende Kohlenstoff aufgefangen und gelagert oder auch weiterverwendet wird. Saathoff hatte sich die Idee nicht aus den Fingern gesogen. Sie wird seit vergangenem Jahr in Wirtschaftskreisen immer häufiger thematisiert. Siemens hat schon Ende 2020 mitgeteilt, man werde mit dem russischen Erdgasförderer Nowatek bei der Herstellung »grünen« Wasserstoffs kooperieren. Besonders praktisch: Russlands Erdgaspipelines könnten auch für den Transport von Wasserstoff genutzt werden. Das wäre wohl deutlich günstiger als die Anlieferung aus Marokko per Tanker.
    Die Bundesregierung treibt die Debatte in Kooperation mit einschlägigen Wirtschaftsverbänden bereits seit dem vergangenen Jahr voran. In der EU kämpft sie damit freilich gegen die üblichen Verdächtigen aus der antirussischen Fraktion.
    Commerzbank blockiert RT DE
    Teilstaatliche Großbank kündigt TV-Sender die Konten
    Von Reinhard Lauterbach
    Die künftige Arbeit der russischen Onlineplattform RT in Deutschland steht unter Beschuss. Wie der Sender jetzt mitteilte, hat die bisherige Hausbank, die Commerzbank, der Trägergesellschaft sowie der Videoagentur Ruptly Ende Februar die Konten gekündigt. Die Kündigung soll Ende Mai wirksam werden.
    Oberflächlich hatte sich der Konflikt Ende 2020 an einer von der Commerzbank kurzfristig erhobenen Forderung nach höheren Kontoführungsgebühren entzündet. Die musste sie nach einem Einspruch der Juristen von RT zurücknehmen, reagierte hierauf aber mit der Kündigung der Zusammenarbeit. Dass sich dahinter eine politische Absicht der seit 2008 nur durch eine Staatshilfe von über fünf Milliarden Euro am Leben gehaltenen Großbank verbirgt, wird vermutet. Nach Darstellung von RT spricht gegen einen Zufall der Umstand, dass etwa 20 seit Jahresbeginn und unter dem Eindruck der Gebührenerhöhung gestellte Anfragen an andere deutsche und westeuropäische Banken, die Kontoführung zu übernehmen, abgelehnt oder ignoriert wurden.
    Jedenfalls erfolgte die Kündigung einen Monat, nachdem RT DE angekündigt hatte, Ende dieses Jahres von Berlin aus ein eigenes Fernsehprogramm zu starten. Das hatte in der bürgerlichen Presse eine neue Welle an Warnungen vor der angeblichen Absicht von RT ausgelöst, die »demokratische Ordnung« der BRD zu »unterminieren«. Zuletzt hatte in der vergangenen Woche der Spiegel diesem Thema drei Seiten gewidmet.
    Das russische Außenministerium sprach am Donnerstag von »politischem Druck« auf RT und drohte mit spiegelbildlichen Maßnahmen gegen in Russland tätige deutsche Medien. Nach Angaben von RT hat der russische Vizeaußenminister Wladimir Titow in diesem Zusammenhang den Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Miguel Berger, auf den Fall »aufmerksam gemacht«. Das funktionale Gegenstück von RT DE wäre das Moskauer Büro der Deutschen Welle.
    Ende 2016 hatte in Großbritannien die ebenfalls staatlich kontrollierte Natwest Bank der britischen Niederlassung von RT die Konten gekündigt. Im Januar 2017 nahm die Bank diese Entscheidung wieder zurück. Der Guardian schrieb damals, den Ausschlag hätten Befürchtungen der BBC über eine mögliche Einschränkung ihrer Arbeitsmöglichkeiten in Russland gegeben.
    Ultimatum vorbereitet
    Kiew fordert Donbass-Gipfel und kündigt »Friedensplan« an. Seit einem Monat intensiviertes Kampfgeschehen
    Von Reinhard Lauterbach
    Kiew will Bewegung in die festgefahrene Situation im Donbass bringen. Staatspräsident Wolodimir Selenskij verlangte am Dienstag auf einer Pressekonferenz, zügig ein Gipfeltreffen im sogenannten Normandie-Format einzuberufen. Das ist eine Gesprächsrunde unter Beteiligung von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine. Sollte es zu einem Gipfel nicht kommen, sei er auch zu Einzelgesprächen mit den entsprechenden Staatschefs bereit, so Selenskij.
    Zuvor hatten mehrere Berater Selenskijs Andeutungen über einen neuen deutsch-französischen Friedensplan für den Donbass gemacht. Der Plan sei in Paris und Berlin ausgearbeitet und von der Ukraine »vervollständigt« worden, erklärte der Leiter der Kiewer Präsidialadministration, Andrej Jermak, vor einigen Tagen. Zum Inhalt sagte er nichts, nannte aber das Stichwort »Cluster für eine Friedenslösung«. Das zitiert eine Formulierung aus einem »Friedensplan«, den der frühere ukrainische Staatspräsident (1991–1996) Leonid Krawtschuk im vergangenen November vorgelegt hatte. Er sah vor, die in Minsk vereinbarten politischen Zugeständnisse der Ukraine an die regionale Autonomie und kulturelle Identität der Bewohner des Donbass sowie die vereinbarte Amnestie für die Aktivisten des Aufstands von 2014 und die Bediensteten der völkerrechtlich nicht anerkannten Volksrepubliken (VR) zu umgehen, und verlangte, die Kontrolle über die Grenze des Donbass zu Russland bereits zu Beginn eines Friedensprozesses an die ukrainische Seite zu übergeben. Das würde eine vorherige Kapitulation der »Volksrepubliken« voraussetzen und würde die Bewohner der Region der politischen und ideologischen Revanche der in Kiew an die Macht gelangten Nationalisten aussetzen. Insofern war es nicht erstaunlich, dass der »Krawtschuk-Plan« in Moskau, Donezk und Lugansk auf Ablehnung stieß.
    Mit schweren Waffen
    Was die Ukraine jetzt Neues gegenüber dem »Krawtschuk-Plan« einzubringen hätte, ist einstweilen nicht erkennbar. Deutlicher ist die Interpretation, die Jermak der neuen Initiative gab: Wenn der Vorschlag auf dem Tisch liege, sei es an Russland, ihn anzunehmen oder nicht. Dann werde aber auch vor der internationalen Öffentlichkeit deutlich, wer den Frieden wolle und wer nicht. Erkennbar ist also, dass Kiew versucht, Russland ein Ultimatum zu stellen.
    Öffentliche Kommentare zu diesen Meldungen aus Berlin, Moskau oder ­Paris gibt es nicht. In Moskau sagte Vizeaußenminister Andrej Rudenko, er höre das erste Mal, dass ein entsprechender Plan existiere.
    Die Berichte über einen angeblichen neuen westlichen Friedensplan kommen vor dem Hintergrund eines seit der zweiten Februarhälfte intensivierten Kampfgeschehens im Donbass. In den ersten Märztagen zählte die Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mehrere Tage nacheinander jeweils einige hundert Waffenstillstandsverletzungen. Es gab Tote und Verletzte auf beiden Seiten, und beide Seiten holten offenbar schwere Waffen aus den Depots hinter der Front, wo sie gemäß dem Waffenstillstandsabkommen aufbewahrt werden müssen. Und die ukrainische Seite verbreitet offenbar gezielt Indiskretionen, die auch auf die Option eines größer angelegten militärischen Angriffs auf die »Volksrepubliken« verweisen. Dazu gehören Bilder von Transportzügen mit Panzern und Raketenwerfern auf Bahnhöfen im Hinterland der Front und Äußerungen des ukrainischen Stabschefs General Ruslan Chomtschak darüber, dass auf dem Ausbildungsprogramm dieses Frühjahrs in allen Einheiten der Häuser- und Straßenkampf stehe.
    Moskau warnt
    Seitens der »Volksrepubliken« sind die Reaktionen weniger lautstark. Aber am 3. März hatte das Kommando der Streitkräfte der VR Donezk seinen Einheiten ausdrücklich auch »Warnschüsse« erlaubt, um ukrainische Feuerstellungen »auszuschalten«, aus denen zuvor zivile Ziele getroffen worden seien. Aus Russland kamen einstweilen politische Warnungen davor, dass sich die Situation einem »kritischen Punkt« nähere; der Vizevorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, Alexander Scherin, wurde deutlicher: Wenn die ukrainische Seite den Waffenstillstand durch größere Angriffsoperationen breche, werde Russland »schnell und zielgerichtet« militärisch eingreifen, um die Republiken zu verteidigen – einschließlich der mehreren hunderttausend Donbass-Bewohner, die in der Zwischenzeit die russische Staatsangehörigkeit erhalten haben. Den Schutz bedrohter Auslandsrussen hat die russische Militärdoktrin explizit in die Liste möglicher Anlässe für Interventionen aufgenommen.
    Ukrainische Beobachter schreiben, es sei erkennbar, dass Russland zumindest so lange nicht an einer Eskalation im Donbass interessiert sei, wie die Gasleitung Nord Stream 2 nicht fertig ist. Kiew versuche offenkundig, dieses Zeitfenster zu nutzen, um Moskau zu Zugeständnissen zu zwingen. Über die Erfolgschancen dieses Versuchs dürfte vor allem der Nachdruck entscheiden, mit dem sich Paris und Berlin hinter die Kiewer Pläne stellen. Wenn es zutrifft, dass sie der Ukraine erlaubt haben, ihren »Friedensplan« zu »vervollständigen« – also an die eigene Interessenlage anzupassen –, ist das ein schlechtes Zeichen.
    Hintergrund: US-Sanktionen gegen Igor Kolomojskij
    Die USA haben Sanktionen gegen den ukrainischen Unternehmer und Exbankier Igor Kolomojskij verhängt. Insbesondere dürfen er und seine Familienmitglieder bis auf weiteres nicht mehr in die USA einreisen. Das US-Außenministerium berief sich für seine Sanktionsentscheidung auf »korruptes Verhalten« Kolomojskjs. Die Ironie daran: Die Vorwürfe beziehen sich auf die Zeit in den Jahren 2014 und 2015, als Kolomojskij von Expräsident Petro Poroschenko als Gouverneur von Dnepropetrowsk eingesetzt worden war und sein Amt für zwei Ziele nutzte: erstens den »prorussischen Separatismus« in der Region zu bekämpfen, und zweitens, sich am Eigentum örtlicher Geschäftsleute zu bereichern, die er des »Separatismus« beschuldigte. Dass der praktizierende Jude Kolomojskij sich dabei der handgreiflichen Hilfe ukrainischer Faschisten bediente und bis 2016 Hauptsponsor des »Rechten Sektors« war, interessierte die USA nicht. Sie betreiben unter der Parole der »Korruptionsbekämpfung« das Wegräumen sogenannter Oligarchen, die relevante Teile des industriellen Eigentums der Ukraine kontrollieren.
    Für Präsident Wolodimir Selenskij ist die Entscheidung der USA unangenehm, auch wenn er sie öffentlich als »willkommene Hilfe bei der Korruptionsbekämpfung« lobte. Denn Selenskij hat seine Karriere als Comedian in Kolomojskijs Fernsehsender 1+1 begonnen, und dessen publizistische Unterstützung spielte eine große Rolle für seinen Wahlsieg 2019. Kolomojskij kontrolliert etwa 30 Angehörige der Regierungspartei »Diener des Volkes« und außerdem eine weitere Partei im ukrainischen Parlament: die Fraktion »Für die Zukunft«.
    Lässt Selenskij jetzt, wie es die USA verlangen, die Justiz des Landes gegen seinen einstigen Protektor ermitteln, riskiert er den Verlust seiner Mehrheit im Parlament: Kolomojskij müsste nur einen Teil seiner mutmaßlichen Strohmänner zum Austritt aus der Regierungspartei veranlassen, und deren eigenständige Mehrheit ­wäre dahin. (rl)

  102. Sagen, was ist
    Angesichts der Weltlage ist Widerstand gegen die irrwitzige Kriegspolitik des Westens unverzichtbar. Doch mit ihrer Orientierung aufs Mitregieren schwächt die Linkspartei ihre derzeitige Rolle als parlamentarischer Arm der Friedensbewegung
    Von Volker Külow und Ekkehard Lieberam
    Katja Kipping und Bernd Riexinger haben am 8. Februar 2021, drei Wochen vor ihrer Verabschiedung auf dem Bundesparteitag, einen 144 Seiten umfassenden Entwurf des Bundestagswahlprogramms der Partei Die Linke mit zahlreichen politischen, sozialen und ökologischen Forderungen vorgestellt. Der auf der ersten Tagung des 7. Parteitages am 26. Februar angenommene Beschluss »Wie wir gerecht aus der Krise kommen – Mit einem sozialen, friedlichen und ökologischen Systemwechsel« liegt auf der Linie dieses Entwurfs, betont aber deutlich stärker den Kampf um eine Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse »von unten«. In beiden Texten werden aktuell Chancen für einen »sozial-ökologischen Richtungswechsel« gesehen, der Beschluss formuliert gar noch dazu einen »feministischen« und »friedenspolitischen« Richtungs- bzw. Politikwechsel. Wir stünden in diesem Jahr, so heißt es »vor einer Richtungsentscheidung«.
    Wenn es doch nur so wäre. Zentrale Begriffe wie Kapitalismus, Imperialismus oder Klassengesellschaft, eine überzeugende und in sich stimmige Analyse der weltpolitischen Lage, des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses in der Bundesrepublik und eine linke Gesellschaftsstrategie sind im Entwurf des Bundestagswahlprogramms nicht, im Beschluss des Parteitages allenfalls in Ansätzen zu finden. Das ist ein weiteres Zeichen für eine verstärkte Anpassung der Linkspartei an den etablierten Politikbetrieb.
    Seltsam ist, dass die Frage des Wahlprogramms nicht den Ende Februar neu gewählten Vorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler überlassen wurde. Auch die Ausführlichkeit des Entwurfs lässt aufhorchen. Wie viele Wählerinnen und Wähler werden das alles lesen? Warum ein Art »Regierungsprogramm«, wenn fürs Regieren schlichtweg die machtpolitischen Voraussetzungen fehlen? Wo zeichnen sich für den im Entwurf des Wahlprogramms skizzierten unterstützenswerten »Richtungswechsel« gesellschaftliche oder gar parlamentarische Mehrheiten ab? Was ist der Hintergrund für die »Weichspülung« von Grundsätzen des Erfurter Programms von 2011 und des Wahlprogramms von 2017?
    Bis zum Wahlparteitag von Die Linke Mitte Juni 2021 soll der Wahlprogrammentwurf diskutiert werden. Schon in den zehn Tagen nach seiner Veröffentlichung geschah dies mit einer ungewöhnlichen Heftigkeit: vor allem in junge Welt und in Onlinemedien. Vorrangig ging es um die Friedensfrage, das Mitregieren und um die Verfasstheit der internationalen Beziehungen, aber auch um die politischen Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik. Der Auftakt der Diskussion ähnelte mehr einem Schlagabtausch als einem Dialog. Nach einem gründlichen Lesen der Positionspapiere bleibt der Eindruck, dass die in den kritischen Beiträgen zum Ausdruck kommende Empörung berechtigt war. Es geht weniger um Missverständnisse, sondern vielmehr um kaum überbrückbare Differenzen zwischen Regierungslinken und antikapitalistischen Linken.
    »Die gefährlichen Jahre«
    Für eine linke Partei sollten Bundestagswahlkämpfe nicht das sein, was sie für die neoliberalen Parteien sind: Zeiten des Konkurrenzkampfes um die Neuaufteilung des »Wählermarktes« mittels Methoden der politischen Reklame, des Kampfes um Geländegewinne bei der politischen Austarierung und Ausrichtung der regierenden »politischen Elite« und der Neuaufteilung der den regierenden Parteien zufallenden staatlichen Ämter im Bund. Nach allen geschichtlichen Erfahrungen mit der SPD, den Grünen und auch der PDS enden Wahlen, die in diesem Sinne verstanden werden, für linke Parteien unweigerlich in einer Integrationsfalle und führen die Partei in die politische Bedeutungslosigkeit. Wenn eine linke Partei anderen Parteien die Bereitschaft zum Mitregieren signalisiert, dann ist sie auf dem Wege von der Veränderung der Gesellschaft aus der Opposition heraus zur faktischen Staatspartei schon deutlich vorangekommen.
    Die Linkspartei steht in der Tradition eines alternativen Verständnisses von Wahlen, Wahlkämpfen und Parlamentsarbeit. Ihr Ziel nach dem Grundsatzprogramm von Erfurt 2011 ist nicht die Partizipation an der Ämterpatronage und den pekuniären Zuwendungen des Parteienstaates, sondern die Schaffung einer besseren Gesellschaft auf dem Wege über eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Es heißt im Parteiprogramm: »Die strategische Kernaufgabe der Linken besteht darin, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beizutragen, um eine solidarische Umgestaltung der Gesellschaft (…) durchzusetzen.«
    Nach Friedrich Engels gilt es, Wahlen »aus einem Mittel der Prellerei (…) in ein Werkzeug der Befreiung« zu verwandeln und dabei mit den Volksmassen »in Berührung zu kommen«.¹ Jeder Wahlkampf hat im Sinne der Emanzipation der arbeitenden Klasse Grundsätzliches zu beachten. Er muss diese Befreiung befördern. Wahlprogramm und Wahlkampf müssen zugleich eine Antwort auf die Herausforderungen der jeweiligen historischen Situation geben. Das heißt: Wahlkampf einer sozialistischen Partei muss – der konkreten Lage entsprechend – die Menschen über die politischen Zustände und die politischen Absichten der Herrschenden aufklären, und die Partei muss dagegen Widerstand mobilisieren, gerade auch die Tribüne des Parlaments nutzen. Wahlkämpfe in diesem Sinne verlangen geradezu danach, die linke Partei politisch zu profilieren und zu »sagen, was ist«.
    Bernd Riexinger ist zuzustimmen, wenn er heute die Gefahr neuer Kriege im Ergebnis eines »Epochenbruchs« an die erste Stelle seiner wahlpolitischen Überlegungen setzt. Im Beschluss des vergangenen Parteitages heißt es ähnlich: »Die Kriegsgefahr war seit Jahrzehnten nicht so groß wie heute.« Aber warum folgen daraus keine Konsequenzen für den kommenden Wahlkampf? Das ganze Ausmaß der aktuellen Kriegsgefahr wird deutlich, wenn die Merkmale des derzeitigen Epochenbruchs in der Friedensfrage konkret benannt werden. Dann wird deutlich, dass sich daraus Aufgaben der Partei primär im außerparlamentarischen Kampf ergeben. Es ist wichtig, wie auf dem Parteitag geschehen, die friedenspolitischen Grundsätze zu verteidigen. Aber dabei stehenzubleiben greift zu kurz. Dazu ist die Situation allzu ernst. Friedenskampf ist weniger eine Sache von Resolutionen als vielmehr Aufbau einer Bewegung, die die Kriegspolitiker zum Rückzug zwingt.
    Wir sind inmitten einer geschichtlichen Situation, die nicht nur der Systemauseinandersetzung vor 1989, sondern in mancher Hinsicht auch derjenigen ähnelt, die sich in den Jahren 1911/1912 vor dem Ersten Weltkrieg in Europa abzeichnete. Imperialistische Interessen drängen wieder einmal in Richtung eines großen Krieges. Eine große Volksbewegung dagegen ist zwingend notwendig, diese Entwicklung zu stoppen. Es wäre ein elementarer politischer Fehler der Linkspartei, die entsprechenden Vorbereitungen und Planungen vor allem der USA unbeachtet zu lassen und zu übersehen, dass derzeit SPD und Grüne dabei mitmachen und aktuell keine Bündnispartner im Kampf gegen die akute Kriegsgefahr sind.
    Im Vorfeld der Bundestagswahlen 2021 erleben wir in schneller Folge diverse Versuche, innenpolitische Probleme und Fehlentwicklungen in verschiedenen Ländern zum Regime-Change durch die Beförderung neuer »bunter Revolutionen« zu nutzen – erst in Hongkong, dann in Belarus und nun, wenn auch zunächst auf kleiner Flamme, in Russland. Zu den bewährten Mitteln zählen die Anprangerung von »Menschenrechtsverletzungen« und sogar »Völkermord« in China sowie immer neue Sanktionen gegen die Russische Föderation. Vor allem die Grünen betätigen sich als Scharfmacher an der Seite der USA und des deutschen Außenministers, der Mitglied der SPD ist. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit haben die USA zugleich mit ihrem Ersuchen, wieder in die UN-Menschenrechtskommission zurückzukehren, den Ausschluss von Kuba, Russland, China und Venezuela gefordert.
    Zwei Dinge wurden bekannt, die den Charakter dieser Aktivitäten und die politischen Gefahren des derzeitigen Epochenbruchs erhellen. Zum einen besteht kein Zweifel mehr, dass die Jahre der USA als erste Wirtschaftsmacht der Welt gezählt sind. Die USA werden demnächst von der Volksrepublik China auf Platz zwei verwiesen werden. Zum anderen verschärfen die USA eben nicht nur unter Donald Trump, sondern auch unter ihrem neuen Präsidenten Joseph Biden den Konfrontationskurs gegen China. Die USA richten ihre außenpolitische Strategie gegen China und dessen Verbündete auf eine harte Gangart aus. Deutschland und die EU haben dies bereits gegenüber der Russischen Föderation getan.
    Die Volksrepublik China überschritt in den Jahren 2011/2012 hinsichtlich ihres Anteils am Welthandel und am Welt-BIP die Zehnprozentmarke. Sie nähert sich nunmehr einem Anteil von 20 Prozent. Das britische Centre for Economic and Business Research (CEBR) kommt in einer Studie vom Dezember 2020 zu dem Ergebnis, dass China in den nächsten eineinhalb Jahrzehnten hinsichtlich der Wirtschaftskraft zur Nummer eins der Welt werde. Die Volksrepublik wird nach dieser Studie die USA infolge der Coronakrise acht Jahre früher als bisher erwartet überholen: im Jahre 2028. Für das Jahr 2035 prognostiziert das CEBR für die Volksrepublik ein Bruttoinlandsprodukt von 35 Billionen US-Dollar (29 Billionen Euro), für die USA 26 und für die EU 19 Billionen Dollar.²
    Ein in Washington kursierendes Papier zur weiteren China-Politik der USA trägt die Überschrift »The Longer Telegram Toward a New American China Strategy«. Es knüpft in der Titelgebung an das »Long Telegram« von George Kennan an, das 1946 in den USA dazu beitrug, eine Wende der US-amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion in Richtung Abschreckung, Eindämmung und Kalter Krieg einzuleiten. Das »Longer Telegram« empfiehlt den Regierenden in den USA heute die Bereitschaft zu einer ähnlichen Politik gegenüber der Volksrepublik, einschließlich einer militärischen Intervention: Sollte China »Taiwan angreifen, militärisch gegen Japan vorgehen, feindselige Handlungen im Südchinesischen Meer und Angriffe gegen Einrichtungen von Vertragspartnern in Washington beginnen, dann sollte Amerika prompt und direkt reagieren – militärisch«.³
    Unübersehbar ist die Systemauseinandersetzung zurück, aber eine Systemauseinandersetzung, in der China auf der Überholspur ist. Längst hat ein neuer Kalter Krieg, der in einen heißen Krieg umschlagen kann, begonnen. Es geht den USA dabei nicht um die »Verteidigung« gegen aggressive Handlungen Chinas und Russlands, die es in der behaupteten Form so nicht gibt. Wir haben es mit einer imperialistischen Weltmacht zu tun, die sich gegen ihren Niedergang mit allen Mitteln stemmt und deshalb weiter unverdrossen zu militärischen und subversiven Mitteln greifen wird. Die Vereinigten Staaten von Amerika gebieten nach wie vor über den mächtigsten Militärapparat der Welt mit insgesamt etwa 1.000 ausländischen Militärstützpunkten (zum Vergleich: China verfügt über einen). Außerdem besitzen sie mit der CIA und 16 weiteren in der United States Intelligence Community zusammengeschlossenen Nachrichtendiensten über den größten Geheimdienstapparat der Welt (2010: 854.000 Mitarbeiter).
    Die Politik gegenüber der Volksrepublik und den mit ihr verbündeten Staaten wird, wie es sich abzeichnet, vier Eckpunkte haben: Eine neue Runde des Hochrüstens in der NATO hat begonnen. Es wird Versuche geben, China und dessen Verbündete in eine Spirale des Totrüstens zu treiben. Es zeichnen sich neue Regime-Change-Bewegungen in Kooperation von CIA und anderen US-Geheimdiensten mit einheimischen »Oppositionellen« ab. »Militärische Showdowns« werden verstärkt zum Mittel der Außenpolitik werden. Die Chancen für einen »friedenspolitischen Richtungswechsel« in der Bundesrepublik unter den gegenwärtigen Klassenmachtverhältnissen und angesichts der NATO-Mitgliedschaft tendieren gegen null. Angesichts dieser unbestreitbaren Entwicklungen verbietet sich für eine linke Partei jede Allianz mit dieser Politik.
    Ganz im Gegenteil: Angesichts dieses westlichen Hegemoniebestrebens ist nichts Geringeres als eine große internationale Volksbewegung gegen diese irrwitzige Kriegspolitik notwendig. Für die Linkspartei bedeutet das, diese Situation und die damit verbundenen Herausforderungen im Dialog mit Organisationen der Friedensbewegung zu thematisieren und möglichst im Bundestagswahlkampf den Grundstein für eine neue Massenbewegung für Frieden und Entspannung zu legen. Mit der Orientierung aufs Mitregieren schwächt Die Linke ihre derzeitige Rolle als parlamentarischer Arm der Friedensbewegung im Bundestag ab. Mit dieser Haltung wird es ihr nicht möglich sein, sich an die Spitze einer neuen Friedensbewegung gegen den aggressiven Kurs von USA und NATO gegen die Volksrepublik China zu stellen.
    Mitmachen statt opponieren
    Die »Strategie« der Partei, ihren Bundestagswahlkampf auf Regierungsbeteiligung »nun auch im Bund« auszurichten, ist aus der Sicht der friedenspolitischen Herausforderungen im Wahljahr 2021 selbstmörderisch. Wer heute in diesem Lande als linke Partei regieren will, der kann dies nur, wenn er seinen Widerstand gegen die militärische Allianz der Bundesrepublik mit den USA und der NATO beendet. Wer dennoch regiert, mag noch so gute friedenspolitische Beschlüsse haben, er wird sie nicht einhalten können.
    Nicht nur die ehemalige Kovorsitzende Katja Kipping und die neu gewählte Kovorsitzende Susanne Hennig-Wellsow, auch andere führende Politiker der Linkspartei haben seit geraumer Zeit, verdeckt und gelegentlich auch schon offen, die Ausrichtung der Partei auf »Regierungsverantwortung« vorbereitet. Susanne Hennig-Wellsow hat überdies auch erklärt, sie könne sich die Zustimmung zu »Friedensmissionen« der Bundeswehr vorstellen. Niemand in der Führungsspitze in der Partei hat das zurückgewiesen. Der Parteitag hat diesen Kurs unterstützt, wenn auch begleitet von Bekenntnissen zu richtigen friedenspolitischen Forderungen, zu einer engen Zusammenarbeit mit der Friedensbewegung und der Versicherung, eine »Verschiebung des Kräfteverhältnisses nach links« herbeiführen zu wollen.
    Es begann im Oktober 2019 mit dem Aufruf des Parteivorstandes zu einer Strategiedebatte über Gesellschaftspolitik, über das, was die Partei auszeichnet, und das, was sie will. Im Ergebnis kam es darüber zu einer regen Diskussion. Fürs Mitregieren im Bund plädierten dabei zunächst vorwiegend führende Politiker der Linkspartei. Heute, eineinhalb Jahre später, gibt es gegen die Ausrichtung der Wahlstrategie aufs Regieren als »politisches Mitgestalten« kaum noch grundsätzlichen Widerstand. Durchgesetzt hat sich auf dem Parteitag eine flexible Linie, die zumindest die Tür zum Mitregieren offenhält.
    Katja Kipping, Bernd Riexinger, Jörg Schindler und Harald Wolf erklärten im April 2020 in einem Artikel mit dem Titel »Für eine solidarische Zukunft nach Corona« sogar, die Partei solle bei den künftigen Bundestagswahlen »offensiv das Ziel eines Politik- und Regierungswechsels vertreten«.⁴ Nach einer Ablehnung dieser Orientierung in der Sitzung des Parteivorstandes in der Sitzung vom 16. Mai 2020 traten die Regierungslinken nicht etwa den Rückzug an. Sie machten weiter.
    Auf dem vergangenen Parteitag wandten sich in der Diskussion zahlreiche Delegierte gegen die Abschwächung der friedenspolitischen Positionen und gegen den Kurs auf Mitregieren. Die Kampfabstimmung bei der Wahl um die Funktion des Stellvertretenden Vorsitzenden zwischen Matthias Höhn und Tobias Pflüger am 27. Februar machte deutlich, dass nach wie vor eine offen verkündete Aufweichung der friedenspolitischen Positionen in der Partei auf Parteitagen (noch) nicht mehrheitsfähig ist. Matthias Höhn hatte sich im Vorfeld des Parteitages unzweideutig für eine Revision der friedenspolitischen Positionen der Partei ausgesprochen. Pflüger steht seit langen als Aktivist der Friedensbewegung für einen klaren friedenspolitischen Kurs. Höhn erhielt 41,6 Prozent der Stimmen, Pflüger 54,2 Prozent.
    Dennoch darf die Bedeutung dieser Abstimmung nicht überschätzt werden. Denn zugleich wurde Susanne Hennig-Wellsow, die unter dem Motto »Lasst uns nicht mehr warten!« (mit dem Regieren) die gleichen Positionen wie Höhn vertritt, mit 70,5 Prozent zur Kovorsitzenden gewählt. Wenn im Beschluss des Parteitages richtigen friedenspolitischen Aussagen Bekenntnisse zum Mitregieren im Bund gegenüberstehen, so wird damit ein weiteres Grundproblem der Linkspartei deutlich: Sie erhebt richtige Forderungen, weigert sich aber zugleich die machtpolitischen Realitäten in der Bundesrepublik anzuerkennen.
    Machtpolitisch naiv
    Es erschreckt, wie weit Die Linke die Welt des schönen Scheins der parlamentarischen Demokratie mittlerweile verinnerlicht hat. Der Kardinalfehler besteht darin, die Regierungsfrage mit der Machtfrage gleichzusetzen und das bestehende Regierungssystem als politische Form zu beschreiben, die mittels Staatspolitik und Gesetzgebung »mit links« zu gestalten sei. Dazu kommt dann noch der obligatorische Hinweis, dass dies natürlich nur mit Druck von unten, »nur gegen die geballte Macht der großen Konzerne« erkämpft werden könne.
    Diese Erklärung der Machtverhältnisse aber ist nicht praxistauglich. In der Geschichte gibt es eine ganze Reihe von Beispielen, die den Versuch anzeigen, diese Position zur Grundlage für die »Transformation« des Kapitalismus in eine gerechte Gesellschaft zu machen. All diese Versuche, gegen die »Dominanz der Kapitalinteressen« einen politischen Richtungswechsel durchzusetzen, sind zumeist schon nach wenigen Monaten gescheitert – in den 1980er Jahren unter François Mitterrand in Frankreich oder nach 2015 unter Alexis Tsipras in Griechenland.
    Die Führung der Linkspartei ist mit ihrem gesellschaftlichen Grundverständnis kaum in der Lage, die Mechanismen von Herrschaft und Macht in der Bundesrepublik realistisch zu begreifen. Warum aber ist dies der Fall? Warum ist Die Linke partout nicht in der Lage, eine tragfähige Analyse der machtpolitischen Gegebenheiten in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft vorzulegen? Überzeugende Antworten auf beide Fragen liegen seit langem vor. Aber das Wissen um die tatsächlichen Machtverhältnisse verflüchtigt sich immer wieder auf seltsame Weise. Der Grund dafür ist wohl die eigene Anpassung an den bürgerlichen Politikbetrieb.
    Mit Kritik an den Herrschafts- und Machtverhältnissen macht man sich in der Partei nur noch selten Freunde. Karl Marx und Friedrich Engels haben bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Zusammenhänge zwischen ökonomischer und politischer Macht in der kapitalistischen Gesellschaft aufgedeckt. Ihnen folgten u. a. Robert Michels, Rosa Luxemburg und Lenin sowie später Wolfgang Abendroth, Johannes Agnoli, die alle die Gründe dafür aufzeigten, wieso sozialdemokratische, sozialistische oder auch kommunistische Parteien mit ihrer Einordnung in den allgemeinen Politikbetrieb alsbald ihre sozialistischen Prinzipien aufgaben und zu partiell bürokratischen Organisationen wurden, die immer weniger in der Lage sind, die Machtverhältnisse richtig zu analysieren, weil sie schlichtweg von ihnen profitieren.
    Marx und Engels erkannten, dass die politische Macht weder primär in den Parlamenten noch in der Regierung oder in den Parteiführungen zu Hause ist. Macht als Fähigkeit (und Herrschaft als lange andauernde Fähigkeit), Eckpunkte und Richtung der Staatspolitik und Gesetzgebung zu bestimmen, konzentriert sich in den Chefetagen der großen Konzerne und der Unternehmerverbände. Im monopolistischen Kapitalismus, so erkannte der Marx-Schüler Lenin schon vor mehr als hundert Jahren, liegen Herrschaft und Macht in den Händen der Finanzoligarchie, »die ein dichtes Netz von Abhängigkeitsverhältnissen über ausnahmslos alle ökonomischen und politischen Institutionen der modernen bürgerlichen Gesellschaft spannt«.⁵
    Weitere Erfahrung mit Macht und Herrschaft konnten im 20. Jahrhundert gewonnen werden. Im Verlaufe der politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe wurden (auch unter dem Druck der globalen Systemauseinandersetzung) erhebliche soziale und auch politische Kompromisse zwischen Kapital und Arbeit erkämpft. Aber es ging dabei nicht um Machtteilung, sondern um einen »asymmetrischen Klassenkompromiss« (Peter von Oertzen).
    In die gleiche Richtung einer flexiblen Manövrierfähigkeit der Kapitalherrschaft wirkt die außerordentliche Integrationskraft des parlamentarischen Regierungssystems gegenüber systemoppositionellen Parteien. Je erfolgreicher eine linke Partei bei Wahlen ist, um so mehr profitieren ihre Funktionsträger von den Privilegien, die der Parteienstaat in der Bundesrepublik bietet. Die Parlamentsparteien besetzen alle entscheidenden Regierungsämter und eine Vielzahl weiterer Posten auf allen Ebenen des Staates. Sie erhalten Gelder für ihre Wahlkämpfe, für ihre Abgeordneten und deren Mitarbeiter, für ihre Stiftungen und anderes mehr. Gerade auch in erfolgreichen linken Parteien entwickelt sich so eine soziale Gruppe mit objektiv eigenen Interessen gegenüber den Interessen der arbeitenden Klassen.
    Natürlich sind das alles Entwicklungen, die sich nicht »naturnotwendig«, sondern als Tendenzen durchsetzen, die, wie gerade auch der vergangene Parteitag von Die Linke deutlich machte, auf entschiedenen Widerstand stoßen. Auch Sozialistinnen und Sozialisten, die von der Partei leben, können natürlich sehr ehrenwerte Kämpfer für eine bessere Gesellschaft sein. Dennoch stimmt die soziale Zusammensetzung des auf dem Parteitag neu gewählten Parteivorstandes nachdenklich: Abhängig Arbeitende und Prekarisierte, für deren Interessen die Partei kämpft, sind dort nicht vertreten. Nach Berechnungen von Thies Gleiss, Mitglied des Parteivorstandes, sind von den 44 Mitgliedern des neuen Parteivorstandes 28 (also fast 63 Prozent) Abgeordnete (15) im Europaparlament, im Bundestag oder in einem Landtag bzw. Mitarbeiter (13) in Fraktionen, von Abgeordneten, der Stiftung oder der Partei. Zwei sind hauptamtliche Gewerkschaftsangestellte, drei Studierende, zwei freie Autoren, ein Polizeibeamter und der verbleibende Rest sind Rentner.
    ________________
    RT DE am Bild-Pranger
    Vorwurf: Spionage. Boulevardblatt startet neue Kampagne gegen russischen Sender. Amazon zieht flankierendes Buch aus dem Verkehr
    Von Reinhard Lauterbach
    Die deutschsprachige Onlineplattform des russischen Auslandsfernsehsenders RT – RT DE (bis Ende Oktober 2020: RT Deutsch) – sieht sich neuen Angriffen ausgesetzt. Nach der Aufkündigung der Bankverbindung Ende Mai und dem im Spiegel erhobenen Vorwurf, der Sender sei redaktionell aus Moskau »gesteuert«, legte Mitte vergangener Woche Bild nach. Das Blatt veröffentlichte eine Story, in der ein zeitweiliger Mitarbeiter des Senders behauptet, die Programmleitung erteile den in Berlin tätigen Mitarbeitern Spionageaufträge.
    So sei er im August 2020 in einem »geheimen Chatkanal« von der Leitung von RT DE aufgefordert worden, die Berliner Klinik Charité zu observieren, in der damals Alexej Nawalny behandelt wurde. Insbesondere habe er Wege finden sollen, durch die damals bestehenden Polizeiabsperrungen hindurchzuschlüpfen und zu Nawalnys Krankenzimmer vorzudringen. Er sei sich vorgekommen wie ein »Geheimagent«, klagte der Autor Daniel Lange, der einen Tag vor der Publikation seiner Story in Bild bei RT fristlos kündigte.
    RT wies die Vorwürfe zurück und kündigte eine Klage wegen Rufschädigung an. Als Folge stellte der Onlinehändler Amazon den Vertrieb einer Enthüllungsschrift in Buchform aus der Feder des frischgebackenen Bild-Autors unter dem Titel »Putins Medienarmee« nach wenigen Tagen und dem Absatz einiger hundert Exemplare ein. Man wolle sich nicht in Streitigkeiten Dritter einmischen, erklärte Amazon das, was bild.de als »Einknicken gegenüber Putin« darstellte.
    In der Sache stellte RT DE die Vorwürfe von Bild als böswillige Unterstellung dar. Es habe sich um einen normalen Rechercheauftrag auf der Suche nach »exklusivem Material« über Nawalny gehandelt, den der ehemalige Mitarbeiter nicht habe erfüllen können, schrieb RT-DE-Chefin Dinara Toktosunowa auf der Seite des Senders. Die Echtheit der von Lange veröffentlichten Chatbeiträge wurde allerdings nicht bestritten, sondern ihm lediglich vorgeworfen, »interne Kommunikationen« nach außen getragen zu haben. Es sei im übrigen grotesk, wenn ausgerechnet Bild, die den Patienten Nawalny auf Schritt und Tritt verfolgt habe, RT Spionage vorwerfe.
    Iwan Rodionow, Kommunikationschef von RT DE, stellt den ganzen Vorgang in den Kontext einer »Einschüchterungs- und Diffamierungskampagne«, die schon seit längerer Zeit gegen den Sender im Gange sei. Bisheriger Höhepunkt – abgesehen von der Bild-Story – sei ein Aufruf des Sprechers des Deutschen Journalistenverbandes (DJV), Hendrik Zörner, gewesen, Stellenausschreibungen von RT zu boykottieren. Zörner hatte geschrieben, Journalisten, die sich dort um eine Mitarbeit bewürben, würden sich aus dem »kritischen Journalismus« verabschieden und an einer von RT angeblich beabsichtigten »Destabilisierung der Demokratie« mitwirken.
    Rodionow sah diese Äußerung gegenüber jW als faktische Drohung mit einem Berufsverbot in der deutschsprachigen Medienbranche und die ganze Kampagne als »mediale Kriegserklärung«, die als politisch motivierte Aktion Rückwirkungen auf die Tätigkeit deutscher Medien in Russland haben könne. Er hoffe allerdings, so Rodionow, dass eine solche Eskalation noch abgewendet werden könne und sich in Deutschland Leute mit »hinreichender Vernunft« fänden, die Dinge nicht auf die Spitze zu treiben.
    Das einzige Indiz, das für eine solche Absicht, die Eskalation zu beenden, sprechen könnte, ist einstweilen die Reaktion des Rests der deutschen Medienwelt. Der von Bild als großer Skandal angekündigte Spionagevorwurf erwies sich medial bisher als Rohrkrepierer. Andere Medien als die beiden beteiligten Seiten griffen das Thema bis zum Montag dieser Woche nicht auf.
    Tatsächlich gibt es in der Bild-Story einige Elemente, die auch eine Provokation nahelegen können. So gibt Lange an, von sich aus aus seiner Rolle als »Undercover-Reporter« gefallen und seine Überprüfung durch die im August die Charité bewachenden deutschen Geheimdienstler durch übertrieben auffälliges Verhalten selbst provoziert zu haben. Bei der Gelegenheit habe er sich als »RT-Mitarbeiter aus Russland« ausgegeben, was seine Position einigermaßen übertrieb. Denn das war er nicht; er war das, was man im internen Sprachgebrauch von Auslandsstudios als »Ortskraft« bezeichnet. Warum er ein halbes Jahr verstreichen ließ, bis er seine Vorwürfe an die Öffentlichkeit brachte, erklärte er nicht.
    Dass RT einen Mann wie Lange, der laut der über ihn existierenden Wikipedia-Seite seine Karriere in verschiedenen Formaten des mit dem Springer-Konzern verbundenen Fernsehsenders Sat.1 begonnen hatte, überhaupt einstellte, zeigt im übrigen eine Personalauswahl auf seiten von RT, die nicht unbedingt für Langes Behauptung spricht, der Sender sei eine Geheimdienstresidentur. Eher schon zeugt es vom Drang zum journalistischen Boulevard ohne Rücksicht auf eventuelle politische Einstellungskriterien. Nach dem Anschlag in Wien im November 2020 etwa machte Lange eine Story daraus, dass er am Tatort eine offenbar von der Spurensicherung übersehene Patronenhülse auf dem Straßenpflaster gefunden hatte. Das Wiener Portal heute.at schrieb damals, ein von Lange informierter Polizist habe die Hülse gleichmütig in »ein Sackerl« gesteckt, und das sei es dann – außer den für RT angefallenen Spesen – gewesen.
    Hintergrund: Warnung vor »Desinformation«
    Seit 2015 leistet sich die EU eine Stelle für »Strategische Kommunikation«. Deren Aufgabe besteht darin, Fake News insbesondere aus Russland zu bekämpfen. Einmal die Woche – donnerstags – verschickt das Projekt »euvsdisinfo.eu« mit Sitz in Riga einen Newsletter, letzte Woche enthielt der eine alarmierende Meldung: Deutschland sei von allen EU-Ländern dasjenige, das aus Russland am häufigsten mit Falschmeldungen angegriffen werde. 700 Fälle wollen die Rigaer Desinformationsbekämpfer seit 2015 gezählt haben, weit mehr als etwa gegenüber Frankreich (300) oder Italien (140).
    Worin besteht die russische Falschmelderei? Etwa darin, dass Außenamtssprecherin Maria Sacharowa eine feindliche Einstellung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber Russland beklage, ohne »russische aggressive Handlungen wie die Besetzung von Georgien 2008, die illegale Annexion der Krim« und so weiter bis zum »Mordversuch an Alexej Nawalny« zu erwähnen; also nicht die westlichen Narrative in die eigene Darstellung aufzunehmen. Geht’s noch billiger?
    Oder: Es sei »in russischen Medien« eine Geschichte hochgekocht worden, wonach einer russischstämmigen Familie in Berlin vom Jugendamt die drei Kinder entzogen worden seien. Nur: Erstens bestätigte die Berliner Polizei den Vorfall im wesentlichen, zweites war das kein Fake-Angriff gegen die BRD, weil die entsprechenden Berichte in russischen Medien liefen. Die Fake-Jäger aus Riga geben das selber zu. Und ergänzen, dass keines der für ein deutsches Publikum arbeitenden russischen Medien wie RT DE oder Sputnik dieses oder andere »Desinformationsthemen« aufgegriffen hätte. Um so schlimmer, so »euvsdisinfo.eu«: Damit schüfen sie nämlich eine Grauzone der »Unsicherheit und Zwietracht«, und die Regierung in Moskau »erlaube der russischen Presse solche Desinformationsangriffe auf Deutschland«. Ist am Ende die russische Presse doch gar nicht so ferngesteuert, wie immer behauptet? (rl)

  103. Agent will keiner sein
    USA eskalieren Streit mit Russland über Tätigkeit von Radio Free Europe
    Von Reinhard Lauterbach
    In Russland braut sich ein neuer Konflikt mit den USA zusammen. Es geht um die Tätigkeit des vom US-Kongress finanzierten Senders Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE) im Land. Das Außenministerium in Washington und zuletzt mehrere Senatoren von Republikanern sowie Demokraten warfen den russischen Behörden einen »staatlich geförderten Angriff auf die Medienfreiheit« vor.
    Worum geht es? Der im Kalten Krieg gegründete US-Propagandasender hatte damals zunächst von München, ab 1995 dann von Prag aus die Sichtweise der USA in den Osten getragen. Seit 1991 unterhält er ein Außenstudio in Moskau, das nach eigenen Angaben des Senders 50 festangestellte und knapp 300 freiberufliche Mitarbeiter im ganzen Land beschäftigt. Seine Aufgabe sieht RFE darin, »Nachrichten in Länder zu übertragen, wo es keine oder keine vollständige Pressefreiheit gibt«. Zuletzt insbesondere durch intensive Abdeckung aller regierungsfeindlichen Proteste in Russland, seit etlichen Jahren auch mit Unterprogrammen in den Sprachen diverser regionaler Bevölkerungsteile wie Krimtataren, Wolgatataren, Baschkiren und anderer. Die Beiträge sind durchaus professionell gemacht, kommen aber nie ohne irgendeine Bosheit gegenüber den russischen Behörden aus – selbst wenn sibirische Flüsse über die Ufer treten, wird der Verwaltung Inkompetenz vorgeworfen.
    Russland hat sich das eine Weile lang angeschaut und dann 2016 den Sender und 13 seiner Unterabteilungen als »ausländische Agenten« eingestuft. Es war damals eine spiegelbildliche Gegenmaßnahme dazu, dass der US-Ableger von RT von der Regierung in Washington als »Foreign Agent« etikettiert wurde.
    Seit letztem Winter versuchen die russischen Behörden nun durchzusetzen, dass RFE in seinen russischsprachigen Sendungen dem russischen Gesetz Genüge tut und seine Beiträge mit dem Vermerk kennzeichnet, der Herausgeber sei ein »ausländischer Agent« – durch einen Vorspann, der in Audio- und Videobeiträgen mindestens 15 Sekunden lang vorzukommen habe. RFE hat bisher nicht die Absicht, diesen Vorgaben nachzukommen. RFE-Programmdirektorin Daisy Sindelar sieht – sicherlich nicht unzutreffend – die Absicht der russischen Vorschrift darin, »das Ansehen von RFE als unabhängigen Sender« zu untergraben. Mit anderen Worten: die Praxis von RFE einzudämmen, unter falscher Flagge zu senden. Nicht etwa, RFE das Senden aus Russland zu verbieten. Der Sender erreicht nach eigenen Angaben etwa 6,5 Prozent der Erwachsenen in Russland, knapp sieben Millionen Menschen,
    Jetzt allerdings beginnen russische Gerichte, gegen RFE Geldstrafen wegen des Verstoßes gegen diese Kennzeichnungspflicht zu verhängen. Seit Ende Februar sind bereits etwa 150 Fälle aufgelaufen, und die Bußgelder summieren sich inzwischen auf eine Million US-Dollar (839.000 Euro). RFE will die Gerichtsurteile ignorieren und droht Russland mit einer Schiedsgerichtsklage wegen Verstoßes gegen das russisch-tschechische Investitionsschutzabkommen. Es ist eine Eskalation mit Ansage: Ein Land, das seine eigenen Gesetze nicht durchsetzt, kann sich gleich von der Bühne verabschieden, und was RFE da veranstaltet, wäre in den USA als »Missachtung des Gerichts« auch nicht gern gesehen. Aber vielleicht geht es den USA ja auch darum, einen Vorwand zu finden, ihrerseits RT aus den USA zu verdrängen.
    Gedankenfreiheit 2021
    Von Reinhard Lauterbach
    Vor einigen Jahren hat Russland eine Reihe auf russisch sendender westlicher Medien als »ausländische Agenten« eingestuft. Das hat damals im Westen zu einer Welle der Empörung geführt: Wie könne man denn die Pressefreiheit in dieser Weise einschnüren, war noch die zurückhaltendste Kommentierung. Wenn aber russische Medien im Westen in den dortigen Landessprachen tätig sind, dann werden sie nicht nur als »ausländische Agenten« bezeichnet, sondern auch wie solche behandelt.
    Das zeigen die neusten Einschränkungen für RT DE. Sollte die Entscheidung des Senders, als Bankverbindung ausgerechnet die teilstaatliche Commerzbank zu wählen, aus der Überlegung gefallen sein, hier ein Element politischer Rückversicherung mitzukaufen, dann hat sich dies gerade als Fehlkalkulation erwiesen. Auch wenn der Bund natürlich behauptet, er habe auf die Entscheidung der Bank, RT DE die Eröffnung eines Kontos zu verweigern, keinen Einfluss genommen: Moskau nimmt dies als Politikum und droht mit Gegenrepressalien gegen in Russland tätige deutsche Medien.
    In erster Linie dürfte Deutsche Welle gemeint sein, deren Programm auch aus Moskau für ein russischsprachiges Publikum sendet und dabei seine regierungsfeindlichen Überzeugungen nicht verhehlt – einschließlich des Aufrufs »Moskau, heraus auf die Straße!« bei einer Oppositionsdemonstration 2019. Es fällt schwer, darin keine Einmischung in innere Angelegenheiten des Gastlandes zu sehen.
    Als eine der Fronten der sich entwickelnden Konfrontation zwischen dem Westen und Russland schält sich der Kampf um die »Informationssouveränität« heraus. Vom herrschenden Konsens abweichende Standpunkte werden – wie gegenüber RT DE von deutscher Seite – zunehmend als »Zersetzung« und »Destabilisierung« stigmatisiert. Der Sender wolle »Verwirrung« und »Zweifel« an den offiziellen Lesarten säen, heißt es. Das mag sogar so sein. Aber erstens wäre das nichts als das – im Westen entwickelte – Glaubensbekenntnis der Postmoderne: Es gebe keine Wahrheit, alles sei Standpunkt. Und zweitens lohnt in diesem Zusammenhang wieder einmal die gute alte Ideologiekritik: Wer »Verwirrung« und »Zweifel« als Quelle von »Destabilisierung« und »Zersetzung« beklagt, der verlangt die schlechten alten Untertanentugenden der Gefolgschaft und des Glaubens gegenüber der »Informationssouveränität« des gegebenen Landes. Dem Anspruch des Staates also, nicht nur das Handeln, sondern auch das Denken vorschreiben zu können. »Die Gedanken sind frei?« Heute nicht mehr.
    Deutsch-russische Brückenenergien (17.03.2021)
    Berlin dringt auf Kurskorrekturen in der EU-Russlandpolitik und zielt auf Kooperation bei der Nutzung von Wasserstoff als Energieträger.
    BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Berlin dringt vor dem EU-Gipfel in der kommenden Woche auf Kurskorrekturen in der Russlandpolitik. Dies geht aus einem Bericht über ein internes Treffen in Brüssel und aus einem in der EU zirkulierenden “non-paper” aus Deutschland hervor. Demnach verlangte der deutsche EU-Botschafter in Russland, Markus Ederer, vergangene Woche bei einer Zusammenkunft mit mehreren Spitzenvertretern des Europäischen Auswärtigen Diensts eine engere Kooperation mit Moskau in ausgewählten Bereichen. Bereits zuvor hatte ein in der Union in Umlauf gebrachtes deutsches Papier ungeachtet der fortbestehenden EU-Sanktionen für mehr Zusammenarbeit in der Klimapolitik geworben – vor allem bei der Nutzung von Wasserstoff als Energieträger. Während der deutsche Bedarf an Wasserstoffimporten in den nächsten Jahren stark wachsen wird, besitzt Russland erhebliche Potenziale zur Herstellung des Elements aus Gas wie auch mit Hilfe von Windenergie. Erste Projekte sind in Arbeit; Berlin unterstützt die Pläne. Dabei gilt die Pipeline Nord Stream 2 als in Zukunft nützlicher Wasserstoffimportkanal.
    Berlin macht Druck
    Für Kurskorrekturen in der Russlandpolitik hat sich am Montag vergangener Woche der EU-Botschafter in Moskau, Markus Ederer, ausgesprochen. Ederer, der im Lauf seiner Karriere unter anderem als Leiter des Planungsstabs (2005 bis 2010) sowie als Staatssekretär (2014 bis 2017) im Auswärtigen Amt gearbeitet hat, hat mit seinem im Oktober 2017 angetretenen Moskauer Posten schon die zweite bedeutende Funktion in der EU-Diplomatie nach seiner Tätigkeit als Botschafter der Union in China (Januar 2011 bis Januar 2014) inne; er kann in Berlin wie in Brüssel als diplomatisches Schwergewicht gelten. Bei einer Zusammenkunft mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, dem Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Diensts, Stefano Sannino, dessen Stellvertreter Pedro Serrano sowie dem Leiter der Russlandabteilung, Luc Pierre Devigne, setzte sich Ederer am Montag, wie berichtet wird, für mehr Kooperation mit Moskau ein: Es gelte sich aus der Fixierung auf den Ukraine-Konflikt zu lösen, wird der Diplomat zitiert.[1] Am Mittwoch hätten sich dann, heißt es weiter, auf dem Treffen der EU-Botschafter mehrere Staaten ähnlich geäußert; Italien etwa habe eine engere Wirtschaftskooperation vorgeschlagen. Einige Staaten Osteuropas hingegen hätten auf der Verschärfung der Aggressionskurses beharrt.
    “Schwierig, aber unverzichtbar”
    Bereits zuvor war ein Papier mit ähnlicher Stoßrichtung bekanntgeworden, das Berlin in Brüssel in Umlauf gebracht hatte, wobei es offiziell als nicht unterzeichnetes und nicht formal zuzuordnendes “non-paper” firmiert – eine übliche Methode, Debatten anzustoßen, ohne sich offiziell festzulegen. Das “non-paper” sieht zwar eine enge transatlantische Abstimmung gegenüber Russland vor und beinhaltet keine Abkehr von den jüngsten Sanktionen und anderen Aggressionen (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Es plädiert aber dafür, in bestimmten Bereichen die Kooperation zu suchen und damit die Eskalationsspirale, in die die Beziehungen zu Moskau aktuell zu geraten drohen, zumindest zu bremsen. Als Motiv wird genannt, dass Russland in mehreren Weltregionen, etwa in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten, eine zwar “oft schwierige”, aber doch “unverzichtbare” Rolle spielt, weshalb die EU nicht umhinkomme, in gewissem Maß mit ihm zu kooperieren, wolle sie selbst dort Einfluss nehmen.[3] Die Union solle deshalb auf bestimmten Feldern die Zusammenarbeit mit Russland suchen, so zum Beispiel in der Klimapolitik. In diesem Zusammenhang nennt das deutsche “non-paper” ausdrücklich eine intensivere Kooperation etwa in Sachen Wasserstoff.
    Folgen der Energiewende
    Hintergrund ist auf deutscher Seite der wegen der Energiewende absehbar steigende Bedarf an Wasserstoff als Energieträger. Allein bis 2030 sagt die Bundesregierung einen Wasserstoffbedarf von 90 bis 110 TWh voraus. Davon werde der überwiegende Teil importiert werden müssen, heißt es in der “Nationalen Wasserstoffstrategie” der Regierung vom Juni 2020.[4] Dabei hatte Berlin zunächst vor allem sonnen- und windreiche Gebiete in Nordafrika als Produktionsstätten “grünen” Wasserstoffs im Visier, der dann per Tanker antransportiert werden soll; ein Abkommen mit Marokko vom 29. November 2019 sieht unter anderem eine solche Kooperation vor.[5] Russland wiederum nimmt seit vergangenem Jahr ebenfalls neue Wasserstoffaktivitäten in den Blick. Grund dafür ist, dass die Energiewende in der EU zu einem nach 2030 perspektivisch klar sinkenden Bedarf an Erdöl und Erdgas führen und damit Russlands wichtigste Exporte stark reduzieren wird. Als Alternative bewirbt Russlands neue Energiestrategie aus dem Jahr 2020 den Einstieg in die Produktion “blauen” und “türkisen” Wasserstoffs aus Erdgas; zudem ist “grüner” Wasserstoff aus Windenergie im Gespräch. Ab spätestens 2035 werde man zwei Millionen Tonnen Wasserstoff im Jahr exportieren können, spekulieren Wirtschaftskreise.[6]
    “Zukunftstechnologie Wasserstoff”
    Mittlerweile sind konkrete Projekte gestartet worden. Auf russischer Seite wollen unter anderem Gazprom und der größte private Energiekonzern des Landes, Novatek, in die Produktion von Wasserstoff einsteigen. Gazprom hat dazu beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT) eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben [7], während Novatek mit Siemens kooperieren will; die beiden Konzerne, die schon jetzt bei Novatek-Flüssiggasprojekten in der russischen Arktis eng zusammenarbeiten, haben im Dezember 2020 eine Übereinkunft unterschrieben, die auch ein Vorhaben zur Umstellung von Flüssiggas auf Wasserstoff umfasst [8]. Auf deutscher Seite wirbt neben dem Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft mittlerweile auch die Bundesregierung für “Zusammenarbeit in Forschung und Industrie” bezüglich der “Zukunftstechnologie Wasserstoff”, wie es kürzlich der Regierungskoordinator für zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Johann Saathoff, formulierte. Saathoff, der zugleich als energiepolitischer Koordinator der SPD-Bundestagsfraktion fungiert, kündigte an, Berlin werde im Rahmen des im November gestarteten Deutsch-Russischen Themenjahres “Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung 2020-2022” “eine neue Struktur schaffen, die den Dialog … zum Thema Wasserstoff beleben wird”.[9]
    Nord Stream 2
    Saathoff wies nicht nur darauf hin, dass Russland neben seinen Erdgasvorräten auch exzellente Voraussetzungen für die Nutzung von Windenergie aufweist: “Die rechnerische Kapazität für die Onshore-Windkraft liegt bei mindestens dem Tausendfachen der heute in Deutschland installierten Windenergie”.[10] Der Berliner Regierungskoordinator erinnerte auch daran, dass – anders als im Falle Marokkos – “schon heute die Transport-Infrastruktur” zur Lieferung des Wasserstoffs nach Deutschland existiert: “Die Pipelines, durch die heute Öl und Gas zu uns strömen, können auf Wasserstoff umgestellt werden.” Die deutsch-russischen Pläne zur Wasserstoffkooperation gehen entsprechend mit dem Beharren der Bundesregierung auf dem Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 einher. Jüngst hat etwa der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Miguel Berger auf dem virtuellen Jahresauftakt des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft bekräftigt: “Wir haben kein Interesse daran, dass dieses Projekt [Nord Stream 2] zu einer Investitionsruine wird”.[11] Zwar sei man bereit, mit der Biden-Administration über gewisse Zugeständnisse zu verhandeln; klar sei jedoch: “Am Ende dieses Dialogs muss die Finalisierung der Pipeline stehen.” Entsprechend hatte sich zuvor auch Außenminister Heiko Maas festgelegt.[12]
    _____________
    Europas erstes Weltraummanöver
    Deutsche Soldaten an Weltraummanöver in Frankreich beteiligt. Der Westen rüstet massiv für den Krieg im All auf.
    TOULOUSE/UEDEM (Eigener Bericht) – Unter Beteiligung deutscher Soldaten hat vergangene Woche Europas erstes Weltraummanöver stattgefunden. Ausrichter war Frankreich; dort trainierten rund 60 Militärs Operationen gegen angreifende Satelliten oder Nanosatelliten feindlicher Mächte. Unter anderem habe man das Blenden eines gegnerischen Flugkörpers geübt, heißt es in Berichten. Die Bundeswehr hat erst kürzlich ein neues Zentrum für die Führung von Weltraumoperationen gegründet; sie liegt damit im Westen im Trend: Frankreich hat ein eigenes Weltraumkommando geschaffen; Großbritannien will ein solches ebenfalls etablieren; die Vereinigten Staaten haben ihre Weltraumeinheiten in der U.S. Space Force ausgegliedert und rüsten sie mit jährlich zweistelligen Milliardenbeträgen auf. Die Nutzung von Satelliten für den zivilen wie für militärischen Bedarf nimmt rasant zu; Experten zufolge schweben mittlerweile mehr als 3.000 aktive Satelliten im All. Sie stehen im Zentrum der Weltraumkriegsstrategien: Würden sie ausgeschaltet, wäre dies für alle Betroffenen ein dramatischer Schlag – für die Militärs, aber auch für die Zivilbevölkerung.
    AsterX
    Im Rahmen der Übung “AsterX” [1], des ersten Weltraummanövers in Europa überhaupt, das vergangene Woche vier Tage lang in Toulouse durchgeführt wurde, trainierten rund 60 Soldaten verschiedene Maßnahmen zum Schutz vor Angriffen im All. So habe man etwa die Attacke eines feindlichen Satelliten abzuwehren trainiert, der einen Satelliten eines verbündeten Staatenbundes habe zerstören sollen, hieß es anschließend.[2] Darüber hinaus habe man einen überraschenden Überfall von zwei Nanosatelliten aufgedeckt, die jeweils – bei einem Gewicht von nur einigen hundert Gramm – die Fähigkeit besessen hätten, einen feindlichen Satelliten zu vernichten. Es sei dabei gelungen, den von ihnen bedrohten eigenen Flugkörper durch die Änderung seiner Umlaufbahn in Sicherheit zu bringen. AsterX habe nicht nur dazu beigetragen, die Fähigkeit zur Analyse eines unbekannten Objekts im Weltraum zu trainieren; man habe auch die Störung von gegnerischen Signalen durch das Blenden eines feindlichen Geräts durchgespielt, wird berichtet. Beteiligt waren neben den zuständigen Einheiten aus Frankreich Militärs aus den Vereinigten Staaten, aus Italien und aus der Bundesrepublik – Verbindungsbeamte des deutschen Weltraumlagezentrums in Uedem am Niederrhein.[3]
    Deutschlands Weltraumoperationszentrum
    Die deutsche Beteiligung an AsterX ist auch deshalb von Bedeutung, weil die Bundeswehr seit geraumer Zeit ihre eigenen Weltraumaktivitäten ausweitet. Das “Weltraumlagezentrum” in Uedem, das bereits 2009 eingerichtet wurde, ist vor allem mit der Beobachtung des Weltraums und dem Aufspüren möglicher Gefahren für Deutschlands zivile und militärische Weltrauminfrastruktur befasst. Dazu gehört neben der Beobachtung von Weltraumschrott, der Satelliten durch Kollision beschädigen oder sogar zerstören kann, auch das Ausspionieren potenziell gegnerischer Flugkörper im All. Das Weltraumlagezentrum kann dazu inzwischen auch Daten des ersten deutschen Weltraumradars (GESTRA, German Experimental Space Surveillance and Tracking Radar) nutzen, das im Herbst 2020 bei Koblenz aufgestellt wurde und Weltraumobjekte im niedrigen Erdorbit aufspüren kann.[4] Es trägt zur erstrebten Unabhängigkeit Deutschlands von US-Weltraumdaten bei. Ergänzend hat die Bundeswehr im September 2020, gleichfalls in Uedem, eine Zentrale für die Führung künftiger deutscher Weltraumoperationen (ASOC, Air and Space Operations Centre) in Dienst gestellt. Bereits zuvor hatte das Verteidigungsministerium im März 2017 eine eigene “Strategische Leitlinie Weltraum” verabschiedet.[5]
    Frankreichs Luft- und Weltraumstreitkräfte
    In der EU konkurriert die Bundeswehr bei der militärischen Nutzung des Alls vor allem mit den Streitkräften Frankreichs. Paris hat am 3. September 2019, aufbauend auf dem 2010 geschaffenen Commandement interarmées de l’espace (CIE), ein neues Weltraumkommando (Commandement de l’espace, CDE) gegründet, das spätestens 2025 mit rund 500 Soldaten voll einsatzfähig sein soll. Dafür stellt die Regierung 4,3 Milliarden Euro bereit. Das CDE nimmt alle inzwischen bestehenden Weltraumeinrichtungen der französischen Streitkräfte auf, etwa das Centre militaire d’observation par satellites (CMOS) und das Centre opérationnel de surveillance militaire des objets spatiaux (COSMOS). Es ist seinerseits in die Luftwaffe integriert, die dazu am 11. September 2020 in “Luft- und Weltraumstreitkräfte” (Armée de l’air et de l’espace) umbenannt worden ist. Diese sollen in Zukunft Weltraumwaffen erhalten – etwa Laserkanonen zur Ausschaltung feindlicher Solaranlagen und Sensoren, aber auch Waffen, die mit Mikrowellenbündeln oder elektromagnetischen Impulsen operieren; zudem ist die Beschaffung von Weltraumdrohnen im Gespräch.[6] Errichtet wird das CDE in Toulouse, dem Zentrum der französischen Weltraumforschung (Centre National d’Études Spatiales, CNES) und -industrie (Airbus, Thales).
    NATO: das fünfte Operationsgebiet
    Die Maßnahmen Deutschlands und Frankreichs sind Teil einer systematischen Ausweitung der westlichen Militäraktivitäten im All. Die Vereinigten Staaten haben im Dezember 2019 ihre Space Force aus der Air Force ausgegliedert und sie zu einer eigenen Teilstreitkraft aufgewertet. Sie verfügt dieses Jahr über Mittel in Höhe von 15,4 Milliarden US-Dollar; in den kommenden Jahren soll ihr Budget Insidern zufolge weiter aufgestockt werden.[7] Großbritanniens Premierminister Boris Johnson hat am 18. November 2020 die Gründung eines eigenen Weltraumkommandos in Aussicht gestellt; zudem ist die militärische Nutzung eines künftigen Weltraumbahnhofs in Schottland im Gespräch.[8] Die NATO wiederum hat bereits 2019 eine neue “Weltraumpolitik” beschlossen und auf ihrem Gipfeltreffen am 3./4. Dezember 2019 den Weltraum offiziell zu ihrem fünften Operationsgebiet erklärt – neben Land, Wasser, Luft und Cyber. Darüber hinaus richtet die NATO ein neues “Center of Excellence” für die Kriegführung im Weltraum ein. Wie alle anderen Centers of Excellence hat es die Aufgabe, Analysen zu erstellen, Strategien zu entwickeln und Trainingsprogramme durchzuführen. Beworben hatte sich Deutschland, wo auf der U.S. Air Base Ramstein ein NATO Space Center errichtet wird.[9] Den Zuschlag ging dann aber an Toulouse.
    Satelliten im Fokus
    Die aktuellen Planungen für etwaige Weltraumkriege konzentrieren sich stark auf Satelliten. Zur Zeit schweben laut Schätzung von Experten bereits mehr als 3.000 Satelliten im Orbit; in den kommenden Jahren wird ihre Zahl voraussichtlich stark zunehmen. Sie werden sowohl zivil wie auch militärisch genutzt und sind schon im heutigen zivilen Alltag faktisch unverzichtbar: Auf ihnen beruhen zahllose Anwendungen von der Navigation über die Kommunikation bis zur Wetterbeobachtung. Werden sie beschädigt oder gar zerstört, drohen dramatische Folgen. Bisher sind zumindest die USA, Russland und China schon in der Lage, sie mit Cyberattacken, durch Jammen oder auch durch Blenden per Laser auszuschalten. Experten halten es für denkbar, sie künftig auch durch Besprühen ihrer Linsen oder ihrer Solarmodule zu neutralisieren.[10] Zudem sind mehrere Staaten, etwa auch Indien, in der Lage, gegnerische Satelliten mit Raketen zu zerstören. Dabei entstünde Weltraumschrott – im All herumfliegende Trümmer -, der womöglich andere Satelliten treffen und vernichten könnte; unkontrollierbare Kettenreaktionen sind nicht auszuschließen. Wegen der Folgeschäden bei den militärischen wie auch bei den zivilen Anwendungen ist das Zerstörungspotenzial unkalkulierbar.

  104. Fischers Friends
    Vorabdruck. Graue Eminenz und Lobbyist. Über Joseph »Joschka« Fischers Karriere nach 2006
    Von Gerd Schumann
    Am 22. März erscheint im Verlag Das Neue Berlin von Gerd Schumann das Buch »Wollt ihr mich oder eure Träume? Joschka Fischer – ein Nachruf«. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung des Verlags und des Autors das Kapitel »Der Untote« über Joseph Fischers Tätigkeit als Unternehmensberater nach dem Ende seiner politischen Karriere 2006. Der Abschnitt setzt ein nach einer ausführlichen Schilderung, wie sich die Grünen unter Fischer von einer Friedens- zu einer Kriegspartei gewandelt haben. (jW)
    Die Grünen können es jetzt allein, zu Beginn der dritten Generation. Die Frage, ob Joschka noch einmal als Schlichter auftreten muss, dürfte sich aller Voraussicht nach erübrigt haben. Es wird nicht mehr nötig sein. Die Jungs und Mädchen sind stramm auf Kurs. »Die brauchen meinen Rat nicht«, gibt sich der Alte bescheiden und lobt die »gute Führung« der Partei, »die vor allem auch auf die Inhalte achtet«. Angesichts der Kräftekonstellation und der Wandlung der Grünen scheint sich für ihn auch die einst so anstrebenswerte reformistische Bündnisperspektive zu erübrigen – zumindest nicht unter Einbeziehung einer »unkalkulierbaren Linkspartei«. Er fragt: »Eine Außenpolitik mit Westbindung und gleichzeitig der immerwährende Ruf nach Moskau?« Und antwortet: »Das kann nichts werden.« Die Linke habe »alle wichtigen Fragen für sich nicht beantwortet«, schlussfolgert er und meint wohl, ohne sie zu benennen, jene roten Haltelinien, die er und Gerhard Schröder einst mutig überschritten haben.¹
    Grundsätzlich scheint sein Interesse an der weiteren Entwicklung der Grünen ohnehin stark abgenommen zu haben. Die Zeiten, als er die Partei für seine Pläne brauchte, sind ebenso Vergangenheit wie jene, in denen die Grünen seine Popularität nötig zu haben meinten. Und vielleicht sogar seine Erfahrung und seine Politik?
    Autor im Winde
    Wenn Fischer heute dann doch einmal Sorgen hat, weil seine wichtigsten politischen Follower Unsicherheiten zeigen oder aktuelle Richtungsentscheidungen strittig sind, meldet er sich und versucht ideologische Pflöcke einzuschlagen – häufig, indem er ein Buch auf den Markt bringt, einige Interviews gibt oder Autorenbeiträge veröffentlicht und damit dem sich verändernden Politgeschäft Hinweise übermittelt. Er fühle also regelmäßig »der Welt den Puls«.² Seine Dia­gnose in Buchform schwankt dann, »passend zu seiner jeweils aktuellen Rolle«, bemerkt die FAZ leicht bissig.
    Achtzehn Bücher stehen auf Fischers Publikationsliste – zuletzt »Willkommen im 21. Jahrhundert«, worin er seine Beziehung zur EU unter spezieller Berücksichtigung der deutschen Vorherrschaft vor dem Hintergrund der sich verschärfenden geostrategischen Gegensätze vor allem zu den USA unter Donald Trump darstellt. Er plädiert zwar scheinbar klassenneutral, aber doch völlig klar positioniert – wie größere Teile der europäischen Eliten – »für eine Transformation Europas in eine souveräne weltpolitische Macht«³, was durchaus und trotz augenscheinlich unverbrüchlicher Verbundenheit mit den USA eine starke militärische Komponente einschließt: »Die Europäer – und gerade auch Deutschland – werden zukünftig sehr viel mehr zu ihrem eigenen Schutz in einem außenpolitisch gefährlichen Umfeld beitragen müssen als in der Vergangenheit, denn die Schutzmacht von der anderen Seite des Atlantiks will nicht mehr.«⁴ So stellt Joseph die große Politik vor – als Hochrüstungsgebot, weil irgendeine »Schutzmacht« keine Lust mehr hat zu schützen …
    Politisch hat er also den Rücken frei und kann sich um sein Geschäft kümmern. Bei dem dreht sich immer noch vieles um Madeleine Albright (US-Außenministerin von 1997 bis 2001, jW). Fischer bleibt auch nach seinem Abtritt als Außenminister überzeugter Jünger seiner 2001 aus der Politbranche ins Big Business gewechselten Kollegin. Deren Beratungsunternehmen Albright Stonebridge Group wird zum Vorbild und engen Geschäftspartner seiner 2007 gegründeten Firma Joschka Fischer Consulting beziehungsweise des zwei Jahre darauf entstandenen Nachfolgers Joschka Fischer & Company (JF & C).
    Mit der Albright-Gruppe hält JF & C eine »exklusive Partnerschaft (…) in Washington DC mit Büros unter anderem in China, Indien und Brasilien«.⁵ »Was Kunden und Bezahlung angeht, herrscht in der Albright Group höchste Diskretion. Für die Reporter des Spiegel war nicht herauszufinden, wen die Albright Group berät oder was der frühere Bundesaußenminister für seine Tätigkeiten als Salär erhält. Auch Fischer selbst äußert sich nicht zu seinem Verdienst. Wie viele Seitenwechsler sieht er sich nach seiner politischen Laufbahn ausschließlich als Privatperson, die der Öffentlichkeit keine Rechenschaft schuldig ist.«⁶
    Nähe zu Konzernen suchen
    »Unternehmensberater« seit 2007, hat Fischer die JF & C zusammen mit dem langjährigen Pressesprecher der Grünen im Bundestag, Dietmar Huber, aus der Taufe gehoben. Fischer hält 51 Prozent, Huber 49. Laut Handelsblatt beträgt das Stammkapital 25.000 Euro. Im ersten Rumpfgeschäftsjahr, dessen Bilanz im Bundesanzeiger veröffentlicht wurde, habe die Company offiziell 209.000 Euro Gewinn gemacht. Schon 2010 wurde, wie es hieß, das Zehnfache, grob zwei Millionen Euro, erwartet. Auch dass BMW ihn im Juli 2009 – zunächst in einem recht losen Beratungsverhältnis – anheuerte, verdanke Fischer der Freundschaft zu Albright.
    Die alte Dame aus Übersee berät vor allem US-Unternehmen, die in Schwellen- und Entwicklungsländer expandieren wollten, wie den Lebensmittelkonzern Kraft Foods. 2005 sprach sie Fischer nach der Abwahl von »Rot-Grün« an. Anlass sei »ein sich abzeichnender Beratungsvertrag Albrights mit BMW«⁷ gewesen. Der Münchner Autobauer wollte als Konzern erscheinen, »der sich der Nachhaltigkeit verpflichtet fühle«, und erfahren, »wie er das Verhältnis zu den politischen Klassen in den Schwellenländern verbessern könne«. Für Fischer sei das »der Einstieg in sein neues Leben« gewesen. »Mit Madeleine bieten wir global an, das macht sonst keiner.«⁸
    Verträge schloss die Consultingfirma zudem mit Siemens und der Einzelhandelskette Rewe ab. Auch »Prominentenauftritte« gehören zu Fischers Programm. 2011 gab er auf einer großen Party zur Verleihung des Nachhaltigkeitspreises im Düsseldorfer Maritim-Hotel den Stargast. 1.000 Anwesende applaudierten einer Show, die er dem Einsatz für Gesundheit und Umwelt widmete. Celebrity Speakers, »Europas führende Redneragentur« (Eigenwerbung), preist Engagements von Fischer an: »Am 1. September 2006 legte er sein Bundestagsmandat nieder, bevor er für ein Jahr die Gastprofessur an der Woodrow Wilson School für Internationale Angelegenheiten der Princeton-Universität, USA, innehatte. (…) Dank seiner langjährigen Erfahrung als tonangebender Entscheidungsträger der deutschen Politik gibt Fischer Einblicke in wichtige Entwicklungen der internationalen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.«⁹
    Beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der nur fünf Gehminuten von Fischers Büro entfernt residiert, habe er zwei Expertinnen für Nachhaltigkeitsmanagement abgeworben. Im Rahmen der inzwischen eingestellten Nabucco-Pipeline arbeitete Fischer als Berater für Siemens »in außenpolitischen und unternehmensstrategischen Fragen«.¹⁰ Damals baute Siemens’ Nuklearsparte, die seit 2011 zum französischen Energiekonzern Areva (heute: Framatome) gehört, auch Atomkraftwerke. »Bis vor wenigen Jahren standen solche Adressen noch für Nachhaltigkeit wie der Vatikan für den Zölibat«, stellt die Wirtschaftswoche fest und bemerkt süffisant: »Heute sieht der einstige Obergrüne in solchen Adressen in erster Linie zahlungskräftige Kunden.«¹¹
    Joschka Fischer & Company, Sitz in einer noblen Ecke von Berlin-Mitte, 210-Quadratmeter-Büroetage im zweiten Stock direkt am Gendarmenmarkt, 15 Beschäftigte. Die Firma wirbt sportlich: »Veränderung ist ein Langstreckenlauf: Man muss sie wollen und durchhalten. Doch die Mühen zahlen sich aus: durch steigende Akzeptanz und Glaubwürdigkeit und nicht zuletzt durch wachsende Nachfrage. Es ist unsere Mission, unsere Kunden auf diesem Weg zu unterstützen.«¹²
    Geld scheffeln
    Fischers »Mission« heißt Lobbyismus. Was immer das en détail bedeuten mag, zeigt sich, wenn es sich zeigt: »Wir beraten Unternehmen strategisch zu sich verändernden politischen Rahmenbedingungen. Wir vernetzen sie und bringen sie in den Dialog – gerade auch mit kritischen Akteuren.« Ziel sei »eine wirksame Positionierung für ihre Kommunikation gegenüber Politik, Gesellschaft und Mitarbeitern«.¹³ Genaue Angaben zur »Vergütung« liegen nicht vor. Fischers Honorar bei Rewe, schätzt ein Exmanager, dürfte aber »eine Million im Jahr nicht wesentlich unterschreiten«.
    Er will ja Geld verdienen, will in den ­Toprängen nicht mehr als grüner Realo, sondern als Respektsperson gelten. »Man darf in der Beratung nicht zu politisch werden«, doziert er, und dass man sich »entpolitisieren« müsse, »sonst gibt es zuviel Widerstände für ein Unternehmen«. Schließlich gerät er ins Schwärmen: »Meine Beratung hier ist die Fortsetzung der Außenpolitik mit anderen Mitteln.« Fischer jettet »als Ehrengast von Banken um die Welt«¹⁴, erhält die Ehrendoktorwürde der Universitäten Haifa (2002) und Tel Aviv (2006). Beim kanadischen Hanfhersteller Tilray wird er 2019 Mitglied des internationalen Beirats, der bei der Umsetzung einer »offensiven weltweiten Wachstumsstrategie« helfen soll.
    Bei aller Zurückhaltung, was Geldangelegenheiten betrifft, lässt sich wohl bedenkenlos behaupten, dass der Rubel rollt, auch aus früheren Beschäftigungen. Als Außenminister a. D. erhält er 11.000 Euro im Monat – eine ansehnliche Summe. Für diejenigen, die er berät und denen er sich wahrscheinlich inzwischen zugehörig fühlt, wirkt das eher läppisch, was aber nicht heißen soll, dass Politiker etwa unterbezahlt wären. Ein Ministergehalt belief sich 2020 immerhin auf monatlich 15.311 Euro plus Aufwandsentschädigung. Ausscheidende Minister erhalten ein sogenanntes Übergangsgeld zwischen 68.900 und 206.000 Euro.
    Was Fischers finanzielle Absicherung betrifft, konnte und kann er seine politischen Vorstellungen sorgenfrei und ungebunden umsetzen. Anders als in den Siebzigern, da diesbezüglich dann und wann der Schuh gedrückt haben mag und seine Existenz auf einem dünnen Grund gebaut war, so dass er dann und wann auch schon mal, wie kolportiert wird, Bücher mitgehen ließ, um sie zu verdealen.
    Villa statt linker WG
    Seine Politprofikarriere, gepaart mit geschäftlichem Geschick, hat schließlich für ein solides Fundament gesorgt. Doch darüber und über Geschäfte spricht man nicht. Es könnte das Image vom ehrlich arbeitenden Grünen beschädigen. Und als er seine Vierraumwohnung an der Tucholsky-­Straße im Ostberliner Scheunenviertel verlässt und umzieht in die feudal hergerichtete Villa im Westberliner Grunewald, versucht er, das doch möglichst diskret abzuwickeln. Um so schmerzlicher, dass die Illustrierte Bunte¹⁵, das Klatsch- und Tratschblatt der High Society, über seine »finanziellen Verhältnisse« und seinen »Lebensstil« berichtet und auch weiter berichten darf: Fischers Klage dagegen wird vom Bundesgerichtshof negativ beschieden. »Nobel lässt sich der Professor nieder«, hatte das Blatt geschlagzeilt und Fischers »trautes Heim in Luxuslage« detailliert unter die Lupe genommen: »Zwei Etagen plus Souterrain und ausgebautem Dachgeschoss in einem vornehmen Berliner Villenstadtteil.« Dann wurde über den Kaufpreis spekuliert – das nur etwas größere Nachbargrundstück stehe gerade für 1,5 Millionen Euro zum Verkauf – und ein Foto des von Efeu umrankten Anwesens veröffentlicht.
    In der Zurückweisung von Fischers Klage argumentierte BGH-Vizepräsidentin Gerda Müller, der ehemalige Außenminister habe eine »herausragende Stellung im politischen Leben der Bundesrepublik« genossen, und wie sich seitdem sein Leben gestalte, sei »durchaus von zeitgeschichtlicher Bedeutung«. Auch die von der Bunten aufgeworfene rhetorische Frage, »Von einer linken Frankfurter WG in diese edle Villa – wenn das kein Märchen ist?«, sei »durchaus geeignet, gesellschafts- und sozialkritische Überlegungen auszulösen mit Blick darauf, wie Politiker bezahlt werden«.¹⁶ Folglich jubiliert der obsiegende Bunte-Anwalt, ein demzufolge wahrscheinlich »gesellschafts- und sozialkritischer« Mann, es sei gerade in Fischers Fall »legitim, die Frage zu stellen, welche Mutationen ein Mensch in seinen Ansichten und Einstellungen durchläuft im Laufe seines Lebens« (Aktenzeichen VI ZR 160/08).¹⁷ Was die Antwort auf sie auslöst, sei dahingestellt.
    Doch wahrscheinlich wird Fischers schönes neues Haus weniger die Gesellschaftskritik befördern, als vielmehr Neid und Missgunst der Neidischen und Missgünstigen erwecken. Der mit Geschichten aus der Welt der Reichen, Blaublütigen und überhaupt Schönen nicht gerade schlecht versorgten Leserschaft von Bunte wird eine weitere Story serviert und der Eindruck vermittelt, dass niemandem zu trauen ist, und erst recht nicht ehemaligen Revoluzzern, Straßenkämpfern, Hausbesetzern – mögen diese ihre Meinung, den Lebensstil, ihr Äußeres, Kleidung und Umgebung auch noch so stark verändern und sich eventuell sogar um 180 Grad wenden.
    Es bleibt der Stallgeruch. Da helfen kein Wohnungswechsel, keine Pillen und keine Salmiakpastillen. Oder wie der Milliardär Donald Trump am 4. Juli 2020 zum Nationalfeiertag der USA einer über nichts mehr und schon gar nicht über ihn noch staunenden Öffentlichkeit erklärte: »Die radikale Linke, die Marxisten, die Anarchisten, die Agitatoren, die Plünderer« gelte es »zu besiegen«.¹⁸ Und sei es auch nur vor Gericht?
    Also unterlag Fischer. Pech gehabt, zumal Prozessieren kostet und den Schwaben allgemein ein Hang zur Sparsamkeit nachgesagt wird, der bis an den Abgrund des Geizes reichen kann. Seine Fundi-Rivalin Jutta Ditfurth bemerkte, dass der Realo eine Sparsamkeit der besonderen Art praktizierte, indem er offenbar versuchte, Abgaben an seine Partei zu vermeiden. Die ehemalige Grünen-Chefin führt insbesondere die Verpflichtung an, wonach Mitte der 1980er Jahre Parlamentarier der Partei 6.000 DM von der monatlichen Aufwandsentschädigung (14.000 DM) an den Ökofonds abführen sollten: »Die meisten linken Abgeordneten hielten sich daran, die meisten ›Realo‹-Abgeordneten nicht.«¹⁹ 1988 wurden etwa 1,5 Millionen DM nicht abgeführter Diäten registriert.
    So war das in der guten alten Zeit von Basisdemokratie und Rotation, durch die jegliche Form von Korruptheit, Ämterhäufung, Apparatschiktum und politischen Seilschaften vermieden werden sollte. Der Ökosozialist Thomas Ebermann beispielsweise hielt sich an die Parteibeschlüsse und spendete 71.308,39 DM. Allerdings blieb schon damals die sonstige Verteilung undeutlich: Die Bundestagsfraktion lehnte mit 13 zu sieben Stimmen eine Offenlegung der Spenden ab – Fischer war dabei. Ditfurth dazu: »Er wusste, warum.«²⁰
    Von 1983 bis 1985 habe er einen sechsstelligen Betrag vorenthalten, woraufhin Rainer Trampert und Jutta Ditfurth als Bundesvorstandssprecher der Partei nach mehreren Mahnungen gedroht haben sollen, die Tatsache öffentlich zu machen, was bei Fischer offenbar Wirkung zeigte. Er schob einen Scheck rüber – ohne Verzinsung: »Hatte er das Geld im Sparstrumpf aufgehoben?«²¹ Damals gab es noch Bankzinsen. Heute nicht mehr. Aber schließlich müssen Grünen-Abgeordnete mittlerweile nichts mehr abführen, sie »dürfen«.
    Auch Fischer mangelte es in Bonn – wahrscheinlich erstmals in seinem Leben – nicht an Geld. Die Abfindung als hessischer Minister dann lag bei einem Betrag in sechsstelliger Höhe, »ungefähr« 130.000 DM . Danach erhielt er als Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag Abgeordnetendiäten in doppelter Höhe. Nach Wiedereinzug der Grünen in den Bundestag 2004 übernahm er ebendort den Job als Fraktionsvorsitzender. Als Außenminister schließlich erhielt er laut Rheinischer Post 17.272 Euro.²²
    Das war 2005 und ist verdammt lange her: »Leise schleicht der siebenundfünfzig Jahre alte Fischer vom Hof. Verbraucht, zerknittert, übermüdet und überwach zugleich. Um einen Doktorhut aus Haifa und eine Grunewald-Villa reicher, nach sieben mausgrauen Jahren ›Rot-Grün‹ hundert Jahre Einsamkeit im Blick. Sinnbild seiner eigenen Verwandlung, trollt sich der frühere Streetfighter mit jenem steifen, zeremoniellen, für mich lächerlichen Ernst von der Bühne.«²³ So urteilt maliziös Fischer-Biograph Jürgen Schreiber.
    Fischer geht von Bord, legt auch sein Bundestagsmandat nieder. Trotzdem verfügt der Alte bei den Grünen noch über erhaltene und gar neue Connections – dergleichen funktioniert ohnehin oft en passant. Sie sind da, weil Fischer seine Denkart etabliert hat und gar nicht mehr selbst in seinem früheren Job als Strippenzieher agieren muss oder als »Influencer«, wie die neue Berufsbezeichnung für Schleichwerber ehrlicherweise, wenn auch eingeenglischt, heutzutage heißt.
    Wenn also doch, dann kann er unterhalb der sichtbaren Oberfläche seine Beziehungen spielen lassen – zu jenen, die verbeamtet in den Ministerien sitzen, oder jenen, die er selbst losschickt. Seine Consultingfirma gilt als etabliert und bestens vernetzt. Das geheime Mittel, das früher Vitamin B hieß, firmiert heute unter anderem Namen; der Inhalt bleibt.

  105. Kiew stellt Kriegsfalle
    Ukrainische Militärs sehen sich laut Bericht für Rückeroberung von Donbass gerüstet
    Von Reinhard Lauterbach
    Die ukrainische Militärführung sieht sich nach Darstellung des der »Oppositionsplattform« nahestehenden Portals Strana.ua gut vorbereitet für eine militärische Rückeroberung der 2014 verlorenen Teile des Donbass. Das Portal zitiert Quellen im Verteidigungsministerium und im Kiewer Generalstab mit der Aussage, die ukrainische Armee sei heute wesentlich besser ausgebildet und ausgerüstet als vor sieben Jahren. Insbesondere habe sie aus dem Karabach-Konflikt gelernt und sich eine große Anzahl von Kampfdrohnen zugelegt.
    Aus den frontnahen Stellungen berichtet das Portal, dass die ukrainischen Truppen personell und materiell aufgefüllt worden seien, und es herrsche Urlaubssperre; der Rückzug der schweren Waffen aus der Frontnähe, wie im Sommer 2020 zur Deeskalation vereinbart, sei inzwischen rückgängig gemacht. Außerdem hätten beide Konfliktparteien jene vorgeschobenen Stellungen wieder bemannt, die sie im vergangenen Jahr symbolisch geräumt hätten. Militärisch sei die Ukraine zum Angriff bereit – es fehle nur der Befehl von der politischen Führung, fasst der Bericht zusammen. Mit einer kleinen, aber wesentlichen Einschränkung: Es müsse sichergestellt sein, dass Russland von einem Eingreifen an der Seite der »Volksrepubliken« abgehalten werde. Hierfür gebe es im Sommerhalbjahr, solange die Gaspipeline Nord Stream 2 noch nicht fertig sei, ein Zeitfenster, um Moskau zu erpressen. Auf der anderen Seite behauptet das ukrainische Militär, Russland habe heute schon Anlagen zur elektronischen Kriegführung – im Klartext: zur Bekämpfung ukrainischer Drohnen – im Donbass stationiert, und direkt hinter der Grenze stünden schlagkräftige Verbände mit Panzern und Artillerie. Sollte es zu einem Eingreifen kommen, bliebe der Ukraine einzig der Abbruch der Operation und der Rückzug. Ansonsten drohten Kesselschlachten wie die von 2014 und 2015.
    Größte Befürchtung der ukrainischen Strategen ist aber offenbar gar nicht eine russisch-volksrepublikanische Gegenoffensive im Donbass selbst, sondern eine großangelegte »Zangenoperation« im Stil des Zweiten Weltkriegs: mit Panzervorstößen von der Krim aus im Süden und im Norden von der Region Belgorod (unweit Charkiws) aus mit dem Ziel, die ganze Ostukraine abzuschneiden und das Land praktisch zu teilen.
    Vordergründig lesen sich die zitierten Auffassungen der ukrainischen Offiziere wie eine verklausulierte Warnung der politischen Führung vor militärischen Abenteuern. Auf einer politischen Ebene aber käme es der Ukraine vermutlich durchaus recht, wenn sie Russland zu einem offenen militärischen Eingreifen provozieren könnte. Denn die Ukraine behauptet ja seit Jahren, sie stehe in einem Krieg nicht gegen die Donbass-Republiken, sondern gegen Russland. Dessen militärisches Eingreifen würde die Sanktionsfront in Europa bis auf weiteres stabilisieren und die Ukraine als unmittelbaren Frontstaat dieser Auseinandersetzung politisch aufwerten.
    Es sieht allerdings einstweilen danach aus, dass Russland sich in diese Falle nicht locken lassen will. Aus Moskau wird regelmäßig wiederholt, Konfliktparteien seien Kiew und die »Republiken«; wenn Kiew zu politischen Zugeständnissen an die »Volksrepubliken« bereit wäre, ließe sich sehr schnell über die künftige Koexistenz Konsens herstellen, sagte am Dienstag der russische Beauftragte für die Gespräche im »Normandie-Format«, Dmitri Kosak. In dieser Situation eines hartnäckigen diplomatischen Patts wird es dann jedoch denkbar, dass die Ukraine va banque spielt und mit einem Angriff im Donbass neue Fakten zu schaffen versucht.
    Klar ist, dass eine solche Entscheidung in Kiew zwar verkündet, aber in Washington getroffen würde. An dieser Stelle erweckt eine am Mittwoch verbreitete Meldung Besorgnis: Die US-Geheimdienste hätten Russland die Einmischung auch in den letzten Präsidentschaftswahlkampf vorgeworfen. Einzelheiten nennt der freigegebene Bericht der Geheimdienstkoalition nicht, folglich auch keine Beweise, die man überprüfen könnte. Es bleibt also eine abstrakte Feindschaftserklärung und damit die Ankündigung eines fortgesetzten Konfrontationskurses.

  106. USA provozieren Nordkorea
    Als erster US-Präsident bricht Biden mit Vereinbarungen, die Clinton 1994 unterschrieb und an die sich auch Bush, Obama und Trump hielten
    Von Knut Mellenthin
    Die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) hat am Donnerstag Gesprächen mit den USA eine klare Absage erteilt, solange diese ihre »feindselige Politik« gegen Pjöngjang fortsetzen. Die Auskunft erfolgte durch die Erste Stellvertretende Außenministerin der DVRK, Choe Son Hui. Bislang hatte die Regierung in Pjöngjang zu den indirekten Kontaktversuchen von US-Präsident Joseph Biden, der seit dem 20. Januar im Amt ist, nur geschwiegen. Das werde man auch künftig tun, falls Washington an seiner »verrückten Theorie von der nordkoreanischen Gefahr« und seiner »substanzlosen Rhetorik über eine ›vollständige Entnuklearisierung‹« festhält, sagte Choe.
    Der Zeitpunkt für die klare Ansage war gut gewählt: Die Außen- und Verteidigungsminister der USA, Antony Blinken und Lloyd Austin, befanden sich in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, nachdem sie zuvor Japan besucht hatten. Offiziell waren die DVRK und China die Hauptthemen der Reise. Vor diesem Hintergrund waren dem Statement aus Pjöngjang die Schlagzeilen der internationalen Medien sicher.
    Worum es dabei unter anderem – wenn nicht sogar hauptsächlich – geht, wurde allerdings aus den meisten Berichten nicht verständlich. Choe hat es mit dem Hinweis auf Washingtons »substanzlose Rhetorik« aber so angesprochen, dass es für ernsthafte Beobachter eindeutig ist. Seit Biden im Weißen Haus residiert, gibt es eine neue, offenbar konsequent vereinheitlichte Sprachregelung: Statt wie früher »Entnuklearisierung der koreanischen Halbinsel« heißt es jetzt nur noch »Entnuklearisierung Nordkoreas«.
    Das wäre ein einseitiger Vorgang, auf den sich die DVRK zweifelsfrei nicht einlassen wird. Da dies von vornherein feststeht und von keinem Politiker, der nicht ein kompletter Trottel ist, angezweifelt wird, handelt es sich um eine bewusste Provokation. Das Kalkül ist infam, weil es darauf setzt, dass der Kern des Problems von der sogenannten Öffentlichkeit nicht verstanden wird. So kann der Westen der DVRK leicht die Schuld zuweisen, wenn die Lösung der alten Streitfragen nicht vorankommt.
    Der Begriff »Entnuklearisierung der koreanischen Halbinsel« hat eine lange Geschichte. Er geht auf die gemeinsame Erklärung der beiden koreanischen Staaten vom 19. Februar 1992 zurück, die unter anderem die Unterschrift von Kim Il Sung trägt. Der gegenwärtige Staats- und Parteichef Kim Jong Un ist sein Enkel. Mit der gemeinsamen Erklärung übernahmen die Regierungen in Pjöngjang und Seoul gleiche und gemeinsame Verpflichtungen. Das beinhaltet den Verzicht auf Entwicklung, Erprobung und Herstellung von Atomwaffen ebenso wie den Verzicht auf die Anreicherung von Uran und die Wiederaufarbeitung verbrauchter Brennstäbe, die zur Gewinnung von Plutonium dient. Zur Überwachung der Verpflichtungen sollten beide Staaten zu gegenseitigen Inspektionen berechtigt sein.
    Die gemeinsame Erklärung über die Entnuklearisierung der koreanischen Halbinsel ist Bestandteil und Grundlage aller seither geschlossenen Vereinbarungen. Sie wurde im Rahmenabkommen (Agreed Framework), das die USA und die DVRK am 21. Oktober 1994 zur Zeit der Präsidentschaft von William Clinton unterzeichneten, ebenso erwähnt wie in den Stellungnahmen von Donald Trump und Kim Jong Un. Biden ist der erste US-Präsident, der offen aus diesem Zusammenhang aussteigen will. Es gibt daher handfeste Gründe, seine »diplomatischen Offerten« an Pjöngjang für scheinheilig zu halten.

  107. Was ist eigentlich die Stellung Südkoreas zu dieser Verschärfung der US-Rhetorik? Gibt es da irgendwelche Erklärungen? Denn immerhin ist Südkorea davon unmittelbar betroffen.

  108. Kein Lockdown für Militärs (22.03.2021)
    US-Streitkräfte geben neue Details zum US-Großmanöver Defender Europe 21 bekannt.
    WASHINGTON/BERLIN (Eigener Bericht) – Die Verlegung von US-Truppen nach Europa im Rahmen des Großmanövers Defender Europe 21 ist eingeleitet worden. Das geht aus US-Berichten hervor. Demnach werden Tausende US-Soldaten im April in Europa eintreffen, um dort weiter in Richtung russische Grenze zu marschieren. Schwerpunktgebiet ist dieses Jahr nicht, wie 2020, das Baltikum, sondern Südosteuropa sowie insbesondere die Schwarzmeerregion. Deutschland fungiert erneut als Drehscheibe für die Truppenverlegung; im Rahmen von Defender Europe 21 werden deutsche Häfen, Flughäfen und Truppenübungsplätze genutzt, während die Bundeswehr mit 430 Soldaten beteiligt ist. Für Mai sind mehrere Teilmanöver angekündigt – darunter Luftlandeübungen und Operationen zur Luft- und Raketenabwehr sowie eine Simulationsübung, bei der die Führung von Truppen in über 100 Ländern auf zwei Kontinenten geprobt werden soll. Beteiligt sind neben 21 NATO-Mitgliedern auch fünf Länder, die dem Kriegsbündnis nicht angehören, darunter mit Georgien und der Ukraine zwei Frontstaaten aus dem Machtkampf gegen Russland.
    An Russlands Südwestflanke
    Die US-Streitkräfte haben in der vergangenen Woche neue Details zum diesjährigen Großmanöver Defender Europe 21 bekanntgegeben. Demnach nehmen mehr als 30.000 Soldaten aus 26 Ländern an der Kriegsübung teil, darunter neben 21 NATO-Staaten auch Bosnien-Herzegowina und das Kosovo, die Ukraine und Moldawien sowie Georgien. Die zunächst verbreitete Behauptung, auch Armenien sei eingebunden, trifft nicht zu: Wie das armenische Verteidigungsministerium bestätigt, beteiligt sich das Land nur dann an multinationalen Manövern, wenn diese der “Aufrechterhatung des internationalen Friedens und der Stabilität” dienen.[1] Dies aber ist bei Defender Europe 21 erkennbar nicht der Fall. Die Bundeswehr stellt dieses Jahr 430 Soldaten.[2] Im Kern geht es bei dem Manöver – wie bei Defender Europe 20 – darum, die Überführung einer großen Anzahl US-Soldaten nach Europa und dann weiter in Richtung russische Grenze zu proben, wobei der Schwerpunkt – im Unterschied zu 2020 – nicht auf Russlands nordwestlicher, sondern auf seiner südwestlichen Flanke liegt: in Südosteuropa und am Schwarzen Meer. Dies ist der Grund, weshalb die Beteiligung der Frontstaaten Ukraine und Georgien dieses Jahr ganz besondere Bedeutung hat.
    Die Truppenverlegung
    Aktuell ist laut US-Berichten [3] die Verlegung von US-Verbänden über den Atlantik nach Europa eingeleitet worden. Zu den fünf Ländern, in deren Häfen US-Truppen anlanden oder aus denen sie später wieder ablegen sollen, gehört Deutschland; die vier anderen liegen diesmal am Mittelmeer (Slowenien, Kroatien, Albanien, Griechenland). Auch deutsche Flughäfen werden von den US-Streitkräften für Defender Europe 21 genutzt. Auf dem Kontinent angekommen, wird ein Teil der Einheiten Kriegsgerät aufnehmen, das in großen US-Waffenlagern (Army Prepositioned Stock, APS) gehortet wird; Zweck des APS ist es, im Ernstfall die benötigten Rüstungsgüter bereits in Europa zur Verfügung zu haben und nur noch die Truppen einfliegen zu müssen. In diesem Jahr ist die Verwendung von APS aus Eygelshoven (Niederlande), aus Italien (Livorno) sowie aus Deutschland geplant; in der Bundesrepublik kommen Bestände aus Dülmen oder aus Mannheim in Betracht. Anschließend ist die Weiterverlegung in Richtung Osten bzw. Südosten vorgesehen; die Routen sind im Detail noch nicht bekannt. Allerdings ist Deutschland den US-Streitkräften zufolge eines der Länder, deren Truppenübungsplätze bei Defender Europe 21 für Teilübungen genutzt werden.
    Mit scharfem Schuss
    Nach der Truppenverlegung, die vorwiegend im April stattfinden wird, sind im Mai Teilmanöver auf über 30 Trainingsarealen in zwölf Ländern geplant. Acht Länder liegen in Südosteuropa und erstrecken sich von Kroatien über weitere Nachfolgestaaten Jugoslawiens sowie Albanien bis Rumänien, Bulgarien und Griechenland. Wie bereits im vergangenen Jahr sehen die Pläne vor, größere Manöver, die schon seit längerer Zeit jährlich abgehalten werden, in Defender Europe 21 einzubinden; dabei handelt es sich zum Beispiel um “Swift Response”, eine Luftlandeübung, die dieses Jahr mit mehr als 7.000 Soldaten aus elf Ländern in Rumänien und Bulgarien sowie in Estland stattfinden soll, und um “Saber Guardian”, ein Teilmanöver, bei dem mehr als 13.000 Soldaten aus 19 Ländern mit scharfem Schuss trainieren und Operationen zur Luft- und Raketenabwehr sowie eine medizinische Evakuierung im großen Stil proben. Nicht formell ein-, aber doch angegliedert ist das seit knapp zwei Jahrzehnten abgehaltene Manöver “African Lion”, das auf eine Kooperation der Streitkräfte der USA und Marokkos zurückgeht; an der Übung sind knapp 5.000 Soldaten beteiligt. Im Juni soll eine Simulationsübung die Führung von Truppen in über 100 Ländern auf zwei Kontinenten proben, bevor die US-Militärs zurückverlegt werden.[4]
    Die NATO im Schwarzen Meer
    In der Schwarzmeerregion, die – zusammen mit Südosteuropa – den Schwerpunkt des diesjährigen Defender Europe-Manövers bildet, baut die NATO ihre Präsenz seit geraumer Zeit ähnlich wie im Baltikum aus. So ist im rumänischen Craiova eine multinationale NATO-Brigade stationiert. Von der Air Base Mihail Kogălniceanu bei Constanţa aus führen NATO-Flugzeuge regelmäßige Patrouillenflüge (“Air Policing”) durch. Darüber hinaus intensiviert das westliche Militärbündnis seine Marinepräsenz. Diese muss den Vertrag von Montreux aus dem Jahr 1936 berücksichtigen, der den Zugang zum Schwarzen Meer durch die Dardanellen, das Marmarameer sowie den Bosporus regelt: Demnach dürfen sich Kriegsschiffe aus Nicht-Anrainerstaaten maximal 21 Tage lang im Schwarzen Meer aufhalten; Überwasserkriegsschiffe mit einer Verdrängung von über 10.000 Tonnen, Flugzeugträger und U-Boote von Nicht-Anrainerstaaten sind prinzipiell nicht zur Einfahrt in das Gewässer zugelassen. Dennoch operieren, wie die NATO berichtet, die Marinen ihrer Mitgliedstaaten insgesamt über zwei Drittel des Jahres im Schwarzen Meer [5]; auch die NATO selbst weitet aktuell die Präsenz ihrer Marineverbände aus [6]. Dem Bündnis gehören drei Anrainerstaaten (Rumänien, Bulgarien, Türkei) an; zwei weitere sind enge Verbündete (Ukraine, Georgien).
    An beiden Fronten zugleich
    Defender Europe 21 wird ungeachtet der sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa unvermindert wütenden Covid-19-Pandemie abgehalten. Während die Freizügigkeit in der EU für Zivilpersonen empfindlich eingeschränkt ist, haben involvierte Militärs freie Fahrt; während Impfdosen in der EU selbst für Risikogruppen weiterhin Mangelware sind, wurden US-Einheiten, die an dem Manöver beteiligt sind, bereits zum zweiten Mal geimpft.[7] Und während es der Bundesregierung bis heute nicht gelingt, eine auch nur halbwegs genügende Menge an Impfdosen zu beschaffen, finanziert sie Defender Europe 21 mit 2,9 Millionen Euro sowie weitere Manöver ebenfalls mit Millionensummen; insgesamt veranschlagt das Verteidigungsministerium die Mittel, die dieses Jahr für Kriegsübungen ausgegeben werden, auf rund 164,5 Millionen Euro.[8] Dazu zählt erstmals auch die Entsendung eines deutschen Kriegsschiffs in das Südchinesische Meer (german-foreign-policy.com berichtete [9]): Während sich die NATO und ihre Mitgliedstaaten – Deutschland inklusive – dort gegen China in Stellung bringen, proben sie in den nächsten Wochen und Monaten den Aufmarsch gegen Russland; sie operieren inzwischen gegen beide Mächte, an beiden Fronten zugleich.
    Briten bauen Militärstrategie um
    London. Die britischen Streitkräfte sollen deutlich verkleinert werden. Wie der britische Verteidigungsminister Ben Wallace am Montag im Parlament in London ankündigte, soll die Truppenstärke des Heeres bis 2025 auf 72.500 sinken. Offiziell liegt sie derzeit bei 82.000. Laut Wallace hat die britische Armee derzeit 76.500 ausgebildete Angehörige. Gleichzeitig will London stärker in neue Waffensysteme sowie Cyber- und Aufklärungskapazitäten, unter anderem im Weltraum, investieren. »Die erhöhte Einsetzbarkeit und der technologische Vorsprung werden bedeuten, dass weniger Menschen mehr Wirkung erzeugen können«, sagte Wallace. Der Schritt ist Teil einer größeren Neupositionierung der britischen Verteidigungsstrategie nach dem Austritt aus der Europäischen Union. Bereits in der vergangenen Woche hatte die Regierung dafür einen Plan vorgelegt, den sie als »radikalste Neubewertung des britischen Platzes in der Welt seit dem Ende des Kalten Krieges« bezeichnete. Unter anderem soll die Obergrenze für nukleare Sprengköpfe von derzeit 225 auf 260 erhöht, statt wie geplant auf 180 verringert werden. Das Land will sich geopolitisch auch stärker nach Asien und zum Pazifikraum ausrichten. Bis 2030 rechnet die britische Regierung demnach mit einer weiteren Entwicklung zu einer multipolaren Welt und einer Verlagerung des Schwerpunkts in den indopazifischen Raum. (dpa/jW)

  109. Lawrow: Keine Beziehung mehr zu EU
    Beijing. Nach neuen EU-Sanktionen gegen Russland sieht Außenminister Sergej Lawrow das Verhältnis zu Brüssel als »zerstört« an. »Es gibt keine Beziehung mehr zur Europäischen Union als Organisation«, sagte der russische Chefdiplomat am Dienstag bei seinem China-Besuch. »Die gesamte Infrastruktur dieser Beziehungen wurde durch einseitige Entscheidungen Brüssels zerstört.« Es seien lediglich einzelne EU-Partnerländer übrig geblieben, die sich von ihren nationalen Interessen leiten ließen und nicht von der EU, meinte Lawrow. Dies führe dann zwangsläufig dazu, dass sich die Beziehungen Russlands zu China schneller entwickelten als die zu den verbliebenen EU-Ländern. Zugleich zeigte er sich einmal mehr zu einer Verbesserung der Beziehungen bereit, wenn die EU dies im Gegenzug auch wolle. (dpa/jW)
    Zwei-Feinde-Strategie
    NATO bereitet sich auf Konfrontation mit China vor – ohne die mit Russland zu vernachlässigen. Afghanistan-Abzug relativiert
    Von Reinhard Lauterbach
    Zweckpessimismus gehört zum Ritual von NATO-Konferenzen. Es muss stets der Eindruck erweckt und aufrechterhalten werden, die gegenwärtig als Gegner ausersehenen Länder oder Kräfte bedrohten das westliche Kriegsbündnis, das doch nur in aller Unschuld an einer »regelbasierten Ordnung« festhalten wolle – deren Regeln es freilich selbst festzulegen beansprucht. China hat dies den USA vor ein paar Tagen erstmals mit ähnlicher Deutlichkeit als Hegemoniestreben um die Ohren gehauen, wie Wladimir Putin das schon 2007 in München getan hat.
    In Afghanistan gescheitert
    Dabei sieht es für die NATO aktuell militärisch trotz der kumuliert höchsten Militärausgaben der Welt nicht besonders gut aus. Aktuell beschäftigt die Außenminister die Frage, wie es in Afghanistan weitergehen soll. Anders als 2001 erhofft, hat sich die westliche Invasion des zentralasiatischen Landes nicht als Blitzkrieg durchziehen lassen. Trotz erdrückender materieller Überlegenheit ist es den NATO-Truppen nicht gelungen, den Widerstand lokaler Gruppen zu zerschlagen. Insbesondere die Taliban haben sich als »überlebensfähig« gegenüber der westlichen Militärmaschinerie erwiesen.
    Der frühere US-Präsident Donald Trump wollte hieraus die Konsequenz ziehen und hatte mit den Taliban ein Rückzugabkommen ausgehandelt. Sein Nachfolger Joseph Biden hat diese Entscheidung revidiert, und damit steht für die Politiker NATO-Europas, die den USA die Hilfstruppen stellen, die Frage an, wie sie auf die angesagte Verlängerung des Krieges reagieren. Sollen sie weiter an der Seite der USA stehen und damit Ressourcen in einem nicht zu gewinnenden Krieg binden, die die NATO eigentlich von ihnen fordert, um die Allianz gegen ihre zwei wirklichen Rivalen aufzurüsten? Oder einseitig abziehen und damit ein politisch fatales Signal setzen? Zumal sie noch für diesen Abzug auf logistische Unterstützung der USA angewiesen wären, denn Russland hat die stillschweigende Unterstützung des westlichen Afghanistan-Krieges durch Transitgenehmigungen und Erlaubnisse zur Zwischenlandung angesichts des westlichen Konfrontationskurses in der Ukraine 2014 beendet. Im Gegenteil versucht Moskau insbesondere in diesen Tagen, von sich aus eine Friedenslösung für das Land zu vermitteln – eine Entwicklung, über deren Erfolg der Westen zwar vielleicht militärisch heilfroh wäre, an der er aber politisch kein Interesse hat, weil das Russland als einen wichtigen Akteur in Zentralasien bestätigen würde.
    Derweil sieht sich die NATO neben Russland nach eigener Wahrnehmung nun einem zweiten ernstzunehmenden Gegner gegenüber: der Volksrepublik China. Ein Anfang März an Die Welt durchgestochenes internes Planungsdokument der Bundeswehr-Spitze nimmt keine ausdrückliche Gewichtung vor, welcher der beiden potentiellen Gegner der gefährlichere sei. Aber es notiert, China verfüge nicht nur über zwei Millionen Soldaten, rund 6.850 Kampfpanzer und 1.600 Jagdflugzeuge, sondern auch über die »weltweit größten konventionellen Raketenpotentiale«, wozu auch die extrem gefährlichen Hyperschallraketen mit großer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern gehörten. Diese könnten unter anderem den US-Marinestützpunkt auf der Insel Guam im westlichen Pazifik erreichen.
    Was daran bedrohlich ist, geben die Bundeswehr-Strategen nicht konkret an, es versteht sich für ihre Leserschaft von selbst. Das Papier zitiert sie mit der Aussage, Beijing gehe es um die »Absicherung der wirtschaftlichen Entwicklung und Gestaltung internationaler Ordnung entlang eigener Interessen«. Das ist nichts anderes, als das, was die NATO auch macht. Eine Bedrohung wird daraus nur, wenn man auf NATO-Seite das Monopol auf solche »Gestaltung internationaler Ordnung entlang eigener Interessen« beansprucht.
    Widerwilliger Respekt
    Auch gegenüber Russland ist das Bundeswehr-Papier von widerwilligem Respekt getragen: Dieser Gegner müsse ernstgenommen werden. Er investiere stark in den »Erhalt seegestützter Zweitschlagfähigkeit« – die nur denjenigen zu beunruhigen braucht, der sich den Erstschlag vorbehalten will –, die russischen Streitkräfte seien heute gut ausgebildet und könnten rasch verlegt werden. In Osteuropa könnten sie »zeitlich und räumlich begrenzt Wirkungsüberlegenheit erzielen«.
    Besonders ärgerlich für die NATO ist, dass diese Verteidigungsaktivitäten Russland und China offenbar deutlich weniger Geld kosten, als der kollektive Westen für den Versuch ausgibt, seinen Hegemonialanspruch militärisch abzusichern. Beide Länder zusammen gäben nur ein Drittel soviel fürs Militär aus wie die USA, berechnete laut Welt in diesem Frühjahr das Internationale Institut für Strategische Studien in London.
    Zum Unglück der Menschheit funktioniert die NATO nicht nach den Kriterien kapitalistischer Unternehmen, deren Weltherrschaft sie absichert. Eine vergleichsweise Bilanz – der Konkurrent produziert zu geringeren Kosten ein gleichwertiges oder sogar besseres Produkt – würde bei Autos oder Mobiltelefonen Köpfe in den Konzernzentralen rollen lassen. Nicht so beim Produkt »­Sicherheit«, das die NATO nach eigenem Anspruch produziert. So geht Abstieg.
    Hintergrund: Ukraine als »Ergänzungsraum«
    Das ukrainische Gastransportnetz hat aktuell zwei Probleme: Es ist für den Bedarf zu groß, und es ist technisch marode. Die Auslastung beträgt nur noch ein Drittel seiner beim Bau veranschlagten Durchleitungskapazität von 120 Milliarden Kubikmetern. Der bis Ende 2024 laufende Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine sieht einen Transit von 65 Milliarden Kubikmetern vor, aktuell werden davon mit gut 40 Milliarden zwei Drittel ausgeschöpft.
    In dieser Situation und angesichts dessen, dass der Gastransit von Russland in die Europäische Union abnehmen wird, bot der Chef des ukrainischen Leitungsbetreibers Naftogas, Andrij Witrenko, an, die bestehenden Leitungen für den Transport von in der Ukraine erzeugten Wasserstoffs in die EU zu nutzen. Was er nicht explizit dazusagte, allerdings seinen Zuhörern auch so klar gewesen sein dürfte: Bevor es hierzu kommt, müssten die Leitungen – mit westlichem Geld, versteht sich – grundsaniert werden. Denn reiner Wasserstoff ist wesentlich flüchtiger als das Methan, aus dem Erdgas besteht. Das heißt, dass es Röhren, die für den Transport von Erdgas gebaut wurden, durchdringen und sich in der Atmosphäre verlieren kann. Erhebliche Transportverluste sind also abzusehen und beeinträchtigen die Rentabilität dieses Modells.
    Der Aufbau einer Wasserstoffproduktion ist gleichwohl zentraler Teil der deutschen Investitionsoffensive für die Ukraine, die bei dem Wirtschaftsforum letzte Woche präsentiert wurde. Sie sieht vor, in der Ukraine gegebene Naturvoraussetzungen wie Platz, Sonne und Wind zu nutzen, um daraus mit deutscher Technologie zunächst Ökostrom zu erzeugen und diesen anschließend zum Betrieb von – wiederum mit deutscher Technologie zu bauenden – Meerwasserentsalzungsanlagen zu nutzen. Aus diesem Wasser soll dann in einem dritten Schritt durch Elektrolyse Wasserstoff isoliert werden. (rl)

  110. Blinken fordert Folgsamkeit
    USA wollen Nord Stream 2 auf der Zielgeraden kippen. Druck auf Außenminister Maas
    Von Reinhard Lauterbach
    Die USA halten an der Absicht fest, die Fertigstellung der Ostseepipeline Nord Stream 2 zu verhindern. Das machte ihr neuer Außenminister Antony Blinken zu Beginn der NATO-Außenministertagung in Brüssel deutlich. Er kündigte an, er werde das Thema bei seinem bilateralen Gespräch mit seinem deutschen Kollegen Heiko Maas zur Sprache bringen. Der solle »den Bau stoppen«, so Blinken. Das Gespräch sollte am Dienstag nachmittag stattfinden.
    Blinken verwies zwar weiterhin auf die Drohung der USA, gegen beteiligte Unternehmen Sanktionen zu verhängen. Er scheint aber auf deren Erpressbarkeit nicht mehr unbedingt setzen zu wollen, wenn er von Maas eine politische Entscheidung zum Baustopp einfordert.
    So haben Anfang des Jahres verhängte US-Sanktionen gegen die Firma, der das russische Rohrverlegeschiff »Fortuna« gehört, die Wiederaufnahme der Bauarbeiten im März nicht verhindert. Aktuelle Daten der Webseite marinetraffic.com zeigen, dass die »Fortuna« inmitten einer ganze Flottille russischer Schiffe südlich von Bornholm auf fester Position liegt. Mit anderen Worten – sie setzt den Bau fort.
    Das größere und leistungsfähigere Verlegeschiff »Akademik Tscherski« dagegen wurde weiter östlich in der Ostsee vor der Kurischen Nehrung lokalisiert und scheint im Augenblick nicht an den Bauarbeiten beteiligt zu sein. Das dänische Seefahrtsamt hatte vor einigen Tagen erklärt, es rechne damit, dass Nord Stream 2 im Laufe des dritten Quartals fertiggestellt sein könnte. Ukrainische Quellen hatten zuvor gemeldet, Russland wolle die Pipeline zu seinem Nationalfeiertag am 12. Juni gebaut haben.
    US-Außenminister Blinken wiederholte, dass Nord Stream 2 die Abhängigkeit der EU von russischem Gas erhöhe, fügte aber neu hinzu: Die Gaspipeline verletze auch eigene Sicherheitsinteressen der USA. Sie habe das Potential, die Interessen der Ukraine, Polens und einer Reihe anderer enger Partner oder Verbündeter zu untergraben.
    Auf einer pragmatischen Ebene wird in diesen Ländern inzwischen allerdings davon ausgegangen, dass Nord Stream 2 wohl trotz allen politischen Widerstands fertig werden wird. Beim polnischen Portal energetyka24.com wurde unlängst die Frage diskutiert, wie die anstehende unterseeische Kreuzung zwischen Nord Stream 2 und der im Bau befindlichen Leitung Baltic Pipe von Norwegen durch Dänemark und dann nach Polen technisch bewerkstelligt werden könne. Und auf dem vergangene Woche veranstalteten »4. Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforum« stellte der Chef des ukrainischen Pipelinebetreibers Naftogas Ukraini, Andrij Witrenko, Zukunftspläne vor, wie das ukrainische Leitungsnetz künftig – implizit gedacht, nachdem es durch Nord Stream 2 für den Gastransit überflüssig geworden ist – genutzt werden könne.
    Das Wirtschaftsforum war von Teilen der Wirtschaftspresse auch als Versuch der Bundesregierung eingeschätzt worden, den USA zu demonstrieren, dass Berlin die ökonomische Stabilisierung der Ukraine ernst nehme – mit dem Hintergedanken, Washington damit zur wie auch immer zähneknirschenden Hinnahme von Nord Stream 2 zu bewegen. Ob diese Kalkulation aufgeht, muss sich zeigen. Für gewöhnlich machen Zugeständnisse Erpresser eher anspruchsvoller.

  111. den USA zu demonstrieren, dass Berlin die ökonomische Stabilisierung der Ukraine ernst nehme

    Das kann man auch als Beschluß lesen, sich die Ukraine als Verbündeten zu krallen und von deutschen Interessen abhängig zu machen.
    So ist es vermutlich auch gemeint.
    Da soll mit deutscher Staatsknete Wirtschaftsförderung für die eigene Industrie locker gemaxht und Einfluß in der Ukraine erkauft werden.
    Ein „Zugeständnis“ ist das nicht, auch wenn irgendwelche Leute als solches zu verkaufen versuchen.
    So blöd ist aber auch die US-Regierung nicht, daß sie das nicht merkt.

  112. Randale auf Bestellung
    Ukrainische Regierung reagiert verhalten auf rechten Krawall vor Präsidentenpalast. Exstaatschef Poroschenko verantwortlich gemacht
    Von Reinhard Lauterbach
    Die ukrainischen Behörden reagieren betont verhalten auf die rechte Randale vor dem Präsidentenpalast am vergangenen Sonnabend. Wie das Innenministerium am Mittwoch bekanntgab, wurden fünf mutmaßliche Rädelsführer identifiziert, gegen sie liefen Ermittlungen. Ein Verdächtiger sei unter Hausarrest gestellt worden. Anton Geraschtschenko, Stellvertreter von Innenminister Arsen Awakow, kündigte außerdem Zivilklagen wegen des Sachschadens an, den die Randalierer an dem Gebäude angerichtet hatten. Geraschtschenko beschuldigte zudem Expräsident Petro Poroschenko, die Unruhen angezettelt zu haben. Der ließ diesen Vorwurf zurückweisen.
    Am Sonnabend hatten bis zu 3.000 Anhänger des »Rechten Sektors« vor dem Gebäude der Präsidentenadministration in Kiew dagegen protestiert, dass Sergej Sternenko, ehemaliger Anführer der Bewegung in Odessa, von einem Kiewer Gericht zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Dabei warfen sie Brandsätze auf einen Balkon, zerschlugen das Glas in zwei Eingangstüren und schmierten Parolen auf die Fassade.
    Die Richter hatten Sternenko für schuldig befunden, einen Lokalpolitiker aus der Umgebung von Odessa entführt, misshandelt und dazu erpresst zu haben, sein Mandat niederzulegen. Worum es dabei ging, wurde in der ukrainischen Presse nie erörtert – eine verweigerte Baugenehmigung reicht in der Ukraine aus, um von Schlägern aufs Korn genommen zu werden. Ein anderer, rechtlich schwerwiegenderer, Vorwurf gegen Sternenko war in dem Verfahren nicht zur Sprache gekommen: dass er 2015 einen Aktivisten des örtlichen »Antimaidans« auf offener Straße niedergestochen und tödlich verletzt hatte. Sternenkos Freundin hatte den Mord damals live gestreamt. An dieses Thema traut sich die ukrai­nische Justiz erkennbar nicht heran, mehrere Richter erklärten sich selbst für befangen oder unzuständig und lehnten es ab, das Verfahren zu leiten.
    Es fällt allerdings auf, dass die ­ukrainische Öffentlichkeit die Vorfälle vor dem Präsidialamt ziemlich gelassen kommentiert. Es sei nicht der erste derartige Vorgang, und es werde nicht der letzte gewesen sein – so lässt sich der Tenor der Beiträge von Beobachtern in Kiew zusammenfassen. Dass sich an den Vorgängen zeige, wie sehr die ­Ukraine als Staat gescheitert sei, so ein Kommentator von RT in staatsbürgerlicher Entrüstungsgeste, wird im Lande auch von im allgemeinen als »prorussisch« geltenden Autoren nicht so wahrgenommen. Vielmehr ist Konsens, dass der »Rechte Sektor« heute keine selbständige politische Kraft mehr sei, sondern im Auftrag von Sponsoren handle. Die Interpretationen unterscheiden sich darin, wer die Randale in Auftrag gegeben habe.
    Eine Variante lautet, dass Expräsident Poroschenko die Unruhen inszeniert habe. Er wolle damit Staatschef Wolodimir Selenskij erschweren, mit ihm um die nationalistische Wählerschaft zu konkurrieren, bzw. ihm durch Druck von der Straße signalisieren, keine Schritte in Richtung Frieden im Donbass – Stichwort »Kapitulation« – zu unternehmen. Das Portal strana.ua schrieb unter Berufung auf ungenannte Quellen im Kiewer Politikbetrieb, Poroschenko wolle die Lage im Lande destabilisieren, um Selenskij zur Auflösung des Parlaments und zu vorgezogenen Neuwahlen zu nötigen. Anschließend solle die Poroschenko-Partei »Europäische Solidarität« eine Koalition mit Selenskijs »Dienern des Volkes« bilden und dem Expräsidenten das Amt des Premiers verschaffen. Noch habe aber, so strana.ua, Poroschenko nicht die Zustimmung der US-Regierung zu diesem Konfrontationskurs erhalten.
    Es kann angenommen werden, dass die USA in dieser Sache ein doppeltes Spiel spielen. Ihre Botschaft in Kiew, die sich sonst auch zu unwichtigeren Anlässen ausführlich äußert und Belehrungen erteilt, bewahrte nach der Randale vor der Präsidialverwaltung völliges Stillschweigen – verurteilte die Vorgänge also auch nicht.

  113. @NN

    Dass sich an den Vorgängen zeige, wie sehr die ­Ukraine als Staat gescheitert sei, so ein Kommentator von RT in staatsbürgerlicher Entrüstungsgeste, wird im Lande auch von im allgemeinen als »prorussisch« geltenden Autoren nicht so wahrgenommen.

    Na ja, so eine „staatsbürgerliche Entrüstungsgeste“ ist das auch nicht.
    Wenn das vermeintliche Gewaltmonopol sich rechter Schläger nicht erwehren kann, sein Territorium nicht kontrollieren kann und keinerlei Exekutivkräfte zur Verfügung hat, die gegen dergleichen Randale vorgehen – so ist dieses Gebilde in der Tat als Staat eine matte Sache.
    Poroschenko ist offenbar sauer, daß es mit der Bereicherung nicht so klappt, seit er in der Opposition ist. Da streifen andere den Löwenanteil ein.
    Warum die USA ihn unterstützen sollte, ist zunächst unklar. Immerhin fahren sie ja mit Selenski als Hampelmann auch gut. Vielleicht unterstützen sie Poro doch, um für die EU den Preis der Alimentierung dieser Kiewer Regierung zu erhöhen, weil die Alt-Oligarchen haben dafür einfach höhere Tagsätze.

  114. Iran strebt langfristiges Abkommen mit Russland an
    Teheran. Der Iran will nach dem langfristigen Kooperationsabkommen mit China eine entsprechende Vereinbarung auch mit Russland abschließen. »Wir wollen auch mit Russland ein ähnliches Abkommen wie mit China, das praktisch als eine Roadmap langfristig eine bindende wirtschaftliche Zusammenarbeit ermöglicht«, sagte der Leiter des außenpolitischen Ausschusses im iranischen Parlament, Modschtaba Solnur, am Montag. Außerdem seien diese Abkommen eine effektive Option, US-amerikanische und europäische Sanktionen gegen den Iran zu umgehen, so Solnur laut der Nachrichtenagentur Mehr News Agency. Die Ankündigung Solnurs ist aus Regierungskreisen noch nicht bestätigt worden, es gibt jedoch Spekulationen, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow demnächst Teheran besuchen wird.
    Am Sonnabend hatten die Außenminister Irans und Chinas in Teheran ein Kooperationsabkommen mit einer Laufzeit von 25 Jahren unterzeichnet. Damit soll der Weg für Investitionen Chinas in Milliardenhöhe frei werden. Im Gegenzug will der Iran Öl zu günstigen Preisen liefern. Präsident Hassan Ruhani bezeichnete das Abkommen als ein strategisch wichtiges Projekt für Wirtschaftswachstum im Iran sowie Stabilität und Frieden in der Region. (dpa/jW)

  115. An die diplomatischen staatlichen Beziehungen zu Aserbaidschan werden hierzulande Forderungen betr. Abgeordneten-Moral geknüpft, damit das Saubermannsbild sowohl über solche diplomatischen Beziehungen als auch das über die Staatsmoralität deutscher Bundestagsabgeordneter nicht angepisst werden dürfe. Dazu kritische Einwände:
    https://tages-politik.de/Europapolitik/Kaviar-Diplomatie-Maerz_2021.html
    https://www.heise.de/tp/features/Der-Abgeordnete-und-seine-Lobby-6002485.html?seite=all
    http://NestorMachno.blogsport.de/2020/02/05/pressespiegel-rebelion-5-2/#comment-42175
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/korruption-politik#section4

  116. Warschaus Außendienstle
    Polen instrumentalisiert die polnische Minderheit in Belarus zum Kampf gegen Lukaschenko
    Von Reinhard Lauterbach
    Knapp 300.000 Polen leben laut der offiziellen Volkszählung von 2019 in Belarus – etwas über drei Prozent der Bevölkerung. Inoffizielle Zahlen aus Warschau sind höher, aber auch sie gehen nicht über die Million hinaus. Geographisch sind die Polen im nordwestlichen Bezirk Grodno konzentriert, der an Polen und Litauen angrenzt, sozial handelt es sich überwiegend um Landbevölkerung, historisch sind sie Überbleibsel der polnischen Bevölkerung des ehemaligen Nordostens Polens. Der Großteil der dortigen Polen wurde nach 1945 in das neue polnische Staatsgebiet umgesiedelt.
    Warschau hat seit 1989 versucht, politischen Einfluss auf die Selbstorganisation der polnischen Minderheiten jenseits seiner Ostgrenzen zu gewinnen. In Belarus erlitten diese Bestrebungen 1999 einen größeren Rückschlag: Damals wurde zum Verbandsvorsitzenden ein Mann gewählt, der auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit den belarussischen Behörden setzte. Als nach dem Ablauf von dessen Amtszeit 2005 der Nachfolger ebenfalls nicht auf den in Warschau gewünschten Konfrontationskurs gegenüber dem belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko einsteigen wollte, erklärte das polnische Außenministerium die Wahl für gefälscht und berief einen zweiten Kongress ein, der den Verband spaltete. Seitdem ist die gelernte Lehrerin Andzelika Borys Chefin des von Polen anerkannten ZPB. Der »alte« Verband besteht daneben auch noch fort und wird von der Regierung in Minsk finanziell unterstützt. Beide Verbände bestreiten gegenseitig, die polnische Minderheit in Belarus zu repräsentieren.
    Polen unterstützt die Borys-Fraktion mit jährlich umgerechnet zweistelligen Euro-Millionenbeträgen. Dieser propolnische Verband veranstaltet auch Schulungen für Belarus-Polen, die Prüfung für den Erhalt der 2007 eingeführten »Polenkarte« zu bestehen. Diese Prüfung behandelt polnische Kultur im katholisch-nationalen Sinn. So wird unter anderem gefragt, was zu einem typisch polnischen Weihnachtsessen gehört und welche polnischen Nationalhelden auf belarussischem Gebiet geboren wurden. Die Polenkarte gewährt Bürgern der ehemaligen Sowjetunion mit polnischen Wurzeln Vergünstigungen bei Aufenthalt, Arbeit und Studium in Polen, Zugang zur polnischen Krankenversicherung und anderes mehr. Die belarussische Regierung kritisiert die Vergabe dieser Quasiausweise an eigene Staatsbürger, unternimmt aber in der Praxis nichts dagegen.
    Der von Andzelika Borys geleitete Verband hat die polnische Minderheit immer wieder auf der Seite der Gegner von Lukaschenko positioniert. Im Grunde gleicht seine Instrumentalisierung durch Warschau für polnische Zwecke derjenigen der deutschen »Volkstumspolitik« gegenüber der deutschen Minderheit im Vorkriegspolen durch die damaligen Reichsregierungen. Jetzt hat die belarussische Justiz Borys und ihren Vorstandskollegen Andrzej Poczobut – im Zivilberuf Korrespondent der Tageszeitung Gaseta Wyborcza in Belarus – inhaftiert. Sie wirft ihnen Aufhetzung zum Nationalitätenhass und Glorifizierung von Völkermord an Belarussen vor.
    Die Vorwürfe beziehen sich auf Veranstaltungen, die der Verband im Einklang mit der offiziellen polnischen Gedenkpolitik veranstaltet. Unter anderem eine zum Andenken an Romuald Rajs, Kampfname »Bury«. Die von diesem geleitete rechte Untergrundtruppe hatte 1946 ein von Polen orthodoxer Religion bewohntes Dorf im Nordosten Polens umstellt, angezündet und etwa 60 Bewohnerinnen und Bewohner einschließlich kleiner Kinder ermordet. Ziel der Aktion war, die orthodoxe Minderheit durch Terror zur Übersiedlung in die Belarussische Sowjetrepublik zu nötigen, um ein »ethnisch reines« polnisches Territorium zu erreichen.
    Polens Ministerpräsident hat das Vorgehen der belarussischen Behörden gegen Borys und Poczobut als »Schikane gegen die polnische Minderheit« verurteilt. Er kündigte auch Wirtschaftssanktionen gegen Minsk an. Staatspräsident Andrzej Duda rief die USA auf, die »Verfolgung der polnischen Minderheit« in Belarus vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen.
    Rotlicht: Regime-Change
    Von Jörg Kronauer
    Regime-Changes, von außen geförderte oder sogar organisierte Umstürze in fremden Ländern, sind so alt wie die Staatenwelt. Schon die Bibel berichtet von Fällen, in denen babylonische Herrscher Könige von Judäa, die sie für unzuverlässig hielten, durch ihnen genehmere Machthaber ersetzt haben sollen. Der Politikwissenschaftler John M. Owen hat versucht, die offen betriebenen Regime-Changes in Europa zwischen 1510 und 1815 zu zählen – er kam auf insgesamt 122. Queen Elizabeth I. soll alleine von 1570 bis 1590 mindestens 20 verdeckte Versuche überstanden haben, sie vom Thron zu holen. Für die Zeit von 1816 bis in die frühen 2000er Jahre haben Historiker über 100 Staats- und Regierungschefs aufgelistet, die von fremden Staaten aus ihrem Amt entfernt wurden. 24 dieser Fälle gingen in den Jahren des Kalten Kriegs auf das Konto der USA. Und dabei sind die verdeckt oder indirekt betriebenen Umstürze ebensowenig eingerechnet wie die Umsturzversuche, die misslangen.
    Regime-Change-Weltmeister sind bereits seit vielen Jahrzehnten eindeutig die Vereinigten Staaten. Ihre ersten Umsturzerfahrungen sammelten sie im 19. Jahrhundert, etwa im Januar 1893, als sie maßgeblich am Sturz von Königin Lili’uokalani von Hawaii beteiligt waren. Ziel war weniger die offiziell angestrebte Demokratisierung des Inselstaats als vielmehr seine Vorbereitung auf die 1898 von den USA vollzogene Annexion. Berüchtigt sind die zahllosen von Washington betriebenen Regime-Changes in Lateinamerika, die sich durch das gesamte 20. Jahrhundert zogen, meist linke Regierungen stürzten oder zu stürzen versuchten und bis heute nicht beendet wurden; betroffen von diesen Ambitionen sind zur Zeit vor allem Venezuela, Kuba und Bolivien. Freilich versuchen sich auch andere Staaten, sofern sie stark genug sind, an Regime-Changes in Ländern, die sich ihren Interessen widersetzen. Ein Beispiel bietet Deutschland, das besonders in Osteuropa, im Südkaukasus und in Zentralasien mit den sogenannten Farbenrevolutionen Umstürze und Umsturzversuche gefördert hat und bis heute fördert, aktuell etwa in Belarus.
    Regime-Change kann jedoch nur dann wirklich gelingen, wenn er von einheimischen Kräften unterstützt und mitgetragen, am besten sogar eigenständig angestrebt wird. Um einheimische Kräfte zu fördern, sie zum Umsturz anzustacheln und ihnen während der Tat zur Seite zu stehen, haben die westlichen Mächte eine ausgefeilte Methodik entwickelt, die von praktischem Beistand jeglicher Art etwa durch Auslandsstiftungen über kontinuierliche Milieupflege mit Hilfe von Auslandsmedien bis zu unmittelbarem politischem Beistand reicht: Der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle marschierte Ende 2013 demonstrativ durch die protestierende Menge auf dem Kiewer Maidan, während Berlin auf die ukrainische Regierung starken Druck ausübte. Das Regime-Change-Instrumentarium reicht dabei weit über eine direkte Unterstützung für einheimische Oppositionskräfte hinaus, umfasst auf der einen Seite geheimdienstliche Aktivitäten, auf der anderen Seite Sanktionen aller Art.
    Last but not least: Regime-Change kann schiefgehen. Umsturzversuche können scheitern; und auch wenn sie zunächst zu gelingen scheinen, ist aus Sicht der umstürzenden Mächte nicht alles geritzt. Dass die USA 1953 den iranischen Premierminister Mohammad Mossadegh entmachteten, erwies sich auf lange Sicht als kontraproduktiv, denn es schuf letztlich Voraussetzungen für den islamistischen Umsturz von 1979, mit dem der Westen seinen Einfluss in Teheran weitestgehend verlor. Davon abgesehen riskiert, wer in fremden Ländern oppositionelle Kräfte gegen die Regierung aufwiegelt, eine unkontrollierbare Konflikteskalation. Historiker wollen berechnet haben, dass ein Regime-Change das Risiko eines Bürgerkriegs im Zielland um den Faktor acht erhöht. Auch wenn die Zahl merkwürdig anmutet: Die Gefahr, die sie beziffert, liegt – man denke nur an Syrien – auf der Hand.

  117. Neuer Fokus, selbes Ziel
    Manöver »Defender Europe 2021« probt die Mobilmachung gegen Russland in Südosteuropa und Schwarzmeerregion
    Von Jörg Kronauer
    Im März hat es begonnen, und in diesem Monat wird es auch öffentlich wohl wieder in stärkerem Umfang wahrzunehmen sein: das Großmanöver »Defender Europe«, das die US-Streitkräfte seit 2020 jährlich gemeinsam mit ihren europäischen Verbündeten abhalten. Wie im vergangenen Jahr geht es darum, das westliche Bündnis auf einen etwaigen militärischen Konflikt mit Russland vorzubereiten. Wie im vergangenen Jahr wird dazu eine fünfstellige Zahl an US-Militärs über den Atlantik nach Europa verlegt, um hier auf Straßen, Schienen und Wasserwegen den Marsch in Richtung Osten zu proben. Die »Defender Europe«-Manöver gelten als größte in Europa seit dem Ende des Kalten Kriegs. Das erste von ihnen stieß Anfang vergangenen Jahres auf breiten Protest; das zweite, das jetzt angelaufen ist, weist Parallelen zu ihm, aber auch Unterschiede auf.
    Im vergangenen Jahr hatten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten den Schwerpunkt auf die Ostseeregion gesetzt. Die US-Truppen, die über den Atlantik verlegt wurden, kamen zum Beispiel im Bremerhavener Hafen oder am Hamburger Flughafen an, sammelten sich im Norden, brachen in Richtung Osten auf, legten auf dem Truppenübungsplatz Bergen oder in Vorpommern Zwischenstation ein und fuhren weiter nach Polen, ins Baltikum. Wenngleich die Covid-19-Pandemie dann einen weitgehenden Abbruch der Kriegsübung erzwang: Von den Truppenbewegungen waren besonders Nord- und Ostdeutschland betroffen. Die Funktion der Bundesrepublik als zentraler Drehscheibe für den militärischen Aufmarsch der NATO gegen Russland trat in vollem Umfang offen zutage.
    Beim diesjährigen »Defender Europe« liegt der Fokus in Südosteuropa bzw. der Schwarzmeerregion. Zwar haben die US-Streitkräfte angekündigt, deutsche Häfen, Flughäfen und Truppenübungsplätze zu nutzen, und einige Teilübungen werden in Deutschland und im Baltikum stattfinden. Von den fünf Ländern, über deren Häfen US-Truppen nach Europa verlegt werden, liegen allerdings vier in Südosteuropa – Slowenien, Kroatien, Albanien und Griechenland. Auch die Flughäfen sowie die Truppenübungsplätze, die die US-Streitkräfte nutzen wollen, befinden sich zu zwei Dritteln in Südosteuropa. Dort werden Logistikzentren errichtet, Luftlandeoperationen geübt. US-Marine und -Luftwaffe sind dieses Jahr stärker beteiligt als 2020. Das Szenario, das sich abzeichnet, sind vor allem Truppenbewegungen vom Mittelmeer über den Balkan in Richtung Ukraine und Schwarzes Meer.
    Die beiden Schwerpunkte der ersten zwei »Defender Europe«-Manöver bilden keinen Gegensatz, sie gehören zusammen. Das hat kürzlich die NATO klargestellt, als sie am 3. März parallel Übungen in der Ostsee- und in der Schwarzmeerregion abhielt. Über der Ostsee flogen zwei atomwaffenfähige US-Langstreckenbomber des Typs »B-1B« in Richtung russische Grenze. Begleitet wurden sie von deutschen und von italienischen Jets, die im Baltikum offiziell nur zur Luftraumüberwachung stationiert sind. Zur selben Zeit simulierten über dem Schwarzen Meer französische und spanische Kampfjets Angriffe auf einen NATO-Minenabwehrverband, der üben sollte, sich zu verteidigen – gegen angeblich zu befürchtende russische Angriffe. »Die Ostsee- und die Schwarzmeerregion sind für die Allianz von strategischer Bedeutung«, erläuterte NATO-Sprecherin Oana Lungescu das Doppelmanöver.
    In den Jahren seit 2014, als der Konflikt mit Russland eskalierte, hatte die NATO sich zunächst vor allem auf den Ausbau ihrer militärischen Positionen in der Ostseeregion konzentriert. Sie stationierte Bataillone (»Battlegroups«) in Estland, in Lettland, in Litauen – dort unter deutscher Führung – und in Polen. Sie stärkte die Luftraumüberwachung im Baltikum und intensivierte dort ihre Manöver: Allein 2020 sollen die vier NATO-»Battlegroups« trotz der Pandemie drei Dutzend Kriegsübungen durchgeführt haben. Inzwischen hat das Militärbündnis seine Aktivitäten auch am Schwarzen Meer auszudehnen begonnen: Im rumänischen Craiova westlich von Bukarest ist eine multinationale Brigade stationiert. Zudem führen Kampfjets aus verschiedenen NATO-Staaten von der Air Base Mihail Kogalniceanu bei Constanta aus Patrouillenflüge (»Air Policing«) durch. Das Bündnis stärkt seine Marinemanöver im Schwarzen Meer. Kriegsschiffe der Mitgliedstaaten operieren dort laut NATO-Angaben inzwischen während zwei Dritteln des Jahres.
    »Defender Europe 2021« wird nun die Truppenverlegung in Richtung Schwarzes Meer üben, ganz wie »Defender Europe 2020« die Truppenverlegung in die Ostseeregion trainierte. Und man sollte bei alledem nicht vergessen: Während bei den »Defender Europe«-Manövern der Aufmarsch gegen Russland an allen möglichen Teilfronten geübt wird, proben die US-Streitkräfte mit asiatischen Verbündeten zugleich den Aufmarsch gegen China – im Rahmen der »Defender Pacific«-Manöverserie, die gleichfalls im vergangenen Jahr gestartet wurde, hierzulande aber kaum beachtet worden ist. Der neue kalte Krieg hat zwei große Fronten, auch wenn Deutschland – noch – vor allem von einer davon, derjenigen, die sich gegen Russland richtet, betroffen ist.
    Hintergrund: »Defender Europe 2021«
    Insgesamt beteiligen sich an »Defender Europe 2021« laut Angaben der US-Streitkräfte mehr als 30.000 Soldaten aus 26 Ländern. 21 sind NATO-Mitglieder, darüber hinaus werden Bosnien-Herzegowina, das völkerrechtswidrig von Serbien abgespaltene Kosovo und Moldawien einbezogen, außerdem mit der Ukraine und Georgien zwei Staaten, die unmittelbar an der russischen Grenze liegen. Deutschland ist mit gut 430 Bundeswehr-Soldaten dabei.
    Das mit Abstand größte Truppenkontingent stellen die USA, die unter anderem auf ihre Nationalgarde und auf Reservisten zurückgreifen. Die US-Einheiten nutzen dabei auch Waffenlager, die sie in Deutschland, den Niederlanden und Italien unterhalten (»Army Prepositioned Stock«, APS). Die Kosten belaufen sich auf eine dreistellige Millionensumme, für »Defender Europe 2020« wurden Ausgaben von rund 340 Millionen US-Dollar genannt. Berlin stellt für »Defender Europe 2021« rund 2,9 Millionen Euro bereit.
    Zur Zeit befindet sich »Defender Europe 2021« noch in der Verlegephase: Seit März sind US-Truppen auf dem Weg nach Europa, wo sie in diesem Monat in ihre Zielregionen marschieren. Geht es in dieser Manöverphase insbesondere darum, die Infrastruktur zu testen – in der Vergangenheit blieb schon so mancher schwere US-Panzer in Unterführungen und Tunneln in Ost- und Südosteuropa stecken –, so folgen im Mai und im Juni diverse Teilmanöver, bei denen Kampfhandlungen auf der Tagesordnung stehen. Im Rahmen des Manövers »Swift Response« etwa trainieren in Rumänien, Bulgarien und Estland 7.000 Soldaten aus elf Ländern Luftlandeoperationen. Im Rahmen von »Saber Guardian« üben mehr als 13.000 Soldaten aus 19 Ländern den scharfen Schuss, Luft- und Raketenabwehr sowie eine großdimensionierte medizinische Evakuierung. »African Lion« wird sogar auf den afrikanischen Kontinent ausgreifen. (jk)
    Moskau warnt vor NATO-Truppen in Ukraine
    Moskau. Angesichts der brüchigen Waffenruhe im Donbass warnt Russland vor NATO-Soldaten zur Unterstützung Kiews. »Zweifellos würde ein solches Szenario zu weiteren Spannungen in der Nähe der russischen Grenzen führen«, sagte der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, am Freitag in Moskau der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. »Natürlich müsste die russische Seite dann zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten.« Welche das sein könnten, sagte Peskow nicht konkret: »Alle, die notwendig sind.« Hintergrund sind Erklärungen des Verteidigungsministeriums der Ukraine, wonach die USA ihre Unterstützung »im Fall einer Eskalation« zugesichert hätten. (dpa/jW)
    Durch die Hintertür
    Ukraines Präsident Selenskij entlässt Verfassungsrichter. Vorwurf: Von »Usurpator« ernannt
    Von Reinhard Lauterbach
    Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat den amtierenden Präsidenten des Verfassungsgerichts, Alexander Tupizkij mit sofortiger Wirkung entlassen. Der entsprechende Erlass vom Sonnabend sollte am Montag in Kraft treten. Es ist der Versuch des Präsidenten, eine seit dem letzten Herbst schwelende Verfassungskrise zu lösen.
    Sachlicher Kern des Streits ist ein Konflikt um den rechtlichen Status der auf Anforderung der westlichen Geldgeber der Ukraine eingerichteten Antikorruptionsbehörden. Ein Urteil des von Tupizkij geleiteten Gerichts hatte die Kompetenzen dieser Behörden – ein Ermittlungsbüro und ein eigenes Gericht, also ein paralleler Instanzenzug zur normalen Justiz – für verfassungswidrig erklärt. Schon im Oktober hatte Selenskij versucht, den Gerichtspräsidenten per Erlass abzusetzen. Das war damals an rechtlichen Bedenken auch in seiner eigenen Partei gescheitert, die auch jetzt fortbestehen.
    Arsenij Jazenjuk, ehemaliger Regierungschef und Wunschkandidat der USA, bezeichnete Selenskijs neuen Vorstoß auf Facebook als verfassungswidrig. Denn laut ukrainischem Grundgesetz genießt das Verfassungsgericht weitreichende Autonomie; insbesondere kann die Entlassung eines Richters nur durch seine eigenen Kollegen mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden.
    Selenskij versuchte es jetzt durch die Hintertür. Er knüpfte an eine Resolution des ukrainischen Parlaments vom Februar dieses Jahres an, wonach die Amtszeit von Präsident Wiktor Janukowitsch (2010–2014) eine »Usurpation« gewesen sei – ein rein politisches Statement. Niemand hatte die Rechtmäßigkeit von Janukowitschs Wahl 2010 angezweifelt, auch OSZE und EU nicht. Letztere hatte mit dem angeblichen »Usurpator« sogar noch über die Assoziation der Ukraine verhandelt und hätte diese gern akzeptiert, wenn sie unter ihm zustande gekommen wäre. Selenskij nahm die Parlamentserklärung als genau das Dokument politischer Willkür, das sie ist, und wandte sie schöpferisch an. Wenn Janukowitsch ein Usurpator gewesen sei, dann seien auch seine Amtshandlungen illegal – darunter die Ernennung Tupizkijs zum Verfassungsrichter 2013. Um den politischen Charakter der Entlassung noch zu bekräftigen, fasste der Erlass vom Sonnabend die Vorwürfe dahin zusammen, dass Tupizkij mit seiner Amtsführung die nationale Sicherheit der Ukraine gefährde. Dass es Selenskij auf einen Showdown ankommt, zeigt der Umstand, dass Tupizkijs Amtszeit 2022 ohnehin ausläuft.
    Der ukrainische Politologe Mikola Tomenko gehörte zu den wenigen Unterstützern von Selenskijs Vorgehen gegen Tupizkij. Er nannte das Verfassungsgericht unter dessen Leitung das »Oberste Korruptionsgericht der Ukraine«, das stets »die Interessen der Oligarchie als Klasse« verteidigt habe. Statt dessen benötige das Land ein Verfassungsgericht, das sich an den »Interessen des ukrainischen Volkes« orientiere.
    Tatsächlich geht es den Korruptionsbekämpfern um nicht weniger als die »Liquidierung der Oligarchie als Klasse«, und damit genau der einheimischen Bourgeoisie, wie sie sich in den 30 Jahren seit der Unabhängigkeitserklärung herausgebildet hat, einschließlich aller nicht legalen Operationen bis hin zu echten Verbrechen, wie sie im Zuge einer ursprünglichen Akkumulation eben vorkommen. Diesem »Reset« der Klassenverhältnisse steht das der etablierten oligarchischen Ordnung verpflichtete Verfassungsgericht im Wege. Und es lässt sich einstweilen nicht weiter beeindrucken. Für den 12. April berief Tupizkij eine Plenarsitzung des Verfassungsgerichts unter seinem Vorsitz ein.

  118. Rechtes Treffen in Budapest
    »Europäische Renaissance«: Orban, Morawiecki und Salvini wollen gemeinsam Programm erarbeiten
    Von Matthias István Köhler
    Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki und der frühere italienische Innenminister Matteo Salvini wollen ihre Zusammenarbeit ausbauen. Die drei rechten Politiker kündigten am Donnerstag nach einem Treffen in Budapest an, sich gemeinsam für eine »europäische Renaissance« einzusetzen. Man habe sich geeinigt, an der »Debatte um die Zukunft Europas« gemeinsam teilzunehmen und in den kommenden Wochen diesbezüglich ein Programm auszuarbeiten, sagte Orban. Das berichtete die ungarische Nachrichtenagentur MTI.
    Ungarns Ministerpräsident hatte die beiden Politiker nach Budapest eingeladen, nachdem seine Partei Fidesz Mitte März die Europäische Volkspartei (EVP) verlassen hatte. Viele Millionen europäische Bürger würden nicht politisch vertreten, »weil die EVP sich langfristig zur Zusammenarbeit mit der europäischen Linken verbündet« habe, so Orban am Donnerstag.
    Während der vorangegangenen Gespräche sei es viel um »gemeinsame Werte« gegangen, jenseits der »atlantischen Verbundenheit« vor allem »Freiheit, Würde, Christentum, Familie und nationale Souveränität«, so Orban. Er fügte hinzu, man wende sich gegen das »Brüsseler europäische Reich, den Kommunismus, illegale Migration und Antisemitismus«.
    Morawiecki betonte im Anschluss an die Gespräche, man sei der Meinung, dass »Europa vollkommen zerfallen ist«. Die Gruppe wolle »Europa helfen, seine Wurzeln zu finden«. Es gebe auf dem Kontinent Kräfte, die »Europa stehlen wollen und ins Ungewisse bringen«. Salvini erklärte, es könne nicht sein, dass nur »linkskulturelle Vereine« die Zukunft bestimmen. Man wolle dazu eine Alternative bieten.
    Vor dem Treffen hatte es Spekulationen gegeben, dass Orban, Morawiecki und Salvini den Zusammenschluss zu einer neuen Fraktion im EU-Parlament bekanntgeben könnten. Die ungarische Regierungspartei Fidesz ist derzeit fraktionslos. Hierzu gab es keine weiteren Angaben. Neben einem gemeinsamen Programm wurde lediglich ein weiteres Treffen im Mai angekündigt, voraussichtlich in Warschau.

  119. Es gab schon einmal den Versuch, eine rechte Überpartei, also Fraktion im Brüsseler Parlament zu gründen.
    Die Initiative war getragen von Le Pen Vater, dem Österreicher Mölzer, dem Rumänen Tudor und noch ein paar anderen.
    Es ist aber gescheitert, weil die Devise „Meine Nation über alles!“ so etwas wie einen übernationalen Zusammenschluß verhindert.

  120. Testlauf zum Schwarzen Meer
    »Defender Europe 21« und alternative Methoden zur militärischen Machtausübung
    Von Jörg Kronauer
    In den Planungen westlicher Strategen für das Schwarze Meer spielen zweierlei Faktoren eine Rolle. Zum einen geht es um die unmittelbaren, eigenen Interessen. Eine stärkere Position in dem Gewässer böte die Möglichkeit, den Druck auf Russland zu verstärken. Sie erleichterte es zudem, den eigenen Einfluss im Kaukasus auszuweiten. Letzteres wäre nicht nur wegen der Energieressourcen im Kaspischen Becken, sondern vor allem auch hinsichtlich des wachsenden chinesischen Einflusses in der Region aus der Perspektive der im Westen herrschenden Kreise erstrebenswert.
    Zum anderen haben westliche Strategen stets die russischen Interessen im Schwarzen Meer im Blick. Die Schwarzmeerflotte, deren wichtigsten Stützpunkt sich Moskau mit der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation gesichert hat, ist nicht nur zur Verteidigung, sondern auch zur Einflussausdehnung von Bedeutung: Sie bildet, so hat es Ende 2018 exemplarisch das Fachblatt Marineforum formuliert, »das strategische Rückgrat der Machtprojektion Russlands über den Bosporus hinaus ins östliche Mittelmeer und den Nahen Osten«. Daraus ergibt sich automatisch: Wer Moskaus Einfluss im Nahen Osten zu schwächen sucht, kann versuchen, ihm zunächst im Schwarzen Meer weh zu tun.
    Was tun? Kürzlich hat sich Frederick »Ben« Hodges mit dieser Frage befasst. Hodges, einst Kommandeur der U. S. Army Europe (2014 bis 2017), vertreibt sich im Ruhestand die Zeit mit Vorträgen auf Konferenzen und mit dem Verfassen von Papieren für westliche Denkfabriken. In einer Studie zur strategischen Lage im Schwarzen Meer kommt er zu dem Schluss, der Westen könne dort keine Dominanz (»Sea Control«) erreichen: Die russische Schwarzmeerflotte übertreffe die Kapazitäten, die die Marinen der NATO und ihrer Verbündeten in der Region auf Dauer mobilisieren könnten. Dies übrigens nicht zuletzt, weil der Vertrag von Montreux aus dem Jahr 1936 den Zugang zum Schwarzen Meer durch die Dardanellen und den Bosporus strikt reglementiert: Kriegsschiffe aus Nichtanrainerstaaten dürfen sich maximal 21 Tage lang in dem Gewässer aufhalten. Darüber hinaus ist Überwasserkriegsschiffen mit einer Verdrängung von mehr als 10.000 Tonnen, Flugzeugträgern sowie U-Booten, die Nichtanrainerstaaten gehören, die Einfahrt prinzipiell untersagt.
    Weil der Spielraum der westlichen Mächte im Schwarzen Meer also eingeschränkt ist – zumindest in Friedenszeiten –, schlägt Hodges alternative Methoden zur militärischen Machtausdehnung vor. Zwar solle man weiterhin die eigene Marinepräsenz im Schwarzen Meer stärken und die NATO-Mitglieder Rumänien und Bulgarien, aber auch die Ukraine und Georgien bei der maritimen Aufrüstung unterstützen. Darüber hinaus solle man aber vor allem Russlands Schwarzmeerflotte »verletzlich machen« – und zwar per Stationierung von Drohnen und Mittelstreckenraketen in den NATO-Anrainerstaaten. Nicht zuletzt solle man Rumänien gezielt aufrüsten – mit Raketenabwehr, Antischiffsraketen, Kampfhubschraubern und Drohnen zu Luft und zu Wasser. Die Türkei, schreibt Hodges, sei zwar eigentlich der ideale Standort für die Stationierung von Waffen gegen Russland, man könne sich aber politisch nicht mehr auf sie verlassen. In ähnlicher Weise urteilen Strategen auch über Bulgarien. Hodges dringt schließlich noch darauf, die »militärische Mobilität« hin zum Schwarzen Meer (»über die Karpaten«) rasch zu verbessern. Einen ersten Testlauf dafür ermöglicht nun »Defender Europe 21«.

  121. Säbelrasseln in Frontnähe
    Konflikt um Donbass
    Von Reinhard Lauterbach
    Die Lage im Donbass hat sich in den vergangenen Wochen ohne Zweifel verschärft. Ukrainische Militärs drohen, sie warteten nur auf den Befehl zur Offensive auf die seit 2014 von Kiew abgespaltenen Volksrepubliken. Der Staatschef der VR Donezk, Denis Puschilin, spricht von einem unmittelbar bevorstehenden ukrainischen Angriff. Dazu verweist die Ukraine auf russische Truppenbewegungen entlang ihrer östlichen und – das ist neu – nördlichen Grenze, das heißt: in Belarus. Und der Kremlsprecher bestreitet Truppenbewegungen gar nicht, sondern sagt, Russland könne seine Truppen auf eigenem Gebiet verlegen, wie es wolle. Geht der Krieg um den Donbass bald in die nächste Runde?
    Nicht unbedingt. Für den innerukrainischen Gebrauch stopft die militante Rhetorik der Generalität der nationalistischen Opposition den Mund. Die Poroschenko-Partei weiß sich nicht anders zu helfen, als ihr nahestehende »Veteranen« zu mobilisieren und an die Front zu schicken – mit dem Bürgerkrieg zur Revanche der Wahlniederlage von 2019 als zweiter Option. Aber wichtiger ist die Haltung der USA. Genehmigt Joseph Biden Kiew seinen kleinen Blitzkrieg gegen den Donbass? Die Mitteilung über sein erstes Direktgespräch mit Wolodimir Selenskij am vergangenen Freitag enthielt die üblichen Bekenntnisse zur territorialen Integrität der Ukrai­ne – aber auch Forderungen nach »Reformen«, die Selenskij wesentlich unangenehmer in den Ohren klingen, weil sie ihm innenpolitisch Feinde machen. Säbelrasseln in Frontnähe ist aus seiner Sicht eine Methode, die angebliche Bedrohung der Ukraine in den Vordergrund zu schieben. Um Zeit zu gewinnen. Denn eines ist auch klar: Mit seiner klaren Positionierung für die Opposition in Belarus hat Selenskij – ob aus eigenem Antrieb oder mit Nachhilfe aus Washington – die Basis für die wohlwollende Neutralität zerstört, die der belarussische Präsident 2014/15 gegenüber der Ukraine hat walten lassen.
    Und was will Russland? Es ist an einer Eskalation nicht interessiert, nicht nur, bis die Pipeline »Nord Stream 2« fertiggebaut ist, wie manche im Westen glauben. Aktuell scheint es die russische Strategie zu sein, nach außen Ruhe zu bewahren, aber Kiew den Preis für den Versuch einer gewaltsamen »Reintegration« des Donbass zu zeigen. Denn oberstes Ziel ist nach wie vor, die Ukraine zu einer politischen Einigung mit den Volksrepubliken zu zwingen. Auch wenn eine russische Intervention wahrscheinlich militärisch siegreich wäre – sie käme einem Pyrrhussieg gleich, dessen politische Nachteile den Nutzen erheblich überstiegen. Moskau weiß das. Kiew kalkuliert vermutlich, Russland genau dieses Abwarten unmöglich zu machen und es vor die Alternative zu stellen: Gesichtsverlust oder neue Sanktionen. Diese Überlegung kann aber auch heftig ins Auge gehen: wenn Russland einschätzt, dass die Beziehungen zum Westen ohnehin schon so schlecht seien, dass es nicht lohne, darauf weiter Rücksicht zu nehmen.
    Moskau schützt den Rubel
    Regierung wappnet sich gegen Sanktionen auf Staatsanleihenkäufe. Leitzinserhöhung lockt Kapital an. Währung zur Schuldentilgung künftig wählbar
    Von Reinhard Lauterbach
    Die Entscheidung der russischen Zentralbank (ZBR), den Leitzins um 25 Basispunkte auf 4,5 Prozent anzuheben, fiel schon am 19. März. Es ist die erste Leitzinserhöhung seit 2018, und sie markiert eine Trendwende, nachdem die Notenbank im vergangenen Sommer unter dem Eindruck der Pandemiekrise den Leitzins auf ein Rekordtief von 4,25 Prozent abgesenkt hatte. In ihrem Statement zu der Entscheidung schloss die Zentralbank weitere Zinserhöhungen im Laufe des Jahres nicht aus; ihr Ziel einer »neutralen Geldpolitik« impliziert Zinsniveaus bis knapp unter sechs Prozent – es ist also noch Luft nach oben.
    Offiziell begründete die ZBR die Erhöhung damit, dass die Erholung der russischen Wirtschaft schneller und nachhaltiger eingesetzt habe, als zuvor erwartet. Die privaten Verbraucher konsumierten intensiv und – wie es an anderer Stelle der Erklärung heißt – »antizipativ«. Das heißt im Klartext: um vor einer erwarteten Verschärfung der Inflation noch Anschaffungen zu machen. Im Einklang mit diesem Trend stabilisiere sich die Lage im Einzelhandel, und in einzelnen Sektoren der russischen Volkswirtschaft übersteige die Nachfrage die Produktionskapazität. Gemeint ist wohl vor allem die Bauwirtschaft, die auf der Arbeitskraft von Migranten aus Zentralasien beruht, die aber im Moment wegen der Pandemie nicht einreisen dürfen. Vor einer Immobilienblase, die von staatlichen Subventionen der Hypothekenzinsen aufgebläht wird, wird in Russland schon länger gewarnt.
    Die Entscheidung der Zentralbank stieß auf eine Welle der Kritik. Die eine Richtung ist relativ nachvollziehbar und kommt von Kapitalfraktionen, die auf Kredite angewiesen sind, um Investitionen zu finanzieren. Ein Vertreter dieser Fraktion ist der Rohstoffmilliardär Oleg Deripaska, der die Erhöhung einen »Schlag gegen Russlands Realwirtschaft« nannte und prophezeite, dass die »Technokratenregierung« von Ministerpräsident Michail Mischustin den Schritt nicht überleben werde. Kritik an der ZBR kam auch aus der Regierung selbst. Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow sagte, der Preisanstieg, mit dem die Notenbank argumentiere, rühre nicht aus zuviel freiem Geld in der Volkswirtschaft her, wie es die Zentralbank erklärt hatte. Vielmehr seien externe Einflüsse verantwortlich, insbesondere die Verteuerung agrarischer Rohstoffe, die auf die Lebensmittelpreise durchschlage. Um dem zu begegnen, hat die russische Regierung Höchstpreise und Exportquoten für Zucker und Sonnenblumenöl festgelegt und diese Regelung gerade bis zum 1. Oktober verlängert.
    Worüber in der ganzen Diskussion überhaupt nicht geredet wird, obwohl er mit Sicherheit nicht das unwichtigste Argument bildet, ist aber ein außenwirtschaftlicher Aspekt der Zinsentscheidung. Mit steigenden Zinsen wird der Rubel als internationale Anlagewährung interessanter. Und das ist von Bedeutung vor dem Hintergrund von Überlegungen in Washington und London, Sanktionen gegen russische Staatsschulden zu verhängen. Westlichen Banken soll verboten werden, russische Staatsanleihen zu kaufen. Um sich gegen solche Drohungen zu wappnen, hat Moskau erstens seine Auslandsverschuldung stark reduziert – die Gesamtverschuldung von Staat und Privatunternehmen in ausländischer Währung liegt seit 2019 niedriger als die Devisenreserven des Landes. Und zweitens hat die russische Regierung beim Verkauf von internationalen Anleihen eine Klausel eingebaut, die dem Schuldner die Rückzahlung und den Schuldendienst auch in anderen Währungen als derjenigen erlaubt, in der die Anleihe aufgenommen wurde. Voraussetzung sei, dass »Ereignisse außerhalb der Verantwortung Russlands« dies erforderlich machten. Ursprünglich war von einem Dreierkorb aus US-Dollar, Euro und Schweizer Franken die Rede. Seit 2020 behält sich Russland auch eine Rückzahlung in eigener Währung vor. Solange der Rubel eine abwertungsgefährdete Währung ist, könnte das – aus Moskauer Sicht – Investoren vom Kauf russischer Anleihen abschrecken: Man gibt Dollar und bekommt Rubel zurück. Aber je höher die Verzinsung in Rubel ist, desto mehr verliert diese Option ihren finanziellen Schrecken.
    Insofern ist die Philippika eines auf den Weltmarkt orientierten Oligarchen wie Deripaska gegen die Zinserhöhung in der Sache so richtig, wie sie in der Praxis der Geldpolitik keine Beachtung finden dürfte. Natürlich leidet unter einer Zinserhöhung die Realwirtschaft. Das ist der Beitrag, den ihr die Zentralbank abverlangt, damit das Land in dem Wirtschaftskrieg durchhalten kann, den es von westlicher Seite aufgezwungen bekommt. Dass die Zentralbank die politische Kritik an ihrer Entscheidung gegenüber der Investorenszene zum Ausweis ihrer »Unabhängigkeit« erklären kann, ist ein angenehmer Nebeneffekt.

  122. Anläßlich des Säbelrasselns der Ukraine Richtung Donbass sei wieder einmal an die Position Rußlands erinnert:
    Rußland fordert eine föderale Verfassung für die Ukraine, wo Regionen wie der Donbass eine Autonomie ähnlich derjenigen erhalten sollen, wie die Krim sie vor den Maidan-Unruhen hatte.
    Das würde unter anderem auch bedeuten, daß die solchermaßen ausgestatteten Provinzen auch darüber entscheiden dürften, daß sie keine ausländischen Stützpunkte auf ihrem Territorium dulden wollen.
    Daran scheitert der sogenannte „Minsk-Prozess“ seit Jahren.
    —-
    Der Lockruf an das westliche Finanzkapital mit 4,5% Zinsen ist erstens eine Provokation für die westlichen Staaten, weil damit wird verkündet: Bei uns kriegt euer Finanzkapital diejenigen Renditen, die ihr selber gar nicht zusammenbringt!
    Zweitens ist dieses Zinsniveau eine Erinnerung daran, daß in Rußland inzwischen normalere Verhältnisse im Finanzsektor herrschen als in den Heimatländern des Kapitals.
    Drittens ist es ein Hinweis, daß nicht nur die Sanktionen gegen Rußland wenig von dem bewirken, was sich deren Akteuere erwarten. Sondern daß Rußland sogar in die Offensive gehen kann, und sagen: Investiert doch bei uns, liebe westliche Finanzkapitalisten!

  123. Krieg und Nervenkrieg
    Russland und Ukraine beschuldigen sich gegenseitig, neue militärische Konfrontation um Donbass vorzubereiten
    Von Reinhard Lauterbach
    Die westlichen Alliierten der Ukraine haben dieser in der Auseinandersetzung um den Donbass zumindest politisch den Rücken gestärkt. In einer Reihe von Telefongesprächen zwischen Präsident Wolodimir Selenskij und den Regierungen in Washington, Paris, London und Berlin äußerten deren Chefs mehr oder minder gleichlautend ihre »Besorgnis« über russische Truppenbewegungen nahe der Grenze zur Ukraine und auf der Krim und forderten von Moskau »Deeskalationsschritte«. Auch ein NATO-Sprecher stimmte in den Chor ein.
    Kein Interesse zu verhandeln
    Die Frage ist, wer im Donbass-Konflikt eskaliert. Die Alarmrhetorik kontrastiert mit Erkenntnissen der Beobachtungsmission der OSZE, wonach es auch aktuell immer noch weniger Verstöße gegen den Waffenstillstand gebe als vor einem Jahr. Andererseits machte die Ukraine ihr Desinteresse am Fortgang der Minsker Verhandlungen deutlich. Der für die »Reintegration der besetzten Gebiete« zuständige ukrainische Vizeregierungschefs Alexej Resnikow erklärte am Montag, die ukrainische Seite werde die Gespräche der Kontaktgruppe zur Umsetzung des Minsker Abkommens künftig boykottieren. Das habe damit zu tun, dass Belarus »von Russland abhängig« sei und eine »feindliche Haltung gegenüber der Ukraine« eingenommen habe. Wenn die Gespräche fortgesetzt werden sollten, müsse ein anderes Land als Tagungsort gefunden werden. Zuvor hatte der ukrainische Delegationsleiter Leonid Krawtschuk bereits die Forderung erhoben, die Vertreterin der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk, Maja Pirogowa, von den Gesprächen auszuschließen. Wenn sie erscheine, werde die Ukraine die Verhandlungen sofort verlassen.
    Derselbe Krawtschuk kam am Wochenende im russischen Infosender Rossija 24 zu Wort und versicherte dort, die Ukraine werde den Donbass »niemals militärisch angreifen«. Auf den Vorhalt ukrainischer Truppenverstärkungen in Frontnähe erklärte Krawtschuk, Kiew habe das Recht, auf seinem Gebiet sein Militär umzugruppieren, wie es ihm beliebe. Er wiederholte damit wörtlich das Argument, das zuvor der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, angesichts der westlichen Vorwürfe wegen russischer Truppenbewegungen gebraucht hatte. Am Rande sei angemerkt, dass mit Krawtschuk im russischen Fernsehen der politische Gegner zu Wort kam, während die ukrainische Staatsanwaltschaft ein Landesverratsverfahren gegen den ukrainischen Oppositionspolitiker Wiktor Medwedtschuk einleitete, der sich in einem russischen Sender in eigener Sache zur Schließung von drei ihm gehörenden ukrainischen Fernsehsendern geäußert hatte.
    Am Montag wurde im Donbass das fünfjährige Kind beerdigt, das am Sonnabend bei einer Explosion in dem zur VR Donezk gehörenden Dorf Alexandrowka (Olexandriwka auf ukrainisch) getötet worden war. Während die örtlichen Behörden im Einklang mit Zeugenaussagen erklärten, der Junge sei durch einen Sprengsatz umgekommen, den eine ukrainische Drohne abgeworfen habe, kamen aus Kiew gegenteilige Darstellungen: Erst hieß es, der Unglücksort liege mit 40 Kilometern so weit hinter der Front, dass keine Drohne so weit fliegen könne. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Entfernung nur 15 Kilometer beträgt, kam die Version, der Junge sei auf eine alte Mine getreten. Als herauskam, dass der Tod im Hof des Hauses seiner Großeltern eingetreten war, verbreitete die Ukraine die Darstellung, er habe mit einem Sprengsatz gespielt, den sein Großvater nach Hause gebracht habe.
    Emotionaler Ton
    Der Tod des Kindes verstärkte auch in Russland den emotionalen Ton der Debatte. Abgeordnete forderten, die Ukraine aus dem Europarat auszuschließen, und die Chefin der Mediengruppe Russia Today, Margarita Simonjan, forderte die Regierung in einem Kommentar auf, die beiden »Volksrepubliken« jetzt in die Russische Föderation aufzunehmen. Andere Kommentatoren, etwa das Vorstandsmitglied der sozialdemokratischen Partei Gerechtes Russland, Alexander Kasakow, erklärten die Anerkennung und eventuelle Aufnahme der Republiken für zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht: Es reiche, wenn Russland dies im Falle eines militärischen Angriffs der Ukraine auf die Republiken schnell vollziehe. Denn dann liege die politische Verantwortung klar auf der Kiewer Seite.
    Auf ukrainischer Seite nahm das Drängen zu, das Land in die NATO aufzunehmen. Schon am Wochenende hatte Verteidigungsminister Andrij Taran die Ukraine zum »sicheren Vorposten der NATO in Osteuropa« erklärt, die den ganzen europäischen Kontinent vor der »russischen Aggression« schütze. Am Dienstag legte der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei Diener des Volkes, David Arachamija, nach und kritisierte die NATO für »mangelnden politischen Mut«, die Ukraine kurzfristig aufzunehmen. Dem ukrainischen Generalmajor Wadim Sabrodskij blieb es vorbehalten, die Öffentlichkeit in einem TV-Interview vor der Illusion zu warnen, die USA würden auf ukrainischer Seite in den Donbass-Krieg eingreifen.
    Hintergrund: Verbotene Begriffe
    Der Vorsitzende des ukrainischen Sicherheitsrates, Alexej Danilow, hat ein neues Unwort entdeckt: Es lautet »Donbass«. Der Begriff sei Teil des »russischen imperialen Narrativs«, so Danilow am Wochenende, denn er unterstelle, dass die schwerindustriell geprägte Region irgendwelche – im übrigen von der Sozialwissenschaft breit dokumentierte – soziokulturellen Besonderheiten aufweise, die eine gewisse Autonomie rechtfertigten. Richtig sei dagegen, den Landstrich als »die ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk« zu bezeichnen, so Danilow.
    Unterdessen erweist sich, dass die Behauptung, es gebe eine eigene ukrainische russische Sprache, nicht nur eine Einzelmeinung von Innenminister Arsen Awakow ist, der sie vor einigen Tagen als erster in der Angelegenheit öffentlich geäußert hat (vgl. jW vom 3. April). Jetzt brachte die Sprecherin von Staatschef Wolodimir Selenskij, Julia Mendel, wortgleich das selbe Argument. Man könnte das als Sonntagsredenphrase abtun, aber das greift wohl zu kurz. Sicher: Mit der These, auch das Russische »gehöre zur Ukraine«, sollen wohl bestimmte Exzesse der Ukrainisierungspolitik der vergangenen Monate gestoppt werden. So sind schon Verkäuferinnen im Einzelhandel entlassen und Kellnerinnen mit dem Messer bedroht worden, weil sie Kunden auf russisch bedient haben.
    Vor allem ist aber der Zeitpunkt interessant, zu dem zumindest Teile des ukrainischen Staatsapparats diese Lockerungen der Sprachpolitik propagieren. Denn das Problem des Umgangs mit einer überwiegend russischsprachigen Bevölkerung kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn man plötzlich eine größere Anzahl davon unter seine praktische Kontrolle bekommt. In diesem Sinne kann eine Maßnahme, die zunächst einmal als Erleichterung auf der ideologisch-kulturellen Seite erscheint, im Kontext auch Begleitmusik zur Vorbereitung auf die Rückeroberung des Donbass darstellen. (rl)

  124. Zeigen, was man kann
    Russland und Ukraine verstärken Manöver in Grenznähe
    Von Reinhard Lauterbach
    Russland und die Ukraine haben in den vergangenen Wochen ihre Militärmanöver in Grenznähe intensiviert. Truppenbewegungen finden auf russischer Seite offenkundig statt, sie werden auch nicht bestritten. Im Internet zu findende Filme dazu sind aber weder konkreten Orten zuzuordnen, noch müssen sie vor kurzem entstanden sein. Ein Clip zum Beispiel zeigte zu patriotischen Liedern (»Vaterland, wenn du rufst, sind wir bereit«) Marschkolonnen von Militär-Lkw mit angehängten Geschützen, allerdings inmitten einer Landschaft mit Bäumen voller Raureif. Die Bilder dürften also aus dem Winter stammen. Umgekehrt veröffentlichte das ukrainische Armeekommando mit dröhnender Metalmusik unterlegte Bilder von Panzermanövern, die allerdings inmitten dichter Wälder und damit eher nicht in Frontnähe entstanden sind. Denn dort gibt es kaum Wald.
    Dienen diese Bilder der Stimmungsmache für die breitere Öffentlichkeit, so sind die eigentlichen Manöver auf beiden Seiten offenkundig auf das Fachpublikum der gegnerischen Stabsoffiziere kalkuliert. So zählte die zur Mediengruppe des US-Propagandasenders Radio Liberty gehörende Seite Krim Realii vor etwa zwei Wochen auf, was das russische Militär auf der Krim trainiere: Luftlandeoperationen auf Flugplätzen und Landemanöver von See, außerdem habe die Schwarzmeerflotte kürzlich erstmals ein Übungsschießen mit Marschflugkörpern des Typs »Kalibr« von zwei U-Booten aus im Schwarzen Meer durchgeführt. Taktische Besonderheit: Die Feuerleitung sei über einen neuen Typ von Hubschrauber gelaufen, was die Zielgenauigkeit erheblich erhöht habe. So jedenfalls ukrainische Militärs, die das Portal zitierte. Unbestätigt blieben dagegen ukrainische Meldungen, wonach Russland Landungsschiffe der Nordmeerflotte ins Schwarze Meer verlegt habe. Sie sind auch wenig plausibel. Denn die Schiffe müssten ja nicht nur die von der NATO kontrollierten Meerengen von Gibraltar, Dardanellen und Bosporus passieren, auch wäre zweifelhaft, ob sie überhaupt benötigt würden. Schließlich besitzt die Schwarzmeerflotte eine eigene Landungsdivision der Marineinfanterie, die auch entsprechende Schiffe zur Verfügung hat.
    Das ganze ist auf russischer Seite sicherlich eine doppelte Demonstration: erstens die Ukraine vor jedem Versuch zu warnen, die Krim zurückerobern zu wollen, und zweitens ein Szenario vorzuführen, was passieren könnte, wenn Kiew den Befehl zum Angriff auf die »Volksrepubliken« des Donbass geben sollte. Denn noch ist Russland in der Region zu Lande und zu Wasser der Ukraine weit überlegen, und eine eventuelle Landeoperation im Gebiet Odessa wäre militärisch vermutlich durchaus zu realisieren.
    Dagegen setzt die Ukraine ihre Manöver im Süden des Landes an der Grenze zur Krim. Geprobt werden sowohl das Salvenschießen mit Raketenwerfern als auch die Abwehr von »Diversions- und Terrorakten«, also genau jenen Manövern im Hinterland des Gegners, auf die sich das russische Militär vorbereitet hat. Ebenso demonstrativ hat die Ukraine am Montag Reservisten der Territorialverteidigung in den südlichen Bezirken entlang der Schwarzmeerküste mobilisiert: dort, wo ein russischer Angriff zu erwarten wäre. Gegen die russische See- und Luftherrschaft im Schwarzen Meer hat die Ukraine unterdessen angeblich ein Mittel gefunden: die in ihren Rüstungsbetrieben entwickelten Land-See-Marschflugkörper des Typs »Neptun«. Nach Militärangaben aus Kiew haben sie eine Reichweite von 280 Kilometern. Einstweilen werden die Raketen nur zu Übungszwecken eingesetzt. Über den Zeitpunkt ihrer Einführung bei der Truppe wurden keine Angaben gemacht.
    Russland und die Ukraine haben in den vergangenen Wochen ihre Militärmanöver in Grenznähe intensiviert. Truppenbewegungen finden auf russischer Seite offenkundig statt, sie werden auch nicht bestritten. Im Internet zu findende Filme dazu sind aber weder konkreten Orten zuzuordnen, noch müssen sie vor kurzem entstanden sein. Ein Clip zum Beispiel zeigte zu patriotischen Liedern (»Vaterland, wenn du rufst, sind wir bereit«) Marschkolonnen von Militär-Lkw mit angehängten Geschützen, allerdings inmitten einer Landschaft mit Bäumen voller Raureif. Die Bilder dürften also aus dem Winter stammen. Umgekehrt veröffentlichte das ukrainische Armeekommando mit dröhnender Metalmusik unterlegte Bilder von Panzermanövern, die allerdings inmitten dichter Wälder und damit eher nicht in Frontnähe entstanden sind. Denn dort gibt es kaum Wald.
    Dienen diese Bilder der Stimmungsmache für die breitere Öffentlichkeit, so sind die eigentlichen Manöver auf beiden Seiten offenkundig auf das Fachpublikum der gegnerischen Stabsoffiziere kalkuliert. So zählte die zur Mediengruppe des US-Propagandasenders Radio Liberty gehörende Seite Krim Realii vor etwa zwei Wochen auf, was das russische Militär auf der Krim trainiere: Luftlandeoperationen auf Flugplätzen und Landemanöver von See, außerdem habe die Schwarzmeerflotte kürzlich erstmals ein Übungsschießen mit Marschflugkörpern des Typs »Kalibr« von zwei U-Booten aus im Schwarzen Meer durchgeführt. Taktische Besonderheit: Die Feuerleitung sei über einen neuen Typ von Hubschrauber gelaufen, was die Zielgenauigkeit erheblich erhöht habe. So jedenfalls ukrainische Militärs, die das Portal zitierte. Unbestätigt blieben dagegen ukrainische Meldungen, wonach Russland Landungsschiffe der Nordmeerflotte ins Schwarze Meer verlegt habe. Sie sind auch wenig plausibel. Denn die Schiffe müssten ja nicht nur die von der NATO kontrollierten Meerengen von Gibraltar, Dardanellen und Bosporus passieren, auch wäre zweifelhaft, ob sie überhaupt benötigt würden. Schließlich besitzt die Schwarzmeerflotte eine eigene Landungsdivision der Marineinfanterie, die auch entsprechende Schiffe zur Verfügung hat.
    Das ganze ist auf russischer Seite sicherlich eine doppelte Demonstration: erstens die Ukraine vor jedem Versuch zu warnen, die Krim zurückerobern zu wollen, und zweitens ein Szenario vorzuführen, was passieren könnte, wenn Kiew den Befehl zum Angriff auf die »Volksrepubliken« des Donbass geben sollte. Denn noch ist Russland in der Region zu Lande und zu Wasser der Ukraine weit überlegen, und eine eventuelle Landeoperation im Gebiet Odessa wäre militärisch vermutlich durchaus zu realisieren.
    Dagegen setzt die Ukraine ihre Manöver im Süden des Landes an der Grenze zur Krim. Geprobt werden sowohl das Salvenschießen mit Raketenwerfern als auch die Abwehr von »Diversions- und Terrorakten«, also genau jenen Manövern im Hinterland des Gegners, auf die sich das russische Militär vorbereitet hat. Ebenso demonstrativ hat die Ukraine am Montag Reservisten der Territorialverteidigung in den südlichen Bezirken entlang der Schwarzmeerküste mobilisiert: dort, wo ein russischer Angriff zu erwarten wäre. Gegen die russische See- und Luftherrschaft im Schwarzen Meer hat die Ukraine unterdessen angeblich ein Mittel gefunden: die in ihren Rüstungsbetrieben entwickelten Land-See-Marschflugkörper des Typs »Neptun«. Nach Militärangaben aus Kiew haben sie eine Reichweite von 280 Kilometern. Einstweilen werden die Raketen nur zu Übungszwecken eingesetzt. Über den Zeitpunkt ihrer Einführung bei der Truppe wurden keine Angaben gemacht.
    Georgisches Szenario
    Ukraine und NATO-Mitgliedschaft
    Von Reinhard Lauterbach
    Geschichte wiederholt sich nie genau, aber in groben Zügen manchmal schon. Die Situation rund um die Ukraine erinnert in fataler Weise an die Spannungen, die Georgiens damaliger prowestlicher Präsident Micheil Saakaschwili 2008 um Südossetien und Abchasien anzettelte. Er war sich aufgrund vollmundiger Worte US-amerikanischer Unterstützung sicher, dass er ohne größeres Risiko sein nationales Süppchen würde kochen können: Regionen, die sich nach dem Ende der UdSSR von Georgien abgespalten hatten, heim zu holen. Die Realität sah bekanntlich anders aus: Als georgischer Beschuss russische Friedenstruppen traf, nahm Moskau das zum Anlass, militärisch zu intervenieren. ­Heute ist Georgien auch nicht näher an der NATO-Mitgliedschaft, als es damals war. Manche im Westen sagen: aber jedenfalls näher, als es die Ukraine gegenwärtig ist.
    Denn das leidenschaftliche Drängen des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij auf eine NATO-Mitgliedschaft des Landes als »einzigen Weg, den Donbass-Konflikt zu lösen«, hat große Chancen, nach hinten loszugehen. Nicht nur, weil es versucht, der NATO die Initiative aus der Hand zu nehmen und die Regel umzukehren, wonach sich das Kriegsbündnis seine Mitglieder aussucht und nicht jeder Interessent seinen Fuß in die Tür klemmen und glauben kann, damit wäre er auch schon drinnen. Nach wie vor gilt die Regel, dass Kandidaten für die NATO-Mitgliedschaft keine offenen Grenzkonflikte haben dürfen. Auf diese Weise will sich die westliche Militärallianz dagegen absichern, zur Geisel partikularer, aber strategisch unbedeutender, Territorialkonflikte gemacht zu werden. Der Donbass ist strategisch auch nicht wichtiger als Sarajevo 1914. Insofern täuscht sich Selenskij über den wahren Charakter der Erklärungen von Joseph Biden, Angela Merkel, Jens Stoltenberg und all den anderen NATO-Größen über ihre »unerschütterliche Unterstützung für die territoriale Integrität der Ukraine«. Die eigentliche Aussage lautet: Solange ihr eure Grenzkonflikte nicht löst, kommt eine NATO-Mitgliedschaft nicht in Frage.
    Trösten kann einen das allerdings nicht wirklich. Denn schon in der Frühphase des Konflikts haben ukrainische Strategen ein Parallelszenario entwickelt: Wenn die NATO aufgrund ihrer bestehenden Regeln und des Einstimmigkeitsprinzips zu »feige« (so jetzt Selenskijs Fraktionschef in der Rada, David Arachamija) sei, die Ukraine aufzunehmen, dann könne Kiew ja auch ein bilaterales Bündnis mit den USA eingehen. Etwa so wie Israel. Hintergedanke: Das bekomme von Washington ja auch seine diversen nationalen Kriege genehmigt. Damit überschätzt die Ukraine ihre Position erheblich. Vor allem in einem: Stellvertreterkriege sehen so aus, dass die Ukrainer fallen und die USA den Nutzen davon haben. Nicht umgekehrt.
    Polens letzter Versuch
    Maritime Kraftmeierei als Mittel gegen Nord Stream 2. Warschau bestätigt »Patrouillen« im Seegebiet
    Von Reinhard Lauterbach
    Die Bauarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 2 sind seit einigen Wochen Störversuchen von polnischer Seite ausgesetzt. Dies beklagte in den letzten Märztagen die für den Bau zuständige Tochtergesellschaft des russischen Gasprom-Konzerns. Russische Agenturen melden, dass sich bereits seit Ende Februar Fälle mehrten, in denen polnische Kriegsschiffe und Fischerboote in der Sicherheitszone rund um die Position des Verlegeschiffs »Fortuna« auftauchten. Genannt wurde insbesondere ein Schiff mit der taktischen Nummer 823, das in internationalen Schiffahrtsregistern als der in Swinoujscie stationierte Minenleger »Krakow« verzeichnet sei. Ende März habe sich sogar ein nicht identifiziertes U-Boot unweit der »Fortuna« gezeigt. Dies sei gefährlich, weil es die Ankerkabel des Verlegeschiffs beschädigen und damit den Fortgang der Arbeiten erheblich erschweren könne. Denn von der genauen Positionierung des Schiffs sei abhängig, dass weitere im Wasser versenkte Röhren exakt auf das vorhandene Leitungsende träfen. Gasprom veröffentlichte auch Videos, die zeigen, wie ein polnisches Fischerboot mit einer Kennung des Heimathafens Swinoujscie versuchte, bei Nacht ein Begleitschiff der »Fortuna« zu rammen. Außerdem überflögen für die U-Boot-Bekämpfung bestimmte polnische Militärflugzeuge die Baustelle demonstrativ in geringer Höhe.
    Die polnische Armeeführung bestätigte die Vorfälle im Kern. Eine Erklärung des Oberkommandos auf Twitter bestritt einzig, dass sich dahinter die von russischer Seite behauptete Absicht zur Provokation verberge. Vielmehr nähmen die polnischen Marineschiffe ihre »auftragsgemäßen Aufgaben« zur Überwachung des Seegebiets wahr. Allerdings gehört dieses zur dänischen Wirtschaftszone, so dass eine polnische Zuständigkeit zumindest nicht auf der Hand liegt.
    Es könnte auch sein, dass Polen nicht das einzige Land ist, das sich an diesen Störaktionen beteiligt. Das geht aus der Meldung über das demonstrativ aufgetauchte U-Boot hervor. Polens Marine hat nämlich keine fahrbereiten U-Boote. Welches Land ansonsten in Frage käme, kann nur spekulativ erörtert werden. Allerdings fällt in diesem Zusammenhang eine Erklärung des französischen Außenministeriums gegenüber der russischen Agentur RIA Nowosti von Anfang dieses Monats auf. Danach sei »wohlbekannt«, dass Frankreich und die BRD in Sachen Nord Stram 2 »Meinungsverschiedenheiten« aufwiesen. Das Ministerium bestritt freilich gleichzeitig, dass sich französische Marineschiffe in der Ostsee aufhielten.
    Polen versucht auch auf anderen Wegen, den Fortgang der Bauarbeiten zu behindern. So entzogen die Schiffahrtsbehörden in Gdynia zwei mit dem Heimathafen Gdansk angemeldeten Arbeitsschiffen der deutschen Reederei Krug die Sicherheitszertifikate und das Recht, unter polnischer Flagge in See zu stechen. Als Grund nannte das Wasser- und Schiffahrtsamt in Gdynia, dass die beiden Schiffe in den vergangenen Wochen Material an die Nord-Stream-2-Baustelle transportiert hätten. Polen könne aber nicht zulassen, dass Schiffe unter seiner Flagge gegen die wirtschaftlichen und politischen Interessen des Landes verstießen. Der Entzug der Sicherheitszertifikate und des Flaggenstatus bedeutet faktisch ein Auslaufverbot und damit eine Beschlagnahme der beiden Schiffe.
    Parallel dazu machte die polnische Regierung noch ein weiteres Feld der Auseinandersetzung um Nord Stream 2 auf. Der Staatssekretär beim polnischen Geheimdienstkoordinator Mariusz Kaminski, Stanislaw Zaryn, veröffentlichte auf dem Fachportal Defense News die Behauptung, Nord Stream 2 sei auch ein potentielles Spionageinstrument. In der Leitung könnten Abhöreinrichtungen angebracht werden, um maritime Aktivitäten der NATO in der Ostsee auszuspähen. Außerdem könne die Leitung von Russland »als Vorwand genutzt werden, seine Flotte in der Ostsee zu stationieren«, schrieb Zaryn, als wäre in Warschau nicht bekannt, dass es eine russische Ostseeflotte längst gibt und Russland ein Anrainerstaat dieses Meeres ist. So skurril diese Argumente klingen mögen: Zaryn räumte ein, Polen »suche Methoden«, die Fertigstellung der Pipeline doch noch zu verhindern.
    Einstweilen hat die russische Seite die Bauarbeiten wieder unterbrochen – offiziell wegen stürmischen Wetters und bis mindestens Ende dieser Woche. Nach Unterlagen, die Gasprom im Februar den dänischen Behörden übermittelt hat, sollten die Arbeiten in dänischen Gewässern bis Ende Mai abgeschlossen sein, im anschließenden deutschen Sektor bis Ende Juni. Wenn alles gutgeht. Ein Kommentator der Deutschen Welle wies dieser Tage darauf hin, dass Russland langsam die Zeit davonlaufe: eine Regierungsbeteiligung der Grünen in Deutschland sei nach der Bundestagswahl »so gut wie ausgemacht«, schrieb Andrej Gurkow von der russischen Redaktion des Staatssenders. Dann sei ein Baustopp mehr als wahrscheinlich, wenn nicht vorher vollendete Tatsachen herrschten.

  125. Zur Sprachfrage in der Ukraine die Erinnerung, daß vor 10 Jahren bei einer Konferenz in Ungarn erwähnt wurde,
    „nach einer Untersuchung des Internationalen Soziologischen Instituts in Kiew sprechen zwischen 11 und 18 Prozent der Bevölkerung der Ukraine, also zwischen 5 und 8 Millionen, das sogenannte Surschik, eine Mischung aus Russisch und Ukrainisch. Diese Untersuchung ergab auch, daß nur ca. 20 Prozent der Befragten angab, eine der beiden Sprachen korrekt zu sprechen. Der Studie zufolge wuchs in der Ukraine eine Generation auf, die in der Schule nicht mehr in russischer, aber auch noch nicht in ukrainischer Sprache unterrichtet wurde.“
    Ursprünglich bezeichnet dieser Ausdruck ein Mischbrot. Surschik wird außer in der Ukraine auch noch in Moldawien und Teilen Südrußlands gesprochen.
    Der erste Schriftsteller in ukrainischer Sprache, der Aufklärer Iwan Kotljarewski, erwähnt das Surschik in einem 1838 veröffentlichten Theaterstück. In der Literatur wird es verwendet, wenn ländliche Tölpel dargestellt werden sollen.
    Wissenschaftliche Untersuchungen des Surschik fanden erst in den 1990-er Jahren statt.

  126. Was die Grenzkonflikte betrifft: Sag niemals nie!
    Auch Slowenien und Kroatien, die beide NATO-Mitglieder sind, haben bis heute diverse Grenzstreitigkeiten:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Bucht_von_Piran
    Kroatiens Grenze zu Serbien ist nicht ganz geklärt:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Konflikte_der_Nachfolgestaaten_Jugoslawiens#Die_Grenze_zwischen_Kroatien_und_Serbien
    ebenso Grenzfragen zu Montenegro und Bosnien, siehe Peljesac-Brücke und Prevlaka-Halbinsel.
    In Jugoslawien wurde von der NATO zugunsten von Separatisten eingegriffen, von so etwas träumen die ukrainischen Hardliner eben, und sie werden vermutlich von den USA darin bestärkt.

  127. Hoher Kreml-Beamter sieht “Anfang vom Ende der Ukraine”
    Massiver Truppenaufmarsch beiderseits der ukrainisch-russischen Grenze.
    Streit um Kriegspolitik
    Uneinigkeit in EU über Militär- und Rüstungsprojekte. Eiszeit zwischen Paris und Berlin
    Von Jörg Kronauer
    Er stottert vernehmlich, der vielzitierte deutsch-französische Motor der EU. Ob auf dem Feld der Ökonomie, wo Paris seine EU-Ratspräsidentschaft ab dem 1. Januar 2022 nutzen will, um endlich den Stabilitätspakt gegen den Widerstand starker Kräfte in Deutschland zu »reformieren«. Ob im Kampf gegen die Pandemie, in dem die Bundesrepublik nun schon zum zweiten Mal binnen eines Jahres systematische Kontrollen an der Grenze zu Frankreich eingeführt und damit heftigen Unmut im Nachbarland ausgelöst hat: Kaum ein Politikbereich, in dem es zur Zeit nicht zu Spannungen zwischen den zwei mächtigsten Staaten der EU käme. Nicht zuletzt ist das dort der Fall, wo beide Länder tatsächlich an einem Strang ziehen wollen, um sich weltpolitischen Einfluss zu sichern: auf dem Feld der Rüstungs- und der Militärpolitik. Ohne unabhängige Waffenschmieden, ohne eigenständige Streitkräfte keine »strategische Autonomie«, keine Weltmacht EU – darüber herrscht im Grundsatz beiderseits des Rheins Einigkeit. Aber eben nur im Grundsatz.
    Heftigen Streit hat es zuletzt – einmal mehr – um zentrale gemeinsame Rüstungsprojekte gegeben, vor allem um den geplanten Kampfjet der nächsten, sechsten, Generation. Er soll nicht nur alle Fähigkeiten des US-Tarnkappenjets F-35 (fünfte Generation) besitzen, sondern außerdem in einem satellitengesteuerten Verbund mit Drohnen und Drohnenschwärmen fliegen. Der Gesamtverbund trägt die Bezeichnung FCAS (Future Combat Air System), und er ist inzwischen ein trinationales deutsch-französisch-spanisches Projekt.
    Unterschiedliche Interessen
    Dass Madrid einbezogen wurde, hat letztlich Berlin gegen Widerstände in Paris durchgesetzt. Grund für die Widerstände: Der französische Rüstungskonzern Dassault, der den Kampfjet »Rafale« baut, gilt, anders als Airbus, in Branchenkreisen als prinzipiell fähig, das FCAS notfalls auch alleine zu bauen. Entsprechend stieß es vor allem Dassault übel auf, sich die profitablen Arbeiten an dem neuen Kampfjet nicht nur mit deutschen, sondern auch noch mit spanischen Unternehmen teilen zu sollen. Noch im März hieß es, Dassault schließe einen Alleingang nicht aus. Am Karfreitag bestätigte dann Frankreichs Verteidigungsministerium, die beteiligten Konzerne hätten eine gemeinsame Lösung gefunden. Ob sie hält – wer weiß.
    Dabei handelt es sich keineswegs um den einzigen Streit um ein wichtiges Rüstungsprojekt. Auch bei der sogenannten Eurodrohne, die Deutschland und Frankreich gemeinsam mit Spanien und Italien bauen wollen, gibt es Ärger: Das Vorhaben schleppt sich dahin, steht nach rund sechsjährigen offiziellen Vorverhandlungen vor der Vertragsunterzeichnung – und Paris ist mit dem Stand der Dinge alles andere als zufrieden. Berlin will, angeblich aus Sicherheitsgründen, eine Drohne, die zwei Motoren hat. Damit würde diese allerdings erheblich schwerer und auch schwerfälliger sein als etwa die einmotorige US-amerikanische »Reaper«-Drohne, einer der Standards der Branche. Dies passt nicht recht zu den Pariser Plänen, die Eurodrohne in einer bewaffneten Variante flexibel in Kriegen etwa in den französischsprachigen Ländern Afrikas einsetzen zu können und sie zudem für mögliche Exportkunden attraktiv zu gestalten. Verärgert darüber, dass sich wieder einmal die deutsche Seite durchgesetzt hatte, konstatierte das französische Fachblatt Aerospatium im Februar, Berlin und Paris hätten »nicht dieselbe Vision von der Welt« und verfolgten daher unterschiedliche Interessen; die Frage stelle sich, ob eine echte »Verteidigungskooperation unmöglich« sei.
    Hinzu kommen unverändert schwelende Differenzen bei den Auslandseinsätzen. Beispiel Mali: Paris sucht dringend nach Unterstützung für seine Kampftruppen in dem Land bzw. im gesamten Sahel. Zu diesem Zweck hatte die französische Regierung schon im Juni 2019 angekündigt, eine »Taskforce Takuba« mit 500 Elitesoldaten aus der EU zu formen, die Spezialkräfte der Sahelstaaten ausbilden soll. Berlin, wie üblich darauf bedacht, deutsche Soldaten nach Möglichkeit nicht französischem Kommando zu unterstellen, beteiligt sich nicht und hat zudem Stimmung gegen das Vorhaben gemacht. Zu Jahresbeginn waren noch keine 200 Militärs im »Takuba«-Rahmen vor Ort.
    Differenzen bei NATO
    Das muss man natürlich nicht bedauern. Es zeigt allerdings, Berlin und Paris ziehen militärpolitisch nicht an einem Strang. Ein weiteres Beispiel: Deutschland sucht die Streitkräfte der EU-Staaten über das Projekt »Pesco« zu einer engen Kooperation zusammenzubinden. Ziel ist eine »Armee der Europäer«, allerdings erst auf längere Sicht. Frankreich hingegen hat es eilig, bemüht sich um eine raschere Militärzusammenarbeit und hat daher schon 2018 die Europäische Interventionsinitiative geschaffen. Schlagende Erfolge haben beide Projekte bisher nicht erzielt.
    Last but not least gibt es nach wie vor auch Differenzen in der Frage, wie das Verhältnis zur NATO gestaltet werden soll. Während Berlin der Auffassung ist, man werde wohl noch eine ganze Weile auf das transatlantische Bündnis angewiesen sein, hat Paris es mit der »strategischen Autonomie« der EU deutlich eiliger und übt an der NATO offene Kritik. Im November 2019 bescheinigte Präsident Emmanuel Macron ihr sogar den »Hirntod«, was in Berlin damals auf empörten Unmut stieß. Zuletzt hat Mitte März ein offener Brief an NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg für Debatten gesorgt, den der Cercle de réflexion interarmées verfasst hat, ein Zusammenschluss von Generälen und Offizieren der französischen Streitkräfte im Ruhestand. Die Militärs warnen, die engere politische Kooperation in der NATO, die manche forderten, laufe vor allem darauf hinaus, Europa in dauerhafte Gegnerschaft zu Russland zu bringen und es faktisch »unter amerikanische Vormundschaft« zu stellen. Dem widersetzen sie sich, und zwar heftiger, als Deutschland es tut: Auch diesbezüglich zeichnen sich weitere Reibereien zwischen Berlin und Paris ab.
    Hintergrund: Krisenstimmung
    Unzufriedenheit mit den militärischen Aktivitäten der EU hat zwei Diskussionsrunden geprägt, die das Bundesverteidigungsministerium kürzlich gemeinsam mit dem European Council on Foreign Relations (ECFR) und Experten aus Deutschland, Frankreich und Polen durchführte. Da nehmen die Krisen und Kriege rings um die EU zu, in Regionen, die die Union mehr oder weniger als ihren »Hinterhof« betrachtet – und was tut Brüssel? Es gibt, so stellte der ECFR in einem Bericht über die Ergebnisse der kürzlich geführten Gespräche fest, heute weniger gemeinsame EU-Einsätze als zu der Zeit, zu der die »Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik« gestartet wurde. Statt dessen werden immer mehr militärische Operationen von »Koalitionen der Willigen« außerhalb des EU-Rahmens durchgeführt, beispielsweise der Marineeinsatz zum Schutz für die Handelsschiffahrt in der Straße von Hormus. Den hat Frankreich Anfang 2020 auf eigene Faust gestartet – auch deshalb, weil Deutschland eine aktive Beteiligung ablehnte.
    In den vom Verteidigungsministerium und dem ECFR geführten Diskussionen galt das als ernstes Problem. Wenn Militärinterventionen »nicht vom politischen Willen der Mitgliedstaaten getragen« würden und die Union deshalb »nicht in der Lage sei, auf die wachsenden äußeren Anforderungen zu antworten«, dann würden früher oder später »immer mehr Mitgliedstaaten den Wert der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Frage stellen«, hält der ECFR fest. Die EU müsse die Frage beantworten, was sie wirklich leisten wolle – Ausbildungseinsätze wie EUTM Mali? Vergleichsweise niedrigschwellige Interventionen? Kampfoperationen, wie sie etwa Frankreich im Sahel durchführt? In Abhängigkeit von der Antwort auf diese Frage müsse die EU ihre Ansprüche und ihre Praxis neu organisieren. Nichts sei »schädlicher für die Glaubwürdigkeit des europäischen Blocks«, urteilte der ECFR, als »eine Vertiefung der schon jetzt riesigen Kluft zwischen der ehrgeizigen Rhetorik und der Wirklichkeit« der EU-Militärpolitik. (jk)

  128. Aber, aber, wie kleinmütig von den Franzosen!
    Man braucht sich doch nur den erfolgreichen Einsatz verschiedener EU-Armee-Abteilungen in Afghanistan anschauen, und schon schlägt einem das Herz höher. 🙂

  129. TomGard: Knappe Bemerkungen zum avisierten Ukrainekrieg im Frühsommer
    “Fazit?
    Die NATO-Drohungen sind weitgehend ein offener Bluff, aber dieser Befund deckt nicht ukrainische Optionen für Angriffe und Massaker, die eine russische Intervention provozieren müßten. In einem solchen Szenario würden die russischen Streitkräfte ihre Übermacht auf dem Gefechtsfeld in einem der Provokation angemessenen Umfang demonstrieren, um weitere Eskalationen mit hinreichender Sicherheit zu unterbinden.
    Eben dies könnte und wollte die NATO politisch verwerten. Der deutsch-französisch-italienische Widerstand gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine würde beiseite gefegt, die Vertreter des „rheinischen Flügels“ der CDU würden zugunsten der Atlantiker abschließend aus ihren Positionen verdrängt, die NATO-Agenten aller künftigen Regierungsparteien (absehbar schwarz-grün-rot) würden in Anlehnung an die Verhältnisse in den USA und im UK die Schaltstellen der Macht auf Dauer besetzen.
    Diese „Entscheidungsschlacht“ der NATO halte ich für nahezu unvermeidlich. Die russische Führung offenbar auch.”

  130. Lage im Donbass verschärft sich
    Russland: »Maßnahmen« im Falle des Aufflammens von Kampfhandlungen an Grenze
    Russland hat angesichts der Eskalation im Konflikt im Donbass erklärt, im Falle des Aufflammens von Kampfhandlungen »Maßnahmen« ergreifen zu wollen. Der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, sagte laut der Nachrichtenagentur TASS am Freitag in Moskau, man werde im Falle einer »menschlichen Katastrophe« nicht »untätig« bleiben. Genauere Angaben zu der Art der Maßnahmen machte er nicht.
    »Es gibt Bedenken, dass der Bürgerkrieg in der Ukraine wieder aufflammen könnte«, so Peskow. »Und wenn ein Bürgerkrieg mit vollumfänglichen militärischen Aktivitäten in der Nähe unserer Grenzen wieder aufgenommen wird, würde dies eine Bedrohung für die nationale Sicherheit Russlands darstellen«, betonte er. Die »gegenwärtigen Entwicklungen und das Verhalten der Ukraine« würden das Risiko solcher Kampfhandlungen verschärfen, so Peskow. »Aus verschiedenen Äußerungen geht hervor, dass Kiew die Idee der Anwendung von Gewalt zur Lösung des Problems mit dem Südosten nicht völlig ablehnt«, sagte der Sprecher des Präsidenten.
    Wie am Freitag bekannt wurde, haben unterdessen die USA die Entsendung von zwei Kriegsschiffen ins Schwarze Meer angekündigt. Das türkische Außenministerium teilte unter Berufung auf eine Benachrichtigung aus Washington mit, dass die Schiffe bis Anfang Mai in der Region bleiben würden.
    Gemäß einem Abkommen von 1936 muss Washington Ankara mindestens zwei Wochen vor der Entsendung von Kriegsschiffen durch die Meerengen des Bosporus und der Dardanellen über das Vorhaben benachrichtigen. Das Abkommen erlaubt ausländischen Kriegsschiffen einen Aufenthalt von maximal drei Wochen im Schwarzen Meer.
    Ob die Entsendung der Kriegsschiffe in Verbindung mit der neuerlichen Verschärfung des Konflikts im Donbass steht, dazu gab es bis jW-Redaktionsschluss keine Angaben. US-Präsident Joseph Bidens Sprecherin Jennifer Psaki hatte kürzlich gesagt, die USA seien »angesichts der jüngst eskalierenden russischen Angriffe in der Ostukraine zunehmend besorgt«. (AFP/dpa/jW)

  131. TomGard: Ukraine – bedingter Erfolg der russischen Taktik
    “Aufschlussreich ist dieser Satz:
    ‘At the same time, he stressed that the Armed Forces of Ukraine are ready for an adequate response both in the event of an escalation of the conflict in the area of ​​the Joint Forces operation, and in the event of a complication of the military-political and military-strategic situation around Ukraine.’
    Man könnte ihn übersetzen mit: ‚Wenn die Provokationen von Dritter Seite kommen, schließen wir uns einem NATO-Krieg gegen Russland selbstverständlich an …‚ So sehr davon auszugehen ist, daß die Erklärung Khomchaks den Spielraum der Nationalgarden und unabhängiger faschistischer Milizen, mit nennenswerten Massakern eine russische Intervention zu provozieren, wirksam genug beschränkt, um den Donbass-Milizen ein rechtzeitiges Eingreifen zu ermöglichen, ist der NATO damit andererseits die Option verschafft, mit Provokationen in Transnistrien oder Georgien den regionalen Kriegszustand zu triggern, den sie will, um daraus das im letzten Eintrag genannte politische Kapital zu schlagen.”

  132. Interessante Nachrichten kamen aus der Volksrepublik Donezk (DVR). Die Experten für elektronische Kriegsführung (EW) versichern, dass die ukrainischen Sicherheitskräfte im Donbass starke elektronische Störungen für Steuerkanäle und GPS-Sensoren verursacht haben. Aus diesem Grund konnten die Drohnen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nicht einmal abheben. So versucht Kiew, die Ankunft neuer Sendungen militärischer Ausrüstung in der Region zu verbergen.
    Diese Nachricht kann man unterschiedlich interpretieren. Einschließlich mit Zweifel. Nehmen wir an, die OSZE-Beobachter wollten die Drohne nicht wirklich starten. Diese europäischen “Aufseher” haben bereits mehr als einmal Kiew unterstützt.
    Und sie regten sich auch nicht besonders auf, als sie kürzlich nicht zu den ukrainischen Panzern fahren durften, die unter Tarn-Netzen an der Demarkationslinie standen.
    Man sollte die Meldung der DVR jedoch auch nicht ganz abtun. In der Tat heißt es in dem Bericht der OSZE-Sonderüberwachungsmission: „Die Drohne konnte aufgrund elektronischer Störungen nicht gestartet werden.“ Außerdem geschah dies zum ersten Mal seit 6 Jahren.
    Man kann also schon fragen – wofür das Ganze?
    Einige Analysten haben sofort eine heiße Version präsentiert: Die aktive Arbeit der ukrainischen elektronischen Kriegssysteme im Donbass ist ein Zeichen dafür, dass eine Offensive gegen die DVR und die LPR wirklich ernsthaft und modern vorbereitet wird.
    Außerdem nicht so sehr von den Ukrainern als von den Amerikanern. Und diese elektronischen Kriegssysteme sind vermutlich die sehr geheime Fracht, die die Flugzeuge der US-Luftwaffe kürzlich in die Ukraine geliefert haben.
    Wie man sagt, das Puzzle vervollständigt sich.
    Infolgedessen beschlossen die Amerikaner, den ukrainischen Soldaten zu helfen, die „elektronische Gehirne“ des Hauptquartiers und der militärischen Ausrüstung des DPR / LPR-Korps platt zu machen. Und zur gleichen Zeit auch diejenige zentrale Technologie des russischen Geheimdienstes, der zweifelsohne die Eskalation des Konflikts im Donbass überwacht.
    Einige unserer Experten glauben, dass dies der Taktik der Vereinigten Staaten während der Operation „Desert Storm“ gegen den Irak sehr ähnlich ist.
    Damals konnte die US Air Force mit 18 elektronischen Gegenmaßnahmen des EF-111A Raven einen “elektronischen Kriegsschild” bilden. Ihre Ausrüstung, die auf dem AN / ALQ-99-Störsystem basierte, störte Funkverbindungen und Radarstationen der Armee von Saddam Hussein.
    Die aktive Arbeit des EF-111A Raven zerstörte dann die irakischen Kommunikationskanäle und lieferte einen “Überraschungsfaktor” für Luftangriffe vom Land und von Flugzeugträgern sowie ein flankierendes Manöver durch die Wüste von 6 amerikanischen Panzerdivisionen und zwei alliierten Divisionen (Frankreich , Großbritannien), die den in Kuwait stationierten irakischen Truppen in den Rücken fielen.
    Aus alledem läßt sich schließen, dass die Amerikaner mobile Störsender zum gleichen Zweck in die Ukraine gebracht haben, da die Flugzeuge der Signalunterdrückung des EF-111A Raven in der Ukraine noch nicht gesehen wurden.
    Die US-Armee verwendet hauptsächlich Signalstörsysteme AN ​​/ ULQ-19 (V). Sie wurden bereits in den 1980er Jahren entwickelt.
    Komsomolskaja Pravda, 9.4.
    Aus alledem vermutet die KP, daß die USA zusammen mit der Ukraine einen Drohnenkrieg gegen den Donbass anzetteln will, und daß die Panzer und Soldaten an der Grenzlinie derzeit eher Ablenkungsmanöver darstellen.
    Der Krieg Aserbaidschans gegen Armenien hat reichlich Anschauungsmaterial geliefert, wie man Drohnen im Zusammenhang mit Bodentruppen einsetzen kann.
    Siehe: DIE NEUEN HERREN DES HIMMELS

  133. In russischen Kreisen wird auch zirkuliert, die Ukrainer verfügten derzeit nur über 6-8 einsatzbereite Kampfdrohnen, der Rest seien Überwachungsdrohnen. Kann natürlich grob falsch sein, aber eine gewisse Plausibilität erhält die Sache durch die Notwendigkeiten türkischer Taktiererei. Drohnen für die Ukraine, gewiß, aber nicht in einer Masse, die in Russland zum Anlaß für Gegenschläge auf anderen Gefechtsfeldern genommen werden könnte.
    Deshalb würde ich, @Nestor, nicht von “Drohnenkrieg” sprechen, sondern planmäßige Provokationen mit kleinen bis mittleren Massakern vermuten, welche die russische Führung in politische Bedrängnis bringen und zu asymmetrischen Gegenschlägen verleiten sollen.

  134. Besuchen Sie Europa, solange es noch steht
    Großmanöver gegen Russland, der Ukraine-Krieg und Afghanistan: US-Kriegsminister Lloyd Austin mit politischem Sprengstoff auf Visite in Berlin
    Von Arnold Schölzel
    Die Aufrüstung der NATO gegen Russland trägt Früchte: Die Kriegsgefahr nimmt sprunghaft zu. In Südosteuropa proben im Mai rund 28.000 Soldaten während der US-geführten Übung »Defender Europe 2021« den Vormarsch Richtung Osten, Kiew spitzt den Konflikt in der Ostukraine zu, und offenkundig sollen die rund 10.000 Soldaten der NATO und ihrer Verbündeten in Afghanistan nicht wie angekündigt zum 30. April abziehen – mit unabsehbaren Folgen.
    In dieser Situation besuchte mit Verteidigungsminister Lloyd Austin am Dienstag das erste Mitglied des Kabinetts von US-Präsident Joseph Biden die Bundesrepublik. Im Gepäck hatte er als Geschenk eine symbolische Aufstockung des US-Truppenkontingents in der Bundesrepublik um 500 Mann. Bidens Vorgänger Donald Trump hatte noch eine Reduzierung angekündigt. Die Hauptstadtpresse erstarb vor Austin in Dankbarkeit, dem Berliner Tagesspiegel schwoll der Kampfhahnkamm derart, dass er online titelte: »Die US Army bleibt in Deutschland, Herr Putin – sie wird sogar aufgestockt.«
    In den Verlautbarungen nach den Gesprächen Austins mit der deutschen Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) wurde »Defender Europe 2021« nicht erwähnt. Dabei findet das jährlich stattfindende Manöver fast in den Dimensionen des Vorjahres statt, als es der Planung nach zur größten Truppenübung seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa werden sollte. Die Pandemie verhinderte das. In diesem Jahr nehmen Soldaten aus 26 Ländern, darunter die Ukraine, Georgien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Moldawien als Nichtmitglieder der NATO, bis Ende Juni teil. Sie trainieren vor allem in der Schwarzmeerregion, in Bulgarien und Rumänien, die Verlegung großer Kontingente Richtung Russland. Wie 2020 wird eine fünfstellige Zahl von US-Soldaten über den Atlantik gebracht, um den Marsch nach Osten zu proben. Zwei US-Kriegsschiffe wurden bereits ins Schwarze Meer entsandt. Die Bundesrepublik ist mit gut 430 Bundeswehr-Soldaten dabei.
    Offiziell ging es zwischen Austin und Kramp-Karrenbauer vor allem um den gestoppten Truppenrückzug aus Afghanistan und den Ukraine-Krieg, den die von USA und EU am 23. Februar 2014 in Kiew installierte Putschregierung aus Nationalisten und Faschisten am 14. April 2014 mit einer Militäroffensive gegen die aufständischen Regionen in der Ostukraine vom Zaun gebrochen hatte. Dem war Gewalt der Putschisten gegen russischsprachige Ukrainer vorausgegangen. Im Februar wiederholte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij das Szenario. Er schloss russischsprachige Sender und ließ Armeechef Ruslan Chomtschak verkünden, der Präsident habe kein Problem damit, den Befehl für eine Offensive zu geben. Am 8. April behauptete Selenskij schließlich: »Die NATO ist der einzige Weg, um den Krieg im Donbass zu beenden.« Seitdem führen westliche Medien den Krieg auf ihre Weise. Der US-Sender CNN zeigte z. B. am Montag Bilder von angeblich russischen Panzern. Es waren ­ukrainische. Russland reagierte auf die Eskalation mit Truppenbewegungen in der Nähe zur ukrainischen Grenze. Am Dienstag behaupteten die Außenminister der G-7-Staaten in einer gemeinsamen Mitteilung, das seien »bedrohliche und destabilisierende Aktivitäten«. Der russische Außenminister Sergej Lawrow antwortete am selben Tag auf die Frage, was Russland mache: »Wir wohnen dort.«
    Am Hindukusch, von wo aus Russland mit konventionellen Waffen leicht erreichbar ist, möchte sich nun die NATO häuslich einrichten.
    Warum Nato und EU der Ukraine nicht helfen werden
    Militärallianz kritisiert russische Truppenkonzentration an Grenze, EU unterstützt Krim-Initiative. Zu offensiv aber will sich niemand positionieren.
    Der “erste echte Drohnenkrieg”, Europas Anteil und deutsche Aufrüstung
    Die Lektion aus dem mörderischen Krieg in Bergkarabach: Es geht relativ schnell und ist auch verhältnismäßig günstig, Verbündete für einen Angriffskrieg mit Drohnen auszustatten.
    US-Experten warnen vor deutscher Beteiligung an EurodrohneRolle aufgenötigt
    Russland als Vermittler im Iran
    Von Knut Mellenthin
    Am Dienstag hielt sich der russische Außenminister Sergej Lawrow in Teheran auf. Sein einziger oder wichtigster Gesprächspartner war offenbar sein iranischer Amtskollege Mohammed Dschawad Sarif. Der Besuch erfolgte nicht überraschend, sondern war schon vor mehr als einer Woche angekündigt worden. Die Mitteilungen beider Seiten über Zweck und Inhalte des Treffens waren, wie meist in solchen Fällen, unspezifisch und nichtssagend.
    Ein Thema war mit Sicherheit unerwartet hinzugekommen. Die EU hatte am Montag erstmals seit langer Zeit wieder Sanktionen gegen acht iranische Staatsbürger, darunter den Chef der einflussreichen Revolutionsgarden, verhängt. Die Maßnahme ist hauptsächlich symbolisch, da die Betroffenen vermutlich weder Bankguthaben im EU-Bereich haben noch unbedingt Reisen dorthin unternehmen möchten. Das Vorgehen der Europäer torpediert aber die seit acht Tagen in Wien geführten internationalen Gespräche, die letztlich zur Aufhebung der US-Sanktionen gegen den Iran führen sollen. Die EU hat mit ihren neuen Strafmaßnahmen schockierend deutlich demonstriert, dass sie in diesen Verhandlungen kein neutraler Vermittler ist – wie ihre Politiker ständig behaupten –, sondern selbst ein zentraler Teil des Problems.
    Lawrow warnte bei seinem Besuch in Teheran, dass die Sanktionen der EU die Grundlage der Gespräche in Wien zerstören könnten. Das europäische Vorgehen sei »Anlass für eine große Menge Fragen«, sagte der russische Außenminister. Sein Land lehne die westliche Sanktionspolitik grundsätzlich ab und arbeite auf deren Beendigung hin.
    Russland und in ähnlicher Weise auch China sind mit einer widersprüchlichen Situation konfrontiert: Auf der einen Seite sind sie selbst Opfer umfangreicher Sanktionen, die der seit Januar amtierende US-Präsident Joseph Biden nicht etwa lockern, sondern sogar weiter verschärfen will, um den Druck auf die beiden Staaten zu verstärken, die die bedeutendsten geopolitischen Gegner und Konkurrenten der kriselnden Supermacht Nummer eins sind.
    Auf der anderen Seite »erwartet« die Biden-Administration aber, dass Russland und China ihr behilflich sein müssten, vermeintliche Problemstaaten wie den Iran und Nordkorea zu schwerwiegenden Zugeständnissen zu überreden oder aufgrund ihres wirtschaftlichen Einflusses sogar zu erpressen.
    Die beiden Staaten widersetzen sich diesem Druck aus Washington nicht offen. Die ihnen aufgenötigte Vermittlerrolle sehen sie als Weg, um ihre Nützlichkeit zu demonstrieren und damit die USA von einem vollständigen Bruch abzuhalten. Dennoch ist nicht nur ihr Wille, sondern auch ihre Möglichkeit, in dieser Rolle etwas zu erreichen, begrenzt. Kontraproduktives Agieren der Europäer ist das letzte, was die Situation erleichtert.

  135. Der Iran sieht sich durch die aggresive Politik des Westens zusehends in Richtung Rußland und China gedrängt.
    Es ist unklar, wie da diese beiden Mächte als „Vermittler“ agieren könnten.
    Die iranische Führung hat von sich aus das Selbstbewußtsein, eine Führungsmacht der islamischen Welt sein zu wollen. Deshalb ist der Iran mißtrauisch gegenüber Großmächten, deren Interesse an dieser Art von Staatsräson endenwollend ist.
    Da aber umgekehrt China und Rußland keinerlei Ehrgeiz bezüglich religiöser Vorherrschaft entwickeln, ist es durchaus möglich, daß hier eine weitere Annäherung stattfindet.
    Ähnlich ist es bei Nordkorea.
    Die dortige Staatsräson ist – ähnlich wie seinerzeit in Albanien unter Hodscha – sehr mißtrauisch gegenüber Bündnispartnern, die die Regierung in Abhängigkeiten bringen und dann unter Druck setzen könnten.
    In beiden Fällen ist das Atomprogramm Ausdruck des Beharrens auf Souveränität.

  136. @TomGard
    Alles möglich.
    Ebendo ist es möglich, daß die Ukraine und der Donbass als Testgelände für Drohnen aller Art verwendet wird. D.h., daß andere Staaten Drohnen dort hinliefern.

  137. @NN

    Am Hindukusch, von wo aus Russland mit konventionellen Waffen leicht erreichbar ist, möchte sich nun die NATO häuslich einrichten.

    Eine komische Bemerkung angesichts dessen, daß die USA ud ihre NATO-Verbündeten seit bald 20 Jahren dort sind und ernsthaft über Abzug nachdenken.
    Natürlich ist die Gegend strategisch interessant, aber die afghanische Bevölkerung ist irgendwie sperrig.

  138. Moskaus Warnung vernommen
    US-Kriegsmarine sagt Passage ins Schwarze Meer ab. Ukraine fordert Waffen
    Von Reinhard Lauterbach
    Unterhalb der westlichen Aufforderungen an Russland, die Krise um die Ukraine zu »deeskalieren«, zeichnet sich ein konkreter Deeskalationsschritt ab: von westlicher Seite. Wie die Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag unter Berufung auf türkische Regierungskreise berichtete, sehen die USA vorerst davon ab, wie angekündigt zwei Raketenzerstörer ins Schwarze Meer zu entsenden. In Ankara hieß es, die Schiffe seien zum angekündigten Termin nicht in die Meerengen eingelaufen. Von Washington wurde die Sache als »möglicherweise ein Missverständnis« heruntergespielt. Die USA hätten die Genehmigung zur Durchfahrt durch den Bosporus nur vorsorglich beantragt, um für alle Fälle auf sie zurückgreifen zu können.
    Es scheint jedoch klar, dass die Entscheidung der USA eine Reaktion auf die im Ton außerordentlich scharfen Warnungen Russlands ist, sich aus dem Schwarzen Meer herauszuhalten. Moskaus Vizeaußenminister Sergej Rjabkow hatte das geplante Manöver als »offene Provokation« bezeichnet und hinzugefügt, westliche Kriegsschiffe hätten vor den Küsten Russlands »absolut nichts zu suchen«. Es drohten »gefährliche Zwischenfälle«. Gleichzeitig hatten etwa 20 Schiffe der russischen Schwarzmeer- und Kaspischen Flotte in der Westhälfte des Meeres mit Schießübungen begonnen.
    Ebenfalls am Donnerstag versuchte der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrej Melnik, die politische Spannung hoch zu halten. Im Deutschlandfunk forderte er deutsche Waffenlieferungen an sein Land. Die BRD sei der viertgrößte Waffenexporteur der Welt, sie solle nicht gegenüber der Ukraine moralisch tun, so Melnik. Wenn Kiew nicht schnellstens eine Vielzahl westlicher Waffen erhalte, müsse es auch darüber nachdenken, wieder Atomwaffen zu produzieren. Die Ukraine hatte 1994 im Gegenzug für Sicherheitsgarantien auf ihren Anteil an den so­wjetischen Atomwaffen verzichtet und diese bis Ende der 90er Jahre zerstört. Melnik behauptete unter Berufung auf Informationen des ukrainischen Geheimdienstes, Russland habe entlang der Grenze und auf der Krim mindestens 90.000, womöglich auch 110.000 Soldaten zusammengezogen – eine Zahl, die doppelt so hoch liegt wie die gängigen Schätzungen westlicher Dienste.
    NATO hinter Sanktionen der USA gegen Russland
    Brüssel. Deutschland und die anderen NATO-Partner haben sich hinter die jüngsten US-Sanktionen gegen Russland gestellt. »Wir stehen solidarisch an der Seite der Vereinigten Staaten«, heißt es in einer am Donnerstag veröffentlichten Erklärung. Man rufe Russland auf, sein »destabilisierendes Verhalten« unverzüglich einzustellen. Neben Cyberaktivitäten und Wahlbeeinflussungsversuchen gehöre dazu auch die Ukraine-Politik Moskaus. Die USA hatten zuvor mitgeteilt, zehn russische Diplomaten auszuweisen und neue Sanktionen zu verhängen. Washington hatte die neuen Strafmaßnahmen damit begründet, dass Moskau sich in die US-Wahlen eingemischt habe und hinter Hackerangriffen im vorigen Jahr stecke. Russland bestellte daraufhin den US-Botschafter John S. Sullivan ins Moskauer Außenministerium ein und kündigte Gegenmaßnahmen an. (dpa/jW)

  139. Krieg im Donbass: Warum die neue Eskalation in der Ukraine keineswegs überraschend kommt – eine detaillierte Chronik
    Im Donbass wird wieder geschossen. Mainstreammedien und Politiker zeigen sich überrascht und sprechen von einer unerwarteten Eskalation. Doch diese Einschätzung ist grundlegend falsch. Die Anzeichen stehen bereits seit Ende 2020 auf Sturm. Ein chronologischer Überblick.
    Knappe Bemerkungen zum avisierten Ukrainekrieg im Frühsommer
    TomGard:
    Existentielle Drohungen der NATO, USA, UK gegen die mitteleuropäischen Nationen.
    Nahezu „handgreiflich“ wird sie in diesem Vorgang:
    https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-merkel-biden-101.html
    Er steht in vollem Gegensatz zum Politikstil der Kanzlerin, zu den Interessen der deutschen Nation und den Verfahren, die beispw. noch in der Navalny-Affäre zum Einsatz kamen. Der „Einsatz“, den die Angreifer mobilisieren, ist nicht nur militärisch, auch ökonomisch. Ohne russische Kohlenwasserstofflieferungen wird es dunkel in Mitteleuropa bin hin nach Frankreich, die EU würde ökonomisch auf ein Jahrzehnt schwer zurück geworfen.
    Gleichwohl wird der zelebrierte Gehorsam schwerlich verhindern, daß die NATO einen Waffengang anzetteln wird, darauf setzend, daß die russische Führung weiß, daß es einstweilen mehr um Berlin, als um Moskau gehen wird, nämlich um die Erzwingung eines dauerhaften Alignements der kommenden deutschen Regierung. Was im „Domino-Effekt“ auch allen französischen Träumen von europäischer Selbständigkeit ein Ende setzt.
    Berengar:
    „Ukraine droht – entweder Nato-Mitgliedschaft oder atomare Aufrüstung“
    (https://www.welt.de/politik/ausland/article230395181/Ukraine-droht-entweder-Nato-Mitgliedschaft-oder-atomare-Aufruestung.html)
    Ist selbstredend offensiver Käse, nicht wahr? Schwer vorstellbar, daß die Ukraine sich eine Clubmitgliedschaft mithilfe einer atomaren Bewaffnungsoption gegen den Westen erpresst. Wie solche Geschichten zu enden pflegen, ist bekannt.
    Woraus man messerscharf schließen kann, dass diese Option von Washington aus gegen Moskau und infolgedessen mittelbar gegen Berlin und Paris auf den Tisch gelegt worden ist: Entweder ihr akzeptiert eine NATO-Mitgliedschaft von Kiew, oder wir pflanzen euch einen nukelaren Joker in den Vorgarten.

  140. Die Drohung der Ukraine mit atomarer Aufrüstung ist schlicht lächerlich.
    Man sehe sich den Iran an, der seit Jahrzehnten versucht, spaltfähiges Uran zu produzieren, und weitaus mehr Ressourcen dafür abstellen kann. Die Ukraine hat nicht einmal annähernd irgendwelche Einrichtungen dafür.
    Ihre Führung ist vielmehr damit beschäftigt, sicherzustellen, daß ihr die eigenen AKWs nicht um die Ohren fliegen.
    Der Truppenaufmarsch Rußlands an der Grenze ist nur eine Warnung an die Ukraine und den Westen, sich in Sachen Donbass nicht zu spielen. Also, wie es vermutlich geplant ist, einen Drohnenkrieg in der Art von Aserbaidschan gegen Armenien anzuzetteln. Der Erfolg Aserbaidschans hat offensichtlich die Kiewer Hampelmänner beflügelt, und der Pentagon würde liebend gerne seine Drohnengeschwader einmal dort ausprobieren.
    Eine Einnahme des Donbass durch russisches Militär ist m.E. nicht geplant, höchstens eine weitere Integration im Rahmen einer Zollunion und eines Ausbaus oder einer Sanierung der Infrastruktur nach Rußland – Straßen, Eisenbahnen usw.
    Mit der Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an die Bewohner des Donbass hat sich Rußland einen Rechtstitel verschafft, im Falle der Bedrohung seiner Bürger dort einzugreifen.

  141. Moskau und Kiew: Diplomaten ausgewiesen
    Moskau. Kurz vor einer Konferenz der EU-Außenminister zum Konflikt im Donbass an diesem Montag zeichnet sich keine Entspannung ab. Russland und die Ukraine wiesen am Sonnabend gegenseitig Diplomaten aus. Zuvor hatte der russische Inlandsgeheimdienst den ukrainischen Konsul in St. Petersburg, Alexander Sosonjuk, wegen Spionageverdachts vorübergehend festgenommen. Der FSB wirft ihm vor, sich von einem Russen vertrauliche Informationen besorgt zu haben. Er muss nun bis Donnerstag Russland verlassen. Kiew wies im Gegenzug einen »hochrangigen« russischen Beamten aus. (dpa/AFP/jW)
    In der Eskalationsspirale (II) (19.04.2020)
    EU und NATO unterstützen neue US-Sanktionen gegen Russland. Weitere Sanktionen gegen Nord Stream 2 oder Sputnik V werden nicht ausgeschlossen.
    BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Von Berlin unterstützte US-Sanktionen sowie weitere Sanktionsforderungen deutscher Politiker treiben die Eskalationsspirale im Konflikt zwischen dem Westen und Russland voran. Neue Strafmaßnahmen der Biden-Administration haben vergangene Woche nicht nur Personen und Organisationen in Russland, sondern auch den Finanzsektor des Landes getroffen; demnach wird der Kauf russischer Staatsanleihen durch US-Finanzunternehmen ab Mitte Juli untersagt. Die Maßnahme versetzt auch die deutsche Branche in Unruhe: Biden droht mit der Ausweitung der Sanktionen; Konzernvertreter weisen darauf hin, dass auch von den Iran-Sanktionen zuerst US-Unternehmen betroffen gewesen seien, bevor Washington sie extraterritorial ausgeweitet habe. In Russland werden Gegenmaßnahmen diskutiert. US-Experten warnen, gehe man gegen “eine Volkswirtschaft wie Russland” vor, dann könnten die “Kollateralschäden ungeheuerlich sein. In Washington werden mittlerweile nicht nur vernichtende Sanktionen gegen Nord Stream 2 gefordert; es wird auch über Sanktionen gegen den Kauf des Covid 19-Vakzins Sputnik V spekuliert.
    Neue US-Sanktionen
    Den Konflikt zwischen dem Westen und Russland verschärft haben zuletzt die jüngsten US-Strafmaßnahmen, die die Biden-Administration am vergangenen Donnerstag bekanntgegeben hat. Neben der Ausweisung von zehn Diplomaten, die bisher an der russischen Botschaft in Washington tätig waren, sehen sie eine erneute Ausweitung der Sanktionen gegen Russland vor. Demnach werden individuelle Sanktionen gegen insgesamt 40 Personen oder Organisationen verhängt; acht von ihnen wurden gemeinsam mit US-Verbündeten in Europa ausgewählt. Zudem werden sechs Technologiefirmen sanktioniert, da sie angeblich mit russischen Geheimdiensten kooperieren. Als Gründe werden angeblich von Moskau verantwortete Hackerattacken auf Ziele in den USA sowie angebliche russische Einmischung in die US-Präsidentenwahl genannt. Beweise für seine Vorwürfe hat Washington, wie üblich, nicht vorgelegt. Dies gilt auch für eine weitere Behauptung, die die Biden-Administration zum Anlass nimmt, weitere, aus “geheimdienstlichen Gründen” nicht näher spezifizierte Sanktionen zu verhängen: Dies geschehe, heißt es, weil Moskau den Taliban ein Kopfgeld für Angriffe auf US-Soldaten in Aussicht gestellt habe.[1] EU und NATO – und mit ihnen auch Deutschland – haben sich inzwischen zustimmend zu den US-Sanktionen geäußert.[2]
    Ausweitung befürchtet
    Wohl am schwersten wiegt, dass die aktuellen US-Sanktionen auch den russischen Finanzsektor treffen. So dürfen US-Finanzunternehmen Anleihen, die das russische Finanzministerium, die Zentralbank sowie der Staatsfonds RDIF vom 14. Juni an ausgeben wollen, nicht erwerben. Zwar werden die unmittelbaren Folgen des Schritts noch als beherrschbar eingeschätzt: Laut Auskunft von Oxford Economics halten US-Investoren nur sieben Prozent aller in Rubel ausgegebenen russischen Staatsanleihen.[3] Allerdings hat US-Präsident Biden gedroht, die US-Sanktionen bei Bedarf künftig auszuweiten. Gegenüber US-Medien äußerten Mitarbeiter großer Finanzkonzerne, man fühle sich mit der aktuellen Situation “unbehaglich”; es herrsche die Sorge, da könne bald “mehr nachkommen”.[4] Gegenüber dem “Handelsblatt” wiesen Branchenvertreter darauf hin, in der Vergangenheit hätten etwa die Iran-Sanktionen zunächst US-Finanzunternehmen getroffen, bevor sie auf sämtliche Firmen mit Geschäftsinteressen in den USA ausgeweitet worden seien. In der Tat hat sich das russische Finanzministerium bereits kurz nach Bekanntgabe der neuen US-Sanktionen veranlasst gesehen, Auktionen von russischen Schuldverschreibungen zu verschieben und sein Anleiheprogramm um zunächst zehn Milliarden Euro zu reduzieren.[5]
    “Ungeheuerliche Kollateralschäden möglich”
    Der Konflikt droht weiter zu eskalieren. Moskau hat scharf gegen die US-Maßnahmen protestiert und seinerseits Gegensanktionen verhängt. Zum einen treffen sie zehn Personen, darunter die US-Minister für Justiz sowie für Heimatschutz, FBI-Direktor Christopher Wray sowie die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines; ihnen ist künftig die Einreise nach Russland untersagt. Mitarbeitern von US-Regierungsbehörden werden Einreiseerlaubnisse für kurzfristige Aktivitäten entzogen; zudem wird die Arbeit von US-Stiftungen und US-Nichtregierungsorganisationen in Russland weiter eingeschränkt. Moskau behält sich laut Auskunft des Außenministeriums darüber hinaus vor, die Zahl der Mitarbeiter von Botschaft und Konsulaten der USA in Russland von rund 450 auf 300 zu reduzieren und zudem Maßnahmen gegen US-Unternehmen zu verhängen.[6] Wirtschaftskreise fürchten, die Lage könne außer Kontrolle geraten: In Russland werden Stimmen laut, Moskau solle seine verbliebenen US-Staatsanleihen auf den Markt werfen, um Washington etwas entgegenzusetzen. “Wenn man anfängt, eine Volkswirtschaft wie Russland anzugehen”, äußert ein ehemaliger Berater der Sanktionsabteilung im US-Finanzministerium, “wird einem klar, dass mögliche Kollateralschäden … ungeheuerlich sein können”.[7]
    “Von SWIFT ausschließen”
    Weitere Sanktionsforderungen äußern inzwischen auch deutsche Politiker. Grund ist, dass Moskau sich auch auf militärischem Gebiet den westlichen Aggressionen zunehmend widersetzt. Dies trifft etwa auf aktuelle Manöver in Westrussland unweit der Grenze zur Ukraine zu. NATO-Einheiten führen seit Jahren Kriegsübungen in größtmöglicher Nähe zur russischen Grenze durch; im vergangenen Jahr haben die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten mit “Defender Europe” zudem ein neues Manöverformat geschaffen, in dessen Rahmen große US-Verbände den Atlantik überqueren und aus West- und Südeuropa in Richtung Russland verlegt werden. Nahe der Grenze werden dann konkrete, gegen Russland gerichtete Kriegsübungen durchexerziert. Das diesjährige “Defender Europe”-Manöver hat vor kurzem begonnen (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Auf die russischen Manöver haben Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie US-Präsident Joe Biden hingegen mit der Forderung reagiert, Moskau müsse die Truppen – diese üben auf eigenem Territorium – umgehend “abziehen”.[9] Manfred Weber (CSU), der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament, stellt für den Fall, dass Moskau “die Lage in der Ostukraine eskalieren” lasse oder gar “dort einmarschier[e]”, Russlands Ausschluss vom internationalen Zahlungssystem SWIFT in den Raum.[10]
    Vernichtungsschlag gegen Nord Stream 2?
    Die Eskalation erfolgt kurz nach dem Bekanntwerden von Bemühungen Berlins, im Interesse der deutschen Industrie eine gewisse Zusammenarbeit mit Moskau zu bewahren. Dies bezog sich auf die Erdgaspipeline Nord Stream 2 sowie auf Pläne, mit Russland bei der Nutzung von Wasserstoff als Energieträger zu kooperieren (german-foreign-policy.com berichtete [11]). Darüber hinaus hat die Bundesregierung kürzlich bestätigt, sie ziehe den Kauf des russischen Covid 19-Impfstoffs Sputnik V in Betracht.[12] Im US-Kongress steigt nun allerdings überparteilich der Druck auf die Biden-Administration, Nord Stream 2 mit neuen, wohl vernichtenden Sanktionen endgültig zu verhindern. Im Gespräch sind demnach Maßnahmen, die sich direkt gegen die Nord Stream 2 AG richten, die Betreibergesellschaft, zu deren Finanzinvestoren neben der britisch-niederländischen Shell, der französischen Engie und der österreichischen OMV die deutschen Konzerne Uniper und Wintershall gehören.[13]
    Sputnik V im Visier
    Zudem werden offenbar Sanktionen im Falle eines Erwerbs von Sputnik V nicht ausgeschlossen. Ursache ist, dass ein russisches Forschungsinstitut, das an der Entwicklung von Sputnik V beteiligt war, von US-Behörden mit einem angeblichen russischen Chemiewaffeneinsatz in Verbindung gebracht wird – wie üblich ohne Beweis – und deshalb vor kurzem mit Sanktionen belegt wurde; es handelt sich um das 48th Central Research Institute.[14] Zwar wird ein US-Regierungsmitarbeiter mit der Äußerung zitiert, US-Sanktionen richteten sich “allgemein nicht gegen legitime humanitäre Lieferungen oder Hilfe”.[15] Allerdings weist die US-Politikprofessorin Judy Twigg von der Virginia Commonwealth University darauf hin, dass Sputnik V nicht als “humanitäre Lieferung”, sondern in Form eines regulären Kaufs nach Deutschland und in weitere EU-Staaten gelangen soll. Spätestens dann, wenn genügend andere Impfstoffe zur Verfügung stünden, könne Washington, warnt Twigg, zu Sanktionen gegen das russische Vakzin übergehen.[16]

  142. Kalte Füße in Brüssel
    Kommissionspräsidentin von der Leyen sagt Teilnahme an Kiewer Propagandaveranstaltung ab
    Von Reinhard Lauterbach
    Wenn das alarmistische Interview des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrej Melnik, mit dem Deutschlandfunk (siehe jW vom 16.4.) eine Folge hatte, dann das Gegenteil des Erhofften: Sowohl Berlin als auch Brüssel gingen auf Distanz zum Kiewer Eskalationskurs. In den letzten Tagen stachen zwei Äußerungen aus dem Grundrauschen heraus: Bundesaußenminister Heiko Maas verteidigte am Mittwoch in der ARD den Bau der Pipeline Nord ­Stream 2. Nach seinen Worten würde ein Baustopp Moskau genau den letzten Anreiz nehmen, sich gegenüber der Ukraine zurückzuhalten.
    Und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wies eine Einladung des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij zur Teilnahme an der Propagandaveranstaltung »Krim-Plattform« zum ukrainischen Unabhängigkeitstag am 23. und 24. August zurück. Nach Angaben des Brüsseler Infoportals Politico tat sie dies in bemerkenswert brüsker Form. Zum einen habe von der ­Leyen die Anfrage eines Staatschefs durch ihren Büroleiter beantworten lassen, was für sich schon einen protokollarischen Affront darstelle, und zudem seien die von diesem vorgebrachten Argumente wenig glaubhaft. »Termingründe« zu einem Zeitpunkt, wo der Brüsseler Sitzungsbetrieb weitestgehend ruht, seien offenkundig vorgeschoben, vermutete Politico. Am Freitag nun sollte Selenskij in Paris vom französischen Staatschef Emmanuel Macron empfangen werden. Anschließend wollte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel per Video zuschalten.
    Die Alarmrufe der Ukraine und ihrer westlichen Partner über die russische Truppenpräsenz entlang der Grenze halten im übrigen eigenen ukrainischen Angaben nicht stand. Bereits Anfang April hatte Oleksander Tur­tschinow, als Sicherheitsratschef 2014 für die Auslösung des Kriegs gegen das Donbass verantwortlich, erklärt, die russische Präsenz hinter der Grenze sei aktuell geringer als vor sieben Jahren. Verstärkungen auf russischem Gebiet zu skandalisieren relativiert zudem die langjährige ukrainische Behauptung, im Donbass seien schon lange russische Truppen im Einsatz.
    Gegen aktuelle Angriffsabsichten spricht auch, dass Russland seinen Aufmarsch nicht besonders geheimhält. Insbesondere der von der Ukraine skandalisierte russische Aufmarsch auf der Krim und die Verstärkung der dort bereits stationierten Truppen würden auch vom rein militärischen Standpunkt aus wenig Sinn ergeben: Die Geographie der Krim macht Angriffe von dort aus zu Lande wenig sinnvoll. Denn mit dem Festland ist die Halbinsel über zwei schmale Landzungen verbunden. Diese können mit geringem personellem und technischem Aufwand (Minensperren) verteidigt werden. Dasselbe gilt natürlich auch für einen hypothetischen ukrainischen Angriff auf die Krim.
    Wenn also Russland seine Truppen auf der Krim verstärkt hat, dann offenbar nicht, um von dort aus etwa auf den Unterlauf des Dnipro vorzustoßen und den von dort ausgehenden Trinkwasserkanal unter Kontrolle zu bringen. Zumal die Ukraine bereits gedroht hat, im Falle eines Angriffs den Damm des Stausees von Kachowka, aus dem der Kanal abzweigt, zu sprengen. Was für Einheiten Russland zusätzlich auf die Krim gebracht hat – Marineinfanterie, Landungsboote einschließlich solcher der »Kaspischen Flottille« sowie Luftlandetruppen, darunter die bekannte 76. Fallschirmjägerdivision aus dem nordrussischen Pskow – , soll vermutlich eher das Drohszenario einer amphibischen Aktion in Richtung Dnipromündung und/oder Odessa aufbauen.
    Auf der anderen Seite fällt auf, dass auf ukrainischer Seite in den vergangenen Tagen die offenen Kriegsdrohungen verstummt sind. Mehrere hochrangige Politiker haben erklärt, eine militärische Rückeroberung des Donbass sei wegen der damit zu riskierenden hohen Verluste keine Option. Dennoch verstärkt die Ukraine ihre Provokationen an der Frontlinie im Donbass. Am Donnerstag kam wieder ein Zivilist beim Beschuss eines Wohnhauses am westlichen Stadtrand von Donezk ums Leben. Die OSZE-Beobachtungsmission notierte eine Verdreifachung der Waffenstillstandsverletzungen im Jahresvergleich.
    Russland: Nawalnys Team plant Proteste
    Moskau. Das Team des inhaftierten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny hat zu neuen Protesten am Mittwoch aufgerufen. An diesem Abend sollten sich die Menschen auf den zentralen Plätzen der Städte versammeln, hieß es in einem am Sonntag veröffentlichten Aufruf. Am nächsten Mittwoch will Präsident Wladimir Putin seine Rede an die Nation halten. Der Gesundheitszustand Nawalnys soll sich zuletzt deutlich verschlechtert haben. Seit zweieinhalb Wochen befindet sich der Oppositionelle im Hungerstreik, um eine ärztliche Behandlung durchzusetzen. (dpa/jW)

  143. EU: Vorerst keine neuen Russland-Sanktionen
    Brüssel. Die EU kommt Forderungen nach der Vorbereitung neuer Sanktionen gegen Russland vorerst nicht nach. Es gebe keine Bewegung in diese Richtung, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag nach einer Videokonferenz der Außenminister der Mitgliedstaaten. Die Dinge könnten sich ändern, dies sei aber der derzeitige Stand der Dinge. Der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba hatte zuvor den Wunsch geäußert, dass die EU zur Abschreckung Russlands im Rahmen eines Stufenplans zusätzliche Wirtschaftssanktionen vorbereiten solle. Er war der EU-Videokonferenz zeitweise zugeschaltet gewesen. Brüssel wirft Russland vor, den Konflikt um den Donbass zu eskalieren – unter anderem mit der Verlegung von Truppen an die Grenze zur Ukraine. Die Regierung in Moskau weist die Vorwürfe zum angeblichen Truppenaufmarsch zurück. (dpa/jW)
    Showdown um Nawalny
    Russland: Oppositioneller in Gefängniskrankenhaus verlegt. USA und EU drohen mit »Gegenmaßnahmen« im Falle seines Todes
    Von Reinhard Lauterbach
    Der Gesundheitszustand des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hat sich in den letzten Tagen anscheinend rapide verschlechtert. Am Montag wurde bekannt, dass Nawalny aus der Strafkolonie Nr. 2 in das zentrale Gefängniskrankenhaus des Gebiets Wladimir in einer anderen Haftanstalt verlegt wurde. Nach Angaben der Behörden soll er in eine Reihe von Therapiemaßnahmen eingewilligt haben, sein Zustand sei »akzeptabel«.
    Die Verlegung Nawalnys bestätigt indirekt Angaben der mit ihm zusammenarbeitenden Ärzte aus den vergangenen Tagen. Diese hatten über das Wochenende unter Berufung auf ihnen zugespielte Analyseergebnisse über einen extrem hohen Kaliumwert in Nawalnys Blut und davon ausgehende Gefahren berichtet. In mehreren Mitteilungen seiner Ärzte und Anwälte hieß es, er schwebe in akuter Lebensgefahr. Sein Tod sei eine Frage von Tagen, wenn er nicht von Ärzten seines Vertrauens behandelt werde. Der 44jährige Politiker ist seit dem 31. März im Hungerstreik, um dies zu erreichen.
    Der Gesundheitszustand Nawalnys veranlasste den kollektiven Westen zu neuen Forderungen und Drohungen an die Adresse Russlands. Die USA kündigten »Konsequenzen« an, falls Nawalny versterben sollte. Das Weiße Haus machte ebenso wie die EU Moskau für den Gesundheitszustand des Inhaftierten verantwortlich. Bei seinem kürzlichen Telefongespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin hatte US-Präsident Joseph Biden jedoch das Thema Nawalny gar nicht erwähnt. Jedenfalls machten weder westliche noch russische Quellen hierüber Angaben.
    Unterdessen rechnet die von Nawalny gegründete »Stiftung zur Korruptionsbekämpfung« offenbar mit ihrem Verbot. Sie rief ihre Anhänger für Mittwoch zu Kundgebungen in allen russischen Städten auf. Die Veranstaltungen sind nicht genehmigt, es scheint, die Nawalny-Anhänger haben dies auch gar nicht mehr beantragt. Konfrontationen mit der Polizei sind also abzusehen. Am vergangenen Freitag hatte die Moskauer Staatsanwaltschaft angekündigt, ein Verbot der »Stiftung Korruptionsbekämpfung« und mehrerer Nebenorganisationen in die Wege zu leiten. Die Stiftung sei eine »extremistische Organisation«, die unter dem Deckmantel liberaler Parolen eine »Destabilisierung der sozialen Situation« in Russland und einen Machtwechsel durch eine »Farbenrevolution« anstrebe. Bei einem Verbot würden jedem Teilnehmer an Veranstaltungen der Nawalny-Unterstützer automatisch mehrjährige Haftstrafen drohen, Organisatoren sogar Strafen von mehr als zehn Jahren. Die Kundgebungen der Nawalny-Anhänger sollen parallel zu Putins Ansprache zur Lage der Nation vor der sogenannten Föderationsversammlung stattfinden.
    Unter Druck geriet die Nawalny-Stiftung auch durch eine Hackeraktion letzte Woche. In der Nacht zum vergangenen Mittwoch hatten Personen, die sich online zur Teilnahme an den Protesten angemeldet haben, E-Mails mit einem umfangreichen Anhang erhalten. Dieser enthielt die gesamte Adressdatenbank der »Stiftung zur Korruptionsbekämpfung«, insgesamt mehr als 530.000 E-Mail-Adressen samt dem Zeitpunkt der Registrierung. Im Begleitschreiben an die Nawalny-Anhäger hieß es, sie sollten Gelegenheit bekommen, darüber nachzudenken, was es bedeute, seine Daten an »Loser« auszuliefern. Und jedenfalls: im Visier der Ermittler zu sein.
    Die Nawalny-Stiftung bestätigte die Echtheit der Adressdaten und beschuldigte einen früheren Mitarbeiter, die Datenbank gehackt zu haben. Sie spielte die Bedeutung des Datenlecks herunter. Die regierungsnahe Tageszeitung Iswestija berichtete unter Berufung auf »Hackerkreise«, dass bis zu 70 Prozent der angegebenen 530.000 Adressen nicht zu einer lebenden Person gehören würden. Das liberale Portal Medusa berichtete, zahlreiche Adressen stammten aus russischen Ministerien und anderen staatlichen Dienststellen. Es sei aber nicht nachweisbar, dass sie von den echten Inhabern stammten. Jedenfalls ist die Stoßrichtung der Aktion die, das Ausmaß der öffentlichen Unterstützung für Nawalny in Zweifel zu ziehen. Bei Umfragen geben konstant um die fünf Prozent der Befragten an, Nawalny zu »vertrauen«.
    _______________________
    Grüne zu allem bereit
    Kovorsitzende Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin nominiert: Sie hat sich mit Engagement für Aufrüstung und mit Russland-Hetze qualifiziert
    Von Arnold Schölzel
    Der Grünen-Bundesvorstand bestimmte seine 40jährige Kovorsitzende Annalena Baerbock am Montag zur ersten Kanzlerkandidatin der Partei. Sie erklärte im Anschluss an die Sitzung, sie strebe eine Politik für die gesamte Breite der Gesellschaft an. Als Schwerpunkt nannte sie den Klimaschutz. Bis auf die AfD reagierten die anderen im Bundestag vertretenen Parteien mit Wohlwollen und stellten einen fairen Wahlkampf in Aussicht. Baerbock muss noch auf einem Parteitag im Juni offiziell nominiert werden, was aber als Formsache gilt. Sie soll zudem mit Koparteichef Robert Habeck als Spitzenduo zur Bundestagswahl am 26. September antreten. Baerbock erklärte: »Klimaschutz ist die Aufgabe unserer Zeit, die Aufgabe meiner Generation.« Die Politik der neuen Bundesregierung müsse Klimaschutz für alle Bereiche zum Maßstab machen. Sie räumte zugleich ein, dass sie bislang über keinerlei Regierungserfahrung verfüge, bringe aber »einen klaren Kompass und Lernfähigkeit mit«. Baerbock, die einen Master in Völkerrecht hat, steht gemeinsam mit Habeck seit Januar 2018 an der Spitze der Grünen. CDU-Chef Armin Laschet behauptete, er freue sich auf einen »fairen Wahlkampf«. CSU-Chef Markus Söder sagte in München vorher, es werde zwischen Union und Grünen »um Platz eins« gehen. Er strebt ebenso wie Laschet die Kanzlerkandidatur von CDU und CSU an und erklärte mit Blick auf eine Onlinetagung des CDU-Bundesvorstandes, die Laschet für 18 Uhr am Montag zu diesem Thema einberufen hatte, er werde jedes Ergebnis »ohne Groll« akzeptieren.
    Seit dem Aufstieg Baerbocks zur Parteikovorsitzenden der Grünen ließen ihre Bekenntnisse zu Kapital, Aufrüstung, gegen Russland und China und zu allem übrigen, was deutsche Konzern- und Staatsmedien verordnen, nichts zu wünschen übrig. So hat für sie z. B. die Ukraine-Krise gezeigt, »dass die eigene Bündnisverteidigung zentral für unsere polnischen und baltischen Partner ist«. Daher gehe es »um flexible, schnell verlegbare Einheiten im Bündnisgebiet, genauso um Gefährdungslagen wie Cyberattacken, eine neue Form der Kriegführung«. Wenn Russland im Kaukasus Frieden stifte, erklärte sie zum Krieg um Bergkarabach, dann sei das »für die Menschen in der Region und den demokratischen Prozess in Armenien fatal, aber auch für die Friedensrolle, die sich die EU mal gegeben hat«. Folgerichtig setzt sie sich für mehr »Investitionen« in die Bundeswehr ein, »damit Gewehre schießen und Nachtsichtgeräte funktionieren«. Ihre Sicht auf die Gasleitung Nord Stream 2 überholt die der USA an Feindseligkeit und läuft auf Interessenvertretung für US-Frackinggas hinaus. Die Ostseepipeline verstoße gegen »die geostrategischen Interessen der Europäer, ist ganz gezielt gegen die Ukraine gerichtet, sie ist eine Wette gegen die europäischen Klimaziele, konterkariert alle EU-Sanktionen gegenüber Russland und ist damit ein absolut fatales Projekt«. Als der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich sich gegen die Anschaffung von bewaffneten Drohnen für die Bundeswehr wandte, wiesen Baerbock und Habeck beruhigend darauf hin, dass erst einmal Einsatzregeln formuliert werden müssen. Die FAZ kommentierte, die Grünen würden sich »augenscheinlich nicht ungern überzeugen lassen«.
    Was Joseph Fischer einst ersann, eine Partei zur Beseitigung sozialistischer Flausen, das wollen seine politischen Kinder mit CDU und CSU erledigen. Baden-Württemberg ist Modell für den Bund.

  144. Antifaschist des Tages: Andrij Melnyk
    Von Reinhard Lauterbach
    Es ist das Schicksal von Toten, dass sie sich nicht gegen ihre posthume Vereinnahmung wehren können. 1999 schickte der grüne Außenminister Joseph Fischer Serbien die Bundeswehr auf den Hals, um eine »Wiederholung von Auschwitz zu verhindern«. Aktuell missbraucht Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Berlin, die Opfer der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944. Gegenüber der Welt am Sonntag (online) ließ sich Melnik das Argument einfallen, die »Naziverbrechen gegen das ukrainische Volk« geböten heute, dass die BRD bei der Aufnahme der Ukraine in die NATO eine »Vorreiterrolle« spielen müsse.
    Da steht der Mann in guter schlechter Tradition. Österreich-Ungarn, das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Nazireich haben bei Gelegenheit gern die ukrainische Karte gespielt. Mal gegen Polen, mal gegen Russland bzw. die Sowjetunion. Das vom deutschen Militärgeheimdienst aufgestellte ukrainische Freiwilligenbataillon »Nachtigall« ging sofort ans Werk: Eine Woche nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion mit einem Judenpogrom im frisch eroberten Lwiw. Ebenso, wie kollaborierende ukrainische Hilfspolizei Ende September 1941 in Kiew beim dreitägigen Massaker von Babij Jar mitgewirkt hat. Wie bei den vielen weiteren Massakern durch die »Einsatzgruppen«. Wenn es ein spezifisches deutsches Verbrechen am ukrainischen Volk gegeben hat, dann besteht es darin, diese einheimischen Todesschwadronen losgelassen zu haben. Ukrainer waren neben Deutschen die Täter, soviel steht fest.
    Alle anderen deutschen Verbrechen auf ukrainischem Boden betrafen die Ukrainer als »slawische Untermenschen« und Teil des sowjetischen Volkes: Hunger, Zwangsarbeit, Ausplünderung, Zerstörungen. Daran zu erinnern, bedeutet gerade nicht, die politischen Erben Stepan Banderas und seiner Mörderbanden aufzuwerten oder gar aufzurüsten.

  145. TomGard: Knappe Bemerkungen zum avisierten Ukrainekrieg im Frühsommer
    Hallo Berengar,
    mir scheint, es ist mal nötig, daß ich militärpolitischen Klartext rede.
    In meiner auf TP gelöschten Kommentarserie hatte ich darauf abgehoben, daß Merkels unterdessen mehrfach ergangene öffentliche Aufforderungen an Putin, Truppen vom eigenen Territorium zurück zu ziehen, denen auf NATO-Seite ein sehr nennenswerter Aufmarsch gegenüber steht, weder ihrem Politikstil noch ihrer militärpolitischen Position entspricht und also erpresst worden sind. Ihr Auftritt vor dem EP hat das bekräftigt: „Nicht aufhören, miteinander zu reden“, geht anders, als ultimative Forderungen zu stellen.
    Doch die Kehrseite der Angelegenheit besteht darin, daß die immense Bereitstellung und Konzentration von Feuerkraft auf russischer Seite eine Entscheidung reflektiert, hinter die der Kreml praktisch nicht mehr zurück kann ohne das Militär gegen sich aufzubringen. Die kommende Provokation wird in diesem Sinne vermutlich auf eine Weise beantwortet werden müssen, die in Syrien in den ersten zwei russischen Kriegsjahren mehrfach demonstriert wurde: „Shock And Awe“ auf russisch. Am Ort des gewählten Gegenschlages wird es aussehen, als sei eine nukleare Druckwelle drüber gegangen.
    Die US-Navy hat dies bewogen, ihre auf dem Weg ins Schwarzmeer befindlichen Schiffe auf Gegenkurs zu schicken, worauf die britische Navy erst recht zwei Schiffe entsandt hat. Pepe Escobar hat berichtet, auf Brüsseler Fluren werde hinter vorgehaltener Hand getobt, in der britischen Militäraristokratie herrsche ein Korpsgeist, der davon ausgehe, im UK werde im Falle einer nuklearen Verwüstung Kontinentaleuropas ein historischer Frühling ausbrechen. Die militärische und ökonomische Erpressung der EU durch die NATO reißt Bruchlinien auf, von denen niemand zu sagen weiß, wie sie zu kitten sein könnten. Das gilt selbstredend auch für die USA.
    Das ist pi mal Daumen die vielzitierte Lage des „Franz-Ferdinand-Momentes“ 2014, nur daß es diesmal voraussetzungsgemäß nicht um einen „Weltkrieg“ geht, weil dieser seit über 20 Jahren stattfindet.
    Die „Erwachsenen“ in den Planungsstäben des Pentagon dürften im Auge behalten, daß es in ihrem militärpolitischen Sinne völlig daneben ginge, dem russischen Militär ein Siegesmoment ohne kompensierende Niederlage zu erlauben. Denk an Armenien, wo sich die NATO in Zusammenarbeit mit der Türkei sehr genau an diese Marschroute gehalten hat. Aber just das ist das Konundrum für die europäischen Atlantiker und die NATO als dem eigenständigen Akteur, der sie geworden ist. Es schreibt die Konfliktlage fort, die ein maßgeblicher Teil ihrer Führungskräfte offenkundig nicht mehr aushalten und im Gefolge der deutschen Wahlen nachhaltig geändert haben wollen.

  146. Kräftemessen am Schwarzen Meer (21.04.2021)
    Defender Europe 21: Ex-Kommandeur der U.S. Army Europe publiziert Zwölf-Punkte-Plan zur Schwächung Russlands am Schwarzen Meer.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Pünktlich zum Beginn des Großmanövers Defender Europe 21 legt ein hochrangiger US-General a.D. einen Zwölf-Punkte-Plan zur Schwächung Russlands am Schwarzen Meer vor. Die Schwarzmeerregion ist Schwerpunkt der diesjährigen Defender Europe-Übung, an der auch die Bundeswehr teilnimmt. Wie Generalleutnant Ben Hodges, Ex-Kommandeur der U.S. Army Europe, in einem aktuellen Strategiepapier schreibt, sei Russland im Schwarzen Meer zu stark, als dass die NATO die “Kontrolle” gewinnen könne; sie solle es daher anstreben, die russische Schwarzmeerflotte “verwundbar” zu machen. Zur Zeit proben rund 28.000 Soldaten aus 21 NATO-Staaten und aus fünf dem Bündnis nahestehenden Ländern im Rahmen von Defender Europe 21 die Verlegung großer Truppen in Richtung Schwarzes Meer. Im vergangenen Jahr hatte der Schwerpunkt der Kriegsübung auf der Ostseeregion gelegen, der wegen der immer weiter steigenden Spannungen zwischen dem Westen und Russland erhöhte geostrategische Bedeutung zukommt. Das Manöver hatte die Spannungen zusätzlich verstärkt. Ähnliches steht nun der Schwarzmeerregion bevor.
    Die neue Defender Europe-Routine
    Die “Defender Europe”-Manöverserie, die im vergangenen Jahr mit dem größten US-geführten Manöver in Europa seit dem Ende des Kalten Kriegs begann, etabliert sich nun mit Defender Europe 21 als alljährliche Routine. Dieses Jahr sind zwar mit rund 28.000 Militärs etwas weniger Soldaten an der Kriegsübung beteiligt als 2020; dafür nehmen jedoch mehr Staaten teil, und auch das Operationsgebiet ist größer als im vergangenen Jahr. 21 NATO-Mitgliedstaaten sind beteiligt, darunter auch die Bundesrepublik; darüber hinaus werden fünf Länder eingebunden, die dem Militärbündnis nicht angehören: Bosnien Herzegowina, das Kosovo, Moldawien, die Ukraine und Georgien. Über die Beteiligung der ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Ukraine und Moldawien an Defender Europe 21 integriert der Westen deren Streitkräfte auch ohne offizielle NATO-Mitgliedschaft schrittweise in seine Militärstrukturen.
    Auf dem Weg nach Osten
    Defender Europe 21 hatte im März begonnen, als die USA die Verlegung von Soldaten und Material per Schiff nach Europa starteten. Im laufenden Monat sollen nun die restlichen US-Streitkräfte eingeflogen werden, unter anderem auch über deutsche Flughäfen. Mitte April wurden in Grafenwöhr US-Soldaten mit Material ausgestattet, das zuvor aus einem US-Waffenlager (Army Prepositioned Stock, APS) in den Niederlanden dorthin transportiert worden war.[1] Im Mai werden die Soldaten mit ihrem Gerät dann über Europa verteilt eine Vielzahl von Gefechtsübungen abhalten. Geografische Schwerpunkte sind dabei in diesem Jahr Südosteuropa und die Schwarzmeerregion. Voraussichtlich im Juni werden die US-Soldaten wieder über den Atlantik zurück in die USA verlegen.[2]
    Von der Ostsee zum Schwarzen Meer
    Mit dem Schwerpunkt Südosteuropa entwickelt die NATO ihre Aufmarschstrategien weiter. Im Jahr 2014 hatte sie auf dem Gipfel in Wales mit dem Readiness Action Plan zunächst den Startschuss für eine Militarisierung der Ostseeregion gegeben. Seitdem hat sie ihre militärische Präsenz dort systematisch ausgebaut. Vorläufiger Höhepunkt war 2020 der Beginn der Defender Europe-Manöverserie – damals mit dem Schwerpunkt Ostseeregion, wobei insbesondere die Infrastruktur für die Truppenverlegung getestet wurde. Jetzt folgt ein vergleichbarer Prozess für die Schwarzmeerregion. Schon die gesteigerten Aktivitäten der NATO im Baltikum belasten die Beziehungen zu Russland schwer. Die Militarisierung des europäischen Südostens wird die Lage noch weiter verschlechtern, die ohnehin von starken Spannungen geprägt ist: Zum einen eskaliert die Lage in der Ostukraine aktuell erneut; zum anderen rivalisieren die Großmächte um das Schwarze Meer.
    Doppelter Großmachtkonflikt
    Den Hintergrund hat im Januar US-Generalleutnant Ben Hodges beschrieben, ein ehemaliger Kommandeur der U.S. Army Europe (2014 bis 2017). Hodges sieht am Schwarzen Meer die Interessen der Großmächte aufeinanderprallen: Der “wachsende Einfluss Russlands (und Chinas) in der Schwarzmeerregion” habe “Auswirkungen auf breitere Interessen des Westens im Mittleren Osten, im Mittelmeerraum und in Südostasien”, urteilt der US-General in einem kürzlich publizierten Strategiepapier.[3] Das Gebiet bilde die “Grenze zwischen liberaler Demokratie und Autokratie”; in es hinein erstreckten sich – nicht näher benannte – “russische militärische” und “chinesische finanzielle Aggressionen”. Hodges sieht den Westen – auch in der Schwarzmeerregion – vor einer “doppelten Großmachtherausforderung durch China und Russland”.
    “Die Initiative gewinnen”
    Damit die NATO in der Schwarzmeerregion “die Initiative gewinnen” könne, schlägt Hodges einen Zwölf-Punkte-Plan vor. Hodges urteilt, Russlands Einfluss im Schwarzen Meer sei größer als in der Ostsee; deshalb sei die “Kontrolle” über das Gewässer für das westliche Militärbündnis kein erreichbares Ziel.[4] Vielmehr müsse die NATO Fähigkeiten aufbauen, die es ihr erlaubten, Russland den uneingeschränkten Zugriff auf das Schwarze Meer zu “verweigern”. Dazu sei eine Vielzahl ideologischer, politischer, ökonomischer und militärischer Maßnahmen nötig. Wie bereits zuvor in der Ostseeregion solle die NATO jetzt auch am Schwarzen Meer ihre militärische Präsenz durch eine erhöhte Manöverfrequenz stärken. Darüber hinaus müsse sie Führungsstrukturen in der Region aufbauen. Um ein “schnelleres Verlegen und Verstärken” von NATO-Truppen zu ermöglichen, müsse die Infrastruktur der Region ausgebaut werden.
    Die “Sicherheitslücke” schließen
    Hodges schlägt zusätzlich vor, das jährlich von den USA und der Ukraine ausgerichtete Manöver “Sea Breeze” auf ein mit Defender Europe vergleichbares Ausmaß auszuweiten und unter anderem das “Verlegen von US- und Partnereinheiten aus Polen und Rumänien durch Moldawien in die Ukraine” zu üben.[5] Außerdem müsse die NATO die russische Schwarzmeerflotte “verwundbar” machen und dabei Fähigkeiten der sogenannten hybriden Kriegsführung entwickeln. Georgien sei “sofort” zur Mitgliedschaft in die NATO einzuladen; darüber hinaus müsse auch die Ukraine schnell zum offiziellen Bündnismitglied werden, und Serbien sowie die wenigen noch nicht förmlich aufgenommenen Teile Südosteuropas sollten ebenfalls kontinuierlich in die westlichen Einflussstrukturen integriert werden. Ökonomisch müssten private Investoren aus dem Westen “graduell den Einfluss” Russlands in der Region “verringern” und ein “Bollwerk” gegen chinesischen, aber auch iranischen Einfluss in der Region aufbauen. So könne es gelingen, die “Sicherheitslücke” am Schwarzen Meer zu schließen.

  147. Brückenverbrenner
    Propagandakrieg gegen Moskau
    Von Reinhard Lauterbach
    Der Skandal um den angeblichen russischen Anschlag auf ein tschechisches Depot voller alter Warschauer-Vertrag-Waffen ist so fadenscheinig gestrickt, dass es sich kaum lohnt, darüber noch ein Wort zu verlieren. Die zweite Story für dasselbe Ereignis – es ist völlig klar, dass hier ein alter Vorfall wieder hervorgekramt wurde, der schon wegen der heftigen Zerstörungen nach der Explosion nicht mehr aufzuklären sein wird. Mit Verdächtigen, denen man nie etwas wird beweisen müssen, weil es nach menschlichem Ermessen zu einem Prozess gegen sie nicht kommen wird, und einem fehlenden Motiv für die angebliche Tat. Wenn Russland Lieferungen an die Ukraine hätte verhindern wollen, hätte es damit beim Bündnispartner Belarus anfangen können, dessen Raffinerien die ukrainische Armee mit Diesel – aus russischen Rohstoffen – versorgen. Es ist dort aber nicht passiert.
    Es sei denn natürlich, der Skandal ist gar nicht darauf berechnet, dass er rational plausibel begründet werden kann. In der Theologie gibt es das Prinzip »Credo quia absurdum« – ich glaube, genau weil ich es mit dem Verstand nicht nachvollziehen kann. In der Politik nennt man das Gefolgschaft. Und genau um die könnte es den USA gegangen sein, als sie die Affäre provoziert haben, die dem nationalen Sonderweg Tschechiens ein Ende setzen soll: der NATO anzugehören, aber irgendwie dann doch noch sein Auskommen mit Russland suchen. Das soll künftig vorbei sein: jedem, der ein Bier will, eines zu servieren, wie es der Gastwirt Palivec im »Schwejk«, einem Hauptwerk der tschechischen Literatur, sagt.
    Auch mit der BRD haben die USA und ihr osteuropäisches Gefolge noch ein Hühnchen zu rupfen: Es geht um die Ostseepipeline Nord Stream 2, die Berlin bisher allen Befürchtungen zum Trotz nicht in Frage stellen lässt. Dahinter stecken handfeste materielle Vorteile für die deutsche Volkswirtschaft – das russische Gas ist billiger als das US-amerikanische, und seine Lieferung ist sicherer als die in Tankschiffen, die jederzeit umdirigiert werden können, sobald irgendwo in Asien ein paar Dollar mehr für Flüssiggas gezahlt werden. Dahinter stecken aber auch politische Erwägungen: Es geht darum, einen potentiellen Gegner durch ökonomische Zusammenarbeit einzubinden. Das Schema funktioniert übrigens in beide Richtungen.
    Wundern wir uns also nicht, wenn in den nächsten Wochen oder Monaten noch irgendeine »Enthüllung« über Nord Stream 2 oder sonstige russische »Machenschaften« in die Welt geblasen wird. Willfährige Presseorgane haben die USA genug: von den Holzhammerschwenkern der Springerpresse bis zu den Indiskretionspublizierern aus Hamburg und München, die sich nicht entblöden, mit einem Geheimdienst-Outlet wie Bellingcat zusammenzuarbeiten. In allen diesen Fällen ist eine doppelte Dosis gesundes Misstrauen angebracht.
    Strategisches Kommando der USA: “Müssen mit nuklearem Krieg rechnen”
    Im jährlichen Lagebericht geht das Strategische Kommando der USA von einer schnellen Eskalation der Konflikte bis zum Einsatz von Atomwaffen aus. Verantwortliche Generäle sehen neben Russland vor allem China als nächsten großen Konfliktpartner.
    Putin warnt vor Provokationen
    Über »rote Linien«, Umweltschutz und Pandemiebekämpfung: Rede an die Nation
    Globale Interessen und Sicherheit, demographische Entwicklung und Klimaschutz, Gesundheitssystem und Pandemiebekämpfung: Russland werde alle seine Entwicklungsziele erreichen, so Staatschef Wladimir Putin am Mittwoch in seine Rede an die Nation in Moskau vor der Föderationsversammlung. »Ich bin zuversichtlich, dass wir es gemeinsam tun und alle Aufgaben erfüllen werden, die wir uns vorgenommen haben«, sagte Putin laut der russischen Nachrichtenagentur TASS. Das Hauptziel der Regierung sei die Anhebung des Reallohns der russischen Bevölkerung.
    In seiner traditionellen Rede vor den beiden Parlamentskammern äußerte sich Russlands Präsident wie gewohnt zu den dringenden Angelegenheiten des Landes. Insbesondere mit Blick auf die internationalen Beziehungen fand er klare Worte und warnte vor dem Überschreiten einer »roten Linie«, die Russland »für sich in jedem einzelnen Fall selbst definiert«, so Putin laut TASS. »Wir wollen keine Brücken abbrechen. Aber wenn jemand unsere guten Absichten als Gleichgültigkeit oder Schwäche wahrnimmt und beabsichtigt, diese Brücken zu sprengen, dann muss er wissen, dass Russlands Antwort asymmetrisch, schnell und hart sein wird.«
    Ausführlich ging Russlands Präsident in diesem Zusammenhang auf das Vorhaben eines Staatsstreichs in Belarus und das geplante Attentat auf Staatschef Alexander Lukaschenko ein. Die westlichen Staaten hätten Beweise diesbezüglich ignoriert. »Es ist bemerkenswert, dass selbst solche ungeheuerlichen Aktionen keine Kritik oder Verurteilung durch den sogenannten kollektiven Westen hervorrufen«, so Putin.
    Bezüglich Umweltschutz und Klimawandel erklärte er, dass in Russland strengere Kontrollen etabliert werden müssten. In seiner Rede ging Putin unter anderem noch auf die weitere Entwicklung des militärischen Potentials Russlands ein und auf Fragen der Pandemiebekämpfung. »Lassen Sie sich impfen«, sagte der Staatschef. »Das Coronavirus ist noch nicht vollständig besiegt und stellt immer noch eine direkte Bedrohung dar.« (jW)

  148. Wenn man den hier geposteten Text von TomGard seiner bombastischen Verbrämungen entkleidet (bei ihm geht immer gleich die Welt unter), so heißt die Aussage doch: Die EU ordnet sich inzwischen bedingungslos der NATO unter.
    Diese These ist diskutierenswert.
    Es hieße also, daß alle Weltmachtsambitionen aufgegeben wurden und sich die Alte Welt als Schildknappe und Aufmarschgebiet den USA dienstbar macht.
    Es heißt auch, daß Deutschland ein Stück weit seinen Führungsanspruch aufgegeben hat und sich ebenfalls in Diensteifrigkeit gegenüber den USA überbietet, um nicht gegen Polen endgültig ins Hintertreffen zu geraten.
    Die Bemerkung, gewisse Aussagen Merkel verdanken sich einer „Erpressung“, sind daher nicht zutreffend, weil es handelt sich bei dieser Bereitwilligkeit immer noch um ein nationales politisches Kalkül. Aus diesem heraus wird auch aufgerüstet, was das Zeug hält, um sich als aktives und bereitwilliges NATO-Mitglied zu beweisen.
    Großbritannien hat durch den Brexit endgültig die Souveränität über seine eigenen Rüstungsschritte gewonnen und kostet es genüßlich aus, sich außen- und militärpolitisch nicht mehr um seine ehemaligen EU-Bündnispartner scheren zu müssen, auch bezüglich Äußerungen und Absichtserklärungen.
    Finanzkrise, Eurorettung und die Ereignisse um die Ukraine haben die Ambitionen der EU zuschanden werden lassen, es ist irgendwie logisch, daß eine neue Linie gesucht wird, und die scheint in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den USA gesucht zu werden.

  149. »Wir brennen die Brücken nicht ab«
    Auszug aus der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin am 21. April vor der Föderalen Versammlung in Moskau.
    Sinn und Inhalt der Politik Russlands in der internationalen Arena bestehen darin, Frieden und Sicherheit für das Wohl unserer Bürger und die stabile Entwicklung des Landes zu sichern. Russland hat eigene Interessen, was natürlich bedeutet, dass wir sie verteidigen und im Rahmen des Völkerrechts so behaupten, wie das eigentlich auch die anderen Staaten der Welt tun. Aber wenn sich jemand weigert, dies Offensichtliche zu begreifen, keinen Dialog führen will, einen egoistischen und arroganten Ton wählt, wird Russland immer einen Weg finden, seine Position zu verteidigen.
    Gleichzeitig scheint es leider, dass sich alle auf der Welt bereits an die Praxis politisch motivierter, illegaler Sanktionen in der Wirtschaft gewöhnen, an die groben Versuche einiger, ihren Willen anderen mit Gewalt aufzuzwingen. Aber heute kehrt diese Praxis als etwas viel Gefährlicheres wieder – ich meine die kürzlich bekanntgewordenen Tatsachen des direkten Versuchs, in Belarus einen Staatsstreich zu organisieren und den Präsidenten dieses Landes zu ermorden. Charakteristisch dabei ist, dass selbst solche ungeheuerlichen Aktionen vom sogenannten kollektiven Westen nicht verurteilt werden. Einfach niemand scheint so etwas zu bemerken. Alle tun so, als ob nichts passiert sei.
    Aber hören Sie, man kann sich verhalten, wie man möchte, zum Beispiel zum Präsidenten der Ukraine Janukowitsch oder zu Maduro in Venezuela. Ich wiederhole, man kann sich zu ihnen verhalten, wie man möchte, einschließlich zu Janukowitsch, der allerdings bei einem bewaffneten Staatsstreich ebenfalls fast getötet und von der Macht entfernt wurde. Man kann jeden beliebigen Standpunkt zur Politik des Präsidenten von Belarus, ­Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko, haben. Aber die Praxis, Staatsstreiche zu organisieren, politische Attentate zu planen, auch auf hochrangige Personen – das ist zuviel, da wurden alle Grenzen überschritten.
    Staatsstreich und Mord
    Was zählt, ist das Geständnis der inhaftierten Teilnehmer an der Verschwörung, wonach eine Blockade von Minsk vorbereitet war, einschließlich der städtischen Infrastruktur und Kommunikationsmittel, der vollständigen Abschaltung des gesamten Energiesystems der Hauptstadt von Belarus! Das bedeutet unter anderem, dass dem Wesen nach ein massiver Cyberangriff vorbereitet wurde. Was denn sonst? Sie wissen: Das lässt sich nicht einfach mit einem einzigen Schalter bewerkstelligen.
    Anscheinend lehnen unsere westlichen Kollegen nicht umsonst die zahlreichen russischen Vorschläge zur Einrichtung eines internationalen Dialogs im Bereich der Informations- und Cybersicherheit hartnäckig ab. Wir haben das viele Male vorgeschlagen. Alle vermeiden einfach, dieses Thema überhaupt zu diskutieren.
    Was aber wäre, wenn der Staatsstreichversuch in Belarus wirklich unternommen worden wäre? Schließlich wurde alles dafür getan. Wie viele Menschen hätte das betroffen? Was wäre überhaupt das Schicksal von Belarus gewesen? Niemand denkt darüber nach.
    Ebenso dachte niemand an die Zukunft der Ukraine, als der Staatsstreich in diesem Land durchgeführt wurde.
    Zusammen mit all dem hören die unfreundlichen Aktionen gegen Russland nicht auf. In einigen Ländern wurde der unpassende Brauch eingeführt, bei jeder Gelegenheit – und öfter ohne jeglichen Anlass – auf Russland herumzuhacken. Ein Sport, eine neue Sportart: Wer sagt irgend etwas lauter?
    In dieser Hinsicht verhalten wir uns äußerst zurückhaltend, direkt und ohne Ironie würde ich sagen: bescheiden. Oft antworten wir überhaupt nicht, nicht nur auf unfreundliche Aktionen, sondern auch auf hemmungslose Grobheit. Wir wollen gute Beziehungen zu allen Teilnehmern der internationalen Gemeinschaft haben. Aber wir sehen, was im wirklichen Leben passiert: Wie ich bereits sagte, man hackt auf Russland ein, mal hier, mal da, ohne jeden Grund. Und natürlich kreisen drum herum – wie um Shir Khan bei Kipling – alle möglichen kleinen Tabaquis, um den eigenen Herrscher zu besänftigen. Kipling war ein großer Schriftsteller.
    Wir wollen wirklich gute Beziehungen zu allen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft haben, darunter übrigens auch zu denen, mit welchen die Beziehungen – milde gesagt – in letzter Zeit nicht funktionierten. Wir wollen wirklich keine Brücken abbrennen. Aber wenn jemand unsere guten Absichten als Gleichgültigkeit oder Schwäche wahrnimmt und selbst beabsichtigt, diese Brücken endgültig zu verbrennen oder sogar zu sprengen, sollte er wissen, dass die Reaktion Russlands asymmetrisch, schnell und hart sein wird.
    Die Organisatoren von Provokationen, die die grundlegenden Interessen unserer Sicherheit bedrohen, werden ihre Taten bereuen, wie sie lange Zeit nichts bereut haben.
    Dabei – das muss ich einfach sagen – verfügen wir über ausreichend Geduld, Verantwortung, Professionalität, Vertrauen in uns selbst und auf unsere Berechtigung sowie über gesunden Menschenverstand, wenn wir eine Entscheidung treffen. Aber ich hoffe, dass niemandem in den Kopf kommt, die sogenannte rote Linie in bezug auf Russland zu überschreiten. Wo sie aber verlaufen wird, das werden wir in jedem konkreten Fall selbst festlegen.
    Modernisierung der Armee
    Ich komme auch heute nicht umhin, wie bei den jährlichen Ansprachen vor der Föderalen Versammlung üblich, zu sagen, dass die Verbesserung und qualitative Festigung der Streitkräfte Russlands stetig verläuft. Dabei gilt der militärischen Ausbildung besondere Aufmerksamkeit, die sowohl an militärischen Lehreinrichtungen als auch auf der Grundlage militärischer Lehrzentren an zivilen Hochschulen zu absolvieren ist.
    Bis 2024 wird der Anteil moderner Waffen und Technik in den Truppen fast 76 Prozent betragen – das ist ein sehr guter Indikator. Und in der Atomtriade (also bei nuklear bewaffneten U-Booten, landgestützten Atomraketen und strategischen Bombern, jW) werden schon in diesem Jahr 88 Prozent erreicht.
    In Kampfbereitschaft befinden sich bereits die neuesten Hyperschallgeschwindigkeitswaffen mit interkontinentaler Reichweite vom Typ »Avantgard« sowie das Laserwaffensystem »Pereswet«. Das erste Regiment, das komplett mit schweren ballistischen »Sarmat«-Interkontinentalraketen ausgestattet sein wird, erreicht planmäßig Ende 2022 seine Kampfbereitschaft.
    Die Zahl der Flugzeuge und Schiffe, die mit hochpräzisen Hyperschallwaffen ausgestattet sind, mit »Kinschal«- oder »Kalibr«-Raketen, vergrößert sich. In Kampfbereitschaft geht in nächster Zeit auch die Hyperschallrakete »Zirkon«. In voller Übereinstimmung mit den Entwicklungsplänen der Streitkräfte geht die Arbeit auch an anderen modernsten Waffensystemen voran, einschließlich der »Poseidon«-Torpedos und der »Burewestnik«-Marschflugkörper.
    Internationale Initiativen
    Gerade als führende Kraft bei der Schaffung von Kampfsystemen einer neuen Generation und der Entwicklung moderner Atomwaffen lädt Russland die Partner nachdrücklich ein, Fragen zu erörtern, die mit strategischen Waffen zusammenhängen, mit der Gewährleistung globaler Stabilität. Gegenstand und Ziel solcher Gespräche kann die Schaffung eines Umfelds konfliktfreier Koexistenz sein auf der Grundlage gleicher Sicherheit, was nicht nur traditionelle strategische Waffen betreffen würde, also ballistische Interkontinentalraketen, schwere Bombenflugzeuge und U-Boote, sondern auch – ich unterstreiche das – alle offensiven und defensiven Systeme, die geeignet sind, strategische Aufgaben zu lösen, unabhängig von ihrer Ausrüstung.
    Die fünf Atomländer haben hier eine besondere Verantwortung. Ich hoffe, dass die Initiative zu einem persönlichen Treffen der Staatsoberhäupter – der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats –, das wir im vergangenen Jahr vorgeschlagen haben, verwirklicht wird und es stattfinden kann, sobald die epidemiologische Lage es erlaubt.
    Russland ist stets offen für breite zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Wir setzen uns konsequent für die Wahrung und Festigung der Schlüsselrolle der Vereinten Nationen in der Weltpolitik ein, bemühen uns, bei der Regulierung regionaler Konflikte zu helfen, und haben schon viel für die Stabilisierung der Situation in Syrien getan, für die Etablierung eines politischen Dialogs in Libyen. Russland spielte, wie Sie wissen, eine Hauptrolle, als es darum ging, den bewaffneten Konflikt in Berg-Karabach zu stoppen.
    Wir bauen namentlich auf der Grundlage gegenseitiger Achtung die Verbindungen zur absoluten Mehrheit der Staaten weltweit aus: in Asien, Lateinamerika, in Afrika, mit vielen Ländern Europas. Konsequent und mit Priorität erweitern wir die Kontakte zu den engsten Partnern in der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit, zu den BRICS, zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und zu den Bündnispartnern in der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit.
    Unsere gemeinsamen Vorhaben im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft haben das Ziel, das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand der Bürger zu festigen. Dabei zeigen sich neue interessante Richtungen wie die Entwicklung von Transport- und Logistikkorridoren. Ich bin überzeugt, dass sie zuverlässige Infrastrukturgerüste der großen eurasischen Partnerschaft werden. Die russischen Ideen für diese breite offene Vereinigung verwirklichen sich bereits in der Praxis – auch durch die Anbindung an andere Integrationsprozesse.
    All dies sind keine spekulativen geopolitischen Konstruktionen, sondern sauber angewandte Instrumente zur Lösung der Probleme unserer nationalen Entwicklung.
    Übersetzung: Arnold Schölzel
    Klare Linie
    Russland: Putin warnt Westen. Fokus in Rede auf Sozialpolitik. Nawalny-Proteste hinter Erwartungen
    Von Reinhard Lauterbach
    Russlands Staatspräsident Wladimir Putin hat den Westen nachdrücklich vor dem Versuch gewarnt, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. In seiner jährlichen Ansprache vor der Föderationsversammlung sagte Putin am Mittwoch, Russland sei bestrebt, mit allen Staaten gute Beziehungen zu unterhalten. Auf Versuche, vom Ausland aus Einfluss auf die politischen Verhältnisse zu nehmen, werde jedoch »schnell, hart und entschieden« reagiert. Wer Russlands »rote Linien« überschreite, werde dies »bereuen, wie er noch nie etwas bereut« habe.
    Ein Beispiel dieser Vorgehensweise gab die Staatsmacht am Mittwoch gegenüber den Protestaktionen von Anhängern des inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny. Die Kundgebungen fanden in etwa 60 Städten vom Fernen Osten bis nach Moskau und St. Petersburg statt. Die Angaben über die Teilnehmerzahlen gehen zwischen den Veranstaltern und der Polizei wie üblich weit auseinander. Für Moskau zum Beispiel gaben die Nawalny-Anhänger 60.000 Demonstrierende an, die Polizei sprach von 6.000. Klar ist auf jeden Fall, dass die Gesamtzahl von 460.000 Personen, die sich nach Angaben der Nawalny-Organisation auf sozialen Netzwerken zu den Protesten angemeldet hatten, nicht erreicht wurde.
    Wie in den vergangenen Monaten schon mehrfach zu beobachten, war die Reaktion der Polizei auf die Proteste regional unterschiedlich. So war ein Schwerpunkt der Festnahmen diesmal offenbar St. Petersburg. Dort wurden mit 837 etwa die Hälfte der landesweit gut 1.700 Inhaftierungen vorgenommen. Erstmals soll die Polizei nach Angaben oppositioneller Medien Elektroschocker gegen Demonstranten angewandt haben. In Moskau hielt sich die Zahl der Festgenommenen mit offiziell etwa 60 dagegen in Grenzen, und ein Großteil von ihnen wurde nach Polizeiangaben bereits im Laufe der Nacht wieder freigelassen. In der Hauptstadt hinderte die Polizei die Demonstranten nur daran, die Fahrbahn zu betreten; solange sie sich über die Bürgersteige bewegten, ließ sie die Leute offenbar in Ruhe.
    Das scheint Teil einer Strategie zu sein. Bereits im Vorfeld der Proteste hatte die Polizei vorwiegend die Kader von Nawalnys »Antikorruptionsbewegung« festgenommen: Pressesprecherin Kira Jarmysch, die Anwältin Ljubow Sobol und andere wurden jeweils zu zwei Wochen Arrest verurteilt. Gegenüber der breiten Masse der »Mitläufer« und einfachen Anhänger schienen es die Behörden einstweilen bei Einschüchterungsmaßnahmen bewenden zu lassen: Insbesondere bei der Veröffentlichung der durch einen Hackerangriff gewonnenen Adressdatenbank der knappen halben Million Leute, die sich in sozialen Netzwerken für die Teilnahme an den Protesten angemeldet hatten. Für die nächsten Tage wird erwartet, dass die Justiz das organisatorische Netzwerk Nawalnys zu »extremistischen Organisationen« erklärt, was in der Praxis einem Verbot gleichkommt.
    In seiner Botschaft erwähnte Putin den Namen Nawalnys kein einziges Mal. Schwerpunkt der Ansprache war die epidemiologische und soziale Situation im Lande. Der Präsident dankte den Mitarbeitenden im Gesundheitswesen, die »an vorderster Front« gegen die Pandemie kämpfen. Mit den Worten »Meine Lieben, bleibt weiter wachsam« forderte der Staatschef die Russen auf, sich weiterhin an die Hygienemaßnahmen zu halten und das Virus »sowohl an den Außengrenzen Russlands wie auch im Innern« aufzuhalten und zu bekämpfen.
    Putin kündigte umfangreiche Sozialleistungen für Familien an, die im Sommer, kurz vor der im September angesetzten Wahl zur Staatsduma, ausgezahlt werden sollen. Ebenso versprach er ein staatliches Programm, um Urlaub innerhalb Russlands für möglichst viele Menschen möglich zu machen. Um dem Eindruck entgegenzutreten, es gehe um eine neue Abschottung des Landes von der Außenwelt, kündigte Putin im übrigen Erleichterungen bei der Vergabe von Besuchervisa an. Solche Erleichterungen waren vor der Pandemie in einigen Regionen getestet worden. Das Programm soll jetzt offenbar wieder aufgenommen werden.
    Putin bereit zu Treffen mit Selenskij
    Russischer Präsident: Wenn Kiew Beziehungen wiederherstellen will, begrüßen wir das
    Von Arnold Schölzel
    Wie die russische Nachrichtenagentur TASS am späten Nachmittag deutscher Zeit meldete, hat Russlands Präsident Wladimir Putin am Donnerstag seine Bereitschaft erklärt, mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodimir Selenskij die beiderseitigen Beziehungen zu jedem geeigneten Zeitpunkt in Moskau zu erörtern. Wenn Selenskij eine Wiederherstellung der Beziehungen zur Russischen Föderation wolle, werde Moskau das begrüßen, betonte Putin am Rande der Gespräche mit dem Präsidenten der Republik Belarus Alexander Lukaschenko. Nach Auffassung des russischen Staatsoberhaupts, hat allerdings »die gegenwärtige Führung der Ukraine in letzter Zeit sehr viele Schritte unternommen, um die russisch-ukrainischen Beziehungen zu zerstören.«
    Putin fügte laut TASS hinzu, Vorschläge, die Kontaktgruppe aus Minsk zu verlegen, kämen dem Versuch gleich, einer echten Lösung der Probleme aus dem Weg zu gehen. Für die Lösung der Probleme des Donbass müsse die Führung der Ukraine mit den beiden Volksrepubliken von Donezk und Lugansk kommunizieren und erst dann mit Russland.

  150. Russland beendet heute Manöver
    Verteidigungsminister Schoigu zufrieden mit Übungen. Lukaschenko zu Gesprächen in Moskau
    Die russischen Militärmanöver nahe der Grenze zur Ukraine enden am heutigen Freitag. Verteidigungsminister Sergej Schoigu kündigte das am Donnerstag auf der Krim an. Er erklärte: »Ich glaube, dass die Ziele der unangekündigten Inspektion voll erreicht wurden. Die Truppen haben ihre Fähigkeit bewiesen, eine zuverlässige Verteidigung des Landes zu gewährleisten.« An den Manövern nehmen nach Angaben des Moskauer Verteidigungsministeriums 10.000 Soldaten und 40 Kriegsschiffe teil. Kiew und der Westen hatten in den vergangenen Wochen wegen der Manöver von einem angeblich bevorstehenden russischen Angriff auf die Ukraine phantasiert.
    Am Donnerstag traf in Moskau das Staatsoberhaupt von Belarus, Alexander Lukaschenko, zu Gesprächen mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin ein. Bei den Gesprächen, die nach jW-Redaktionsschluss endeten, sollte es laut TASS vor allem um die Union beider Staaten gehen. Weitere Themen seien die Handelsbeziehungen, die Bekämpfung der Pandemie sowie »Herausforderungen und Bedrohungen« in der Region. Am selben Tag erklärte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, die Verschwörung zum Staatsstreich in Belarus, bei der Lukaschenko und dessen Sohn ermordet werden sollten, sei »ohne Wissen amerikanischer Geheimdienste« schwer vorstellbar. Am Freitag vergangener Woche hatte der belarussische Geheimdienst KGB mitgeteilt, dass in Moskau vom russischen Geheimdienst FSB zwei Belarussen festgenommen worden seien: der Politikwissenschaftler Alexander Feduto und der Anwalt Juri Senkowitsch, der auch die US-Staatsbürgerschaft hat.
    Putin nahm am Donnerstag zudem am Onlineklimagipfel teil, zu dem US-Präsident Joseph Biden eingeladen hatte. Mit ihm hatte der russische Präsident über die Pläne für das Attentat auf Lukaschenko am vergangenen Wochenende telefonisch gesprochen. Am Mittwoch hatte Putin in diesem Zusammenhang vor der Föderalen Versammlung in Moskau vor dem Überschreiten »roter Linien« gegenüber Russland gewarnt. (Agenturen/jW)
    Russian Military Reportedly Creates ‘Dead Zones’ for Enemy Drones and Cruise Missiles
    The significance of cruise missiles and drone warfare has become all too apparent in the 21st century, with the United States and its allies in the Middle East regularly using state of the art weapons to launch attacks across Africa, the Middle East and West Asia over the past two decades, mostly against nations without developed air defences.
    Tschechien und Slowakei weisen russische Diplomaten aus
    Prag. Tschechien heizt die diplomatische Krise in den Beziehungen zu Russland weiter an. Nach dem Verstreichen eines Ultimatums an Moskau kündigte das Außenministerium in Prag am Donnerstag die Ausweisung dutzender russischer Diplomaten an. Russland hat demnach bis Ende Mai Zeit, die Belegschaft seiner Botschaft auf den Stand der tschechischen Vertretung in Moskau zu reduzieren. Als »Zeichen der Solidarität« mit Tschechien kündigte auch die Slowakei die Ausweisung dreier russischer Botschaftsmitarbeiter an.
    »Im Einklang mit Artikel elf« des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen habe Tschechien entschieden, »die Zahl der Mitarbeiter der russischen Botschaft in Prag auf die tatsächliche Zahl (der Mitarbeiter) in unserer Botschaft in Moskau zu reduzieren«, sagte Tschechiens neuer Außenminister Jakub Kulhanek vor Journalisten. Die tschechische Vertretung in Russland verfügt über 24 Mitarbeiter, die russische Vertretung in Prag hat 94 Mitarbeiter.
    Prag wirft dem russischen Geheimdienst eine Verwicklung in die Explosion eines tschechischen Munitionslagers nahe dem Dorf Vrbetice im Jahr 2014 vor. Tschechien hatte deshalb bereits am Sonnabend 18 russische Diplomaten ausgewiesen, die laut der Regierung in Prag als russische Geheimagenten enttarnt wurden. Russland reagierte mit der Ausweisung von 20 tschechischen Diplomaten und bezeichnete die Vorwürfe als »Karikatur« und das tschechische Vorgehen als »Provokation und unfreundlichen Akt«.
    Außenminister Kulhanek hatte die Maßnahme Moskaus am Mittwoch als völlig »unverhältnismäßig« bezeichnet. Die Ausweisung von 20 Diplomaten lege die Arbeit der tschechischen Botschaft völlig lahm, während die Ausweisung von 18 russischen Diplomaten die Arbeit der russischen Botschaft nicht gefährde. Kulhanek stellte Russland ein Ultimatum bis Donnerstag mittag, um eine Rückkehr der 20 tschechischen Diplomaten an ihre Arbeit zu ermöglichen. Russland wies das Ultimatum umgehend zurück.
    Das russische Außenministerium bestellte am Donnerstag nach Kulhaneks Ankündigung den tschechischen Botschafter ein. Prag habe sich für den Weg der Zerstörung der Beziehungen entschieden, sagte Ministeriumssprecherin Maria Sacharowa. Es werde »nicht lange auf unsere Antwort warten müssen«.
    Ihre »Solidarität« mit Prag betonte am Donnerstag Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in einem Telefonat mit Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babis. Babis habe Merkel über die angespannten Beziehungen mit Russland nach den tschechischen Erkenntnissen über die russische Verstrickung in die Explosion in dem Munitionslager informiert, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit.
    Zuvor hatte die Regierung in Prag bereits Rückendeckung der NATO-Partner erhalten. Das Kriegsbündnis erklärte am Donnerstag seine »volle Solidarität« mit Tschechien und zeigten sich dabei »zutiefst besorgt über die destabilisierenden Handlungen Russlands« auch in anderen Ländern des Bündnisses. Konkrete Schritte gegen Moskau kündigte die Militärallianz aber nicht an.
    Der slowakische Ministerpräsident Eduard Heger teilte mit, die dort ebenfalls von einem Ausweisungsbeschluss betroffenen drei russischen Diplomaten müssten das Land binnen sieben Tagen verlassen. Verteidigungsminister Jaroslav Nad erklärte, die Entscheidung basiere auf Erkenntnissen des slowakischen Geheimdiensten sowie der Geheimdienste verbündeter Länder. (AFP/jW)

  151. Umgruppierung
    Entspannungssignale und der Westen
    Von Arnold Schölzel
    Den meisten deutschsprachigen Kommentatoren hatte es am Tag danach die Sprache verschlagen: dürre Zeilen zum russischen Truppenrückzug, sonst nichts. Und das bei Propagandaprofis, die seit Jahren täglich Seiten mit Greuelmärchen aus Russland füllen. Einzige Erklärung: Es muss etwas Positives geschehen sein, mindestens ein Schritt zum Frieden. Ein Autor des in Berlin ansässigen englischsprachigen Wirtschaftsportals BNE Intellinews fasste das Geschehen so zusammen: »Der gestrige Tag begann für die Welt mit dem Scheidepunkt eines dritten Weltkriegs und endete mit einem Direktgespräch zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und US-Präsident Joseph Biden.« Nicht nur er verglich die Situation mit der sogenannten Kuba-Krise von 1962. Entspannung signalisierte schließlich die Erklärung Putins, er sei bereit, mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij die gegenseitigen Beziehungen zu erörtern.
    Die hiesigen Scharfmacher erfreut so etwas nicht. Außenminister Heiko Maas (SPD) warnte in gewohnter Unverfrorenheit den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU), sich bei seiner Moskau-Reise »nicht instrumentalisieren« zu lassen. Die FAZ behauptete, der von Kretschmer angekündigte deutsche Einkauf von 30 Millionen Dosen des russischen Impfstoffs Sputnik V werde Putin als »einen schönen Geländegewinn in seinem globalen Sputnik-Feldzug verbuchen«. Die Propagandaschlacht geht also weiter – ebenso wie das US-geführte Großmanöver »Defender Europe 21« an Fahrt aufnimmt, gegenwärtig mit Militärkonvois, die Österreich durchqueren. Neutralität ist flexibel.
    Offen ist, ob der Moment des Zurücktretens vom Abgrund einen Weg zu Stabilität und Frieden zwischen USA, NATO und EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite eröffnet. Putin und Biden haben in den letzten Tagen ihr jeweiliges Interesse an Rüstungskontrolle deutlich gemacht. An der Konfrontation wird auch ein Treffen beider nichts ändern, im Gegenteil. Offenbar verfolgt die neue US-Administration eine Doppelstrategie: Russland und Belarus werden weitgehend den Westeuropäern »überlassen«. Insbesondere die Bundesrepublik wird die »gute deutsche Tradition«, wie es Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im November 2020 im Bundestag definierte, fortführen, mit Russland »aus einer Position der Stärke« heraus zu sprechen. Das schloss für deutschen Imperialismus stets ein, bis zum Kriegsbeginn dort gute Geschäfte zu machen. Das Hauptaugenmerk der USA bei Rüstung und geostrategischem Aufmarsch aber richtet sich auf China. Bei dessen Einkreisung sollen die Westeuropäer mithelfen. Das beginnt mit symbolischen Aktionen wie der Entsendung der Fregatte »Bayern« Richtung Südchinesisches Meer im August.
    Die USA und ihre Verbündeten nehmen eine Umgruppierung ihrer Kräfte vor. Die Atempause kann sehr kurz sein.
    Transatlantische Handschrift
    Moskau und Prag: Weitere Ausweisungen, keine neuen Erkenntnisse zu mutmaßlich russischer Geheimdienstaktion
    Von Reinhard Lauterbach
    Russland und seine osteuropäischen Nachbarstaaten setzen das Karussell gegenseitiger Diplomatenausweisungen fort. Nachdem die Slowakei aus Solidarität mit Prag drei Mitarbeiter der russischen Botschaft in Bratislava des Landes verwiesen hat, traf es am Freitag auch Polen. Dessen Botschafter in Moskau wurde ins Außenministerium einbestellt und bekam erklärt, fünf Mitarbeiter müssten Russland als »unerwünschte Personen« verlassen.
    Zuvor hatte Tschechien im Konflikt mit Russland den Einsatz erhöht und Moskau aufgefordert, bis Ende Mai den Umfang seiner diplomatischen Vertretung in Prag auf das Niveau zu reduzieren, das der tschechischen Botschaft in Moskau noch zugestanden ist: fünf diplomatische Vertreter – eine Verringerung um 58 Personen und damit mehr als 90 Prozent. Prag hatte sich beschwert, dass die Ausweisung von 20 seiner in Moskau akkreditierten Diplomaten die dortige Botschaft praktisch arbeitsunfähig gemacht habe. Betroffen waren auch die tschechischen Konsulate in Jekaterinburg und St. Petersburg.
    Die neue Serie von Diplomatenausweisungen zwischen Polen und Russland fällt zeitlich mit der Krise der tschechisch-russischen Beziehungen zusammen, steht jedoch in einem etwas anderen Zusammenhang. Warschau hatte Mitte April drei russische Diplomaten ausgewiesen, um Solidarität mit den USA und deren jüngsten Ausweisungen russischer Vertreter zu zeigen. NATO und EU erklärten ihre Solidarität mit der Prager Regierung, zogen aber mit Ausnahme der Slowakei zunächst keine praktischen Konsequenzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sicherte Prag am Donnerstag in einem Telefongespräch mit Premier Andrej Babis die Unterstützung der BRD zu, und Außenminister Heiko Maas (SPD) bot seinem Amtskollegen Jakub Kulhanek Hilfe der deutschen Botschaft in Moskau zur Aufrechterhaltung der Arbeit der tschechischen Vertretung an.
    Zum offiziellen Anlass der Ausweisungsserie gibt es eine Woche nach Veröffentlichung der Vorwürfe gegen Russland keine neuen Erkenntnisse. Tschechiens Ministerpräsident Babis hatte vom »begründeten Verdacht« gesprochen, dass eine Explosion in einem alten Munitionslager im ostmährischen Vrbetice am 16. Oktober 2014 von zwei russischen Geheimagenten ausgelöst worden sei. Während tschechische Medien nur in Einzelfällen anmerkten, dass die Polizei »keinen direkten Beweis« habe, dass die beiden mutmaßlichen Attentäter das Gelände des Depots wirklich betreten hätten, äußerte der frühere Chef des tschechischen Militärgeheimdienstes, Andor Sandor, indirekt Zweifel an der offiziellen Version: Er hoffe, dass die Kollegen bei der Polizei wirklich belastbare Beweise besäßen. Denn wenn ihre Vorwürfe zuträfen, würde dies bedeuten, »dass sie im Kreml verrückt geworden sind«, zitierte ihn die polnische Deutsche Welle am vergangenen Sonntag. Dazu muss man wissen, dass die russische Diplomatie im Westen bei aller Kritik an ihren Mitteln und Zielen doch immer als im Kern rational und interessengesteuert betrachtet wird. Die Aussage Sandors bedeutet also eigentlich, dass die Vorwürfe wenig plausibel seien.
    Russland weist die Vorwürfe als absurd und Teil einer bösartigen Kampagne zur Vergiftung der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und den Staaten Osteuropas zurück. Immerhin hat Tschechien mit der relativ langen Frist für die Reduzierung des Personalbestands der russischen Botschaft ein Signal gesetzt, das die Tür zu Verhandlungen und eine eventuell für beide Seiten gesichtswahrende Beendigung des Streits nicht schließt. Indirekt kann man diesen Umstand auch als mögliches Signal Prags interpretieren, dass die ganze Eskalation nicht auf tschechischem Mist gewachsen ist.
    Anzeichen für eine transatlantische Handschrift der ganzen Sache gibt es: So begründete die Slowakei die Ausweisung der russischen Diplomaten mit »Erkenntnissen slowakischer und verbündeter Nachrichtendienste«, und nach einem Bericht des polnischen Dienstes der Deutschen Welle gab es bei der NATO vor dem Eklat Befürchtungen, dass Tschechien auf einen »kremlfreundlichen Kurs« abdriften könne. Der Grund dafür: von Prag geplante Bestellungen des russischen Coronaimpfstoffs »Sputnik V« sowie die mögliche Vergabe eines AKW-Auftrags an den russischen Bieter Rosatom. Beide Vorhaben sind über die Affäre zu einem abrupten Ende gekommen.

  152. An der Südflanke Russlands
    Gegen georgische Zudringlichkeiten kämpft Abchasien um Eigenständigkeit. Zur Lage im Südkaukasus (Teil 1)
    Von Harald Projanski
    Der Raum südlich des Kaukasusgebirges, eine Landbrücke zwischen Europa und Asien, zog Großmächte immer wieder geradezu magisch an. Griechen, Römer und Osmanen hatten ihren Herrschaftsraum bis dorthin ausgedehnt. Der deutsche Imperialismus griff zweimal nach dem Südkaukasus. Einmal, 1918, beim Einmarsch nach Georgien zur Unterstützung eines menschewistischen, im Kern nationalistischen Regimes. Und im Spätsommer 1942 drang Hitlers Heeresgruppe Süd in den Kaukasus vor. Monatelang okkupierte die Wehrmacht Ende 1942 große Teile des Nordkaukasus. Südlich des Kaukasuskamms gelang es ihr nur für wenige Wochen, das Bergdorf Psou in Abchasien zu besetzen. Dann wurden die Hitlertruppen auch dort von der Roten Armee vertrieben.
    »Mächte, die sich an Abchasien vergriffen, gingen daraufhin unter«, schlussfolgert der Sekretär des Sicherheitsrates der Republik Abchasien, Sergej Schamba. Der Politiker, Historiker und Archäologe vertrat die Republik Abchasien als Außenminister in den Jahren 1997 bis 2010. Danach war er von 2010 bis 2011 Premierminister. Schamba ist seit mehr als drei Jahrzehnten einer der führenden Köpfe der abchasischen Unabhängigkeitsbewegung. Seine Eigenständigkeit hat das Land in einem Krieg gegen eine georgische Intervention in den Jahren 1992 und 1993 unter großen Opfern erkämpft, gestützt auf eine Volksarmee und Partisaneneinheiten.
    Eigenen Weg gegangen
    Zu dem Krieg kam es durch den Zerfall der Sowjetunion. Die Abchasen wollten in der multinationalen Sowjetunion bleiben, der sie als autonome Republik im Bestand der Georgischen Sowjetrepublik angehörten. Die Georgier aber, in Abchasien gegen Ende der Sowjetära eine starke Minderheit von rund 45 Prozent der Bevölkerung, waren nahezu ausnahmslos für einen georgischen Nationalstaat. Abchasien schloss sich dem neuen georgischen Staat nicht an. Unter seinem 1990 gewählten Präsidenten Wladislaw Ardsinba, einem promovierten Historiker, ging es einen eigenen Weg. Auf die Unterstützung des russischen Staates, der damals von Boris Jelzin geführt wurde, konnte Abchasien nicht zählen.
    Die damalige russische Führung und ihr Außenminister Andrej Kosyrew unterstützten den Gebietsanspruch Georgiens auf Abchasien. Nur die linke und »patriotische« Opposition und nordkaukasische Völker waren mit den Abchasen solidarisch. Kosyrew, der bis zu seinem Rücktritt 1996 als eine Art US-amerikanischer Einflussagent agierte, lebt inzwischen in Florida. Der Kosyrew-Kurs ermunterte die georgische Führung zu einem aggressiven Vorgehen gegen die Abchasen.
    Um die Kontrolle über Abchasien zu gewinnen, ließ der vom früheren sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse geführte und durch einen Putsch an die Macht gekommene »Geor­gische Staatsrat« am 14. August 1992 Truppen nach Abchasien einmarschieren. Ein Schock für die Abchasen. Der Staatsrat Georgiens bestand aus einer Koalition aus gewendeten früheren Sowjetfunktionären und organisierten Kriminellen. Die georgische Intervention auf die Republik Abchasien glich einem großangelegten Raubüberfall. Georgische »Gardisten« beraubten und vertrieben massenhaft Abchasen, auch aus der Landeshauptstadt Suchum. Auf Lastwagen transportierten sie das Raubgut nach Georgien ab.
    Als fatal erwies sich, dass ein großer Teil der in Abchasien lebenden Georgier den Truppeneinmarsch begrüßte. Das verschärfte die Spannungen zwischen Abchasen und Georgiern. So eskalierte der politische Kampf zweier Staaten auch zu einem ethnischen Konflikt, in dem nur sehr wenige Georgier, meist aus gemischten Familien, die Abchasen unterstützten. Präsident Ardsinba bildete ein Staatskomitee für Verteidigung und rief die Bevölkerung »zur Abwehr der Aggression Georgiens« auf. Georgische Truppen besetzten einen Großteil Abchasiens, auch Suchum.
    Abchasische Partisaneneinheiten nahmen Anfang Oktober 1992 überraschend die Küstenstadt Gagra ein, die bis dahin mehrheitlich von Georgiern bewohnt worden war. Dabei kam es zu schwerer Gewalt gegen georgische Zivilisten und zu Plünderungen. Ardsinba verurteilte die Übergriffe. Er erklärte: »Das abchasische Volk befindet sich nicht im Kriegszustand mit dem georgischen Volk.«
    Doch je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger war es, diese Linie praktisch umzusetzen. Als die abchasischen Truppen den Krieg gewonnen hatten und am 30. September 1993 die georgischen Truppen über den Inguri-Fluss nach Georgien zurückgetrieben hatten, war der Großteil der georgischen Bevölkerung Abchasiens geflüchtet, insgesamt etwa 250.000 Menschen. Die Flucht war »eine gewaltige menschliche Tragödie«, so der abchasische Schriftsteller und Journalist Witali Scharia in seinem Buch »Abchasische Tragödie«. Dieser georgische Exodus erschwert bis heute die diplomatische Anerkennung, wie auch den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Republik. Noch immer ist das Land von Ruinen übersät, nach einem Krieg, der mehrere tausend Menschen das Leben kostete.
    Vereinigungswunsch gebremst
    Abchasien, gelegen am Ostufer des Schwarzen Meeres, ist nur halb so groß wie Schleswig-Holstein. Das Land hat nach offiziellen Angaben 243.000 Einwohner. Dass es der lange isolierten Republik im August 2008 gelang, Russland zur Anerkennung ihres Staates zu bewegen, war Ergebnis einer langfristig angelegten Strategie der abchasischen Führung. Abchasien empfahl sich als Verbündeter an der empfindlichen Südflanke Russlands, an der Grenze zur Großstadt Sotschi mit seiner Präsidentenresidenz.
    Dass Russland sich nach langem Zögern zur Anerkennung entschloss, war vor allem die Folge einer schleichenden Intervention der USA in Georgien. Im August 2008 hatte Georgien unter seinem damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili die mit Abchasien befreundete Republik Südossetien und dort stationierte russische Friedenstruppen mit Artillerie und Panzern angegriffen. Zuvor hatte die US-Armee georgische Soldaten für Angriffsoperationen ausgebildet. Russland half den Südosseten in einem Fünftagekrieg, die Aggressoren zurückzuschlagen.
    Die Republik Südossetien, etwas größer als das Saarland, hat offiziell 53.000 Bürger. Südossetien unterscheidet sich von Abchasien in einem wesentlichen Punkt. Die Südosseten würden sich gern per Referendum mit der auf dem Gebiet Russlands gelegenen Teilrepublik Nordossetien vereinen. Die russische Führung bremst den Vereinigungswunsch, um Annexionsvorwürfe zu vermeiden.
    Störende Republiken
    Abchasen hingegen reagieren sensibel, wenn russische Politiker, auch aus der russischen Linken, davon tönen, Abchasien solle Russland beitreten. Die nationale Unabhängigkeit ist für die Abchasen ein hoher Wert. Und der steht unter keinen Umständen zur Diskussion. Die Abchasen haben es mit Bedacht vermieden, das politische System des verbündeten Russland zu kopieren.
    Hinter Saakaschwilis Überfall auf Südossetien im August 2008 standen die USA. Deren Ambitionen sind unverändert. Die US-Strategie zielt darauf, den Südkaukasus durch gefügige Regime zu kontrollieren. Dabei stören die beiden mit Russland verbündeten Republiken Abchasien und Südossetien, die nach westlicher Auffassung auf dem Gebiet Georgiens liegen. US-Strategen würden die beiden Republiken gern zerschlagen. Doch die Stärke Russlands hindert sie daran.
    Das Dilemma der USA im Südkaukasus drückte Joseph Biden als US-Vizepräsident am 23. Juli 2009 in einer Rede vor dem georgischen Parlament aus. Er sagte dort, es sei »eine traurige Gewissheit, aber es ist wahr, dass es keine militärische Option zur Reintegration gibt«. Mit »Reintegration« meint Biden die Annexion der Republiken Abchasien und Südossetien durch Georgien.
    Durch dauerhaften politischen und militärischen Druck versuchen die USA und die NATO seither, Abchasien und Südossetien zu zermürben. Das NATO-Manöver »Sea Breeze 2020« im Juli 2020 im Schwarzen Meer, an dem auch Georgien teilnahm, war eine unverhohlene Drohung. Kurz darauf folgte im September das Manöver »Noble Partner 2020«. An der Übung waren eine US-Luftlandeeinheit und amerikanische Kriegsschiffe beteiligt.
    Dass die NATO das Säbelrasseln zur See im Schwarzen Meer fortsetzt, zeigt eine synchrone NATO-Übung in der Ostsee und im Schwarzen Meer im März, an der Frankreich, Spanien, Italien und die Türkei teilnahmen. Und dass auch dieses Manöver nur ein Vorspiel ist, machte der Befehlshaber des Europa- und Afrika-Kommandos der US-Armee, General Christopher Cavoli, im Februar in seinem Stab in Wiesbaden deutlich. Cavoli kündigte eine große NATO-Übung im Schwarzen Meer an, »zwischen spätem Frühling und Frühsommer«.
    Abchasien ist an friedlichen und gutnachbarlichen Beziehungen zu Georgien interessiert. Die abchasische Führung schlägt seit Jahren den Abschluss eines Gewaltverzichtsabkommens zwischen beiden Staaten vor. Doch dafür finden die Abchasen auf der georgischen Seite kein Gehör.
    Die NATO setzt auf einen Nervenkrieg mit wiederholten Forderungen nach Abzug der russischen Truppen aus der Republik Abchasien. Diese sind dort auf der Grundlage von zwischenstaatlichen Abkommen stationiert. Die russische Präsenz schützt die Bevölkerung Abchasiens und Südossetiens verlässlich vor militärischen Überraschungen aus Georgien.
    Mit Venezuela befreundet
    Abchasien und Südossetien sind zu Frontstaaten gegen die globale Strategie des US-Imperialismus geworden, ähnlich wie Venezuela und Nicaragua. Mit beiden Ländern unterhalten Abchasien und Südossetien enge und freundschaftliche Beziehungen. Im nationalhistorischen Museum Abchasiens in der Hauptstadt Suchum ist eine Mütze von Hugo Chávez zu sehen, ein Geschenk Venezuelas und ein Symbol für internationale Solidarität.
    In der venezolanischen Hauptstadt Caracas arbeitet eine Botschaft Abchasiens. Ein Abkommen zwischen dem abchasischen staatlichen Fernsehen und der venezolanischen Fernsehgesellschaft Telesur – geschlossen 2017 – gibt Abchasien die Möglichkeit, in Lateinamerika die US-Informationsblockade zu durchbrechen. Das Ziel, so Mitarbeiter des abchasischen Außenministeriums, besteht darin, weitere Staaten Südamerikas zur Anerkennung Abchasiens zu motivieren. Zwar gibt es in der pluralistischen politischen Landschaft der Republik Abchasien derzeit keine organisierten linken politischen Kräfte von Gewicht. Doch der Antiimperialismus ist im Alltag spürbar und zum festen Grundelement der politischen Kultur des Landes geworden.
    Anerkannt ist Abchasien auch von Syrien, in dessen Hauptstadt Damaskus der abchasische Außenminister Daur Kove im Oktober 2020 eine Botschaft eröffnet hat. Der 42jährige Jurist führt ein junges Team aus etwa 50 Mitarbeitern mit einem Durchschnittsalter von Mitte dreißig. Kove wird auch vom russischen Außenminister Sergej Lawrow als Gesprächspartner geschätzt. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Abchasien, auch wenn es Russland als »strategischen Partner« begreift, seine Außenpolitik selbstständig festlegt, vor allem mit einem Blick nach Süden, zur Türkei und nach Syrien. Die Anerkennung Abchasiens durch Syrien war ein schwerer Schlag für die georgische Führung, die versucht, Abchasiens Staatlichkeit zu leugnen.
    Vom Zar vertrieben
    In Syrien lebt eine beträchtliche abchasische Volksgruppe, um deren Rückkehr sich die Republik Abchasien bemüht. Eine aktive abchasische Diaspora, Folge der Vertreibung Zehntausender Abchasen durch das zaristische Regime im 19. Jahrhundert, gibt es auch in der Türkei. Dort kann Abchasien auf zahlreiche Landsleute in vielen gesellschaftlichen Bereichen zählen.
    »Machadschirstwo« heißt im Abchasischen der Exodus Zehntausender Abchasen nach einem von Zaren-Truppen niedergeschlagenen Aufstand. Der Begriff stammt aus dem Arabischen und beschreibt eine Vertreibung von Muslimen. Die Vertriebenen aus Abchasien wurden ins Osmanische Reich umgesiedelt. Im 19. Jahrhundert war die Mehrheit der Abchasen muslimisch gewesen. Die verbliebene Bevölkerung nahm überwiegend den orthodoxen christliche Glauben an. Das war eine gezielte russische Politik, um geistige Gemeinsamkeit mit den Russen zu stiften.
    In der russischen Revolution unterstützte ein großer Teil der Abchasen mit eigenen Truppen die Bolschewiki. Lenin, in dessen Arbeitszimmer im Kreml eine große Karte des Kaukasus hing, analysierte präzise nationale Konflikte in der Region. Und er ließ die Lage im Kaukasus untersuchen, auch durch den erfahrenen Bolschewiken und Literaturwissenschaftler Nikolai Meschtscherjakow. Nach Studien in Georgien veröffentlichte er 1921 eine Broschüre über das Regime in Georgien mit den ironischen Titel »Im menschewistischen Paradies«. Darin analysierte der kluge Kommunist die aggressive Politik des georgischen Nationalismus und bemerkte, in Abchasien entwickele sich dagegen »ein starker nationaler Kampf«.
    Die Schlussfolgerung, die zur Linie der Kommunistischen Partei Russlands wurde: Abchasien bekam 1921 den Status einer eigenen Sowjetrepublik. Dabei hatten viele junge Kämpfer der abchasischen Landjugend, die Mitglieder der Partei wurden, eher verschwommene Vorstellungen vom Bolschewismus. Eines aber war ihnen völlig klar: Lenins Partei und Staat boten ihnen Schutz gegen georgische Nationalisten.
    »Solange die Sowjetmacht besteht«
    Der abchasische Schriftsteller Fasil Iskander hat in seinen Erzählungen »Sandro von Tschegem« jene revolutionäre Zeit im Kaukasus detailliert und mit feiner Ironie beschrieben. Darin skizziert er auch den legendären Leiter der Kommunistischen Partei in Abchasien, Nestor Lakoba, der 1922 sagte: »Niemand kann den Arbeitenden Abchasiens die Unabhängigkeit wegnehmen, solange die Sowjetmacht besteht.«
    Doch diese klare Leninsche Linie der sowjetischen Politik gegenüber Abchasien wurde in den dreißiger Jahren revidiert. Geduldet von Josef Stalin, gelang es der georgischen Elite, sich der sowjetischen Führung als Ordnungsfaktor im Südkaukasus zu empfehlen. Unter Stalin wurde Abchasiens Status 1931 auf den einer autonomen Republik innerhalb der Georgischen Sowjetrepublik reduziert. Die Folgen waren schwerwiegend.
    Georgische Behörden benannten Ortsnamen um, etwa Suchum (so der russische Name, im abchasischen heißt die Stadt Aqwa) in Sochumi. Sie siedelten in großem Umfang Georgier in Abchasien an, um das Kräfteverhältnis in der autonomen Republik zuungunsten der Abchasen zu verändern. In den vierziger Jahren schaffte die Führung der Georgischen Sowjetrepublik den Schulunterricht auf Abchasisch ab. Die abchasische Sprache hat mit der georgischen keine Ähnlichkeit. Sie ermöglicht eine gegenüber Fremden abgeschottete Kommunikation. Georgische Bürokraten, offenkundig unter nationalistischem Einfluss, wollten die Abchasen durch Assimilation verschwinden lassen.
    Daher wandten sich im Februar 1947 abchasische Wissenschaftler in einem mutigen Brief an das Zentralkomitee der KPdSU. Darin kritisierten sie, in Abchasien sei »eine Lage entstanden, die prinzipiell der nationalen Politik unserer bolschewistischen Partei widerspricht und sie verzerrt«. Stalin reagierte darauf nicht. Das Spannungsverhältnis der Abchasen zur georgischen Elite aber muss ihm bewusst gewesen sein. Denn er war jahrelang mit Lakoba befreundet, verbrachte gemeinsam mit ihm Urlaub in Abchasien.
    Doch Lakoba, der von 1922 bis 1936 die Regierung des sowjetischen Abchasiens führte, wurde ein Opfer von Intrigen der georgischen Elite. Bei einem Abendessen mit dem späteren sowjetischen Geheimdienstchef Lawrenti Berija wurde Lakoba im Dezember 1936 vergiftet und starb. Auf seinen Tod folgten Terror und »Säuberungen« in Abchasien.
    Nach Stalins Tod 1953 kam es in Abchasien immer wieder zu öffentlichen Protesten gegen die georgische Dominanz. Dabei traf georgischer Hochmut auf abchasischen Stolz. Aber es ging auch um Materielles. Einnahmen aus Abchasien, etwa aus dem Tourismus, wurden nach Tbilissi abgeführt, in die Hauptstadt der Georgischen Sowjetrepublik, wo sie in den Taschen einer korrupten Elite landeten. Das Zentralkomitee der KPdSU, dem die kaukasischen Klans mehr und mehr entglitten, bemühte sich dabei immer um Kompromisse.
    Abchasische Aktivisten warfen georgischen Propagandisten 1989 vor, sie propagierten »kleinbürgerlichen Nationalismus«. Dass dies dazu führen würde, Georgien zum Vorposten der USA gegen Russland und Abchasien zu machen, war damals nicht zu sehen. Aber es war die logische Folge.

  153. Die Begründung von Tschechien mit dem Munitionsdepot, das vor 7 Jahren in die Luft geflogen ist, ist offensichtlich an den Haaren herbeigezogen.
    Tschechien hatte zumindest im letzten Jahrzehnt gute Beziehungen zu Rußland, das auch ein wichtiger Handelspartner ist.
    Der damals bereits aus der Politik ausgestiegene Ex-Premier Klaus sprach sich anläßlich des Maidan in einem Artikel ausdrücklich für die Position Rußlands aus. Auch Zeman steht für diese Linie.
    Die jetzige Regierung versucht anscheinend auf den Anti-Rußland-Zug aufzusteigen, möglicherweise auf Zuruf aus dem Ausland, und um in der einheimischen Parteienkonkurrenz zu punkten. Aber der Schwenk kommt doch sehr plötzlich.

  154. Deutsche Methodik
    Von Arnold Schölzel
    Selbst Heiko Maas hatte nach drei Tagen begriffen, dass irgend etwas zwischen Russland und den USA passiert war. Er bemühte sich am Sonntag ins ARD-Hauptstadtstudio, drosch im »Bericht aus Berlin« antirussisches Stroh, um mittendrin vor »Konfrontationsgeschrei« Richtung Moskau zu warnen. Der Außenminister behauptete, froh darüber zu sein, dass man dort das Gesprächsangebot von US-Präsident Joseph Biden angenommen habe und sich beide Seiten offenbar bereits über Zeit- und Treffpunkt für ein Gipfeltreffen austauschten.
    Den bundesdeutschen Leitmedien war der Entspannungshauch zumeist keine Zeile wert. Die Leitparole hatte die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ausgegeben: Es sei jetzt »das Wichtigste, den Druck auf Russland zu erhöhen«. Dem folgte der Medientross willig. Am Dienstag nahm sich z. B. Reinhard Veser, ständiger Putin-Verbeller der FAZ, wieder einmal des Falls Nawalny an, um den Russen Verfall und Ohnmacht zu prophezeien: Der Kreml müsse »einen Preis dafür zahlen«, dass er die Organisationen Nawalnys als »extremistisch« verfolge. Veser reiht ein »Wenn, dann« an das andere, um der russischen Regierung das Schlottern beizubringen: »Selbst wenn nur ein kleiner Teil der Nawalny-Anhänger gerichtlich verfolgt werden würden … würde eine Welle von Festnahmen und Prozessen durch Russland rollen.« Der Repressionsapparat werde »die wichtigste Stütze der Macht des Kremls« werden, und »wenn« der die Freiräume noch weiter einschränke, dann bestehe die Gefahr von Auswanderung und Rückzug in private Nischen. »Wenn« die Nachfrage nach Öl und Gas sinke, müsse die russische »Wirtschaft praktisch neu erfunden werden«. Selbst »wenn« Nawalny als »politischer Faktor« ausgeschaltet werde, dann unterminierten »Putin und seine Gefolgsleute Russlands Zukunftsfähigkeit«.
    Für das laut Baerbock »Wichtigste« hat Veser alle benötigten »Wenns« bereitgestellt, obwohl deutsche Leitprognosen kompliziert sind, wenn sie Russlands Zukunft betreffen. Das war schon beim Kaiser und beim Führer nicht anders.
    Die hatten es aber auch nicht gleichzeitig mit China zu tun. Dem will Frau Baerbock laut FAS-Interview mit »Dialog und Härte« entgegenregieren, d. h. mit Geschäftemachen und militärischem Aufmarsch. Den beleuchtet der Autor Uwe Hoering im Maiheft der Blätter für deutsche und internationale Politik unter der Überschrift »Deutschland im Indopazifik: Die Logik der Eskalation«. Er zitiert zur Entsendung der deutschen Fregatte »Bayern«, die im August zur Expedition nach Fernost starten soll, die chinesische Tageszeitung Global Times vom 25. März: »Wenn sie ins Südchinesische Meer kommen, können wir auch im Mittelmeer aufkreuzen.« Warum nicht in Nord- und Ostsee? Die »Bayern«, so Hoering, sei in »einer der brisantesten Krisenregionen der Welt« nicht allein: »Auch britische, französische und niederländische Kriegsschiffe verstärken ihre Präsenz im Indopazifik«. Die »mächtige Pazifikflotte der USA« sei dort schon länger im Einsatz und liefere sich »Revierkämpfe mit der chinesischen Marine«. Mit der »Bayern«-Mission stelle sich die Bundesregierung an »die Seite der konfrontativen US-Politik im Indopazifik«. Laut Hoering legt diese »Internationalisierung und Militarisierung« eine »Zündschnur« an einen »zunächst nur regionalen Konflikt um Seegrenzen«. So richtig Angst machten die »Bayern« und die EU-Armada Beijing allerdings auch nicht.
    Dafür muss noch Frau Baerbock ins Kanzleramt einziehen und Herr Veser mit vielen »Wenn«-Sätzen die düstere Zukunft Chinas vorhersagen. Dann erst erhält imperialistischer Wahnsinn deutsche Methodik.
    Euphorie im Medienbataillon
    Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, ist u. a. Mitglied in verschiedenen Einflussorganisationen wie dem German Marshall Fund, dem Forum of Young Global Leaders des Weltwirtschaftsforums, dem Europa/Transatlantik-Beirat der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Parlamentarischen Freundeskreis Berlin-Taipeh. Diese Kampftruppe gegen die Volksrepublik China strebt die Anerkennung Taiwans an, Baerbock ist stellvertretende Vorsitzende. Für die US-Strategie – Druck und Krieg gegen Russland überlassen wir den Westeuropäern, dafür helfen sie uns gefälligst beim Aufmarsch gegen China auch militärisch – bringt sie perfekte Voraussetzungen mit. Friedenspolitik ausgeschlossen.
    Die Euphorie im bundesdeutschen Großmedienbataillon kennt nach ihrer Nominierung daher keine Grenzen. Stern-Chefredakteurin Anna-Beeke Gretemeier verordnet ihrem Wartezimmerblatt einen Baerbock-Titel und fabuliert, »das erste Mal in diesem beginnenden Bundestagswahlkampf geht es plötzlich um Inhalte und nicht nur um Personen und deren Umfragewerte«. Was sie mit der Personenkultausgabe ihres Magazins folgerichtig gleich wieder ändert. Unter der Schlagzeile »Endlich anders« heißt es denn auch vorn auf dem Heft, die Grünen-Chefin wolle »neue Spielregeln für die Politik«. Wenn das über Grüne geschrieben wird, riecht es nach Pulver. »Neue Regeln« – das ist blutige alte Joseph-Fischer-Tradition der Partei: Grundgesetz, Völkerrecht? Grüne folgen dem Spontidekret: legal, illegal, scheißegal. Was kümmern Tote durch deutsche Bomben oder Schießprügel? Die neuen Spielregeln dürften so aussehen, wie am vergangenen Wochenende in der Beilage dieser Zeitung von Maxi Wunder formuliert: »Mit lautlosen Elektropanzern und atomaren Sprengköpfen aus fair gehandeltem Uran gegen Russland, nach dem Motto: ›achtsam morden‹.«
    Baerbock, hat der Stern herausgefunden, verspreche »bei allen Differenzen im Programm den kleinsten stilistischen Bruch mit der Ära Merkel. Sachlichkeit schlägt Vision. Sicherheit schlägt Abenteuer.« Denn auf den Stil kommt es an. Nicht einfach losballern, sondern zuvor die Bombenstimmung herbeireden und -schreiben. Etwa an der Seite eines durchgeknallten Ostlandreiters wie dem grünen EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer. Mit ihm zusammen veröffentlichte Baerbock am 29. September 2020 einen Gastbeitrag in der FAZ unter dem Titel: »Wir können Nord Stream 2 noch stoppen«. Die USA wollen schließlich ihr Frackinggas loswerden, da helfen die Grünen gern. Der Stern verkündet also: »Grün hat die Macht zum Mainstream!« Als wäre die Partei je etwas viel anderes gewesen: Für Sozialismus hinter den sieben Bergen durften ihre Gründer in den 70ern und 80ern stets sein, da blieb die Monatsüberweisung von zu Hause nicht aus, wehe aber, sie hatten mit dem Sozialismus vor der Haustür in der DDR und weiter östlich etwas am Hut. Auf der Spur des Geldes zu bleiben gehört zur Grünen-DNA. Die einstigen »Flügel« der Partei, die »Realos« und die »Fundis«, hatten da wenig Differenzen. Auf dem Weg zur Kanzlerkandidatur soll es jetzt laut Stern »den heißesten Konflikt« darüber gegeben haben, »ob Globuli künftig noch von der Kasse bezahlt werden sollen«. Na klar sollen sie das. Wenn sie biodynamisch-gewaltfrei gezüchtet und bei Vollmond geerntet werden.
    Solcher Wunderwirtschaft kann sich das deutsche Topmanagement nicht verschließen. Die Wirtschaftswoche verkündet am Mittwoch, 26,5 Prozent der Führungskräfte bevorzugten Baerbock vor Christian Lindner (FDP) und Armin Laschet (CDU). Michael Hüther, Chef des »arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft«, erteilt im Stern-Interview den Grünen den Ritterschlag und ernennt sie zu »in viele Richtungen anschlussfähig« – für Bürger und für die »Industrie«. Das stets Gleiche heißt nun »endlich anders«.
    Stoppt Putins Klopapier!
    Beobachtungen zur grün-schwarz-gelben Einigkeit bei politischen Handelseinschränkungen, Russland und ehemalige Genossen des Kommunistischen Bunds Westdeutschland.

  155. Kritische Anmerkungen zur Verfassungsbeschwerde und -Klage gegen das Klimaschutzgesetz
    https://tages-politik.de/Energie-Umwelt/BVG_zur_Klimaklage-29.4.2021.html
    https://tages-politik.de/Energie-Umwelt/Klimaschutzklage_v._Jan.-2020_April-2020.html
    —-
    Die o.g. Klage bezieht sich auf das deutsche „Klimaschutzprogramm 2030“
    Deutschlands Energieimperialismus wird klimaneutral
    Die deutsche Klimaschutzpolitik, d.h. die Minderung der klimaschädlichen CO2-Emissionen, des Verbrennungsgases fossiler Energiebewirtschaftung am Standort D, – ist deckungsgleich mit dem Programm einer neuen nationalen Energie- und Rohstoffversorgung, das Deutschland unabhängiger machen soll von der Nutzung überwiegend auswärtiger fossiler Rohstoffe.
    Mit seinem „Klimaschutzprogramm 2030“ setzt Deutschland die bisherige Energiewende mit ihren beiden Säulen „Steigerung der Energieeffizienz“ und „Aufbau der erneuerbaren Energien“ aber nicht einfach nur fort, sondern verfolgt eine radikale Energiesystemwende, die laut Auskunft des Klimakabinetts endlich mit der Mobilitäts-, Wärme-, und vor allem mit einer „wirklichen“ Industriewende „Ernst“ machen soll. Gemessen daran nimmt sich der bisherige Fortschritt – 46 % des Bruttostromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen 2019 – als ungenügend, als bloße „Stromwende“ aus: Die neue Energiebewirtschaftung soll zur umfassenden „Dekarbonisierung“, einer weitestgehenden Loslösung des Standorts von fossilen Energieträgern wie Öl, Gas und Kohle führen. Das Ziel lautet: CO2-neutrales Wachstum bis 2050.
    Weiteres wird erläutert im neuen Gegenstandpunt April 2021
    https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/zeitschrift/gegenstandpunkt-1-21
    —-
    weitere Auskünfte:
    https://www.heise.de/tp/features/Von-der-German-Energiewende-4892975.html?seite=all
    https://de.gegenstandpunkt.com/tondokumente/kampf-klimawandel
    http://nestormachno.blogsport.de/2019/11/16/klimawandel-fortsetzung-3/#comment-41953
    http://Neoprene.blogsport.de/2019/06/09/klimawandel-fridays-for-future-gsp-und-kritik/

  156. @Leser
    Zu Chile:
    Ich habe kürzlich in der Komsomolskaja Pravda ein Interview mit einem Epidemologen gelesen.
    Der sagt, daß dieser chinesische traditionellle Totimpfstoff erstens eine geringere Wirksamkeit hat.
    Aber zweitens, was mir wesentlicher erscheint, so meint er, daß diese neuen Vektor-Impfstoffe, wie Sputnik oder der von AstraZeneca, erstens schneller herzustellen und zweitens leichter an die Mutationen des Coronavirus anzupassen sind.
    In Chile scheint es das Problem zu geben, daß der dort eingesetzte chinesische Impfstoff gegen die neue Variante aus Brasilien nicht schützt.
    Was die Sache mit dem Verfassungsgericht angeht: Man erinnere sich, in der unter dem Einfluß der Chicago-Boys zustandegekommenen Pinochet-Verfassung steht, daß Pensionen und Krankenversicherung zu einem Mindestprozentsatz privat sein müssen. Am besten natürlich 100 %.
    Die großen Streiks und Demos 2019, wo unter anderem Säure in Wasserwerfer gefüllt wurde und die Demonstranten Verätzungen davongetragen haben, und wo auch mit Gummigeschossen einige Augen ausgeschossen wurden, haben nur deshalb ein Ende gefunden, weil versprochen wurde, eine neue Verfassung zur Disposition zu stellen.
    Die Abstimmung, ob die Bürger Chiles das wollen, ging vorigen Herbst mit einem JAAAA! mit 78% über die Bühne.
    Seither wurden zwar Juristen ernannt, um eine neue Verfassung auszuarbeiten, aber alles verschiebt sich mit Berufung auf die Coronavirus-Situation, die, so hat man den Eindruck, den Eliten Chiles sehr gelegen kommt.
    Es dürfte nämlich sehr umstritten sein, was in die neue Verfassung hineinkommt. In eine Verfassung schreibt sich ein Staat seine Staatsraison hinein, und die ist in Chile sehr gegen die Mehrheit der Bevölkerung eingestellt.

  157. Anscheinend soll in die neue chilenische Verfassung aber schon dies und jenes an ‘Sozialstaat’ hineingeschrieben werden – das scheint die Kompromisslinie im Land werden zu können …
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1151492.mai-in-chile-praesident-pinera-in-der-defensive.html
    Irgendein neuer Führer soll vermutlich dafür dann auch auftauchen. Denn immerhin der jetzige Generalstaatsanwalt stellt Strafanzeige gegen seinen eigenen Staatschef – wegen ‘Korruptionsverdacht’.
    [Ach nee: er lässt das erst einmal nur prüfen – so ein möglicher erster Schritt zu einer möglichen neuen Figur soll die Opposition vermutlich erst einmal ruhig stellen …]
    Wobei über die Sachhaltigkeit des Vorwurfes von Korruption in Chile und z:B. Peru hier bereits einige aufklärerische Beiträge gepostet wurden…
    https://amerika21.de/2021/05/250105/korruptionsermittlungen-gegen-praesident
    vgl. http://NestorMachno.blogsport.de/2020/02/05/pressespiegel-rebelion-5-2/#comment-42175
    Das Merkwürdige daran ist, dass überhaupt Korruption derart zum wuchigen innenpolitischen Thema wird, auch im Nachbarland Peru.
    Ansonsten ist das nämlich meist ja eher der Generalvorwurf zur Einmischung von außen, also von Seiten der USA (und auch der EU)
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/korruption-politik#section4

  158. “Frieden mit Russland keine moralische Pflicht” (03.05.2021)
    Berliner Außenpolitiker dringen auf neue Konfrontationen gegen Russland: Embargo, Ausschluss vom Zahlungssystem SWIFT, militärische Einschüchterung.
    BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Deutsche Außenpolitiker und Regierungsberater dringen auf eine weitere Verschärfung der westlichen Aggressionen gegen Russland. Man müsse Russland “dort treffen, wo es wirklich wehtut”, fordert der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Expertinnen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sprechen sich dafür aus, militärische Maßnahmen durchzuführen – etwa eine “militärische Mission im Schwarzen Meer” -, um Moskau “außenpolitisch einzuschüchtern”. Auch solle man in Betracht ziehen, Russland vom globalen Zahlungssystem SWIFT auszuschließen. Dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zufolge muss die EU “auf eine lange harte Phase in unseren Beziehungen zu Russland vorbereitet” sein. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer behauptet, Moskau stecke bereits in der “Kriegsführung mitten in Europa”. Die russische Regierung wiederum beginnt, sich gegen Sanktionen sowie weitere Strafmaßnahmen der EU zur Wehr zu setzen, und hat Ende vergangener Woche Gegensanktionen gegen mehrere EU-Politiker verhängt; der Konflikt spitzt sich weiter zu.
    Russlands Gegensanktionen
    Russland hat am Freitag in Reaktion auf die jüngsten EU-Sanktionen Gegenmaßnahmen verhängt. Brüssel hatte im März mehrere russische Amtsträger mit Einreisesperren belegt und das Einfrieren ihrer Vermögenswerte in der EU verfügt.[1] Moskau hat nun im Gegenzug acht Amtsträgern aus EU-Staaten Reisen nach Russland untersagt. Zur Begründung heißt es, die stetige Ausweitung von EU-Sanktionen gegen Russland laufe “der Charta der Vereinten Nationen und grundlegenden Standards des internationalen Rechts” zuwider; sie würden von “antirussischer Hysterie” begleitet, die in den westlichen Medien Nährstoff finde. Die Sanktionen der Union ließen “keinen Zweifel”, dass Brüssel letztlich darauf ziele, “Russlands Entwicklung um jeden Preis zu bremsen” und eine “Weltordnung” zu errichten, die mittels ständiger Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten geltendes Völkerrecht unterlaufe; “die Unabhängigkeit der russischen Außen- und Innenpolitik” stehe dabei auf dem Spiel.[2] Moskaus neue Sanktionen treffen den Präsidenten des Europaparlaments David Sassoli, die Vizepräsidentin der EU-Kommission Věra Jourová und den Leiter der Berliner Staatsanwaltschaft Jörg Raupach sowie fünf weitere Amtsträger aus Estland, Lettland, Schweden und Frankreich.
    “Unfreundliche Staaten”
    Erst wenige Tage zuvor hatte Russland Gegenmaßnahmen gegen die Ausweisung russischer Diplomaten aus mehreren EU-Staaten ergriffen. Ausgelöst worden war der neue Konflikt durch die Behauptung, Explosionen in einem Munitionsdepot einer tschechischen Rüstungsfirma im Jahr 2014 seien von russischen Agenten ausgelöst worden. Überprüfbare Beweise für die Behauptung liegen nicht vor; Tschechien und diverse weitere EU-Staaten haben dennoch eine zweistellige Zahl russischer Diplomaten ausgewiesen. Moskau hat reagiert und seinerseits einer zweistelligen Zahl europäischer Diplomaten den Aufenthaltsstatus entzogen. Außenminister Sergej Lawrow hat darüber hinaus in Aussicht gestellt, Russland werde demnächst eine Liste “unfreundlicher Staaten” vorlegen, deren diplomatischen Vertretungen die Beschäftigung russischer Mitarbeiter untersagt werden soll. Dies würde ihre Handlungsfähigkeit, auch mit Blick auf die Unterstützung von Teilen der russischen Opposition, spürbar einschränken.[3] Neben den USA sollen angeblich Australien, Kanada, Großbritannien, die baltischen Staaten, Polen, Tschechien und die Ukraine betroffen sein. Ob Deutschland ebenfalls gelistet wird, ist – so heißt es – bislang noch nicht klar.
    “Schlechter als im Kalten Krieg”
    Berlin und Brüssel, die sich inzwischen unerwartet scharfen Reaktionen auch aus Beijing auf ihre immer hemmungsloseren Sanktionen gegenübersehen [4], reagieren empört. Man weise Moskaus Gegenmaßnahmen “auf das Deutlichste” zurück, erklärt ein Sprecher des Auswärtigen Amts: Sie trügen “dazu bei, die Beziehungen zu Russland in unnötiger Weise weiter zu belasten”.[5] In einer gemeinsamen Stellungnahme von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel sowie Europaparlamentspräsident Sassoli heißt es, die Maßnahmen seien “inakzeptabel”; sie seien ein Beleg dafür, dass Russland auf “Konfrontation” setze. Freilich verkehrt dies die Tatsachen: Mit seinen jüngsten Gegenmaßnahmen reagiert Moskau nur auf Sanktionen der EU, wie sie Brüssel seit 2014 immer wieder verhängt; die Konfrontation geht von der EU aus. Bereits kürzlich hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell angedeutet, Brüssel sei bereit, eine erneute Eskalation der Spannungen zu akzeptieren: Es gelte, “auf eine lange … harte Phase in unseren Beziehungen zu Russland vorbereitet” zu sein.[6] Russlands Außenminister Lawrow hält die Beziehungen bereits jetzt für schlechter als im Kalten Krieg: Damals habe man wenigstens noch “eine gegenseitige Achtung” gezeigt, “an der es heute mangelt”.[7]
    “Russland in seine Grenzen weisen”
    Berliner Regierungsberaterinnen dringen auf eine weitere Verschärfung der Lage. Bislang gelinge es der EU nicht, “Russland in seine Grenzen zu weisen”, heißt es in einem aktuellen Podcast der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP); es müssten daher neue Maßnahmen in Betracht gezogen werden.[8] Ronja Kempin, EU-Expertin der SWP, schlägt vor, “die militärischen Organe der EU zu beauftragen”, Szenarien für “eine entmilitarisierte Zone zwischen der Ukraine und Russland” zu entwickeln – mit dem Ziel, “beide Seiten zu entwaffnen”. Auch anderweitig solle in Betracht gezogen werden, “die Russische Föderation außenpolitisch einzuschüchtern”; Brüssel könne etwa eine “militärische Mission im Schwarzen Meer” realisieren, vorzugsweise in den Hoheitsgewässern der Ukraine oder auch der Türkei. Freilich gerate man damit eventuell “in eine militärische Spirale”. Susan Stewart, Osteuropa-Expertin der SWP, schlägt darüber hinaus vor, der Ukraine “stärkere militärische Unterstützung” zukommen zu lassen; zudem müssten “andere Instrumente ins Spiel kommen”. Stewart nennt explizit die Option, Russland aus dem globalen Zahlungssystem SWIFT auszuschließen. Der Schritt zielt darauf ab, den russischen Außenhandel weithin zum Erliegen zu bringen, und läuft auf den Versuch hinaus, ihm den wirtschaftlichen Todesstoß zu versetzen.
    “Russlands Kriegsführung in Europa”
    Auf eine weitere Eskalation stimmen auch andere ein. Der für Außenpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Alexander Graf Lambsdorff, verlangte vergangene Woche: “Wir müssen Russland dort treffen, wo es wirklich wehtut.”[9] Lambsdorff schlug “eine Sanktionspolitik” vor, “die einem Embargo nahekäme”, räumte zugleich ein, dafür werde auch die Bundesrepublik “einen Preis zahlen” müssen, behauptete aber, das Anliegen “rechtfertige” dies. Zuvor hatte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer behauptet, Russland betreibe aktuell “Kriegsführung mitten in Europa”; demnach herrscht zwischen der EU und Russland bereits Krieg.[10] Auf der Internetpräsenz der Wochenzeitung “Die Zeit” heißt es nicht nur, die Bundesrepublik müsse dringend einen aggressiveren Kurs gegen Russland einschlagen, so etwa der Ukraine “Sicherheit in der Nato” geben und ihr “einen Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union” weisen; es gelte zudem, Hemmungen fallenzulassen: “Gerade die kulturelle Linke” müsse sich “von der Vorstellung lösen”, “der Frieden mit Russland um beinahe jeden Preis sei wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 eine moralische Pflicht”.[11]

  159. Ich glaube langsam, Deutschland versucht Rußland zu provozieren, selber aus dem North Stream II-Projekt auszusteigen, weil Deutschland dann Rußland die Schuld geben könnte und dadurch gegen Schadenersatzforderungen der betroffenen Baufirmen geschützt wäre.
    Anders kann ich diese kindischen Provokationen und das absurde Blabla verschiedener EU-Politiker, vor allem deutscher, nicht deuten.
    Was die Korruption angeht, so hat sich das m.E. zu einem Dauerbrenner entwickelt, mit dem oppositionelle Politiker für sich werben, Großmächte bei Kleinmächten einmischen, der IWF Kredite verweigert oder vergibt usw. usf.
    Transparency International ist zu einer Art moralischer Berufungsinstanz geworden, das – ähnlich wie HRW – immer eingesetzt wird, wenn irgendwo wer schlechtgemacht werden soll, eine Regierung, eine Partei oder ein Politiker.
    Man müßte auch nachfragen, was eigentlich als „Korruption“ definiert wird. Der Begriff scheint so weit gefaßt, daß jede Art von Beziehung oder Hilfeleistung darunter fällt, auch wenn gar kein Geld geflossen ist.
    D.h., wenn man irgendjemandem Korruption nachweisen will, so findet man immer etwas.

  160. @Nestor
    “Ich glaube langsam, Deutschland versucht Rußland zu provozieren, selber aus dem North Stream II-Projekt auszusteigen, weil Deutschland dann Rußland die Schuld geben könnte und dadurch gegen Schadenersatzforderungen der betroffenen Baufirmen geschützt wäre.”
    Mag schon sein, dass D das versucht – wird aber wohl eher nicht gelingen, weil solch ein Szenario mit ziemlicher Sicherheit seitens der RF durchgespielt wurde. Und so blöd dürften die nicht sein, ihre Schadensersatzforderungen für den Fall eines Baustopps zu gefährden. Die belaufen sich m.W. immerhin auf einige (ca. 9?) Mrd. €.
    Dass es nach einem solchen Break dann nicht an Nachfrage nach russischem Gas mangeln dürfte ist allerdings auch klar. Soweit ich mich erinnere laufen ja schon länger Verhandlungen mit China über den Bau einer zweiten Pipeline.

  161. Sanktionen zum Trotz
    Regierungsvertreter der 13. deutsch-russischen Rohstoffkonferenz halten an Gaspipeline Nord Stream 2 fest
    Von Franziska Lindner
    Am vergangenen Donnerstag und Freitag fand die 13. deutsch-russische Rohstoffkonferenz statt. Nachdem das Treffen im letzten Jahr coronabedingt ausgefallen ist, wurde es in diesem Jahr virtuell und nicht wie geplant in Leipzig unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Michael Kretschmer, durchgeführt.
    Mehr als tausend Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik verfolgten die Veranstaltung, auf der Stand und Perspektiven der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit beider Staaten im Rohstoffsektor diskutiert wurde. Kernthemen waren neue Energien, namentlich Wasserstoff, Strukturwandelprozesse, Digitalisierung und der sogenannte Green Deal der EU. Ferner spielten auf den Bereich Klimaschutz und Klimawandel bezogene Themen, wie die Folgen schmelzender Permafrostböden, eine bedeutende Rolle.
    Insbesondere die Auftaktveranstaltung war hochrangig besetzt. Neben den Bundesministern Peter Altmaier (Wirtschaft und Energie, CDU) und Gerd Müller (wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, CSU) sprachen von russischer Seite Alexander Nowak, stellvertretender Ministerpräsident, Denis Manturow, Minister für Industrie und Handel sowie der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, über die Bedeutung der Kooperation im Bereich Montanindustrie und die Geschichte der deutsch-russischen Energiebeziehungen.
    Im Februar vor 50 Jahren begann die westdeutsch-russische respektive sowjetische Energiezusammenarbeit inmitten des »Kalten Krieges« mit dem Abschluss eines Erdgasröhrengeschäfts. Die ausgehandelten Verträge verpflichteten die Sowjetunion, 20 Jahre lang Erdgas an die Ruhrgas AG zu liefern. Im Gegenzug erhielt sie Röhren zum Pipelinebau im Umfang von 1,2 Millionen Tonnen. Im Jahr 1973 floss das erste sowjetische Erdgas in die BRD. Heute, fast 50 Jahre später, beträgt der Anteil russischen Erdgases in Deutschland rund 30 Prozent und soll durch die Fertigstellung der Unterwasserpipeline Nord Stream 2 noch erhöht werden.
    Die zu etwa 95 Prozent fertiggestellte Leitung durch die Ostsee ist gewaltigem Sanktionsdruck der USA ausgesetzt. Da ist es nicht verwunderlich, dass auch immer größere Teile der deutschen Politik derzeit alle möglichen Gründe, wie die angebliche Vergiftung Alexej Nawalnys oder die vermeintliche Vorbereitung Russlands auf einen Krieg gegen die Ukrai­ne heranziehen, um das Projekt in letzter Minute zu beerdigen. Dass sich Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Kretschmer auf der Konferenz deutlich für Nord Stream 2 aussprachen, verdeutlicht jedoch, dass eine bedeutende deutsche Kapitalfraktion nicht gewillt ist, Russland als Wirtschaftspartner zu verlieren.
    In seinen einführenden Worten sprach Altmaier über die Zuverlässigkeit der jahrzehntelangen Erdgaslieferungen und betonte den steigenden Bedarf an dem fossilen Energieträger nach dem Ausstieg aus der Kernenergie, dem Zurückfahren der Kohleproduktion und dem Produktionsrückgang in Großbritannien und den Niederlanden. In Erdgas sieht er eine Brückentechnologie auf dem Weg zum EU-Ziel der »Klimaneutralität« im Jahr 2050, für den es einer Dekarbonisierung bedürfe. Hierfür sehe er in der Entwicklung »grünen Wasserstoffs«, der nach und nach fossile Brennstoffe ersetzen soll, große Chancen für eine intensive Kooperation mit Russland.
    Zum einen eröffnet die Entwicklung und Verbesserung der Produktion des Zukunftsträgers Wasserstoff in der Russischen Föderation, zunächst aus Erdgas, perspektivisch aus »erneuerbaren Energien« der deutschen Industrie Absatzmärkte für eigene neue Technologien. Zum anderen ist die Bundesrepublik Hochtechnologiestandort und arm an effizienten Energierohstoffen. Aber sie ist hochgradig abhängig von Energieimporten und auf eine sichere Versorgung angewiesen. Hier kommt Russland als Energieexporteur ins Spiel.
    In diesem Verhältnis drückt sich die Kontinuität in der Beschaffenheit der deutsch-russischen Rohstoffbeziehungen aus. Soweit sie dem transatlantischen Widerstand trotzen konnten, sind sie selbst in Phasen großer politischer Spannungen stabil geblieben.

  162. Das Problem bei North Stream II ist doch, daß dieses ganze Gas keiner mehr braucht und daher auch die Pipeline nicht.
    Deutschland hat sich das so schön vorgestellt, sich zum Hauptverteiler russischen Gases in Europa zu machen. Wir sitzen am Hahn, und alle kommen und kaufen bei uns Gas. 😎
    Das war in mehrfacher Hinsicht kurzsichtig, oder größenwahnsinnig, oder beides.
    Erstens ging das aus von einem steigenden Gasverbrauch in der ganzen EU.
    Daraus wurde aber nichts, weil erstens der Energieverbrauch sowieso zurückgegangen ist, die erneuerbaren Energien gerade in Deutschland sehr gefördert worden sind, und Polen sich seine Kohle nicht madig hat machen lassen. Außerdem haben gerade in Polen die USA mit ihrem Flüssiggas den Fuß in die Tür gesetzt.
    Südwesteuropa hingegen hat gar kein Pipeline- und Gasleitungssystem, sondern verwendet Gas in Flaschen, hauptsächlich kommt das Gas aus Afrika oder Lateinamerika und wird vor Ort abgefüllt. Um die iberische Halbinsel als Markt erschließen zu können, wären erst einmal große Investitionen nötig gewesen.
    Frankreich hat auf Druck der EU zwar seinen Gasmarkt für ausländische Anbieter geöffnet, aber die Bedingungen sind immer noch so, daß fremde Energiefirmen schwer ins Geschäft kommen. Außerdem bestreitet Frankreich einen großen Teil seines Energieverbrauchs durch Atomenergie und das ist dort einen unbestrittene Sache, weil es mit dem Militär und der Souveränität zusammenhängt.
    Schließlich ist Rußland selbst sehr daran interessiert, die alte Versorgungsschiene über die Ukraine in die ehemaligen Bruderstaaten Ungarn, Slowakei und weiter auf den Balkan, sowie über Österreich nach Mitteleuropa aufrechtzuerhalten.
    Das Gas, das derzeit kommt, reicht problemlos für den derzeitigen Bedarf, die Träume von Deutschland als Gas-Hub sind vorbei, und im Raum steht einzig und allein ein Haufen unbezahlter Rechnungen.
    Natürlich werden die Russen nicht von selbst aussteigen, aber Deutschland legt es offenbar auf ein Szenario an, wo es sich auf höhere Gewalt berufen kann.

  163. Kofferwühler des Tages: »G 7«
    Von Reinhard Lauterbach
    Schon Heinrich Heine hat sich über plumpe Versuche zur Kontrolle des »Informationsraums« lustig gemacht und im »Wintermärchen« gehöhnt: »Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht / Hier werdet ihr nichts entdecken / Die Konterbande, die mit mir reist / Die hab’ ich im Kopfe stecken.«
    178 Jahre später bestätigt Großbritanniens Außenminister Dominic Raab nachdrücklich die Bedeutung der »Konterbande im Kopfe«. Er forderte am Sonntag, beim Außenministertreffen der »G 7« seit diesem Montag werde es auch darum gehen müssen, »einen gemeinsamen Mechanismus« zu finden, um »russischer Propaganda und Desinformation« geschlossen und schnell entgegenzutreten. Denn die sei darauf ausgerichtet, im freien Westen »Zwietracht« zu säen. Und so etwas können Länder, die sich gerade verschwören, Russland »robuster entgegenzutreten«, gar nicht gebrauchen. Schließlich beruht Kriegspropaganda darauf, dass nur einer lügt, und zwar die eigene Seite. Insbesondere, indem sie »die Wahrheit« – bzw. das, was sie dazu erklärt – »einheitlich und geschlossen nicht nur den eigenen Bevölkerungen, sondern auch denen in Russland und China darbietet«. Was Wahrheit ist, definieren dabei »wir«. Das »Wahrheitsministerium« aus Orwells »1984« feiert im angeblichen Mutterland der Pressefreiheit fröhliche Urständ. Schon jetzt kennzeichnen Youtube und Google Videos russischer Sender als »von der russischen Regierung kontrolliert«, aber alles regt sich auf, wenn Russland aus Berlin, London oder Washington finanzierte russischsprachige Medien als »ausländische Agenten« outet.
    Ein paar Verszeilen nach der oben zitierten Stelle lässt Heinrich Heine einen Mitreisenden die Durchsuchung kommentieren: »Die geistige Einheit gibt uns die Zensur / Die wahrhaft ideelle / Sie gibt die innere Einheit uns / Die Einheit im Denken und Sinnen / Ein einiges Deutschland tut uns not / Einig nach außen und innen.«

  164. Für die Erzeugung eigener, mit großem Tamtam beworbene „grüner“ Energie weitaus weniger grüne Energieträger von woanders zu importieren, geht ja auch bei den Solarzellen, die in China mit aus Kohle gewonnener Energie hergestellt werden, also das wäre auch bei Rußland mit diesem Wasserstoff nichts Neues.
    Das Interessante ist, wie es argumentiert wird: Als eine Art Entwicklungshilfe an Rußland, das ja ohne die westlichen Gaskäufe glatt verhungern müßte!
    Bzw. die Geschäftsbeziehung überhaupt als ein notwendiges Übel, um zu kontrollieren, daß Rußland mit seinen vielen Ressoucen keinen Unfug anstellt.

  165. Fördern und fordern
    US-Außenminister dämpft Kiews Hoffnung auf raschen NATO-Beitritt. Vorwurf an Russland: Nur Teile der Truppen von Grenze abgezogen
    Von Reinhard Lauterbach
    US-Außenminister Antony Blinken hat am Donnerstag der Ukraine seinen Antrittsbesuch abgestattet. Im Laufe des Tages traf er Staatspräsident Wolodimir Selenskij, Ministerpräsident Denis Schmygal und die Führer der Parlamentsfraktionen. Für den Nachmittag war noch ein Onlinetreffen mit dem Personal der US-Botschaft in Kiew vorgesehen.
    Blinken wiederholte die bekannten Standpunkte der USA über die Unterstützung der »Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine«, ließ sich aber trotz mehrfacher Aufforderung von ukrainischer Seite nicht dazu hinreißen, Kiew in Sachen NATO-Beitritt neue Zusagen zu geben. Im Gegenteil: Bei dem Treffen mit den Fraktionsvorsitzenden hat seine mitgereiste Stellvertreterin, die nach 2017 reaktivierte Victoria Nuland, nach Angaben eines Teilnehmers den Parlamentariern gesagt, sie sollten aufhören, ständig dieses Thema anzusprechen. Das bringe der Ukraine gar nichts. So jedenfalls berichtete es das in der Regel gut informierte Portal strana.ua. Im übrigen bettelte Julia Timoschenko von der »Vaterlandspartei« um US-Impfstoffe und Parlamentspräsident Dmitri Rasumkow um ein zweiseitiges Militärabkommen zwischen Kiew und Washington.
    Hiervon unberührt ließ sich Blinken nicht nehmen, die Ukraine ein weiteres Mal zu »Reformen« aufzufordern. Vor dem Hintergrund der kürzlich erfolgten Entlassung zweier prominenter »Korruptionsbekämpfer« aus dem ­ukrainischen Staatsdienst sagte Blinken auf der Pressekonferenz nach seinem Treffen mit Selenskij wörtlich, es reiche nicht, Gesetze zur Korruptionsbekämpfung zu verabschieden, sie müssten auch umgesetzt werden. Blinken griff auch die ukrainische Oligarchenklasse an: Sie bestehe aus »Menschen, die ihr eigenes Interesse über das des ukrainischen Volkes« stellten.
    Seine Äußerungen stehen im Kontext einer kürzlich veröffentlichten Aufstellung des US-Reichenmagazins Forbes. Wie das prowestliche Portal Ukrainska Prawda berichtete, geht es der ukrainischen Oligarchie demnach bestens: Der reichste Ukrainer, Rinat Achmetow, habe sein Vermögen im vergangenen Jahr fast verdreifacht und sei jetzt 7,6 Milliarden US-Dollar »wert«. Expräsident Petro Poroschenko stand demnach mit einem Vermögenszuwachs um 200 Millionen auf 1,6 Milliarden US-Dollar fast wie ein armer Verwandter daneben. Die US-Delegation verweigerte übrigens nach Berichten ukrainischer Medien Poroschenko eine Sonderaudienz bei Blinken. Anderslautende Meldungen von Poroschenkos Seite seien mangels aktuellen Bildmaterials mit einer Aufnahme von 2015 illustriert worden.
    Auf die Aufforderung des ukrainischen Außenministers Dmitri Kuleba, mehr Waffen zu liefern, ging Blinken öffentlich nicht ein. Kuleba hatte in einem Interview mit dem US-Sender CNN unter anderem Flugabwehrraketen und Scharfschützengewehre gefordert. Der Leiter der Kiewer Präsidialadministration hatte die USA im Vorfeld aufgerufen, »Patriot«-Raketen an der Grenze der Ukraine zu Russland zu stationieren. Es reiche nicht mehr aus, dass die nächstgelegene »Patriot«-Stellung in Polen liege (sie ist im übrigen auch noch nicht in Betrieb, der Bau verzögert sich). Heute verlaufe die Front gegen Russland in der Ukraine.
    Über die mutmaßlichen Gründe für Blinkens öffentliche Zurückhaltung berichtete am Mittwoch die US-Tageszeitung New York Times (NYT) unter Berufung auf Beamte der Regierung von US-Präsident Joseph Biden. Sie kleidete es in den Vorwurf, Russland habe von seinen im April zu Übungen an die ukrainische Grenze beorderten Truppen bisher nur einen kleinen Teil wirklich in die Garnisonen zurückgeschickt. Rund 80.000 Soldaten seien weiterhin in Grenznähe stationiert, und die abgezogenen Einheiten hätten ihre schwere Ausrüstung und ihre Transportmittel im Manövergebiet zurückgelassen. US-Militärs deuteten dies, so die NYT, als Hinweis Russlands, dass es jederzeit in der Lage sei, entlang der Grenze kurzfristig wesentlich stärkere Verbände zu mobilisieren, als die NATO im selben Zeitraum in Osteuropa einsetzen könne – insbesondere auch aus Großmanövern wie dem derzeit in Albanien angelaufenen »Defender 21« heraus.
    Zwischen Putin und Nawalny
    Sozialpatriotismus oder Wut und Frust: Richtungsstreit auf Parteitag der russischen Kommunisten
    Von Reinhard Lauterbach
    Ende April hat die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) nahe Moskau den ersten Teil ihres 18. Parteitags abgehalten. Der zweite soll im Juni folgen. Das Medieninteresse war auch in Russland mäßig, und tatsächlich: Passiert ist auf den ersten Blick nicht viel. Gennadi Sjuganow, Parteichef seit der KPRF-Gründung 1993, wurde wiedergewählt, ebenso die meisten anderen Spitzenfunktionäre. Erst im zweiten Glied zeigten sich Veränderungen: Der Chef der Moskauer Parteiorganisation, Waleri Raschkin, und der ehemalige Gouverneur des sibirischen Gebiets Irkutsk, Sergej Lewtschenko, wurden nicht ins Präsidium des Parteitags gewählt – eine symbolische Abstrafung.
    Überraschende Allianzen
    Kurz vor dem Parteitag hatten verschiedene russische Medien ein offenbar mit verdeckter Kamera aufgenommenes Video veröffentlicht, das Raschkin und Lewtschenko auf einer Moskauer Caféterrasse zeigt. Der nur in Bruchstücken zu verstehende Ton offenbart ein mögliches Komplott der beiden Politiker gegen Sjuganow: Der sei unfähig, mit der Krise der Partei umzugehen, und es sei Zeit, dass er seinen Posten räume. Allerdings nicht zugunsten des Mannes, der seit längerem als potentieller Nachfolger gehandelt wird – dem Leiter der Kaderabteilung der Partei, Juri Afonin. Denn der stehe der Präsidialadministration viel zu nahe, um noch glaubwürdige Oppositionspolitik zu betreiben. Die Umstände, unter denen die Aufnahme schon vor längerer Zeit entstanden sein muss – es war Sommer –, legen nahe, dass hinter der Abhörmaßnahme ein Geheimdienst stehen dürfte. Lewtschenko und Raschkin bezeichneten das Video überdies als inhaltliche Fälschung.
    Die Veröffentlichung des Videos kurz vor dem Parteitag mag eine Provokation gewesen sein, um den Richtungsstreit in der KPRF anzufachen – aber hervorgerufen hat sie diesen Streit nicht. Es geht im Kern darum, welchen Kurs die KPRF verfolgen soll: Den von Sjuganow verkörperten Sozialpatriotismus, der Staatspräsident Wladimir Putin von Kritik weitestgehend ausnimmt und allenfalls die für die Ausführung von dessen Richtlinien verantwortliche Regierung tadelt. Oder eine eher populistische Linie, deren Vertreter sich an den Stimmungen in der Basis orientieren und die Wut und den Frust einfacher Russinnen und Russen über die seit Jahren andauernden Reallohnverluste zu artikulieren versuchen.
    Das Problem dieser zweiten Linie ist, dass sie die Partei in überraschende Allianzen führt, unter anderem mit der Bewegung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny und damit – nach deren inzwischen verfügtem praktischen Verbot – mit einem Bein in die Illegalität. Nicht nur, dass Raschkin in dem aufgenommenen Gespräch die Überlegung anstellte, Nawalnys Leuten Informationen über angebliche finanzielle Machenschaften des Sjuganow-Favoriten Afonin zuzuspielen, um den Mann politisch untragbar zu machen. Dahinter steckt mehr als eine Intrige auf der Führungsebene.
    Auf Videos von Demonstrationen, die auf Aufrufe Nawalnys zurückgehen, sind tatsächlich immer wieder auch die roten Fahnen der KPRF zu sehen gewesen. Und Nawalny hat seinerseits in seiner Strategie des »klugen Wählens« – nämlich immer des jeweils aussichtsreichsten Kandidaten, der nicht der Regierungspartei »Einiges Russland« angehört – auch nicht ausgeschlossen, dass dies im Einzelfall Kommunisten sein könnten.
    Gezielte Personalpolitik
    Die Unzufriedenheit mit dem Kurs der Sjuganow-Führung hat nicht nur dazu geführt, dass im April ein offener Brief »einfacher Kommunisten« an die Delegierten des Parteitags bekannt wurde, in dem der Leitung Karrierismus und »Versöhnlertum« vorgeworfen wird. Das Manifest ist der vorläufige Höhepunkt einer Kette von Austritten bzw. Parteiausschlüssen in den Regionen in den vergangenen Jahren. Von Orjol im Westen des Landes – wo ein Kommunist Gouverneur ist – über Perm und Jekaterinburg im Ural bis nach Nowosibirsk – mit KPRF-Bürgermeister – und Chabarowsk protestierten Mitglieder und Funktionäre der unteren Ebene gegen Fälle der Korruption in den eigenen Reihen.
    Vor diesem Hintergrund tragen die organisatorischen Beschlüsse, die der Parteitag fasste, einen Doppelcharakter: die Einführung eines einjährigen Kandidatenstatus sowie einer dreijährigen Wartezeit, bis jemand auf der Parteiliste für ein politisches Amt oder Mandat nominiert werden kann. Sjuganow begründete die Änderungen damit, dass die Reihen der Partei »von Menschen gesäubert werden« müssten, die »uns von der Einstellung und vom Lebensstil her fremd sind«. Sie können aber genauso genutzt werden, um die Nominierung von noch nicht »eingebundenen« Kandidaten der Basis zu erschweren. Solche gezielte Personalpolitik gilt als Spezialität von Afonin. Dass er jetzt zu Sjuganows erstem Stellvertreter gewählt wurde, zeigt, dass die sozialpatriotische Parteispitze das Heft nicht aus der Hand geben will.
    Hintergrund: Loyale Opposition
    Die KPRF wurde im Februar 1993 als Nachfolgepartei der zuvor von Boris Jelzin verbotenen Kommunistischen Partei der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik gegründet. Zuvor hatte das russische Verfassungsgericht dieses Verbot für die Basisorganisationen der Vorläuferpartei wieder aufgehoben. Strategisch war das ein Angebot der prokapitalistischen Staatsführung: Wenn ihr die entstandenen Machtverhältnisse im Prinzip akzeptiert, lassen wir euch in Ruhe.
    Die KPRF hat dieses Angebot angenommen. Sie hat Wahlniederlagen – auch wenn sie haarscharf und völlig unbestritten durch Manipulation herbeigeführt waren wie die bei der Präsidentenwahl von 1996 – akzeptiert und damit bestätigt, dass sie bereit ist, sich in die gegebenen Verhältnisse einzuordnen. Den Kapitalismus kritisiert sie als »verfaulend«, unmoralisch und »dem Konsumrausch verfallen« – Parteichef Gennadi Sjuganow sprach auf dem aktuellen Parteitag von einer »kapitalistischen Orgie« rund um Russland herum.
    Hinzu kommt die in den 1990er Jahren eingeleitete Annäherung der KPRF an die faktische Staatsreligion Russlands, das orthodoxe Christentum. Ihm bescheinigt die Partei eine wichtige Rolle bei der Bewahrung von Russlands »geistiger Sonderrolle«.
    Die Partei hat nach eigenen Angaben heute etwa 162.000 Mitglieder und stellt 46 Abgeordnete der Staatsduma sowie 114 Vertreter in regionalen Parlamenten. In einigen Regionen Russlands erringen KPRF-Vertreter immer wieder auch Mandate als Gouverneure – vom Staat toleriert und als »Schule der Realpolitik« begrüßt. Viele der aktuell kritisierten Korruptionsskandale in der Partei knüpfen genau an diese Verankerung im Staatsapparat an. (rl)
    »Karrieristen und Versöhnler«
    Auszüge aus offenem Brief, der den Richtungsstreit innerhalb der KPRF thematisiert
    Aus einem offenen Brief unter dem Titel »Einfache Kommunisten wenden sich an die Delegierten des KPRF-Parteitags«, der im April veröffentlicht wurde, dokumentiert jW Auszüge:
    Nichts gegen Kritik am Kapitalismus und an den Regierenden. Aber das Geschrei über die Verhängnisse des Kapitalismus und der Regierenden sind nur eine Tarnung, um die tiefen Risse im Gebäude unserer Partei selbst zu verdecken. Die KPRF ist in einer tiefen Krise. Wir verlieren die Sympathie der Gesellschaft, unsere Wahlergebnisse sinken von Jahr zu Jahr. Die KPRF leidet an derselben Krankheit, die seinerzeit zum Ende der KPdSU führte. Vor allem der enormen Distanz zwischen oben und unten in der Partei.
    Der Karrierismus, das Streben vieler nach einträglichen Abgeordnetensesseln, ist der Grund für viele Konflikte in der Partei. Dabei gehen Mandate oft an Leute mit zweifelhaftem Ruf, die, kaum gewählt, schon zum »Einigen Russland« (die Regierungspartei, jW) wechseln. Was sollen wir mit solchen »Wahlsiegen«?
    Die regionalen Parteiführungen verfaulen. Die Oberhand haben Versöhnler und erwiesene Karrieristen. Sie stecken bis zum Hals in Finanzaffären, sie verletzen permanent die Parteisatzung, um ihre eigene Macht zu erhalten, sie umgeben sich mit Speichelleckern und drängen ehrliche Kommunisten aus der Partei. Das ist gefährlich. Schon Stalin warnte: »Wenn wir ein Gesetz für die Führer erlassen und ein anderes für das einfache Volk, dann werden wir bald keine Partei und keine Parteidisziplin mehr haben.« Und Lenin hat voller Zorn davon gesprochen, dass »die Partei ihre Drecksäcke verteidigt«.
    Gegenüber Putin zeigt sich Liebedienerei. Die Parteiführung arrangiert sich mit der Spitze der Staatsmacht einschließlich aller Oligarchen. Die KPRF verliert ihren Charakter einer Klassenpartei. Sie ist keine Avantgarde der Werktätigen mehr, sondern eine parlamentarische Partei, in der Geschäftsleute den Anspruch erheben, die Werktätigen zu vertreten. Die Bourgeoisie ist dabei, die Partei zu erobern, und das Volk sieht das. Genau das treibt die Menschen von der KPRF weg.
    Schon heute besteht die Hälfte der Dumafraktion der KPRF aus Geschäftsleuten. Aber es gibt weder in der Parteiführung noch in der Fraktion einen einzigen Arbeiter. Keinen einzigen! Was unterscheidet unsere Partei da noch vom »Einigen Russland«?
    Was uns umbringt, sind die »Zuschüsse« der Regierenden, die die parlamentarischen Parteien anfüttern. Die Parteispitze der KPRF erhält mehr als eine Milliarde Rubel (etwa elf Millionen Euro, Anm. jW) jährlich – was soll sie sich da noch beim Kassieren von Mitgliedsbeiträgen die Hacken ablaufen. Im Prinzip könnte man auf sie auch ganz verzichten, sie machen ohnehin nur einen Bruchteil des Budgets der Partei aus. Eigentlich braucht die Partei ihre einfachen Mitglieder nicht mehr: Sie kommt auch ohne sie aus.
    Wir stehen nicht im Gegensatz zur Parteiführung. Aber auch die Parteiführung muss verstehen, dass es ohne einfache Soldaten keine Generäle braucht. Wir wissen, wie viele Kommunistische Parteien in Europa und der ehemaligen UdSSR zusammengebrochen sind oder kurz davor stehen, den Geist aufzugeben. Wir wollen vermeiden, dass es uns auch so ergeht. Der Fisch stinkt vom Kopfe her.
    Die karrieristischen Versöhnler, die führende Posten in der Partei erobert haben, haben viele von uns aus der KPRF ausgeschlossen. Aber wir bleiben Kommunisten. Kommunist ist man durch seine Überzeugung, nicht durch einen Mitgliedsausweis in der Brieftasche. Hört auf, uns als Spalter zu denunzieren. Wir rufen lediglich die Führung der KPRF auf, die Leninschen Prinzipien des Parteilebens wiederzubeleben und ihr Augenmerk nicht den Regierenden, sondern den einfachen Kommunisten zuzuwenden. Dann gibt es eine Chance, die Partei zu erhalten.

  166. Pressefreiheit unter Beschuss
    Die junge Welt wird vom Verfassungsschutz als »Organisation« eingestuft und beobachtet. Redaktion und Verlag setzen sich dagegen zur Wehr
    Von Stefan Huth
    Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht die Arbeit unabhängiger Journalisten gelobt und ihnen mehr Schutz zugesagt. »Ohne freie Presse gibt es keine Demokratie«, sagte die SPD-Politikerin am Montag. Ob Russland, China oder Kuba: Geht es um vermeintliche oder tatsächliche Angriffe auf bürgerlich-demokratische Grundrechte in anderen Staaten, ist die Bundesregierung rasch mit Worten und Taten zur Stelle. Hierzulande gelten in dieser Frage offenbar andere Maßstäbe, wie Redaktion, Verlag und Genossenschaft der jungen Welt in den vergangenen Jahren erfahren mussten: Seit 2004 wird unser Blatt offiziell vom Inlandsgeheimdienst beobachtet und seither in den Jahresberichten des Bundesamts für Verfassungsschutz als einzige Tageszeitung mit einem eigenen Eintrag bedacht. Sie wird dort zudem als »Organisation« charakterisiert.
    Das war von Anfang an mehr als nur ärgerlich, denn diese Feindmarkierung hat durchaus Folgen für die redaktionelle Arbeit – nicht zuletzt, weil sie die ökonomischen Grundlagen der Zeitung angreift, die ihr Erscheinen überhaupt ermöglichen. In der Ausgabe vom 13. März machten wir anhand einer Reihe konkreter Beispiele öffentlich, welche praktischen Konsequenzen der jungen Welt aus diesem Stigma erwachsen. So verweigerten Verkehrsbetriebe in Hamburg, Köln, Leipzig und Berlin das Aufhängen von jW-Plakaten mit dem Motiv unserer aktuellen Kampagne »Wer hat Angst vor wem?« Die Begründung lautete meist ähnlich wie in diesem Schreiben an den jW-Verlag: »Sowohl Kunde als auch Motiv entsprechen nicht unserer im Vertrag festgelegten politischen Neutralität.« Blieben die Formulierungen zumeist wie hier im Vagen, äußerte sich eine Druckerei im schwäbischen Esslingen expliziter. Sie verweigerte die bereits vertraglich vereinbarte Herstellung einer Publikation mit einer Begründung, die aufhorchen lässt: »Sie (haben) eine Anzeige für Tageszeitung junge Welt geschaltet, welche als solche im Verfassungsschutzbericht unter ›Überblick mit Strukturdaten zu Beobachtungsobjekten‹ erwähnt wird. Dies widerspricht leider unserem Grundsatz, für Organisationen, die im Verfassungsschutzbericht benannt sind, nicht zu drucken.«
    Zahlreiche wettbewerbsrechtliche Behinderungen hatte es bereits zuvor gegeben. So versuchte eine große Supermarktkette die junge Welt mit Hinweis auf den VS-Bericht aus ihren Filialen zu verbannen, diverse Radiosender lehnen es aus gleichem Grund ab, bezahlte Radiospots auszusenden. Immer wieder wird uns gemeldet, dass in öffentlichen Bibliotheken beim Versuch, die Website der jW anzusteuern, eine »Forbidden«-Meldung auftaucht.
    Redaktion und Verlag sehen in der Nennung der jW im VS-Bericht einen handfesten politischen Skandal. In einem offenen Brief vom 12. März schilderten sie anhand konkreter Beispiele den Sachverhalt und baten die Fraktionen aller im Bundestag vertretenen Parteien um die Beantwortung folgender Fragen: 1. Halten Sie dieses Vorgehen der Bundesbehörde gegen eine Tageszeitung mit dem im Grundgesetz verbrieften Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit für vereinbar? 2. Halten Sie es für hinnehmbar, dass der Tageszeitung junge Welt die erwähnten wesentlichen Einschränkungen im Wettbewerb auferlegt werden, nur weil einem Amt die in der Zeitung vertretene Meinung nicht passt? 3. Sehen Sie eine Möglichkeit, wie Ihre Fraktion in dieser Sache aktiv werden könnte?
    Antworten erreichten uns von Bündnis 90/Die Grünen sowie von der Linksfraktion – alle anderen zogen es vor zu schweigen. Die medienpolitische Sprecherin der Grünen, Margit Stumpp, war auch bereit, jW ein Interview zu geben. Die beiden Fraktionsvorsitzenden der Linken, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch, schrieben: »Die Pressefreiheit ist nicht nur ein verbrieftes Recht, sondern sie muss auch in der Praxis gelten, was ebenso für alle anderen Zeitungen gilt.« Sie kündigten an, dass ihre Fraktion in dieser Angelegenheit eine kleine Anfrage an die Bundesregierung stellen werde. Diese wurde, gezeichnet von 52 Linke-Abgeordneten, am 23. April mit der Drucksachennummer 19/28956 auf der Website des Bundestags veröffentlicht.
    Es sind interessante Fragen, die in dem Papier aufgeworfen werden: Ist Berichterstattung auf marxistischer Grundlage verfassungsfeindlich? Ist es zulässig, mit Blick auf die hiesigen Verhältnisse von einer Klassengesellschaft zu sprechen und fundamentale Kapitalismuskritik zu äußern? Darf eine staatliche Behörde die politische Haltung einer Tageszeitung bewerten und so Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit nehmen? Die Antworten sind überraschend und illustrieren eindrucksvoll, was die Bundesregierung tatsächlich von Pressefreiheit hält.
    Lesen Sie die Reaktion der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Linksfraktion in der morgigen Ausgabe
    Dokumentiert: junge Welt im VS-Bericht
    Im aktuellen Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz wird die junge Welt wie in jedem Jahr seit 2004 mit einem eigenen Beitrag erwähnt:
    Die kommunistisch ausgerichtete Tageszeitung junge Welt (jW) tritt für die Errichtung einer sozialistischen/kommunistischen Gesellschaft ein. Sie ist das bedeutendste und mit einer wöchentlichen Auflage von 25.600 beziehungsweise 27.900 Exemplaren der Samstagsausgabe das auflagenstärkste Printmedium im Linksextremismus. Die Ausgabe zum 1. Mai 2019 umfasste nach Eigenangaben der Organisation 126.000 Exemplare. Zum Selbstverständnis der jW heißt es etwa:
    »In wenigen Worten lässt sich die Frage, was die junge Welt ist, so beantworten: Sie ist die einzige marxistische Tageszeitung im deutschsprachigen Raum und ergreift als solche klar Partei.« (»Mediadaten-Anzeigenpreisliste« Nr. 28, 1. März 2019, S. 3)
    Einzelne Redaktionsmitglieder und einige der Stamm- und Gastautoren sind dem linksextremistischen Spektrum zuzurechnen. Nach Eigenangaben von Redaktion, Verlag und Genossenschaft will die Zeitung nicht nur informieren, sondern auch für Aktionen mobilisieren und den Widerstand formieren. Die jW bekennt sich dabei nicht ausdrücklich zur Gewaltfreiheit. Vielmehr bietet sie immer wieder eine öffentliche Plattform für Personen, die politisch motivierte Straftaten gutheißen.
    Quelle: Verfassungsschutzbericht 2019, vorgestellt am 9.7.2020 von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Bundes­verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang
    »Was kann ich als Politikerin tun?«
    VS beobachtet jW. Grüne-Abgeordnete verweist auf Rechtsweg. Ein Gespräch mit Margit Stumpp
    Die junge Welt wird als einzige Tageszeitung in der Bundesrepublik vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Redaktion und Verlag baten dazu alle Bundestagsfraktionen um eine Stellungnahme. In Ihrer Antwort auf unsere Anfrage schreiben Sie: »Beobachtungen durch den Verfassungsschutz dürfen kein Mittel im parteipolitischen Meinungskampf sein.« Die junge Welt ist keine parteieigene Zeitung. Halten Sie die Beobachtung für legitim?
    Ich habe als Abgeordnete gar nicht die Hintergrundinformationen, um zu beurteilen, ob es jetzt notwendig, legitim oder angemessen ist, irgendein Medium zu beobachten. Es spielt deshalb keine Rolle, welche Meinung ich als Politikerin dazu habe. Darauf kommt es auch überhaupt nicht an. Die Politik hat keinen Einfluss auf den Verfassungsschutz und darf den auch nicht haben. Es kommt darauf an, dass wir Bundestagsabgeordneten über die Kontrollgremien den Verfassungsschutz kontrollieren, aber nicht Einfluss nehmen auf Entscheidungen des Verfassungsschutzes. Das ist Gewaltenteilung.
    Sie schrieben: »Die Beobachtung von Medien muss aufgrund der hohen grundrechtlichen Bedeutung der Presse- und Meinungsfreiheit völlig zu Recht gut begründet sein.«
    Inwiefern ist die Beobachtung der jW durch den Verfassungsschutz aus Ihrer Sicht gut begründet?
    Die Begründung habe ich nicht überprüft. Das kann ich als Abgeordnete nicht. Es liegt an Ihnen als Betroffene, den Rechtsweg zu gehen und das überprüfen zu lassen.
    Sehen Sie sich selbst nicht in der Pflicht, für das Grundrecht Pressefreiheit einzustehen?
    Ich stehe vehement für die Presse- und Meinungsfreiheit ein. Als Politikerin muss ich auch die unterschiedlichen Rollen und die Rolle des Verfassungsschutzes anerkennen, und deswegen sage ich: Für die Beobachtung von Medien muss ein besonders hoher Standard gelten. Den verteidige ich, aber das heißt nicht, dass Medien nicht beobachtet werden können, wenn der Verfassungsschutz das gut begründen kann. Ich stehe dazu, dass wir einen Verfassungsschutz haben, der mit all seinen Stärken und Schwächen seine Rolle erfüllen muss.
    Ihre Partei kritisiert regelmäßig die Lage der Pressefreiheit in Ländern wie Russland. Allerdings gehen auch in der Bundesrepublik staatliche Stellen gegen Medienhäuser vor. Weshalb ist für Sie die Beobachtung einer unabhängigen Zeitung durch den Inlandsgeheimdienst nicht kategorisch abzulehnen?
    Der Verfassungsschutz hat einen Auftrag, dem kommt er nach, und das muss er gut begründen. Gerade wenn er Medien beobachtet, egal welcher Natur die sind. Und diese Begründung muss gerichtsfest sein, dafür gibt es den Rechtsweg. Wenn sie das nicht ist, dann muss der Verfassungsschutz seine Beobachtungen einstellen. Ich halte das für ein rechtsstaatliches Verfahren.
    Warum hat Ihre Partei im Bundestag keine kleine Anfrage gestellt, um von der Bundesregierung eine Stellungnahme zu den Themen Verfassungsschutzbeobachtung der jungen Welt und warum der Verfassungsschutz in die Pressefreiheit eingreift, zu verlangen?
    Wenn ich so eine Anfrage ans Innenministerium richte, dann kriege ich die Auskunft, sie nehmen zu der Tätigkeit des Verfassungsschutzes aus Sicherheitsgründen und Geheimnisgründen nicht Stellung, schon gar nicht in kleinen Anfragen. Dafür gibt es die Kontrollgremien. Machen Sie mir doch bitte einen Vorschlag, was ich als Politikerin tun kann? Welche Handlungsoptionen habe ich?
    Und dass der Verfassungsschutz in das Thema Pressefreiheit eingreift, kann ich so nicht teilen. Der Verfassungsschutz hat vielmehr den Auftrag, die Verfassung zu schützen, die die Pressefreiheit garantiert.
    Jetzt stellen Sie sich mal vor, da kommt ein rechtes Blatt mit genau dem gleichen Anliegen. Und beruft sich auf die Verfassung, und dann soll ich mich dafür einsetzen? Auch das mache ich nicht!
    Margit Stumpp ist medienpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.
    Von Annuschka Eckhardt

  167. “Es kommt darauf an, dass wir Bundestagsabgeordneten über die Kontrollgremien den Verfassungsschutz kontrollieren, aber nicht Einfluss nehmen auf Entscheidungen des Verfassungsschutzes. Das ist Gewaltenteilung.”
    Worin besteht denn die Kontrolle, wenn nicht im Einfluss auf Entscheidungen? Was wird denn kontrolliert? Ob die Bleistifte richtig gespitzt sind? Das ist doch absurd.
    Und das Argument oben, die Zeitung würde Partei ergreifen, ist ja auch Blödsinn. Das Partei ergreifen ist das Geschäft von Zeitungen. Bloß greifen sie halt für die Regierung Partei, was ja nicht nur aber gerade auch in Coronazeiten sich überdeutlich zeigt.

  168. Appell für Presse- und Meinungsfreiheit
    Von Verlag, Redaktion und Genossenschaft der Tageszeitung junge Welt
    Von jW
    In großer Sorge um die Pressefreiheit in diesem Land wenden sich Verlag, Redaktion und Genossenschaft der in Berlin erscheinenden Tageszeitung junge Welt an die deutsche und internationale Öffentlichkeit. Als einzige Tageszeitung in der Bundesrepublik steht die junge Welt unter Dauerbeobachtung durch den Inlandsgeheimdienst. Seit dem Jahr 2004 wird sie regelmäßig im Verfassungsschutzbericht des Bundes im Kapitel »Linksextremismus« aufgeführt und dort als »Gruppierung« eingestuft, die angeblich »verfassungsfeindliche Ziele« verfolgt. Nun handelt es sich bei der jungen Welt nicht um eine politische Organisation, sondern um ein journalistisches Produkt. Wir sehen einen handfesten politischen Skandal darin, dass eine staatliche Behörde sich anmaßt, eine unabhängige Zeitung in dieser Weise an den Pranger zu stellen, weil ihr bestimmte Inhalte nicht gefallen.
    In einem offenen Brief an alle Bundestagsfraktionen hatten Redaktion, Verlag und Genossenschaft Mitte März 2021 diesen drastischen Eingriff in die Presse- und Meinungsfreiheit beklagt. Sie wiesen zudem auf »erhebliche Nachteile im Wettbewerb« hin, die der jungen Welt aus der Nennung im VS-Bericht erwachsen. So verweigern die Deutsche Bahn und verschiedene Kommunen und Radiosender unter Verweis auf den Verfassungsschutz-Eintrag das Anmieten von Werbeplätzen, Bibliotheken sperren den Onlinezugang zur Zeitung, und eine Druckerei weigerte sich, eine andere Druckschrift mit einer Anzeige der jungen Welt herzustellen. In Reaktion auf unser Schreiben wandte sich die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke mit einer Kleinen Anfrage (BT-Drucksache 19/28956) an die Bundesregierung, um sich im Detail nach den Gründen für die geheimdienstliche Beobachtung der jungen Welt und deren Nennung im VS-Bericht zu erkundigen.
    Die Antwort der von Union und SPD geführten Regierung vom 5. Mai 2021 muss beunruhigen, liefert sie doch Argumente für eine sehr weitgehende Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte, die alle fortschrittlichen Kräfte in diesem Land betreffen. Die Bundesregierung rechtfertigt ihre Eingriffe mit der »verfassungsfeindlichen« weltanschaulichen Orientierung der jungen Welt: »Themenauswahl und Intensität der Berichterstattung zielen auf Darstellung ›linker‹ und linksextremistischer Politikvorstellungen und orientieren sich am Selbstverständnis der jW als marxistische Tageszeitung.« Weiter heißt es, »die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit (widerspreche) der Garantie der Menschenwürde«. In klaren Worten führt die Bundesregierung aus, dass es ihr darum geht, Relevanz und »Wirkmächtigkeit« der jungen Welt einzuschränken. Das Stigma der Nennung in den VS-Berichten diene auch dem Zweck, »verfassungsfeindlichen Bestrebungen (…) den weiteren Nährboden entziehen zu können«. Um die Reichweite der Zeitung einzuschränken, werden ihre ökonomischen Grundlagen also bewusst angegriffen. Die Bundesregierung kriminalisiert eine Weltanschauung in einer Weise, die an Gesinnungsterror und damit an finsterste Zeiten des Kalten Krieges erinnert. Während sie vermeintliche oder tatsächliche Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte in Staaten wie Russland, China oder Kuba wortreich beklagt, werden hierzulande unverschleiert vordemokratische Standards etabliert.
    Wir appellieren an die kritische Öffentlichkeit, sich dieser von obrigkeitsstaatlichem Denken geleiteten Einschränkung von demokratischen Grundrechten zu widersetzen. Wir bitten Sie: Studieren Sie gründlich die Antwort der Bundesregierung! Fordern Sie Ihre demokratisch gewählten Bundestagsabgeordneten auf, dazu Stellung zu nehmen! Zeigen Sie sich solidarisch mit der Tageszeitung junge Welt – auch im eigenen Interesse! Verlag, Redaktion und Genossenschaft werden sich nicht einschüchtern lassen und auch weiterhin alles dafür tun, dass eine relevante linke Tageszeitung auf dem Markt verfügbar bleibt.
    Berlin, 7. Mai 2021
    Die komplette Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke (BT-Drucksache 19/28956) lässt sich hier einsehen:
    https://www.jungewelt.de/downloads/antwort_br_anfrage_linke.pdf

  169. Kein Verzeihen
    Von Arnold Schölzel
    Auf der dem Holtzbrinck-Konzern gehörenden Internetseite zeit.de wird deren freier Autor Alan Posener, der auch für Springers Welt schreibt, u. a. so vorgestellt: »Auf der Uni war er als Funktionär der maoistischen KPD tätig und studierte nebenbei Germanistik und Anglistik. Danach wurde er verbeamtet. Aus Langeweile wurde er Schriftsteller, aus Geldmangel Journalist.« Das deutet auf Staatsfrömmigkeit mit einem »linken« politischen Puschel. Was das jeweils heißt, ändert sich.
    Beispiel China: Am Mittwoch leitet Posener eine »Analyse« mit der These im Untertitel ein: »Es wird Zeit für eine neue Chinapolitik.« Dann gibt es einen halbgroßen Namen: »Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem damaligen US-Handelsminister Robert Zoellick in Davos Anfang 2006.« Und die damalige Weltlage: »Die Demokratie schien überall auf dem Vormarsch zu sein. Die Taliban waren in Afghanistan besiegt, Saddam Hussein im Irak gestürzt worden. Die Mullahs im Iran baten um Gespräche, Muammar Al-Ghaddafi in Libyen lieferte seine geheimen Atomwaffenlabore bei der CIA ab.« So lassen sich völkerrechtswidrige Kriege und ihre Folgen in verbeamteter Langeweile zusammenfassen. Die Einführung der Demokratie durch NATO-Bomben in Jugoslawien 1999 kann wegfallen. Sie war nur von »Kollateralschäden« begleitet, nicht von Leichenbergen wie im Irak oder in Afghanistan. Aber die Erschossenen und Erschlagenen waren regelbasiert, wie aus dem Folgenden hervorgeht: »China werde vom störenden Außenseiter zum stabilisierenden Stakeholder – Teilhaber – der auf Regeln basierten Weltordnung.« Wenn China sich nicht so richtig an der beteiligt, hat das möglicherweise seine Ursache darin, dass deren Ordnungsregel der Regelbruch des Westens ist.
    Die Menschenvernichtung im faschistischen Krieg gegen die Sowjetunion hält Posener zwar nicht für regelbasiert, aber für belanglos. Am 30. April veröffentlichte er jedenfalls auf zeit.de einen Artikel zu Russland, der übers deutsche Hetzmittelmaß nicht hinausgeht – bis auf einen Punkt. Zunächst geht es laut Untertitel ums Übliche: »Solange Deutschland von russischem Gas abhängig ist, bleibt es außenpolitisch eine Geisel Wladimir Putins. Die Abhängigkeit zeigt sich auch am Umgang mit Alexej Nawalny«.
    Das könnte von Heiko Maas und Annalena Baerbock (»Das Wichtigste ist derzeit, den Druck auf Russland zu erhöhen …«) abgeschrieben sein, aber Posener hat für die grüne Kanzlerkandidatin auch einen Rat: Die Abhängigkeit vom russischen Gas lasse sich ohne Atomkraft kaum überwinden. Und dazu noch den: »Darüber hinaus muss sich gerade die kulturelle Linke von der Vorstellung lösen, der Frieden mit Russland um beinahe jeden Preis sei wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 eine moralische Pflicht. Zu den Hauptopfern des deutschen Vernichtungskriegs im Osten gehörten neben Polen und Balten vor allem die schon von Stalin geschundenen Ukrainer.« Es müsse »daher« zur deutschen Staatsräson gehören, der Ukraine den Weg in EU und NATO zu weisen. Abgesehen davon, dass Posener das heutige Belarus nicht nennt, wo 25 Prozent der Bevölkerung zwischen 1941 und 1945 umgebracht wurden und wohin keine deutschen Pensionen für einheimische SS-Leute flossen, sind ihm 27 Millionen tote Sowjetbürger keine Erwähnung wert. Wie auch nicht der Angriffskrieg auf Jugoslawien 1999 und sonstige regelbasierte Feldzüge.
    Wer wie Posener fürs Vergessen, also für Wiederholung des Geschehenen schreibt, darf das hierzulande unbehelligt, solange er nicht die Schoah meint. Die wurde in erster Linie durch die Rote Armee beendet. Das verzeihen ihr diejenigen, für die der Ex-Mao-KPDler den Kopflanger macht, nie.
    Heuchler in Blau-Gelb
    »Trauerfeier« der ukrainischen Botschaft
    Von Reinhard Lauterbach
    An öffentlichen Gedenkzeremonien kann man schnell etwas auszusetzen haben. Das liegt in der Natur des Genres: Trauer ist ein zutiefst privates Gefühl, wenn Staaten trauern, bleiben – vorsichtig gesagt – Akzentverschiebungen nicht aus. Schließlich feiert sich ein Staat da in erster Linie selbst und will die Nachbarn und die eigene Bevölkerung zu Respekt für sich ermahnen. Alles soweit geschenkt, das kommt überall vor.
    Doch was die Ukraine in diesem Jahr in Berlin veranstaltet hat, stellt auf der Skala öffentlicher Heuchelei einen vorläufigen Höhepunkt dar. Ihre Botschaft lud am Freitag zu einer »internationalen Trauerfeier« vor das Sowjetische Ehrenmal im Berliner Tiergarten ein – ausgerechnet die Vertretung des Landes, das seine staatliche Existenz, seine Grenzen und sogar noch seinen Anspruch auf die Krim jener ­Sowjetunion verdankt, deren Spuren es im Innern mit aller Macht zu tilgen sucht. Man wollte nicht nur dem russischen Gedenken am Sonntag, sondern auch dem deutschen an diesem Sonnabend um einen Tag voraus sein. Oder fürchtete man, dass niemand sein freies Wochenende unterbrechen würde, um, wie es in der Einladung hieß, »persönlich« zu erscheinen? Dazu passt, dass »die Ukraine« – die es damals als politisches Subjekt nicht gab – heute versucht, sich ein Stück aus dem sowjetischen Anteil an der Befreiung vom Naziregime herauszuschneiden – unter Verweis auf die Millionen Ukrainer, die in der Roten Armee gekämpft haben, und mit dem Hinweis auf die Juden, die in der Ukraine den Mordkommandos der deutschen Faschisten – und, gern beschwiegen, ihrer einheimischen Helfer – zum Opfer gefallen sind. Die Ukraine parasitiert im Ausland an den Resten einer antifaschistischen Gedenktradition, die sie zu Hause nach Kräften untergräbt.
    Solche Krokodilstränen vergießt dieselbe Botschaft, die sich im eigenen Land dafür loben lässt, dass sie die Namen aller Angehörigen der SS-Freiwilligendivision »Galizien« ermittelt und dem ehrenden Gedenken zugänglich gemacht habe. Es geht dabei wohlgemerkt um eine Einheit, die vorwiegend im Hinterland der Wehrmacht zur »Bandenbekämpfung« – im Klartext: Kriegsverbrechen – eingesetzt wurde. Diese Täterformation wurde Ende April aus Anlass ihres Gründungstags in Kiew mit einem Aufzug heutiger Nazis gefeiert. Die Veranstaltung war so peinlich, dass sich sogar die deutsche Botschaft zu einer Distanzierung genötigt sah: Es trage nicht zum internationalen Ansehen der Ukraine bei, solche historischen Verbindungen herauszustreichen.
    Das kann man wohl sagen. Auch wenn der historische ukrainische Nationalismus von den Nazis instrumentalisiert wurde: Er hat sich auch gern instrumentalisieren lassen, weil er darin seine Chance sah. Ganz genau wie heute übrigens, wo er sich für die weltweite Konfrontationsstrategie der USA in Dienst nehmen lässt. Ob mit oder ohne Porträts von Nazikollaborateur ­Stepan Bandera.
    »Es ist simpel, das Böse immer bei den anderen zu sehen«
    Über westliche Sichtweisen, Wladimir Putin und Geopolitik. Ein Gespräch mit Hubert Seipel
    Interview: Reinhard Lauterbach
    Herr Seipel, Ihnen hängt der Ruf des »Putin-Verstehers« nach. Ich will jetzt gar nicht fragen, wie Sie sich dabei fühlen, sondern: Wie sind Sie überhaupt so nah an Putin herangekommen?
    Es begann alles bei einem Abendessen mit Helmut Schmidt 2009. Der Anlass war eine ARD-Fernsehdokumentation, die ich über die Spekulation von Finanzinvestoren gemacht hatte und für die ich einen Preis für Wirtschaftsjournalismus bekam, der nach dem einstigen Kanzler benannt ist. Bei dem Essen kamen wir unter anderem auch auf Nord Stream 1 zu sprechen – jene Gaspipeline, die damals in Planung war und den begehrten Rohstoff direkt von Russland nach Deutschland durch die Ostsee leiten sollte. Es war ein alter Plan. Schon zu Schmidts Zeiten als Kanzler gab es ein ähnliches Projekt, das damals eine große Rolle gespielt hatte. Schmidt wollte Energie aus Russland beziehen, und er hatte ein ähnliches Problem wie die Bundesregierung heute – die USA waren strikt dagegen. Der damalige Präsident Ronald Reagan verhängte, wie heute auch, Sanktionen gegen Deutschland. Aber Helmut Schmidt hielt massiv dagegen und setzte sich durch. Das hat er mir an diesem Abend lange und ausführlich erzählt, und das war der Anstoß für mich, einen Film über dieses Nord-Stream-Projekt zu machen.
    Moment mal, Nord Stream war doch Schröders Sache! Zu Helmut Schmidts Zeiten hat doch niemand über irgendwelche Ostseepipelines geredet, oder?
    Nein, das ist ein ziemlich altes Thema. Wir reden über Energielieferungen aus Russland schon seit Konrad Adenauers Zeiten. 1962 waren die Amerikaner noch erfolgreich, den damaligen Bundeskanzler so unter Druck zu setzen, dass er das Projekt stoppte. Helmut Schmidt nahm die Idee als Folge von Willy Brandts Ostpolitik wieder auf. »Wer Handel treibt, schießt nicht aufeinander«, lautete damals sein Motto. Der Deal ging als Mannesmann-Röhrengeschäft in die Geschichte ein, wenn Sie sich noch dran erinnern…
    Ja, das Tauschgeschäft, Erdgas aus der Leitung, die mit Röhren von Mannesmann erst gebaut werden sollte. Der Vertrag darüber wurde 1981 in der letzten Phase der Schmidt-Regierung unterzeichnet.
    Helmut Schmidt hat Anfang der 80er Jahre sich mit ziemlich klaren Worten gegen die USA durchgesetzt. Das war das Gesprächsthema an diesem Abend 2009 im Hotel »Atlantik« in Hamburg. Ein durchaus aktuelles Thema wegen Nord Stream 1, das auch wieder gegen amerikanische Bedenken durchgesetzt wurde. Für mich der Anlass, einen neuen Film für die ARD, »Gigant Gasprom – Die Deutschen und ihr Gas aus dem Osten«, zu drehen. Und das war der Grund, warum ich auch mit Wladimir Putin sprechen wollte. Ein ziemlich langwieriges Unterfangen, mit ihm in Kontakt zu kommen. Nur vier Tage vor der Ausstrahlung – ich hatte den Film schon fast fertig – bekam ich einen Anruf, ob ich am nächsten Tag in Moskau sein könnte. Dann war ich 24 Stunden später da und bekam im Hotel einen weiteren Anruf, ob ich was dagegen hätte, wenn bei meinem Interview auch noch das russische Fernsehen dabei wäre. Meine erste Reaktion war die Frage »Was kann ich dagegen tun?«, und die Antwort lautete: »Eigentlich nichts«. Na gut, es war mir so auch recht, und so kam ich zu meinem ersten Interview mit Putin, das habe ich dann noch in einer Nachtschicht in den Film eingearbeitet. Und so kam das.
    Und das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?
    Hübsch formuliert (lacht). Journalisten und ihre Interviewpartner gehen in aller Regel Zweckbündnisse ein. Die gemeinsame Währung ist die Öffentlichkeit. Sie müssen ein bestimmtes Vertrauen aufbauen. Sonst kriegen Sie keine inhaltlichen Varianten mit, sondern nur die übliche Inszenierung geboten. Das ist bei Putin nicht anders als in Berlin oder Washington.
    Wenn wir jetzt diesen Faktor mal herausrechnen: Was ist Ihr Eindruck von Putin als Mensch, und was macht Sie sicher, dass das, was er Ihnen erzählt, keine Inszenierung ist?
    Politiker haben immer einen Hang zur Inszenierung, das ist der Ausgangspunkt für ihr Verhältnis zu Journalisten und Medien. Das ist überall gleich. Aber es gibt natürlich die üblichen Möglichkeiten der Überprüfung, das normale journalistische Handwerkszeug: Recherche. Was ist plausibel, was stimmt, was stimmt nicht? Das habe ich auch gemacht, und bisher sind mir noch nicht so sehr viele Fehler nachgewiesen worden.
    Ihr neues Buch trägt den Titel »Putins Macht. Warum Europa Russland braucht«. Können Sie an dieser Stelle zusammenfassen, worin diese Macht besteht?
    Der Mann vertritt seit 20 Jahren sein Land, er hat damit enorme Einflussmöglichkeiten, was den Frieden in Europa angeht. Russland ist eine Atommacht, er ist ein zentraler politischer Player und Gesprächspartner, nicht nur für Merkel, Macron und Kurz. Russland ist zentraler Faktor der europäischen Landschaft.
    Warum braucht Europa Russland, abgesehen von den Tatsachen, dass es eine Atommacht und aus dem Osten des Kontinents nicht wegzudefinieren ist?
    Das sind doch schon mal zwei ganz gute Punkte (lacht). Europa ist nach wie vor der Austragungsort für einen atomaren Krieg der Weltmächte. Amerika hat fast alle Atomwaffenabkommen aufgekündigt. Nicht umsonst haben wir darauf gedrängt, auch die Verhandlungen über ein iranisches Atomabkommen wieder aufzunehmen, das die USA gekündigt hatten. Dann wären da auf der politischen Landkarte noch Libyen und der Krieg in Syrien, der uns Hunderttausende von Flüchtlingen beschert hat. Und auch in Europa ist die Kriegsgefahr noch längst nicht gebannt. Die ehemaligen Sowjetrepubliken werden sich, wie Russland, noch lange mit ihrer Vergangenheit und den Wunden auseinandersetzen, die sie sich in den vergangenen Jahrzehnten gegenseitig zugefügt haben. Wenn das alles nicht passiert, werden wir in Europa wieder viel stärkere nationale Bewegungen haben, die auf Konfrontation setzen. Wenn diese nationalen Verletzungen nicht aufgearbeitet werden – und dazu brauchen wir auch Russland –, dann bekommen wir statt der Erinnerung an den Krieg nur noch den Krieg der Erinnerungen.
    Ihr Buch ist, so wie ich es gelesen habe, in erster Linie ein Sündenregister westlicher Politik. War das Absicht?
    Mein Buch ist nicht die Bibel. Ich habe nur 350 Seiten geschrieben und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Das ist das eine. Das andere: An öffentlichen Sündenregistern der östlichen Politik herrscht bei uns kein Mangel, und unsere gepflegten Urteile über Russland haben durchaus immer eine Vorgeschichte.
    Wladimir Putin weckt in Deutschland Sympathien an beiden Rändern des politischen Spektrums: sowohl bei den Rechten, Stichwort Pegida-Demos mit Plakaten »Putin, hilf uns«, als auch in Teilen der Linken. Worauf führen Sie diese Attraktivität zurück?
    Keine Ahnung, Projektionen verschiedener Lager sind schwer nachzuvollziehen. Putin ist in den meisten Fällen öffentlicher Vereinnahmung eine Kunstfigur. Bei der Linken schwingt wohl Nostalgie und die Erinnerung an einen Traum mit, der mit dem Ende der Sowjetunion scheiterte. Bei den Rechten ist es wohl dieses markante Männerbild, das Putins PR-Leute am Anfang zusammen mit einem nationalen Selbstbewusstsein propagiert haben. Aber wir alle haben unterdessen ja auch die gemeinsame Erfahrung gemacht – und nicht erst seit Donald Trump –, dass auf Amerika nicht viel Verlass ist, wenn es um unsere eigenen Interessen in Europa geht. Die Haltung »America First« ist ja nicht von ihm erfunden worden. Aber die brachiale Art, wie Trump die Devise vertreten hat, hat in Europa viele Augen dafür geöffnet, dass wir auch andere Bezugspunkte brauchen. Russland als das größte Land der Welt wird ja nicht verschwinden.
    Wie haben Sie in Ihren Gesprächen mit Putin sein Verhältnis zum sowjetischen Erbe wahrgenommen?
    Es gibt, soweit ich das mitbekommen habe, mehrere Punkte, die ihn beschäftigen. Einmal der, dass seit der Revolution von 1917 die Brüche innerhalb Russlands und der Sowjetunion so tief gewesen sind und so viele Opfer gefordert haben, dass er versucht, eine gemeinsame russische Identität nach 1991 aufzubauen. Der zweite Punkt ist, dass damit die Aufarbeitung des Stalinismus eher in homöopathischen Dosen vor sich geht, weil Putin weiß, dass bis heute praktisch jede Familie als Teil des Systems von dieser Debatte persönlich betroffen ist. Für ihn heißt das: Er braucht jetzt keine neue Spaltung, sondern er will das in aller Vorsicht durchziehen. Deswegen setzt er auch auf die kollektive Erinnerung an den Sieg im Zweiten Weltkrieg als historische Gemeinsamkeit, um ein nationales Bewusstsein aller Russen zu fördern. Die andere Frage ist, wie sich das auf Dauer auf die jüngere Generation auswirkt.
    Das ist ja auch der Punkt an der Aktion »Unsterbliches Regiment«, bei der Menschen mit Fotos ihrer Großväter und -mütter in Uniform demonstrieren. Und es war, glaube ich, sogar das vom Westen mitfinanzierte Meinungsforschungsinstitut Lewada, das herausgefunden hat, dass das Bild der jüngeren Generation in Russland von der Sowjetunion entscheidend durch die Erzählungen der Großelterngeneration geprägt ist, und zwar durchaus nicht nur negativ.
    Das trifft einen ziemlich wichtigen Punkt. Mündliche Erzählungen über Schicksale machen Erinnerung konkret. Es ist nicht nur der Stechschrittnationalismus, den man auf den Militärparaden sieht, sondern durchaus eine gefühlte Identifikation mit den Erzählungen der Großeltern. Und die ist stärker, als man denkt. Nach einer anderen Umfrage, auch von Lewada, ist das Bedürfnis junger Russen, ihr Land aus ideologischen Gründen in Richtung Europa zu verlassen, bei weitem nicht so ausgeprägt, wie es sich manche hier gern vorstellen. Viele junge Russen sind durchaus von ihrem eigenen Land überzeugt, hat eine gemeinsame Untersuchung von Lewada mit der Friedrich-Ebert-Stiftung analysiert. Dass es dabei eine bestimmte Putin-Müdigkeit gibt, etwa bei denen, die im Jahr 2000 in Moskau geboren wurden, ist normal. Bei Helmut Kohl oder Angela Merkel ist das nach 16 Jahren auch nicht anders.
    Blicken wir noch einmal in die Zukunft. Putin ist jetzt 20 Jahre an der Macht, er wird ja nicht mehr ewig dort sein. Was denken Sie, wie er in der Nachfolgefrage agieren wird: Tritt er 2024 nochmals an?
    Wenn ich das wüsste (lacht). Er hat sich jetzt durch die Verfassungsreform einen Freifahrtschein bis 2036 ausstellen lassen. Er ist 2018 zwar mit der höchsten Stimmenzahl für eine letzte Amtszeit gewählt worden. Trotzdem ist der Beginn einer letzten Amtszeit auch immer der Anfang vom Ende. Nicht umsonst gibt es für den letzten Abschnitt den treffenden politischen Begriff »Lame duck«, lahme Ente. Das heißt, die politische Elite fängt an, sich neu zu orientieren, formuliert eigene Ansprüche, zerfällt in politische Lager – wir sehen das ja auch bei uns gerade in der Endphase von Angela Merkels Amtszeit.
    Putin hat es geschafft, sich alle Optionen offenzuhalten. Er hat sich den Spielraum geschaffen, selbst zu bestimmen, wann er abtritt. Und genau das hat er gewollt. Es geht um politischen Spielraum. Ich persönlich glaube, er wird viel früher abtreten, als viele glauben. Aber ich bin nur Journalist und kein Prophet .
    Hält sich Putin nach Ihrem Eindruck für unentbehrlich?
    Ich bin nicht sein Psychoanalytiker. Natürlich hat er ein Bewusstsein darüber entwickelt, dass er ein wichtiger Mann der Zeitgeschichte ist. Ob er sich für unentbehrlich hält? Zeigen Sie mir einen Politiker, der das nicht tut, wenn er lange genug an der Macht ist. Das gehört zum Job dazu. Andererseits weiß er genau, dass er die Generation der heute 18- oder 20jährigen nicht auf Dauer fesseln kann und dass auch der Politiker Wladimir Putin ein Verfallsdatum hat.
    Was ist Putins Vermächtnis? Wie will er in die Geschichte eingehen?
    Ich glaube, Putins Verdienst ist es, dass er den extremen Verfall Russlands in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gestoppt und den Leuten wieder Selbstbewusstsein gegeben hat. Das hat nicht nur mit Nationalismus zu tun, sondern auch mit Selbstvertrauen. Was ich gerade schon gesagt habe: Die jungen Russen sind gar nicht alle darauf erpicht, in den Westen auszuwandern. Sie haben eine eigene Identität entwickelt – und das ist, glaube ich, eines der Vermächtnisse, die auf Putin zurückzuführen sind. Wie lange das Bestand haben wird, kann ich schlecht beurteilen.
    Im Moment scheint es darauf hinauszulaufen, dass sich Russland einigelt und sich als eine Art belagerte Festung wahrnimmt. So, wie mal ein römischer Kaiser gesagt hat: »Mögen sie hassen, solange sie fürchten«?
    Es gibt natürlich heftige geopolitische Auseinandersetzungen, konkrete politische Interessen. Jeder redete vor zwei Wochen davon, dass Russland Truppen von links nach rechts und an die ukrainische Grenze bewegt. Gleichzeitig findet parallel dazu in Europa das Manöver »Defender 21« statt, das wiederum die NATO gemeinsam mit der Ukraine an der Grenze zu Russland gegen den Feind Russland durchführt. Das ist keine subjektive Einbildung Putins oder der russischen Führung, sich ständig belagert zu fühlen. Es gibt tatsächlich auch reale Anhaltspunkte dafür, dass es so ist. Die Liste der Sanktionen des Westens ist Hunderte von Seiten lang. Die Vorstellung der USA, Nord Stream 2 zu blocken, ist keine Fiktion. Ebenso wie die Vorstellung, dass Russland sich gefälligst als eine Art Sonderschüler westlichen Verhaltensmustern anzugleichen hat. Es geht konkret um Herrschaftsinteressen. Auf beiden Seiten.
    Dieses Bewusstsein der belagerten Festung wird in Russland seit längerer Zeit schon gepflegt. In einem Moskauer Geschichtsmuseum hängt ein großes Banner mit einem Zitat von Zar Alexander III.: »Russland hat keine Verbündeten außer seiner Armee und seiner Flotte«. Das hängt schon länger da, nicht erst seit »Defender 21«.
    Schauen Sie sich mal die letzten 200 Jahre an: Da hat es jede Menge Konfrontationen zwischen Russland und seinen Nachbarn gegeben. Und Politik beruht nun mal auch auf historischen Erfahrungen von Völkern. Wir haben den letzten Krieg verloren und sind deshalb überzeugt, dass überall Frieden herrschen müsse. »Wir glauben gerne«, hat Frank-Walter Steinmeier im vergangenen Jahr auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt, »dass wir die Lektionen der europäischen Geschichte auf Grund unserer Vergangenheit« am besten gelernt hätten. Ein Irrglaube, sagte der Bundespräsident dann weiter, der »uns blind gemacht hat dafür, dass unsere Nachbarn die Welt anders sehen.«
    Das ist ja eine Sache, die dem offiziellen Russland wohl heftig auf die Nerven geht: Das unerschütterliche Selbstbewusstsein, mit dem der Westen immer glaubt, die Moral gepachtet zu haben. Vor ein paar Tagen hat die Sprecherin des russischen Außenministeriums sinngemäß gesagt: Was wollen die USA eigentlich, deren gesamte Nationalgeschichte beruht auf Gewalt bis hin zum Völkermord.
    Viel Spaß bei der gegenseitigen Aufrechnung der Vergangenheit. Aber tatsächlich ist es ja so, dass kriegerische Auseinandersetzungen kein Monopol Russlands sind. Schauen Sie sich an, was unsere US-amerikanischen Freunde oder auch wir selbst so alles gemacht haben. Zum Beispiel den Afghanistan-Einsatz, der jetzt gerade zu Ende geht. Hat er denn dem Land die westliche Freiheit gebracht, mit der er immer begründet worden ist? Ich habe mehrere Filme über Afghanistan gedreht. Es war immer klar, dass das ein Krieg ist, den wir nicht gewinnen können. Und dass die Bundesrepublik sich als Dienstleister für geopolitische US-Interessen beteiligt hat, weil es die amerikanischen Freunde so wollten. Es ist etwas simpel, das Böse immer bei den anderen sehen zu wollen.
    Wie sollte sich Europa gegenüber Russland verhalten?
    Wir werden Russland brauchen, weil wir Konflikte lösen müssen, bei denen das ohne Russland nicht geht. Wir werden sicher nicht von heute auf morgen unsere eigene Haltung vergessen, auch nicht unsere Forderungen und ihren ganzen moralischen Überbau. Aber unser Grundgesetz gilt nur bis zur deutschen Grenze und ist nicht auf Russland übertragbar. Das müssen wir schon zur Kenntnis nehmen. Wir werden unsere Interessen formulieren und die Interessen Russlands wahrnehmen müssen und die Schnittmengen dieser Interessen finden. Wir werden keine allgemeine Friedensformel finden. Es geht nur durch Abstimmung zwischen unseren und deren Interessen.

  170. Doppelte Standards
    »Erwiesen verfassungsfeindlich«. Die Bundesregierung antwortet auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke zu »presse- und wettbewerbsrechtlichen Behinderungen durch Nennung der Tageszeitung junge Welt im Verfassungsschutzbericht«.
    Redaktionell kommentierte Dokumentation
    Seit 2004 beobachtet der deutsche Inlandsgeheimdienst die Tageszeitung junge Welt. Seither wird das Blatt in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz als einzige Tageszeitung mit einem eigenen Eintrag bedacht. Auf die nachteiligen, nicht zuletzt wettbewerbsrechtlichen Folgen dieser regelmäßigen Nennung haben Redaktion und Verlag in einem offenen Brief an die Fraktionen des Bundestages hingewiesen und sie um eine Stellungnahme gebeten. Die Fraktion Die Linke hat daraufhin mit Datum vom 29. März eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt (veröffentlicht auf der Website des Bundestages am 23. April mit der Drucksachennummer 19/28956). Darin wird um Auskunft vor allem zu folgenden Fragen gebeten: Warum wird die junge Welt im Verfassungsschutzbericht als »verfassungsfeindlich« eingestuft? Warum wird sie als »extremistische Gruppierung« eingestuft? Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen rechtfertigt ein marxistisches Selbstverständnis einer Publikation deren Überwachung durch den Verfassungsschutz und ihre Nennung als linksextremistische Bestrebungen im Verfassungsschutzbericht? Darf eine staatliche Behörde die politische Haltung einer Tageszeitung bewerten und so Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit nehmen?
    Die zuständige Behörde, das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, antwortete am 5. Mai in Person des Parlamentarischen Staatssekretärs Günter Krings. Die erteilten Antworten sind mit Blick auf das von der Bundesregierung präsentierte Verständnis von Meinungs-, Presse- und Gewerbefreiheit sehr aufschlussreich.
    »Gesichert extremistisch«
    Auf die Frage, warum junge Welt, Verlag 8. Mai und Genossenschaft im Verfassungsschutzbericht genannt werden, antwortet die Bundesregierung, sie »verfolgen Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung« bzw. »gesichert extremistische Bestrebungen«. Dieser Einstufung liegen die folgenden »Erwägungen« zugrunde: »Bei der jW handelt es sich um eine eindeutig kommunistisch ausgerichtete Tageszeitung. Ihre marxistische Grundüberzeugung enthält als wesentliches Ziel, die freiheitliche Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen.« Für die Bundesregierung ist der Marxismus ein generelles Problem: »Revolutionäre marxistische Grundüberzeugungen basieren auf verschiedenen Aspekten, die sich gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten.«
    Welche Aspekte richten sich gegen welche Grundprinzipien? Auskunft der Bundesregierung: »Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.«
    Abgesehen davon, dass die Bundesregierung hier jeden Nachweis schuldig bleibt, wann und auf welche Weise die junge Welt Menschen zum »›bloßen Objekt‹ degradiert« haben soll, ist das, gelinde gesagt, eine gewagte Argumentation: Nach Ansicht der Bundesregierung verstößt offenbar schon die Feststellung, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, gegen die »freiheitliche demokratische Grundordnung«. Gemäß dieser Logik träte jeder Soziologe, der die Position der Menschen innerhalb der Gesellschaft nach objektiven Kriterien (z. B. die Stellung im Produktionsprozess) zu ordnen versucht, die Menschenwürde mit Füßen. Und wenn die Existenz von Klassen gegen die grundgesetzliche Garantie der Menschenwürde verstößt, dann wäre das Eintreten für die klassenlose Gesellschaft, das der jungen Welt an anderer Stelle von der Bundesregierung doch gerade vorgeworfen wird, ganz im Sinne des Grundgesetzes.
    »Die marxistische Ausrichtung der jW« sieht die Bundesregierung zudem dadurch belegt, »dass die Zeitung sich mit Ideologien von Klassikern des Marxismus-Leninismus als Grundlage für ihre eigenen Bestrebungen befasst« und »positiv Bezug« nimmt »auf die kommunistischen Vordenker (vor allem Wladimir I. Lenin, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Karl Marx und Friedrich Engels).«
    Verdächtig macht sich junge Welt nach Auffassung der Bundesregierung auch deshalb, weil ihre »Themenauswahl und Intensität der Berichterstattung« auf die »Darstellung ›linker‹ und linksextremistischer Politikvorstellungen« zielten und sich »am Selbstverständnis der jW als marxistische Tageszeitung« orientierten. Die Schlussfolgerung: »Demzufolge spiegelt die jW auch kein breites Spektrum von verschiedenen Meinungen und Ansichten wider; Gegenstimmen und konträre Meinungen sind in der jW eher selten vertreten. Die Zeitung verbreitet ihre eigene subjektive Wahrheit und will insofern ›Gegenöffentlichkeit‹ schaffen.« Der schwerwiegende Vorwurf: »Die Auswahl der Artikel und Meinungsäußerungen lässt eine bestimmte inhaltliche Linie erkennen.«
    Allen Ernstes gerät hier zum Problem, das die Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigt, dass eine Tageszeitung eine »bestimmte inhaltliche Linie erkennen« lasse und kein »breites Spektrum von verschiedenen Meinungen und Ansichten« widerspiegele. Hat man je den Vorwurf vernommen, dass sich die FAZ in ihrem Wirtschaftsteil immerzu auf Vordenker des Neoliberalismus beruft und kaum je auf marxistische Ökonomen? Kommt hinzu, dass die tatsächliche Breite linker Anschauungen, die in jW durch Artikel, Interviews, Kommentare zu finden ist (von linken Sozialdemokraten und Linkspartei über DKP bis Anarchisten, Pazifisten, Humanisten, nationalen Befreiungsbewegungen), aus Sicht der Bundesregierung alles das gleiche ist. Da gibt es nur den einen monolithischen, homogenen »Linksextremismus« ohne jegliche Abstufungen. In der Nacht sind alle Katzen grau.
    Die argumentative Logik der Bundesregierung ist bestechend: Die junge Welt ist verfassungsfeindlich, weil sie marxistisch ist. Der Marxismus ist ein Verstoß gegen die »freiheitlich demokratische Grundordnung«, weil er von einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft ausgeht, und eine solche Annahme verstößt gegen die Menschenwürde. »Marxisten«, heißt es in der Antwort der Bundesregierung, »haben ein vitales Interesse daran, die Meinungsbildung der Bevölkerung im Sinne der eigenen ideologischen Leitsätze zu fördern, da ein entsprechendes Bewusstsein grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des revolutionären Prozesses, für die ›Formierung des Widerstands‹, ist.« Der erste Teil des Satzes ist eine Binse. Alle politischen Organisationen, Gruppen und Strömungen haben ein Interesse daran, »die Meinungsbildung der Bevölkerung« zu beeinflussen. Doch die hier präsentierte Auffassung riecht nach dem Antikommunismus der bleiernen Adenauer-Ära, und vor allem greift sie weit über den Kasus junge Welt hinaus. Hiermit geraten alle Organisationen, Publikationen etc., die sich auf die eine oder andere Weise auf den Marxismus berufen, unter einen drohenden Generalverdacht der Bundesregierung.
    »Ausdrücklich aktionsorientiert«
    Nicht nur die inhaltliche Ausrichtung der Zeitung rechtfertigt nach Einschätzung der Bundesregierung ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz, sondern auch der Umstand, dass sie auch für »Aktionen mobilisieren und den Widerstand formieren« wolle: »Die jW informiert nicht nur über Aktivitäten des linksextremistischen Spektrums, sondern sie mobilisiert auch dafür, indem sie gemeinsam mit anderen Linksextremisten Veranstaltungen durchführt, sich an Aktivitäten beteiligt oder dafür wirbt. (…) Die Zeitung bietet damit Linksextremisten nicht nur ein Forum sowie eine Informationsplattform, sondern beteiligt sich selbst aktiv unterstützend an zahlreichen Aktivitäten.« Der Nachweis: »Erstmals bekannte sich die jW 2018 ausdrücklich dazu, dass sie neben ihrer primären journalistischen Arbeit auch ausdrücklich aktionsorientiert handeln will.« (Immerhin wird hier die »primäre journalistische Arbeit« anerkannt.) Was meinen die Antwortgeber damit? Sie berufen sich auf eine Aktionsseite 16 der jW vom 22. September 2018. Darin geht es jedoch unmissverständlich um die Verteilung von Zeitungsexemplaren auf Großveranstaltungen – also um Marketing.
    Zur inkriminierten Aktionsorientierung zählt die Bundesregierung auch die von junge Welt jährlich veranstaltete »Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz«, »an der sich überwiegend Linksextremisten aus dem In- und Ausland beteiligen« bzw. die »von zahlreichen linksextremistischen Organisationen und Publikationen unterstützt wird«. Die weitere »Beantwortung zu etwaigen dem linksextremistisch oder linksextremistisch beeinflussten Spektrum zugeordneten Personen« könne »aus Gründen des Staatswohls nicht erfolgen«.
    »Unkritische Darstellung von Gewalt«
    Im Verfassungsschutzbericht des Jahres 2019 stand zu lesen, die »junge Welt bekennt sich (…) nicht ausdrücklich zur Gewaltfreiheit. Vielmehr bietet sie immer wieder eine öffentliche Plattform für Personen, die politisch motivierte Straftaten gutheißen«. Die Bundesregierung bestätigt in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage diese Behauptung: »Die jW veröffentlicht regelmäßig Beiträge, in denen das Thema Gewalt als Mittel im politischen Kampf thematisiert wird. Wiederholt finden sich Rechtfertigungen der Anwendung von Gewalt oder zumindest unkritische Darstellungen. Personen, die politisch motivierte Straftaten befürworten, erhalten eine öffentliche Plattform.« Zum Beispiel gebe es Interviews und Beiträge von Vertretern gewaltbereiter Gruppierungen (ehemaligen Mitgliedern der RAF, kolumbianischen Guerillakommandanten). Die Schlussfolgerung: »Insofern erweckt die jW nachhaltig den Eindruck, eine mögliche Gewaltanwendung durch solche Personen oder Gruppierungen zu tolerieren. Diesem so vermittelten Eindruck tritt sie weder durch eine deutliche Distanzierung noch durch ein Bekenntnis zur Gewaltfreiheit entgegen.« Damit werden an die junge Welt Extrastandards angelegt. Es gibt wohl kaum eine Zeitung, die sich explizit zur Gewaltfreiheit bekennt – schon weil das nicht Aufgabe einer Tageszeitung ist, die nämlich informiert und nicht Steine schmeißt oder schießt. Von keiner bürgerlichen Zeitung wird etwa verlangt, dass sie sich von steineschmeißenden Hongkonger Demonstranten oder bewaffneten syrischen »Rebellen« oder gar vom NATO-Sprecher distanziert, der im Zeitungsinterview für den Krieg plädiert.
    Kommt hinzu, dass Beiträge in jW darauf abzielten, »Terrororganisationen als ›Befreiungsbewegungen‹ zu verharmlosen, um Gewalt als legitimes Mittel darzustellen«. Die Bezeichnung »Befreiungsbewegungen« sei »mithin nicht objektiv, sondern tendenziös«. Welche Organisationen wann so bezeichnet wurden, wird nicht erwähnt. Offenbar sucht die Bundesregierung unter Androhung der Nennung im Bericht des Verfassungsschutzes die Übernahme ihrer eigenen Sichtweise auf bewaffnete Widerstandsbewegungen im Ausland zu erzwingen. Zeitungen wie junge Welt sollen angehalten werden, sich diese Wertung zu eigen zu machen, da sie ansonsten als extremistisch gebrandmarkt werden – mit allen sich daraus ergebenden negativen Konsequenzen.
    Zusätzliches Indiz für die »extremistischen Bestrebungen« der Zeitung ist nach Auffassung der Bundesregierung die »Art der unkritischen Solidarität mit sozialistischen Ländern autoritärer bzw. diktatorischer Prägung«. In ihrer »fundamentalen Kapitalismuskritik« lehne jW die politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik »grundsätzlich« ab, »demgegenüber« allerdings »werden sozialistische Staatsordnungen, beispielsweise von Kuba, verherrlichend dargestellt und als politisch und moralisch überlegen«.
    »Linksextremistisches Spektrum«
    Auf die Frage, wer genau der verfassungsfeindlichen Gruppierung in Form von junge Welt, Verlag 8. Mai und Genossenschaft LPG angehört (Redakteure, Genossenschaftsmitglieder, Abonnenten?), bleibt die Bundesregierung in ihrer Antwort vage: »Für einen Personenzusammenschluss (gemeint ist die junge Welt als verfassungsfeindliches Konstrukt) handelt (und ist damit Verfassungsfeind)« laut Verfassungsschutzgesetz, »wer ihn in seinen Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Eine Zurechnung erfolgt daher nicht abstrakt anhand der Eigenschaft als Redakteur, Mitarbeiter, Genossenschaftsmitglied, Abonnent oder freier Autor, sondern anhand der jeweiligen Unterstützungshandlung.« Genauer ausgeführt wird das nicht.
    Und inwieweit geht die Bundesregierung davon aus, dass jW, Verlag und Genossenschaft sich Positionen Dritter zu eigen machen, die Interviews geben, Gastbeiträge oder Leserbriefe schreiben, deren Aufrufe dokumentiert oder Bücher rezensiert werden? Die Antwort: »Die jW versteht sich selbst ausdrücklich als marxistisch orientierte Tageszeitung, was eine klare Zielstellung hinsichtlich der öffentlichen Meinungs- und Bewusstseinsbildung impliziert. Marxisten beabsichtigen nicht nur zu informieren, sondern eine ›Denkweise‹ herauszubilden, um bei den Bevölkerungsgruppen, die sie als Unterdrückte oder Ausgebeutete identifizieren, Verständnis und die Bereitschaft zum Widerstand hervorzurufen.« Belegt und ergänzt wird diese Einschätzung zusätzlich dadurch, dass »einzelne Redaktionsmitglieder, Stamm- und Gastautoren dem linksextremistischen Spektrum zuzuordnen« seien, junge Welt »hinsichtlich der Mobilisierungspolitik mit dem linksextremistischen Spektrum vernetzt« sei, sowie durch »die in verschiedenen Artikeln verbreiteten linksextremistischen Positionen«. Wiederum wird indirekt verlangt, was bei anderen Zeitungen kein Maßstab sein dürfte: »Aufgrund der redaktionellen Auswahlentscheidung in Bezug auf die Autoren und die veröffentlichten Artikel muss sich die jW bzw. deren Redaktion diese Inhalte zurechnen lassen – zumal sich die Zeitung nicht ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert.«
    »Den weiteren Nährboden entziehen«
    Die Fraktion die Linke wollte in ihrer kleinen Anfrage von der Bundesregierung wissen, ob ihr bewusst sei, dass die Nennung im Verfassungsschutzbericht für ein Unternehmen, einen Verlag, eine Zeitung zu wettbewerbsrechtlichen Behinderungen und Einschränkungen der Gewerbefreiheit führen kann und inwieweit dies zulässig ist. Es steht also die Frage im Raum, ob eine staatliche Behörde die politische Haltung einer Zeitung bewerten und so gezielt Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit nehmen darf. Die Bundesregierung findet: eindeutig ja! Die Nennung diene dem Zweck, »Verfassungsschutz durch Aufklärung der Öffentlichkeit zu betreiben«. Und kurz darauf: »Stuft das BfV einen Personenzusammenschluss als gesichert extremistische Bestrebung ein und entfaltet diese für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung Relevanz und damit eine Wirkmächtigkeit, ist die Öffentlichkeit hierüber zu informieren.« Diese Relevanz und Wirkmächtigkeit hatte die Bundesregierung der jungen Welt zuvor bereits attestiert: »Durch eine der ideologischen Agenda entsprechende Auswahl der Themen und die einseitige Berichterstattung wirkt die jW als Multiplikator von linksextremistischen Positionen. Mit einer nach eigenen Angaben aktuellen Druckauflage von 23.400 Exemplaren (samstags 27.000 Exemplare) erreicht die jW einen großen Adressatenkreis, in dem sie ihre verfassungsfeindlichen Positionen verbreiten kann.«
    Potentiell negative wirtschaftliche Konsequenzen werden unumwunden eingeräumt, die wettbewerbsrechtlichen Behinderungen sind letztlich Absicht: »Mögliche Folgen für die hiervon betroffenen extremistischen Personenzusammenschlüsse oder Einzelpersonen hatte der Gesetzgeber dabei im Blick. Es ist gerade das Ziel dieser Norm, die Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu informieren, um diesen damit den weiteren Nährboden entziehen zu können.« Indem ein demokratisch nicht kontrollierter Geheimdienst einer Zeitung (oder einer sonstigen Gruppierung) ohne Gerichtsurteil den Stempel »Extremist« verpasst, wird sie zur gesellschaftlichen Ächtung freigegeben.
    Kein »Markt der Meinungen«
    Im Jahr 2005 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die Nennung der weit rechtsstehenden Wochenzeitung Junge Freiheit im Verfassungsschutzbericht die Zeitung in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz verletzte, denn dieses Grundrecht sichere die Freiheit der Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen und damit das Kommunikationsmedium Presse. Durch den Verfassungsschutzbericht würde die Zeitung in ihren Wirkungsmöglichkeiten nachteilig beeinflusst. Potentielle Leser könnten so davon abgehalten werden, die Zeitung zu erwerben und zu lesen. Zudem sei es nicht unwahrscheinlich, dass etwa Inserenten, Journalisten oder Leserbriefschreiber die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht zum Anlass nehmen, sich von der Zeitung abzuwenden oder diese zu boykottieren. »Eine solche mittelbare Wirkung der Verfassungsschutzberichte kommt einem Eingriff in das Kommunikationsgrundrecht gleich«, so das Gericht damals.
    Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, das Urteil sei nicht auf die junge Welt übertragbar. Die beiden Sachverhalte unterschieden sich dahingehend, dass die Junge Freiheit nur als »rechtsextremer Verdachtsfall« durch den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen eingestuft worden sei, während die junge Welt aufgrund ihrer »erwiesenen Verfassungsfeindlichkeit als gesichert extremistische Bestrebung« im Verfassungsschutzbericht des Bundes genannt werde. Die Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst stütze sich »gerade nicht allein auf die in der jungen Welt erscheinenden Artikel, sondern vor allem auch auf ihr verfassungsfeindliches Selbstverständnis sowie die Beteiligung bzw. Autorenschaft von extremistischen Einzelpersonen, die für den Personenzusammenschluss handeln.« Bleibt anzumerken, dass die Frage, ob ein Verdachtsfall vorliegt oder das Prädikat »erwiesen extremistisch« ausgestellt wurde, im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Jungen Freiheit keine entscheidende Rolle spielte.
    Der extrem rechten Jungen Freiheit wurde in dem Urteil zugestanden, als »Markt der Meinungen« ein Spektrum von rechtskonservativ bis völkisch-faschistisch abzubilden; diese Auffassungen könnten daher nicht alle der Redaktion untergeschoben werden, auch wenn diese sich nicht davon distanziere. Genau das will die Bundesregierung der jungen Welt nicht einräumen: »Sie versteht sich gerade nicht als ›Markt der Meinungen‹, sondern die Auswahl der Artikel und Meinungsäußerungen lässt eine bestimmte inhaltliche Linie linksextremistischer Natur erkennen«, heißt es gleich an zwei Stellen. Alle in der Zeitung vertretenen Auffassungen werden unter den Oberbegriff »Marxismus« bzw. »Linksextremismus« subsumiert. Wieder einmal das Messen mit zweierlei Maß.
    Vorbereitung zur Gesinnungsjustiz
    Die Antwort der Bundesregierung sollte wachrütteln. Sie vertritt darin eine Position, den Marxismus pauschal und so eindeutig unter Generalverdacht zu stellen, wie das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen ist. Die dort präsentierte Haltung könnte dereinst als Material für eine Gesinnungsjustiz dienen, die nicht nur die junge Welt betreffen würde, sondern gleich alle Publikationen und Organisationen, die sich, auf welche Weise auch immer, auf den Marxismus berufen. An die junge Welt als linke Zeitung werden von der Bundesregierung andere Maßstäbe angelegt als an bürgerliche, religiöse, rechtsextreme etc. Medien, was die Distanzierung von Gewalt oder von Auffassungen ihrer Autoren und Interviewpartner angeht.
    Die Bundesregierung und ihr Geheimdienst verdächtigen gleich alle, Verfassungsfeinde zu sein: Die Mitarbeiter von Verlag und Redaktion der jungen Welt, die Genossenschaftsmitglieder, Besucher und Gäste der Rosa-Luxemburg-Konferenz, die Autoren der Zeitung und selbst die Leserinnen und Leser, die Abonnentinnen und Abonnenten. Denn wer die junge Welt als verfassungsfeindliches Konstrukt in ihren Bestrebungen nachdrücklich unterstützt, macht sich selbst zum Verfassungsfeind: Die Zurechnung erfolge dabei nicht abstrakt, sondern konkret anhand der jeweiligen Unterstützungshandlung des Redakteurs, des Mitarbeiters, des Genossenschaftsmitglieds, des Lesers, des Unterstützers, des Abonnenten oder des freien Autors. Die Antworten der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Partei Die Linke demonstrieren eindrucksvoll, was die Bundesregierung tatsächlich von Presse- und Meinungsfreiheit hält.
    Wirkmächtig
    Die Bundesregierung bekämpft die junge Welt, weil diese Erfolg hat
    Von Dietmar Koschmieder
    Zuerst die gute Nachricht. Die deutsche Bundesregierung hält die Tageszeitung junge Welt für sehr erfolgreich: Es gelänge ihr, mit ihrer Berichterstattung und durch eine nach Kriterien vorgenommene Auswahl der Themen einen großen Adressatenkreis zu erreichen und als Multiplikator zu wirken! Und weil die junge Welt von einem »nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung« gelesen werde, habe sie »Relevanz und damit (…) Wirkmächtigkeit«, meint die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage von 52 Abgeordneten der Partei Die Linke, die wissen wollten, weshalb die junge Welt jedes Jahr als einzige Tageszeitung im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird.
    Forum für revolutionäres Gedankengut
    Auch ansonsten hält die Bundesregierung mit Lob nicht hinter dem Berg: Die junge Welt sei nicht beliebig, sondern »die Auswahl der Artikel und Meinungsäußerungen lässt eine bestimmte inhaltliche Linie erkennen«. Die junge Welt »schafft (…) Gegenöffentlichkeit«, es kämen Aktivisten und Vertreter von Organisationen des In- und Auslands zu Wort und könnten dort »in eigenen Beiträgen und Interviews politische Positionen« vorstellen, genannt werden rund ein Dutzend solcher Vereinigungen. Da dies zumeist »linke bis linksextremistische Positionen« seien, könne man die junge Welt auch als »Forum für revolutionäres Gedankengut« bezeichnen!
    jW den Nährboden entziehen
    Nanu, fragt sich der aufgeklärte Leser, will die Bundesregierung der Tageszeitung junge Welt mit solchen Argumenten mehr Abonnements und Anzeigenkunden verschaffen? Natürlich ist genau das Gegenteil der Fall. Gerade weil die junge Welt so »wirkmächtig« sei, müsse ihr »der Nährboden entzogen« werden. Denn der Regierung gefällt nicht, dass die junge Welt ihre journalistische Arbeit von marxistischer Position aus angeht – genau das sei verfassungsfeindlich. Denn der Marxismus gehe von der Existenz von Klassen aus – das aber widerspräche der Menschenwürde. Deshalb wird im ganzen Schriftstück an keiner Stelle die angebliche Verfassungsfeindlichkeit belegt – es reicht ja nachzuweisen, dass die jW marxistisch und dazu erfolgreich sei. Und deshalb müsse die Regierung »Verfassungsschutz durch Aufklärung der Öffentlichkeit« betreiben. Zum Beispiel durch die anprangernde Erwähnung von Zeitung, Verlag und Genossenschaft im Verfassungsschutzbericht. Auf die Frage, dass dies (neben der Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit) doch zu wettbewerbsrechtlichen Behinderungen und Einschränkungen der Gewerbefreiheit führen könne, meint die Bundesregierung lapidar: »Das hatte der Gesetzgeber im Blick.«
    Unterstützungshandlungen
    Und weiter ganz offen: »Es ist geradezu das Ziel (…), damit den weiteren Nährboden entziehen zu können.« Der Nährboden aber, auf dem eine junge Welt gedeihen kann, wird bestimmt durch die Zahl der Leserinnen und Leser, die Zahl der Print- und Onlineabos, die die Arbeit finanzieren, die Genossenschaft und die gezeichneten Anteile, die Mitarbeitenden von Verlag und Redaktion, aber auch die vielen freien Autoren, die vielen Unterstützer. Sie alle machen den Nährboden des Erfolgs der jW aus, und deshalb sind sie alle im Visier der Bundesregierung und des Inlandsgeheimdienstes, wird offen formuliert. Weil sie alle mit ihren »Unterstützungshandlungen« die verfassungsfeindlichen Ziele der Zeitung befördern würden.
    1.000 Abos sofort!
    Die Bundesregierung und ihr Inlandsgeheimdienst kämpfen also verdeckt und offen dafür, dass die junge Welt an Relevanz verliert. Weil, so einer der Vorwürfe, sie sich auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bezieht. Unsere Antwort darauf kann nur sein, dass sie mit diesem grundgesetzwidrigen Eingriff in die Presse- und Meinungsfreiheit genau das Gegenteil erreichen! Deshalb fordern wir alle Freunde, Leserinnen und Leser, Unterstützer, Autoren und Genossenschaftsmitglieder auf: Tun wir alles, um den »Nährboden« der jungen Welt zu stärken – jetzt erst recht! Das wichtigste und wirksamste Mittel dazu: Verschaffen wir der jungen Welt so schnell wie möglich 1.000 zusätzliche Print- und Onlineabos! Jetzt selber abonnieren! Jetzt Abonnements einwerben! Darüber hinaus hilft aber auch jedes Probeabo, die junge Welt noch bekannter zu machen, und jeder Genossenschaftsanteil, die ökonomischen Grundlagen zu stabilisieren!

  171. “Denn der Marxismus gehe von der Existenz von Klassen aus – das aber widerspräche der Menschenwürde.” Wie jetzt? Klassen widersprechen der Menschenwürde? Dann ist es ja gut, dass der Marxismus die Klassen abschaffen will und nach dieser Argumentation die Menschenwürde also nicht angreift. Oder ist es gegen die Menschenwürde von Klassen, die ja nicht die junge Welt geschaffen hat, “auszugehen”. Also bestünde das Verbrechen darin zu s a g e n, dass im Kapitalismus Klassen existieren. Das hieße aber den Boten für die Nachricht verantwortlich zu machen.
    Oder ist es der Bundesregierung einfach zu aufwendig sich wenigsten eine halbwegs stimmige Ideologie für ihr Vorgehen auszudenken.

  172. @NN
    Wenn die russische KP sich mit Nawalny gemein macht, so ist sie weg vom Fenster, soviel kann man mit gutem Gewissen prophezeien. D.h., sie löst sich auf.
    Was den offenen Brief angeht, so ist der die gleiche Leier, die schon die Kritik seinerzeit in der Sowjetunion, Jelzin gegen Gorbatschow und alles seitherige auszeichnet: Die Führung ist korrupt und entfernt sich von der Basis bzw. vom Volk.
    Auffällig ist das Fehlen jeglichen Kozeptes, was sich die Kritiker unter Kommunismus vorstellen, und was sie eigentlich gegen den Kapitalismus haben.
    Es ist gar nicht klar, wofür diese Partei eigentlich steht. Sie wirkt völlig überflüssig.

  173. Zu der Angelegenheit mit jW und Verfassungsschutz wäre eine gründlichere Analyse dessen nötig, was die Stellung der jW zur Demokratie ist und wie sie das Verhältnis von Demokratie/Verfassung und Klassengesellschaft sieht.
    Ich hab dafür derzeit keine Zeit, aber vielleicht will sich hier wer anderer dieses Themas annehmen?

  174. Olivgrünes K.o.-Kriterium
    Sollte die Linkspartei sich nicht bald für die Nato begeistern können, wird sie nach der Bundestagswahl nicht Juniorpartner der Grünen. Das hat deren Chef Robert Habeck klargestellt. Linken-Chefin Janine Wissler zeigt klare Kante.

  175. “Zu der Angelegenheit mit jW und Verfassungsschutz wäre eine gründlichere Analyse dessen nötig, was die Stellung der jW zur Demokratie ist und wie sie das Verhältnis von Demokratie/Verfassung und Klassengesellschaft sieht.”
    Wenn der Staat jemand als Verfassungsfeind definiert, dann halte ich es für völlig daneben den Grund beim Opfer zu suchen. Das einzig Interessante sind die Kriterien des Verfassungsschutzes und der Zweck, den er verfolgt und die Absichten der Regierung und des VS wurden in den Artikeln ausführlich besprochen. Was willst du denn da groß analysieren. Dort schreiben Autoren, die sich als Marxisten verstehen. Das reicht schon.

  176. @Kehrer
    Was den Verfassungsschutz oder den Staat überhaupt angeht, so definiert er sich seine Feinde, das ist schon richtig.
    Das hat ja seinerzeit die MG auch erfahren.
    Dann bleibt nur zu fragen, warum zu diesem oder jenem Zeitpunkt? Weil daß der bürgerliche Staat marxistische Kritiker nicht schätzt, ist ja weder neu noch eine Überraschung.
    Bei der MG 1991 war der eine Grund der, daß nach dem Fall der Mauer bzw. des Eisernen Vorhanges der deutsche Staat überhaupt mit Kritikern aufräumen wollte und außer der MG nicht viel übrig war im linken Spektrum.
    Zweitens wollte die frischgebackene gesamtdeutsche Staatsgewalt auch nicht, daß es für die zu erwartende Unzufriedenheit der Ex-DDR-Bürger eine Anlaufstelle geben sollte.
    Die MG hat sich ja damals ziemlich ins Zeug gelegt, im deutschen Osten zu agitieren.
    Drittens war die ganze Toleranz im Westen sowieso nur ein Zugeständnis an den Systemvergleich, um sich von den Diktaturen da drüben zu unterscheiden. Nach deren Verschwinden konnte sich das der deutsche Staat auch schenken.
    Und warum heute die jW?
    Es haben doch vielleicht die verschmähten Rechten und Coronaleugner recht, daß der bürgerliche Staat die Pandemie dazu nützt, sich lästiger demokratischer Grundrechte zu entledigen, um endlich ungestört regieren zu können.
    Die Pandemiegesetze wurden auch mit den Notverordnungen der Nazis verglichen.
    Und da fallen eben auch lästige Störer in der gleichgeschalteten Medienlandschaft auf. Bei RT und anderen russisch finanzierten Medien gibt es ja einen ähnlichen Tonfall, nur sind die schwerer zu drangsalisieren als die immer noch auf Papier als Tageszeitung erscheinende jW.
    Das ist der Grund bzw. sind die Gründe, warum die jW verfolgt wird.
    Mir ging es aber um etwas anderes.
    Ich schätze die jW einerseits und erkenne ihre Bemühung an, gegen verschiedene herrschende Ideologien anzugehen.
    Helfen gegen den Angriff des Staates kann ich sowieso nicht.
    Aber zu was für einem Widerstand gegen den bürgerlichen Staat ruft sie eigentlich auf?
    Das entgeht mir, ähnlich wie irgendeine Linie bei den russischen Kommunisten.

  177. Da die jw-Verfolgung Anlass ist, über aktuelle Verschärfungen der bundesdeutschen Staatlichkit nachzudenken, noch ein Rückblick auf Konsequenzen der Merkel-Regierung aus der Pandemie.
    Eine Stärkung der deutschen Zentralgewalt müsse her – das waren Schlussfolgerungen von letztens dem Fraktionsvorsitzenden Brinkhaus u.a. aus dem Verlauf der Bund-Länder-Konferenzen und aus sonstigen Vorkommnissen in der dt. Corona-Politik: Es müsse einfacher von oben her durchregiert werden können. Dazu Anmerkungen aus dem letzten Jourfixe-Protokoll:
    “Durchregieren bezieht sich auf den Widerspruch der gesamten Seuchenpolitik, auf die zwei Pole Volksgesundheit und Volksernährung, also letzten Endes das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft (Pandemie III). Es geht immer um die Bewältigung dieses Widerspruchs zwischen Lockdown und Lockerung. Insofern wäre es nicht richtig zu sagen, die Leute fordern durchregieren im Sinne von „jetzt soll mal richtig durchgegriffen und mehr zugemacht werden“. Was sie fordern, ist, die Regierung soll kompetent das Problem Pandemie lösen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass es nicht um die „normale“ Kritik der Leute geht, die sich ja immer auf den Standpunkt der Regierung stellen und von dem aus gutes Regieren und am besten konsequentes Durchregieren fordern. Die Kritik hier hat einen besonderen Charakter, weil es eben diesen Widerspruch zu bewältigen gilt, und daraus ist auch das Besondere an diesem Übergang zu erklären. Wenn die Leute sagen, konsequent soll das staatliche Handeln sein, sind darin sowohl die enthalten, die sagen, jetzt müsste man mal konsequent zumachen, damit man auch wieder aufmachen kann, wie die anderen, die sagen, die Freiheit würde ihnen vollkommen weggenommen, wie z.B. diese Künstler mit ihren satirischen Darstellungen. (…)
    Eine Auseinandersetzung damit, nach welchen Gesichtspunkten welche Maßnahmen ergriffen werden, tritt vollkommen dahinter zurück, dass wegen der Notsituation überhaupt nur noch der Standpunkt gilt, es käme zu deren Bewältigung darauf an, dass die Regierung alles Notwendige mit aller Konsequenz zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Ausmaß tut. Das macht einen Maßstab auf, der ganz weg geht von staatlicherseits getroffenen Abwägungen und Maßnahmen.
    Dieser so methodisch angemahnte Erfolg der Politik wird dann zum Maßstab der Beurteilung und andersherum auch zum Maßstab der (Un-) Zufriedenheit mit der Politik. (…) Als Fehler hat die Kanzlerin benannt, dass sie eine Maßnahme verkündet hat und sich genötigt sah, diese anschließend gleich wieder zurückzunehmen.
    Damit setzt sie den Maßstab der Beurteilung der Politik in die Welt, dass das Volk sich von seiner Kanzlerin erwarten darf, dass sie das, was sie sich vornimmt, auch durchsetzt. Das buchstabiert sie als Pflicht einer Bundeskanzlerin. Also darf sie es sich auch nicht leisten, dass sie eine Sache beschließt und dann eingestehen muss, dass sie nicht durchführbar ist. Zu unterstreichen ist hier, dass das der Maßstab ist, den sie damit in die Welt setzt, an dem sie gemessen werden will. Sie konzediert damit, dass sie das Volk möglicherweise verunsichert hat, weil sie als die oberste Führung nicht in der Lage war glaubwürdig zu repräsentieren, dass sie nicht nur alles Nötige tut, sondern auch in der Lage ist, das durchzusetzen. Damit macht sie regelrecht die Vorgabe, womit das Volk unzufrieden sein darf. Daher ist es auch in Ordnung, dass sie sich dafür entschuldigt, wenn sie dem Volk Maßnahmen in Aussicht stellt, die sie gleich wieder zurückzieht. Und damit ist die Verunsicherung auch erledigt und vom Tisch gewischt.
    (…) Die Kanzlerin will sich daran messen lassen, ob sie Klarheit darüber stiftet, woran die Bürger sich zu halten haben. Damit, dass sie am Morgen korrigiert, was sie am Abend vorher angekündigt hat, hat sie einer gewissen Verunsicherung Vorschub geleistet. Sie entschuldigt sich dafür, dass sie es an dieser klaren Orientierung hat fehlen lassen. Dass sie für das, was sie eigentlich wollte und durchsetzen wollte, gute Gründe hatte, und dass diese guten Gründe auch weiter bestehen, darauf besteht sie ja gerade: Sie sagt, ihr Fehler war weder die Absicht, die Pandemie durch eine verlängerte Einschränkung der Kontakte über Ostern zu unterbinden, noch, dass sie das überhaupt versucht hat, sondern, dass das nicht umzusetzen war. Deshalb bestand der Fortgang der Affäre darin, ihr mehr Befugnisse einzuräumen. Also musste sie das Infektionsschutzgesetz ändern.”
    https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/jf-protokolle/jf210426-Winterlockdown3-Anti-Rassisten.pdf
    Zu weiteren Schlussfolgerungen der letzten Merkel-Regierung veröffentlicht der GSP einen Vorabdruck aus dem kommenden Juni-Heft, hierin u.a. auch das oben zitierte jf-Protokoll noch mal weiter zuspitzend:
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/merkels-entschuldigung
    https://de.gegenstandpunkt.com/dossier/chronik-corona-pandemie

    Dass Regieren Durchsetzen bedeutet, und dass das Diskutieren rundherum nur diesem Zweck zu dienen hat, ist ein Standpunkt in der Pandemie, den die neue Grünen-Vorsitzende ebenfalls gegen die Regierung eingeklagt hat. Die Regierung rede immer nur davon, dass Familie im Mittelpunkt stehe, anstatt das einfach mal umzusetzen. Demntsprechend, dass es pur nur ums Regieren zu gehen habe, haben die Grünen bereits ihre Kandidaten-Kür organisiert. Und dementsprechend bringen sie die “Debattenkultur” der grünen Partei nun gerade auf Vorder/FrauMann und auf den passenden Sauber/MannFrau-Vor-Regierungskurs ….

    Dass es ums Regieren geht, sehen die diversen potentiellen Merkel-NachfolgerInnen genau so wie die Merkel. Dementsprechend verfälschen sie Konflikte übrigens ziemlich prinzipiell in die frohe Botschaft von “Wir-Uns-Allen-Diversität”:
    Konflikte der Gesellschaft würden beim Regieren nicht untergebuttert, – sondern so werde Geselschaft vielmehr gaanz neu “integriert” (Scheidelinien zu dem “Wir” werden dafür allerdings ebenfalls neu aufgerichtet, nach neuen political-correctness-Grenzen):
    “Mittlerweile hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann Palmers Aussagen kritisiert. “Solche Äußerungen kann man einfach nicht machen. Das geht einfach nicht.” Der Angegriffene fand die Kritik fair: “Man beachte, was da alles nicht steht: ‘Palmer ist ein Rassist. Palmer muss ausgeschlossen werden. Palmer verletzt die grünen Grundwerte. Palmer ist ein ekelhafter Provinzfürst, der nicht verkraftet, dass die Partei ihm eine Karriere verwehrt etc pp.’
    Streit auf Kretschmanns Niveau integriert eine Gesellschaft.”
    (zitiert aus: https://www.heise.de/tp/features/Die-gruene-Cancel-Culture-6042822.html )
    Die Idee ist dabei die, eine Herrschaft, die sich von ihrem Volk periodisch beauftragen lässt, wäre keine Herrschaft; eine Gewalt, die sich von denen, die ihr gehorchen müssen, legitimieren lässt, wäre keine; Lebensverhältnisse, deren politische Macher und Aufseher in Wahlkämpfen durch Publikumsentscheid ermittelt werden, wären verwirklichte Freiheit. ( – Aus dem Editorial von:)
    https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/demokratie

  178. “Dann bleibt nur zu fragen, warum zu diesem oder jenem Zeitpunkt?”

    Na ja. Im VS-Bericht steht die JW ja schon länger. Jetzt gab es nur die Anfrage der Linken, warum sie dort steht. Oder ist mir was entgangen? Deshalb ist es auch verfehlt einen aktuellen Grund angeben zu wollen. Und die Verbindungen, die Leser herstellt zur Coronapolitik und dem grünen Getöse um Boris Palmer sind da naturgemäß etwas vage.

    “Eine Stärkung der deutschen Zentralgewalt müsse her – das waren Schlussfolgerungen von letztens dem Fraktionsvorsitzenden Brinkhaus u.a. aus dem Verlauf der Bund-Länder-Konferenzen und aus sonstigen Vorkommnissen in der dt. Corona-Politik: Es müsse einfacher von oben her durchregiert werden können.”

    Da gibt es aber auch viele Gegner. Das neue Gesetz gilt ja bis Juni erstmal. Allerdings hat sich durch Corona allgemein staatlicher Reformbedarf ergeben.

    “Eine Auseinandersetzung damit, nach welchen Gesichtspunkten welche Maßnahmen ergriffen werden, tritt vollkommen dahinter zurück, dass wegen der Notsituation überhaupt nur noch der Standpunkt gilt, es käme zu deren Bewältigung darauf an, dass die Regierung alles Notwendige mit aller Konsequenz zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Ausmaß tut.”

    Das ist doch aber ein Widerspruch. Es soll nicht mehr darum gehen welche Maßnahmen richtig und notwendig sind und gleichzeitig soll die Regierung alles Notwendige zum richtigen Zeitpunkt tun. Also Abstraktion von der sachlichen Grundlage, damit die Regierung sich effektiver um das was sachlich notwendig ist, kümmern kann.

  179. Den Widerspruch löst die Regierung dahin auf, dass eine gute Regierung a) das kapitalistisch Richtige und Gebotene b) dann auch komplett durchzusetzen habe. Und dabei c) ihr Staatsvolk zu integrieren habe. Das zusammen sei d) Führerschaft. Und die sei die eigentliche Kernkompetenz.
    Und darin ist es gemeinsames Programm wie Selbstdarstellung deutscher Merkel- und Merkel-Nachfolge-PolitikerInnen… (‘Alternative’ Figuren innerhalb dieses Spektrums, Söder aus dem Süden oder z.B. Maaßen aus dem Osten betonen z.B. eher den Punkt b) )

    (P.S. Schärfere Maßnahmen gegen linke Kritiker, z.B. jw, kommen vielleicht eher deswegen vor, weil Opposition ansonsten faktisch fast von niemandem sonst linkerseits öffentlich wird? Bei “attac”, sorry, dass ich die jetzt erwähne, hat es ja schon ausgereicht, denen die steuerliche Gemeinnützigkeit zu untersagen, um sie anscheinend ruinieren zu können.
    Wer das Volk so hinter sich weiß wie die Große Koalition, kann sowohl linke Kritik erlauben – als auch sie verbieten. Oder sie am Steuerhaken aufhängen. Danach kräht offensichtlich kein Hahn mehr…)

  180. Wieso aufgelöst. Wie kann man das Richtige und Gebotene durchsetzen, wenn man sich zuvor genau davon frei gemacht hat?
    “Schärfere Maßnahmen gegen linke Kritiker, z.B. jw,” Alles was danach kommt ok. Aber welche schärferen Maßnahmen denn? Die Jw steht schon ziemlich Lange im VS-Bericht, bloß wurde mit der Anfrage der Linken, jetzt erläutert warum. Das ist doch keine zusätzliche Maßnahme. Oder habe ich was nicht mitgekriegt?

  181. “Vorbereitung zur Gesinnungsjustiz
    Die Antwort der Bundesregierung sollte wachrütteln. Sie vertritt darin eine Position, den Marxismus pauschal und so eindeutig unter Generalverdacht zu stellen, wie das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen ist. Die dort präsentierte Haltung könnte dereinst als Material für eine Gesinnungsjustiz dienen, die nicht nur die junge Welt betreffen würde, sondern gleich alle Publikationen und Organisationen, die sich, auf welche Weise auch immer, auf den Marxismus berufen. An die junge Welt als linke Zeitung werden von der Bundesregierung andere Maßstäbe angelegt als an bürgerliche, religiöse, rechtsextreme etc. Medien, was die Distanzierung von Gewalt oder von Auffassungen ihrer Autoren und Interviewpartner angeht.”
    “Denn der Regierung gefällt nicht, dass die junge Welt ihre journalistische Arbeit von marxistischer Position aus angeht – genau das sei verfassungsfeindlich. Denn der Marxismus gehe von der Existenz von Klassen aus – das aber widerspräche der Menschenwürde. Deshalb wird im ganzen Schriftstück an keiner Stelle die angebliche Verfassungsfeindlichkeit belegt – es reicht ja nachzuweisen, dass die jW marxistisch und dazu erfolgreich sei. Und deshalb müsse die Regierung »Verfassungsschutz durch Aufklärung der Öffentlichkeit« betreiben. Zum Beispiel durch die anprangernde Erwähnung von Zeitung, Verlag und Genossenschaft im Verfassungsschutzbericht. Auf die Frage, dass dies (neben der Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit) doch zu wettbewerbsrechtlichen Behinderungen und Einschränkungen der Gewerbefreiheit führen könne, meint die Bundesregierung lapidar: »Das hatte der Gesetzgeber im Blick.«
    Unterstützungshandlungen
    Und weiter ganz offen: »Es ist geradezu das Ziel (…), damit den weiteren Nährboden entziehen zu können.« Der Nährboden aber, auf dem eine junge Welt gedeihen kann, wird bestimmt durch die Zahl der Leserinnen und Leser, die Zahl der Print- und Onlineabos, die die Arbeit finanzieren, die Genossenschaft und die gezeichneten Anteile, die Mitarbeitenden von Verlag und Redaktion, aber auch die vielen freien Autoren, die vielen Unterstützer. Sie alle machen den Nährboden des Erfolgs der jW aus, und deshalb sind sie alle im Visier der Bundesregierung und des Inlandsgeheimdienstes, wird offen formuliert. Weil sie alle mit ihren »Unterstützungshandlungen« die verfassungsfeindlichen Ziele der Zeitung befördern würden.”

  182. Dank an alle Sowjetvölker
    Siegesparade in Moskau: Russlands Präsident würdigt Veteranen und mahnt
    Von Reinhard Lauterbach
    In Moskau hat am Sonntag die traditionelle Militärparade aus Anlass des Sieges über Nazideutschland stattgefunden. Eine gute Stunde lang marschierten etwa 12.000 Soldatinnen und Soldaten über den Roten Platz, gefolgt von Panzern verschiedener Generationen und anderen Militärfahrzeugen und zum Schluss einem Überflug von 76 Hubschraubern und Kampfflugzeugen. Gezeigt wurden unter anderem auch Interkontinentalraketen vom neuen Typ »Jars« und die Luftbetankung von Langstreckenbombern der Typen »Tu-95« und »Tu-160«. Bei den Landfahrzeugen wurde nach Äußerungen russischer Journalisten besonderes Gewicht auf Luftverteidigungssysteme gelegt.
    Präsident Wladimir Putin erinnerte im 80. Jahr nach dem deutschen Überfall an die Opfer, unter denen die so­wjetische Bevölkerung den Sieg über den »mordlustigen Feind« errungen habe. Der habe nicht nur die sowjetische Ordnung stürzen, sondern die Völker der UdSSR vernichten wollen. Putin würdigte die Kriegsveteranen in einer betont persönlichen Form, als »unsere Väter und Großväter, Mütter und Schwestern«. Er ehrte ausdrücklich sämtliche Nationalitäten der Sowjetunion, die »die Steppen an Wolga und Don, die Wälder von Nowgorod und die Felsen Kareliens, die Pässe des Kaukasus und die Ostseeküste« verteidigt und im Hinterland die Front mit allem Nötigen versorgt hätten. Putin versicherte, Russland stehe stets auf dem Standpunkt des Völkerrechts, werde aber seine nationalen Interessen konsequent wahrnehmen. Ohne Länder beim Namen zu nennen, verurteilte der Präsident Versuche, die faschistische Ideologie aktuell wiederzubeleben, wie es insbesondere bei Ehrungen für SS-Veteranen in der Ukraine und im Baltikum immer wieder zum Ausdruck kommt.
    Neu war, dass die Militärfahrzeuge nach dem offiziellen Teil der Parade auf dem Roten Platz noch eine Runde über den Moskauer Gartenring fuhren – mit dem ausdrücklichen Ziel, der Bevölkerung Gelegenheit zu bieten, die Einheiten zu begrüßen. Hier herrschte schon eher die Atmosphäre eines Autokorsos, die Radfahrzeuge hupten, aus der Menge wurde gewinkt. Die Beteiligung, die Reporter des Moskauer Lokalfernsehsenders Moskwa24 als massenhaft beschworen, hielt sich nach den Aufnahmen jedoch in Grenzen, vielleicht auch wegen des schlechten Wetters; von Begeisterung war zumindest visuell wenig zu spüren. An der Kommentierung im Studio des Senders fiel auf, dass betont wurde, alle Teilnehmenden an der Parade seien vollständig gegen das Coronavirus geimpft worden, und die Parade sei eine Art öffentlicher Rechenschaftsbericht des Verteidigungsministeriums dafür, dass die vielen Milliarden Rubel für die Modernisierung der Armee sinnvoll ausgegeben worden seien. Das deutet auf eine latent distanzierte Stimmung in der Bevölkerung hin.
    Insgesamt fanden außer in Moskau auch in mehreren Dutzend anderen russischen Städten kleinere Paraden statt. Die zweitgrößte Luftschau wurde mit 45 beteiligten Maschinen in Rostow am Don veranstaltet, nicht weit von der Grenze zum Donbass.
    ____________
    Bereit zum Regieren
    Die Linke stellt Spitzenkandidaten für Bundestagswahl vor. Wissler und Bartsch offen für Gespräche mit Grünen und SPD
    Von Jan Greve
    Die Linke will es wissen: Mit der Vorstellung der beiden Spitzenkandidaten läutete die Partei am Montag die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes ein. Gegen Mittag traten Janine Wissler und Dietmar Bartsch in einer hippen Eventlocation im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg auf. Das Bühnenbild wurde durch ein großes rotes Transparent bestimmt, auf dem mit violetten Lettern »Jetzt!« geschrieben stand. Zum etwas gewagten farblichen Kontrast passte das zumeist in Schwarzweiß gehaltene Imagefilmchen mit der Botschaft »Wir brauchen dich«, das zu Beginn der Veranstaltung gezeigt wurde, die auch per Livestream im Internet verfolgt werden konnte. Die Choreographie sollte offensichtlich vermitteln, dass hier eine moderne Partei die Zeichen der Zeit erkannt hat.
    Dass die Wahl auf die im Februar gekürte Parteikovorsitzende Wissler und Bartsch, der die Bundestagsfraktion seit 2015 als einer von zwei Vorsitzenden leitet, fallen würde, war keine Überraschung. Auch die Reden der beiden mit fast 87 Prozent Zustimmung vom Parteivorstand Auserkorenen waren inhaltlich erwartbar. Bartsch nannte es eine Ehre, seine Partei als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl führen zu können. Den Job hatte er bereits vor vier Jahren, damals noch an der Seite von Sahra Wagenknecht. Die Linke, so Bartsch, sei die »Anwältin der wahren Leistungsträger« in dieser Gesellschaft. Beispielhaft nannte er die Kassiererin und die Krankenschwester, denen die Kosten für die Bewältigung der Coronakrise nicht aufgebürdet werden dürften. Es brauche in diesem Land »grundlegende Veränderungen«, und dafür brauche es wiederum Die Linke. Denn diese sei »nicht die Partei der Stellschrauben«.
    Laut Bartsch sei es das erklärte Ziel, bei der Bundestagswahl ein zweistelliges Ergebnis zu erzielen. Das hatte Die Linke zuletzt 2009 geschafft, damals waren es 11,9 Prozent der Stimmen. 2017 waren es 9,2 Prozent. Laut verschiedenen Umfragen bewegt sich die Partei derzeit zwischen sechs und acht Prozent.
    Die Rede von Janine Wissler, die nach Bartsch das Wort ergriff, wirkte kraftvoller. Sie sprach mit rund elf Minuten etwa anderthalbmal so lang wie der Fraktionskovorsitzende und nannte mit der Mietenentwicklung, Abrüstung oder strukturellem Rassismus Themen, die in der ersten Rede fehlten. Gleich zu Beginn wandte sich Wissler direkt an die Mitglieder und stimmte sie auf einen kämpferischen Wahlkampf ein. Die Linke wolle die Prämissen der Politik ändern und kein »Zurück zum kapitalistischen Normalzustand vor Corona«. Ihre Partei stehe an der Seite von Gewerkschaften und Protestbewegungen wie »Fridays for Future« oder »Black Lives Matter«.
    Auch bei dieser Veranstaltung ging es um die Frage einer möglichen Regierungsbeteiligung im Bund, konkret um eine Koalition mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Zuletzt hatten hochrangige Vertreter beider Parteien auf Nachfrage bürgerlicher Medien wieder vermehrt die »Regierungsfähigkeit« der Linkspartei angezweifelt. Auf jW-Nachfrage, wie Wissler und Bartsch die Arbeit von Grünen und Sozialdemokraten bewerten, betonten beide, es müsse bei diesen Fragen um Inhalte gehen. Wer sich Klimaschutz oder »Respekt« auf die Fahnen schreibe, aber mit der Union koaliere oder dies nicht ausschließe, sei nicht glaubwürdig.
    Eine klare Absage an eine Koalition mit SPD und Grünen gab es einmal mehr nicht, im Gegenteil. Wenn es nach der Bundestagswahl eine entsprechende Mehrheit gebe, stünden alle drei Parteien in der Verantwortung, sagte Wissler. In dieser Frage scheinen die Unterschiede zur zweiten Koparteichefin und erklärten Befürworterin einer Regierungsbeteiligung, Susanne Hennig-Wellsow, nur marginal zu sein. Am Montag morgen sagte sie dem RBB-Inforadio, ihre Partei müsse im Bund mitregieren, »damit wir tatsächlich die Veränderung im Land erzielen, die wir brauchen«. Der Auftriff Hennig-Wellsows bei der Verkündung der Spitzenkandidaten wirkte entgegen ihren großen Zielen etwas holprig. Sie las fast durchgängig vom Zettel ab und formulierte, ihre Partei habe einen »utopischen Überschuss«, da sie an ein »anderes Morgen« denke. Auch eher unglücklich war der Auftritt von Kofraktionschefin Amira Mohamed Ali, die ihren Kollegen Bartsch anpries und witzelte, Die Linke schicke »einen unserer Größten« in den Bundestagswahlkampf. Dessen Körperlänge liegt bei über 1,90 Metern.

  183. Imperialismus klimaneutral
    Das Streben nach Energieautonomie. Zu »Klimaschutzprogramm 2030«, Klimaschutzgesetz und nationaler Wasserstoffstrategie der Bundesrepublik
    Von Theo Wentzke
    Die deutsche Klimaschutzpolitik, die die Minderung der klimaschädlichen CO2-Emissionen, des Verbrennungsgases fossiler Energiebewirtschaftung am Standort Deutschland zum Ziel hat, ist deckungsgleich mit dem Programm einer neuen nationalen Energie- und Rohstoffversorgung, das Deutschland unabhängiger machen soll von der Nutzung überwiegend auswärtiger fossiler Rohstoffe.
    Mit seinem »Klimaschutzprogramm 2030« setzt Deutschland die bisherige »Energiewende« mit ihren beiden Säulen »Steigerung der Energieeffizienz« und »Ausbau der erneuerbaren Energien« aber nicht einfach nur fort, sondern verfolgt eine radikale »Energiesystemwende«, die laut Auskunft des Klimakabinetts endlich mit der »Mobilitäts-«, »Wärme-«, und vor allem mit einer »wirklichen« »Industriewende« Ernst machen soll. Gemessen daran nimmt sich der bisherige Fortschritt – die Deckung von 46 Prozent des Bruttostromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen 2019 – als ungenügend, als bloße »Stromwende« aus: Die neue Energiebewirtschaftung soll zur umfassenden »Dekarbonisierung«, einer weitestgehenden Loslösung des Standorts von fossilen Energieträgern wie Öl, Gas und Kohle führen. Das Ziel lautet: CO2-neutrales Wachstum bis 2050.
    Dafür werden weiterhin und verstärkt das Programm der Energieeffizienzsteigerung (z. B. durch die Isolierung von Gebäuden oder die Verbesserung von Betriebsabläufen) und der Ausbau der Nutzung von erneuerbaren Energieträgern in der Stromproduktion vorangetrieben. Darüber hinaus sollen nun auch andere Sektoren durch neue Technologien und Kopplung mit der Stromwirtschaft auf erneuerbare Brenn-, Kraft- und Grundstoffe umstellen bzw. dies schneller tun als bisher: der Verkehr zu Land, perspektivisch auch zu Wasser und in der Luft, die Bauwirtschaft, die Wärmeerzeugung und insbesondere die gesamte industrielle Produktion.
    Diesem Ziel dienen die direkte Elektrifizierung von Prozessen und Produkten (z. B. Elektroautos und elektrisch betriebene Wärmepumpen, die Erd- oder andere Umgebungswärme verfügbar machen) ebenso wie deren indirekte Elektrifizierung (z. B. durch Brennstoffzellen in Lkw, die mit »grünem« Wasserstoff angetrieben werden, welcher mittels Elektrolyse von Wasser unter Verwendung von Strom aus erneuerbaren Quellen gewonnen wird; oder durch die Umstellung der Stahlindustrie auf »grünen« Wasserstoff u. a. m.).
    Wasserstoff nimmt die zentrale Rolle einer dritten Säule in der Wende ein, der eine eigene Strategie der Bundesregierung gewidmet ist: Er soll, wo eine direkte Elektrifizierung nicht möglich ist, perspektivisch Erdgas ersetzen, als Schlüsselrohstoff für eine Weiterveredelung zu CO2-neutralen, strombasierten Brenn- und Kraftstoffen und als Speicher für überschüssige elektrische Energie aus Wind und Sonne genutzt werden; außerdem soll durch neue Produktionsverfahren seine Bedeutung als chemischer Grundstoff in verschiedenen Industrien ausgebaut werden.
    Bedingte Kapitalentwertung
    Fördern bis zur Rentabilität
    Verfügung über billige Energie
    Emanzipationsbedarf
    Handlungsfreiheit schaffen
    Welche imperialistischen Perspektiven die deutsche Politik dabei im Sinn hat, darüber gibt der deutsche Außenminister unmissverständlich Auskunft: »Die Energiewende ist nicht nur der Umstieg von fossiler auf erneuerbare Energie – sie verschiebt auch politische Grundkonstanten. Durch den Einsatz erneuerbarer Energien können sich Staaten in die Lage versetzen, ihre eigene Energiesicherheit zu erhöhen. Damit verliert das geopolitische Instrument Energie, wie wir es über Jahrzehnte kennengelernt haben, seine Macht. Energiewendeländer können ihre strategischen und außenpolitischen Interessen unabhängiger verfolgen« (Heiko Maas, SPD, zum »Berlin Energy Transition Dialogue« 2019).
    »Nicht nur« ist gut: Fossile Brennstoffe enthalten offenbar »politische Grundkonstanten«, deren Verschiebung der Außenminister Deutschlands für nötig und geboten hält. Den deutschen Angriff auf diese Konstanten deutet er um in einen Dienst, der den Souveränen der Welt in ihrem zwischenstaatlichen Verkehr Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit zurückgibt, weil er Energieversorgung und Machtgegensätze der Staaten voneinander trennt. Dafür bietet sich Deutschland mit seiner Energiewende anderen Staaten als Vorbild und Helfer an und wirbt so um deren Kooperationsbereitschaft für ein deutsches Emanzipationsprogramm, das sich ja keineswegs mit deren Souveränitätsbedürfnissen deckt.
    Deutschland – so das Projekt – verschafft sich Energieautonomie und damit der deutschen Macht Handlungsfreiheit für ihr weltpolitisches Agieren, weil sie in ihrer global übergriffigen ökonomischen und politischen Interessenverfolgung auf keine Rohstoffabhängigkeiten von anderen Nationen Rücksicht nehmen muss. Statt dessen erobert es sich mit diesem Fortschritt die Rolle eines kapitalistischen Großproduzenten und einer souveränen Macht in Sachen Energieversorgung. Mit diesem Umsturz in den Mitteln und Methoden der globalen Energieversorgung greift es die Geschäfts- und Machtverhältnisse auf dem Weltenergiemarkt an – und insbesondere die Rolle der USA, die für die immer noch gültigen »Grundkonstanten« dieses Marktes gesorgt haben.
    Mehr zum Thema im Heft 1/2021 der Zeitschrift Gegenstandpunkt. Im Buchhandel – sowie
    https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/zeitschrift/gegenstandpunkt-1-21
    Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle in der jw zuletzt in der Ausgabe vom 7. April 2021 über moralistische Auffassungen bezüglich Rassismus und ­Antirassismus
    https://www.jungewelt.de/artikel/399999.aus-der-b%C3%BCrgerlichen-gesellschaft-geglaubte-lebensl%C3%BCge.html?sstr=Wentzke
    Aus: junge Welt – Ausgabe vom 10.05.2021 / Seite 12 / Thema: Grüne Marktwirtschaft
    https://www.jungewelt.de/artikel/402135.gr%C3%BCne-marktwirtschaft-imperialismus-klimaneutral.html

  184. “Die Antwort der Bundesregierung sollte wachrütteln.” Wachrütteln kann man nur jemand, der vorher eingeschlafen war. Kann es denn seit der Auflösung der MG wirklich verwundern, dass der Marxismus als verfassungsfeindlich eingestuft wird. Oder haben die Marxisten außerhalb der MG, wenn es sowas gab, gedacht: Na klar, dass es die blöde MG trifft, ist nachvollziehbar, aber mit dem Marxismus hat das ja nichts zu tun. Tja, da hätten sie sich wohl getäuscht.
    Wenn man die Antwort nicht hören will, soll man nicht fragen.
    Die geposteten Artikel sind alle richtig, aber eine Überraschung ist das doch nicht.

  185. @Kehrer
    “Die geposteten Artikel sind alle richtig, aber eine Überraschung ist das doch nicht.”
    Für dich und vermutlich auch die überwiegende Mehrheit der hier Mitlesenden sicher nicht. Aber nimm doch mal das Bild der jW-Kampagne: Verfassungsfeind? und wofür das steht. Diese Linken würden doch eher nicht mit einer Antwort: “Na klar!” oder “Was denn sonst!” o.s.ä. rechnen, sondern das aufgrund ihres Demokratie-Idealismus strikt zurückweisen.
    Und: Das Stichwort von der “Gesinnungsjustiz” trifft m.E. durchaus was, weil es in der Tat um die explizite Ansage aus berufenem Mund geht, den verbliebenen Überresten einer radikalen Kapitalismuskritk (Publikationen und Organisationen) praktisch “den Nährboden zu entziehen”. Es kann also durchaus sein, dass denjenigen, die sich anlässlich der MG-Auflösung vor Häme kaum eingekriegt haben, noch eine böse Überraschung bevorsteht.

  186. Eine grüne Bundesanleihe mit einer Laufzeit von 30 Jahren, um die sich Investoren gerissen haben sollen, wurde auf den Markt gegeben. – Das ist dann wohl erst einmal ein Versuch gewesen, das staatliche Anschieben von Grünkapitalismus durch so ein Angebot für Hedge-Fonds u.ä. zu ergänzen.
    Dadurch können diese einige ihrer Millionen oder Milliarden eingesammeltes Finanzkapital in irgendein “sicheres” staatliches Regal schieben, das tun sie, damit ihre Misch-Fonds eben auch solcherlei “Sicherheiten” beinhalten.
    Und warum genau legen Staaten wert auf so was?
    Weil sie selber etliche eigene Ausgaben z.B. ihrer Altersrenten mittels Finanzierung durch die Erträge solche Finanz-Fonds erst finanzieren?
    Sie geben Papiere aus, Fonds kaufen sie auf, und ein Teil der Renditen dieser Fonds geht in die Rentenauszahlungen ein? Mhm?
    … oder was genau ist denn hier der Zweck?
    Und was hat das genau mit dem “Klimawamdel” zu schaffen?
    Antwort 1: So sollen weltmarktfähige Produkte des Grünwachstums Made in Germany mit Krediten versorgt werden.
    https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/hoehe-nachfrage-nach-gruener-bundesanleihe/
    “Mit den grünen Anleihen werden ökologische Projekte, wie beispielsweise erneuerbare Energien, finanziert.
    Investoren hoffen, dass der Andrang auf die deutsche Bundesanleihe als Referenzpunkt für andere Kreditnehmer in Europa dienen wird, wo der Fokus ebenfalls auf grüne Anleihen gelegt wurde.
    (…) Grüne Anleihen werden aufgrund des relativ eingeschränkten Angebots mit niedrigeren Zinssätzen gehandelt. (…) Im September und Oktober wird Deutschland dieses Jahr durch noch zwei weitere grüne Anleihen mit einem Emissionsvolumen über sechs Milliarden Euro anbieten.
    Die Emissionen an ökologischen und sozialen Anleihen verzeichnen derzeit ein Rekordhoch.”
    – Na ja – ca. 9 Prozent am gesamten Anleihemarkt ….
    Dass Grünkapitalismus die Zukunft sei, ist ja inzwischen allgemeines Mantra der Politik.
    Dazu kritische Anmerkungen von Stephan Kaufmann:
    “Der Nutzen für die Umwelt ist nicht so recht erkennbar. Denn Klimaschutz kann man auch über die Ausgabe ganz normaler Anleihen finanzieren – Klimaschutz ist keine Frage der Finanzierungsquelle, sondern des politischen Beschlusses über die Verwendung des Geldes. Und nach konventionellen Bundesanleihen besteht kein Mangel an Nachfrage. Die ganze Welt reißt sich darum, dem deutschen Staat Geld zu leihen und ist bereit, dafür auch eine negative Anlagerendite in Kauf zu nehmen.
    Damit bleibt als Nutzen der gefeierten ersten »grünen Bundesanleihe« übrig, dass sie den Anlegern die Möglichkeit gibt, ihr Geld anzulegen mit dem guten Gefühl, damit etwas für den Klimaschutz getan zu haben. Was auch immer das sein soll.”
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141442.oekoanleihen-eine-anleihe-fuers-gute-gewissen.html?sstr=Stephan%20Kaufmann
    Hinterher hinkt da nicht nur noch manch altertümlich gestricktes Familienunternehmen, berichtet Stephan Kaufmann über Besorgnisse von z.B. Ferrari-Herstellern
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1148861.parkende-ferraris-sind-sauber.html?sstr=Stephan%20Kaufmann
    Eine sektiererisch-grüne Idee, gecheerleadert vor allem auf Parteitagen inniglicher wie innovativer Grüner, ein Hype-Projekt direkt nach der großen Finanzkrise … – so wurde noch vor 13 Jahren gemutmaßt:
    https://www.freitag.de/autoren/tstrohschneider/kein-linkes-projekt

    vgl auch: “Imperialismus klimaneutral”
    https://www.jungewelt.de/artikel/402135.gr%C3%BCne-marktwirtschaft-imperialismus-klimaneutral.html?sstr=Wentzke

  187. Frage:
    P.S. Und was ist nun mit dem “Klimaschutz”?
    Antwort:
    Gegenstandpunkt 1/2021, S. 49 – 51

  188. Johannes Schillo erweitert die Debatte um die Nennung der jw im Verfassungsschutzbericht um Überlegungen, inwieweit staatliche Instanzen so verstärkt generell Einfluss auf Diskurse im gesamten öffentlichen Raum nehmen wollen.
    Marx, dieser Linksextremist!
    (…) Die Stellungnahme, die in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde – im Blick auf Pressefreiheit machen “uns” ja andere Länder Sorgen, nicht das eigene –, bringt für alle, die publizistisch tätig sind und frei informiert werden wollen, interessante Klarstellungen. (…)
    Wo der Extremismus beginnt
    Erstens wird mit dieser Beobachtung, die seit mehreren Jahren erfolgt und wegen der Bekanntmachung in den jährlich vorgelegten Verfassungsschutzberichten für die Zeitung negative wirtschaftliche Folgen hat, der Aufgabenbereich des Inlandsgeheimdienstes in bemerkenswerter Weise ausgedehnt. (…)
    Die Verfassungsfeindlichkeit des Marxismus wird dabei paradigmatisch – und angesichts der allseits konstatierten Erfahrungen sozialer Ungleichheit wohl auch nicht ganz zufällig – am Begriff der Klassengesellschaft festgemacht. Laut Innenministerium “widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.” Also ist über die Diskussion hinaus bereits die theoretische Grundlage ein Fall für den Verfassungsschutz. (…)
    Das jüngste Beispiel für einen solchen expansiven Kurs war die Konstruktion eines neuen extremistischen Tatbestands – “verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates” – zur Überwachung der “Querdenker-“Szene. Wenn dieses Konstrukt Bestand hat, müssen also jetzt Redaktionen, die über kritische Wortmeldungen oder Publikationen informieren, in ihrem Rezensionsteil etwa vor der genannten Publikation von Kerth/Kutscha warnen. Denn sie bezweifelt die offizielle staatliche Darstellung, dass der Verfassungsschutz die Verfassung schützt.
    Professor Hajo Funke, der als Wissenschaftler die diversen NSU-Untersuchungsausschüsse begleitete, hat in einem Telepolis-Interview ebenfalls auf diesen Punkt aufmerksam gemacht und sich als “Delegitimierer” bekannt: Er bezweifelt nämlich, dass die Untersuchungsausschüsse zu den letzten Staatsschutzskandalen wirklich das Ziel der rückhaltlosen Aufklärung verfolgten.
    Man sieht, die Zulassungsbedingungen zum öffentlichen Diskurs werden neu geregelt – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bundesregierung nachdrücklich die Unterdrückung der Pressefreiheit in Ländern wie China oder Russland anprangert. Was bleibt, ist die Frage, was man zur Aufklärung gesellschaftlicher Sachverhalte heute noch sagen darf, ohne ins extremistische Fahrwasser und damit ins Visier des hochgerüsteten deutschen Sicherheitsapparates zu gelangen.”
    https://www.heise.de/tp/features/Marx-dieser-Linksextremist-6045658.html?seite=all

    Dass die gedankliche (!) und das meint begriffliche, Subsumierung unter einen Begriff “Gewalt” bedeute – mögen sich all die potentiell gewaltbereiten Physiker merken, wenn sie das Fallen eines Apfels zum bloßen Erkenntnisobjekt “degradieren” (unerkannt schmecke alles besser, ob das beim Apfel stimmt?) und gewalttätigerweise unter den Begriff der Gravitation subsumieren – und dem einzelnen Äpfelchen so alle individuelle Würde vernichten!

    Man merkt: die Staatsgewalt in Form des Verfassungsschutzes argumentiert nicht, sondern ist eben nichts als pure Gewalt. Groteskerweise mit der Selbstlüge, ausgerechnet sie sei um das Wohl und die Individualität der Menschen besorgt – bei ihrem eigenen tätigen (nicht einfach nur gedanklichen!) Subsumieren unter die Kategorie des Verfassungsfeindes.

  189. Das Military Mobility Project (14.05.2021)
    NATO-Spitzenmilitärs fordern schnellere Truppenverlegungen in Europa sowie “Resilienz” gegen Desinformation – und binden Medien ein.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Hochrangige NATO-Militärs legen mit Blick auf die “Defender Europe”-Manöverserie neue Forderungen zur Erhöhung des Truppenverlegetempos in Europa vor – mit Unterstützung der Deutschen Bahn. Die Forderungen sind das Ergebnis eines Projektes zur “militärischen Mobilität”, das das Washingtoner Center for European Policy Analysis (CEPA) im vergangenen Jahr durchgeführt hat. In dem jetzt vorgelegten Abschlussbericht heißt es, die NATO müsse fähig sein, Streitkräfte bei Bedarf mit höchster Geschwindigkeit in Richtung Russland zu verlegen. Zentrale Szenarien entsprechen den Übungsrouten der bisherigen “Defender Europe”-Manöver. Die CEPA-Projektleitung, darunter ein früherer deutscher NATO-Spitzenfunktionär, dringt nicht nur darauf, Straßen und Brücken in Europa “für schwerere militärische Ausrüstung zu bauen”; sie verlangt auch, die “Resilienz” der Bevölkerung zu stärken und sie auf Cyberangriffe und “Desinformation” vorzubereiten. Zu den Teilnehmern des Projektes, die das CEPA in ein “Netzwerk” integrieren will, zählte die Deutsche Bahn.
    NATO-Spitzenmilitärs und die Deutsche Bahn
    Das “Military Mobility Project” ist mit pandemiebedingter Verzögerung im vergangenen Jahr vom Washingtoner Center for European Policy Analysis (CEPA) durchgeführt worden, einem im Jahr 2005 gegründeten Think-Tank mit regionaler Schwerpunktsetzung auf Ost- und Südosteuropa und starkem inhaltlichem Fokus auf Analyse und Planung militärischer Operationen gegen Russland. Finanziert wird das CEPA unter anderem vom US-Außenministerium, der NATO sowie führenden US-Rüstungskonzernen (Lockheed Martin, Raytheon). Seinem Board of Directors gehört als einziger Nicht-US-Amerikaner der frühere CDU-Spitzenpolitiker sowie heutige Daimler-Lobbyist Eckart von Klaeden an. Leitende Funktionen bei der Durchführung des Military Mobility Project hatten unter anderem Generalleutnant a.D. Ben Hodges, einstiger Kommandeur der U.S. Army Europe, und Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß, der ab 2014 als Beigeordneter Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung der NATO die Federführung bei der gegen Russland zielenden Neuausrichtung des Kriegsbündnisses innehatte.[1] Unterstützt worden ist das Military Mobility Project von diversen Unternehmen, darunter Raytheon, Rheinmetall und die Deutsche Bahn.
    Aufmarsch zur russischen Grenze
    Ziel des Projekts war es, die Rahmenbedingungen für große Truppenbewegungen quer über den europäischen Kontinent zu analysieren und Optionen zur Optimierung zu entwickeln. Die NATO, so heißt es im kürzlich publizierten Abschlussbericht des Projekts, müsse nicht nur die Bereitschaft und die Beweglichkeit ihrer Truppen verbessern, sondern auch in der Lage sein, sie im Krisen- und Kriegsfall so schnell wie möglich zu verlegen: “Geschwindigkeit ist von höchster Bedeutung.”[2] Konkret analysiert wurden im Rahmen des Military Mobility Project fünf Szenarien. Das erste beinhaltete die Verlegung von NATO-Truppen von der norwegischen Atlantikküste über Schweden nach Estland, also an die russische Grenze im nördlichen Baltikum. Beim zweiten ging es um die Verlegung von Kampfverbänden von der deutschen Nordseeküste über Polen nach Litauen, ins südliche Baltikum; dort schneidet der “Korridor von Suwałki” die russische Exklave Kaliningrad von Belarus und Russland ab.[3] Das dritte Szenario befasste sich mit Truppenverlegungen aus Westdeutschland und den angrenzenden Gebieten Belgiens und der Niederlande – dort lagern bedeutende Bestände einsatzbereiten US-Militärgeräts (Army Prepositioned Stock, APS [4]) – nach Rumänien, in die Schwarzmeerregion. Zwei weitere Szenarien beinhalteten Truppenverlegungen nach Südosteuropa (zur Bekämpfung von Unruhen) und in Einsatzgebiete in Nordafrika.
    Tragfähigere Brücken, resiliente Bevölkerung
    Die “Empfehlungen”, die das CEPA-Projekt entwickelt hat, reichen von einer Vereinfachung der Grenzformalitäten für Truppenbewegungen in Friedenszeiten über den Ausbau der europäischen Verkehrsinfrastruktur bis zur Vereinheitlichung der Kommandostrukturen. So heißt es etwa, in Europa seien lediglich 90 Prozent aller Autobahnen, 75 Prozent der Bundesstraßen und 40 Prozent der Brücken für Militärfahrzeuge mit einem Gewicht von rund 50 Tonnen ausgelegt – zu wenig; es gelte – dies auch unter Rückgriff auf Kapazitäten der EU-Verkehrswegeplanung -, künftig “für schwerere militärische Ausrüstung zu bauen”. Das Logistikkommando Joint Support and Enabling Command (JSEC) in Ulm, das für die Streitkräfteverlegung in Europa zuständig sei, solle zudem mit der Koordinationsgewalt für die einzelnen nationalen Territorialkommandos betraut werden. Weil die Entfernung aus Westeuropa zu möglichen Schlachtfeldern in Ost- und Südosteuropa groß sei, solle die EU auf dem gesamten Kontinent ein Netzwerk militärischer Logistikhubs anlegen. Nicht zuletzt gelte es die Bevölkerungen der westlichen Staaten auf zu erwartende Cyberangriffe, auf “subversive Aktionen” und “Desinformation” vorzubereiten: Ihre “Resilienz” sei zu stärken.
    Netzwerk mit deutschen Medien
    Besondere Bedeutung misst das CEPA der Tatsache bei, dass es ihm gelungen ist, für die Mitarbeit an seinem Military Mobility Project eine umfangreiche Liste an Organisationen und Unternehmen zu gewinnen, die “an der Verbesserung der militärischen Mobilität einen Anteil haben”. “Dieses Netzwerk wird weitere Arbeiten in den kommenden Monaten und Jahren ermöglichen und verstärken”, heißt es im Abschlussbericht zu dem Projekt. Dem CEPA-Netzwerk gehören laut dem Bericht neben diversen NATO- und EU-Stellen, Abteilungen mehrerer Verteidigungsministerien und Einheiten der US-Streitkräfte wie auch der Bundeswehr nicht nur Rüstungskonzerne – Boeing Defense, Raytheon, Rheinmetall – und der US-Militärdienstleister Booz Allen Hamilton, sondern auch zivile Unternehmen an, darunter der staatlich kontrollierte litauische Energieversorger Ignitis sowie die Logistikkonzerne Lithuanian Railways und Deutsche Bahn (DB). Zusätzlich zu einigen Think-Tanks – Atlantic Council, RAND Corporation, Friends of Europe – sind auch Medien vertreten: Das Nachrichtenportal Euractiv sowie die Die Rheinpfalz, die größte Tageszeitung der Pfalz, in deren Berichtsgebiet die Air Base Ramstein angesiedelt ist – der größte US-Luftwaffenstützpunkt außerhalb der Vereinigten Staaten.[5]
    Europas “strategische Autonomie”
    Der Erprobung und Verbesserung der militärischen Mobilität dient nicht nur das US-Großmanöver Defender Europe 21, das inzwischen – vor allem in Südosteuropa – auf Hochtouren läuft.[6] Auch die EU entfaltet entsprechende Aktivitäten, hat in ihrem aktuellen Haushalt 1,69 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und unter dem Namen “Military Mobility” ein PESCO-Kooperationsprojekt gestartet. Das Projekt, an dem unter niederländischer Führung sämtliche 25 PESCO-Mitglieder teilnehmen, ist mit einem einstimmigen Beschluss der EU-Verteidigungsminister vom 6. Mai auch für die Vereinigten Staaten, Kanada und Norwegen geöffnet worden.[7] Ursache ist, dass Brüssel für seine Konfrontationspolitik gegen Russland auf militärische Unterstützung durch die NATO setzt – und daher zuverlässig gewährleisten muss, dass insbesondere US-Truppen schnellstmöglich aus Westeuropa an die russische Grenze verlegt werden können. Eine US-Beteiligung an anderen PESCO-Projekten schließt die EU bislang aus: Ziel ist es, bei der Hochrüstung des Kontinents von US-Konzernen unabhängig zu werden, um auch auf militärischer Ebene “strategische Autonomie” zu erreichen – die Voraussetzung für eine eigenständige Weltmachtpolitik.[8]
    Hintergrund: Russland im Blick
    Von Jörg Kronauer
    Die Ostsee, der Nordatlantik, das Schwarze Meer: Die Gewässer, die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf der »Nationalen Maritimen Konferenz« als strategische Operationsgebiete der deutschen Marine nannte, nehmen jeweils einen wichtigen Stellenwert im Machtkampf des Westens gegen Russland ein. In der Ostsee, wo Deutschland unter den westlichen Anrainern – das sind alle außer Russland – die größten Seestreitkräfte besitzt, stehen die NATO-Staaten und ihre Verbündeten, Finnland und Schweden, gegen die »Baltische Flotte« der russischen Marine und bedrohen potentiell den russischen Nordosten. Im Schwarzen Meer wiederum, wo laut Kramp-Karrenbauer die deutsche Marine künftig stärkere Aktivitäten entfalten soll, ist Russlands »Schwarzmeerflotte« stationiert – auf der Krim, die als zentrale Ausgangsbasis für Moskaus Machtprojektion ins Mittelmeer und in den Nahen Osten gilt. Die Schwarzmeerregion rückt in diesen Tagen mit der Kriegssimulation »Defender Europe 21« stärker in den Vordergrund der NATO-Aktivitäten.
    Durch den Nordatlantik wiederum verlaufen, das hob Kramp-Karrenbauer ausdrücklich hervor, zentrale Nachschublinien aus den Vereinigten Staaten nach Europa, aber auch Tiefseekabel, die, so erklärte die Ministerin, gegen etwaige russische Angriffe »geschützt« werden müssten. Mit dieser Aufgabe werde »die Deutsche Marine im Fall einer militärischen Konfrontation« befasst sein, hatte bereits Anfang 2020 der damalige Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Andreas Krause, erläutert. Teil des Nordatlantiks ist außerdem das Seegebiet zwischen Grönland, Island und dem Vereinigten Königreich, das von Strategen oft mit dem Kürzel »GIUK-Lücke« bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um das Gebiet, durch das die russische Nordflotte im Konfliktfall in den Nordatlantik eindringen kann, sofern sie nicht von NATO-Kriegsschiffen daran gehindert wird. Gelingt es dem Westen hingegen, die GIUK-Lücke effizient zu schließen, dann sitzt die Nordflotte des Gegners im Nordmeer fest. (jk)

  190. Kein Frieden für Gaza
    Tel Aviv setzt Militäraggression gegen Palästinenser fort. Jüdische und arabische Israelis demonstrieren für friedliches Zusammenleben
    Von Nick Brauns
    An diesem Sonnabend gehen weltweit Palästinenser auf die Straße, um an die Nakba – die Katastrophe – von 1948 zu erinnern. Gemeint ist die Vertreibung Hunderttausender Araber aus Palästina durch zionistische Kampfgruppen nach der Staatsgründung Israels. Damals wurden die Wurzeln für einen bis heute andauernden Kolonialkonflikt gelegt, der seit Wochenbeginn wieder in einen offenen, aber asymmetrischen Krieg gemündet ist.
    Den fünften Tag in Folge setzte die israelische Armee am Freitag ihre geballte Militärmacht gegen Widerstandsgruppen in Gaza ein. Hauptziel der durch Panzer- und Artilleriebeschuss von israelischer Seite der Grenze unterstützten nächtlichen Offensive war nach Armeeangaben ein als »Stadt unter der Stadt« bezeichnetes Tunnelsystem der Hamas. Im äußerst dichtbesiedelten und seit 14 Jahren unter einer israelischen Land- und Seeblockade leidenden Gazastreifen stieg die Zahl der bei Luftangriffen Getöteten nach Angaben des Senders Al-Dschasira bis Freitag auf 119 Menschen, darunter 31 Kinder. 830 Menschen wurden demnach verwundet. Gezielt zerstört wurden auch mehrere Hochhäuser in Gaza-Stadt, in denen zahlreiche in- und ausländische Medien ihre Büros hatten.
    Eine israelische Bodenoffensive scheint nicht ausgeschlossen – Verteidigungsminister Benjamin Gantz ließ bis Freitag 14.000 Reservisten mobilmachen. Die Armee werde ihre Angriffe »mit großer Intensität fortsetzen«, und die Operation werde »so lange wie nötig weitergehen«, erklärte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Freitag morgen in einer Videobotschaft.
    Ein russisch-ägyptisches Angebot zur Vermittlung eines Waffenstillstands scheiterte laut dem iranischen Sender Press TV am Freitag daran, dass die israelische Regierung die Bedingung der Hamas ablehnte, auch das besetze Ostjerusalem einzubeziehen. Drohende Vertreibungen arabischer Familien aus dem Stadtteil Scheich Dscharrah und Übergriffe der Polizei auf Betende in der Al-Aksa-Moschee waren der Funke, der die aktuelle Lage ausgelöst hatte.
    Nach Angaben des israelischen Militärs vom Freitag hat die Hamas seit Wochenbeginn rund 1.800 Raketen auf Israel abgefeuert. 90 Prozent davon konnten durch das Abwehrsystem »Eisenkuppel« zerstört werden. Die Zahl der seit Montag in Israel Getöteten geben israelische Behörden mit sieben Personen an, darunter ein Soldat und zwei Kinder. Am Donnerstag hatte die Hamas erstmals mit Sprengstoff beladene »Suiziddrohnen« eingesetzt, deren niedrige Flugbahn von der »Eisenkuppel« nicht berechnet werden kann. Militärexperten sehen darin einen »Game Changer« zugunsten der Hamas. Angegriffen wurde laut Press TV unter anderem eine Chemiefabrik in der Negev-Wüste.
    Nachdem es in mehreren israelischen Städten zu Lynchangriffen von ultrarechten jüdischen Siedlern auf Araber, aber auch zu Attacken arabischer Jugendlicher auf Juden, jüdische Geschäfte und Synagogen gekommen war, gingen am Mittwoch abend in vielen Städten des Landes Tausende jüdische und arabische Israelis gemeinsam für Frieden und gleichberechtigtes Zusammenleben auf die Straße.
    Blutige Konfrontation
    Nach Luftangriffen auf Gaza: Ausschreitungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Prekarisierte Jugend begehrt auf
    Von Gerrit Hoekman
    Der mit sehr ungleichen Mitteln geführte und von Tel Aviv maßlos eskalierte Schlagabtausch zwischen Israel und Hamas vergiftet zunehmend das Zusammenleben von jüdischen und arabischen Israelis. Nach blutigen Luftangriffen des israelischen Militärs auf den Gazastreifen kam es in der Nacht zum Donnerstag in mehreren israelischen Städten zu dramatischen Ausschreitungen.
    In Bat Yam, einem Vorort von Tel Aviv, marschierten mehrere Dutzend junge, ultrarechte jüdische Nationalisten durch die Straßen. Sie warfen Fensterscheiben arabischer Geschäfte ein und riefen rassistische Parolen. Im staatlichen Sender Kan 11 konnten die Fernsehzuschauer live mitverfolgen, wie ein wildgewordener Mob einen Palästinenser aus seinem Auto zerrte und ihn fast zu Tode prügelte. »Wir sehen in Echtzeit einen Lynchversuch, und es ist keine Polizei hier«, kommentierte der entsetzte Reporter die Szene. Der Mann befand sich bei jW-Redaktionsschluss in einem kritischen Zustand.
    In Jaffa verwüsteten ultrarechte Juden arabische Geschäfte und konnten von Anwohnern nur mit Mühe daran gehindert werden, eine Moschee anzuzünden, wie die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA am Donnerstag meldete. Aber auch Juden waren nicht sicher: In Akkon schlugen der Tageszeitung Haaretz zufolge eine Handvoll arabischer Israelis einen jüdischen Bürger krankenhausreif.
    In der Nacht auf Mittwoch hatten arabische Jugendliche in Lod eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Randalierend zogen sie durch jüdische Viertel, warfen Fensterscheiben ein, steckten Autos in Brand und legten Feuer in mindestens einer Synagoge. »Das ist die ›Kristallnacht‹ von Lod«, sagte Bürgermeister Yair Revivo, wie Times of Israel berichtete. In seiner Stadt, in der Juden und Araber bislang friedlich zusammengelebt hätten, herrsche nun Bürgerkrieg. Bereits in der Nacht zu Dienstag wurden in Lod Häuser und Geschäfte von Juden angegriffen. Ein 33 Jahre alter Palästinenser wurde dabei von einem jüdischen Anwohner erschossen. Im Anschluss daran verhängten die Behörden den Ausnahmezustand über die Stadt.
    Staatspräsident Reuven Rivlin verurteilte die Gewalt am Mittwoch als »brutalen Angriff auf die Koexistenz im Staat Israel« und sprach laut Israelnetz von einem »aufgehetzten und blutrünstigen arabischen Mob« – Worte, die kaum zur Deeskalation beitragen dürften. Auch Premierminister Benjamin Netanjahu gab Mittwoch nacht vor allem den arabischen Israelis die Schuld: »Was in den letzten Tagen in israelischen Städten passiert, ist unerträglich. Wir sehen, wie arabische Randalierer Synagogen und Autos in Brand setzen, mit Polizisten zusammenstoßen und unschuldige Zivilisten verletzen«, zitierte ihn Times of Israel. Es gebe keine »Rechtfertigung für Araber, die Juden lynchen wollen, oder Juden, die Araber zu lynchen versuchen«.
    Es brodelt schon lange in Israel, nicht erst seit die Hamas ihr Raketenarsenal abfeuert oder die israelische Polizei brutal gegen Muslime an der Al-Aksa-Moschee vorgeht. Das sind nur die Funken, die das Pulverfass zum Explodieren gebracht haben. Die palästinensischen Jugendlichen begehren auf, weil ihre soziale Lage prekär ist. In den allermeisten Städten mit einem großen arabischen Einwohneranteil ist die Erwerbslosigkeit höher als im Rest des Landes, besonders bei den jungen Erwachsenen. Die Hälfte der palästinensischen Familien in Israel lebt unter der Armutsgrenze. Besserung ist nicht in Sicht.
    Raketen auf Jerusalem und Gaza
    Hamas und Israel bleiben sich treu
    Wieder einmal eskaliert die Gewalt zwischen der Hamas und Israel, und während die einen die anfallenden Toten und Verletzten zusammen- oder gegeneinander aufrechnen, fachsimpeln andere völlig abgebrüht darüber, dass das wohl noch ein paar Tage so weitergeht: solange bis sich beide Seiten trotz aller Feind-Rhetorik dann doch auf einen Waffenstillstand einigen, der bis zur nächsten Eskalation hält.
    Statt diesen immer gleichen Ablauf in gewohnter Manier „tragisch“ zu finden und „besorgt“ zu sein angesichts erfundener „Gefahren“ für so haltlose Abstraktionen wie „den Frieden“ oder „die Region“, statt die „unschuldigen Opfer“ zu betrauern, nach „Schuldigen“ zu fahnden und auf „Lösungen“ zu hoffen, erklärt der Artikel Gaza-Krieg 2014 – Israels Kampf um die Einstaatenlösung, warum Krieg die Normalität der unversöhnlichen Staats-(gründungs)-Programme der islamisch-palästinensischen Hamas und Israels war und ist.
    Der Artikel Israel 2019 – Imperialistische Musterdemokratie in zionistischer Mission widmet sich in grundsätzlicher Weise dem bleibend eigenartigen Charakter des Staates Israel, seiner Räson und seinen speziellen Widersprüchen.

  191. Klimaschutzgesetz durch Bundesregierung verschärft:
    Klimapolitik als energiewirtschaftliche/ geschäftsförderliche Offensive – oder Dienst am Naturhaushalt (lt. Regierungsvertreter) oder gar Wettbewerb um die besten Anstrengungen in Sachen Dienstbarkeit am Globus (lt. Klimaaktivisten)?
    Nun ist es raus, wie das Klimaschutzgesetz nach Vorgaben des Bundesverfassungsgericht neulich, gemäß Entwurf der Bundesregierung reformiert werden sollte:
    Nach fortgeschriebenem Klimaschutzgesetz (Entwurf) sollen Emissionen bis 2030 um 65 statt vorher 50 Prozent und bis 2040 um 88 Prozent im Vergleich zu 1990 sinken. 2045 soll Treibhausgasneutralität statt bisher bis 2050 erreicht sein. – Den klimabezogen einsortierten “Sektoren” wie Industrie, Verkehr und Energiewirtschaft sollen entsprechend verschärfte Vorgaben verpasst werden, bzw. ein Sofortprogramm für Klimaschutzmaßnahmen aufgelegt werden.
    Obwohl die schönsten Klimaschutzziele unverkennbar eingeordnet sind in ein energiewirtschaftliches Aufbruchprogramm – nämlich Eröffnung neuer Geschäftsgelegenheiten fürs Kapital und mehr energetische Souveränität der Nation gegen die Abhängigkeit von Energieträgern aus fremden Ländern – tun die Regierenden so, als wären sie eigentlich als Diener am geschundenen Klima unterwegs (neuester Slogan: “Klimaschutz ist verpflichtend”):
    Wenn es so der Fall wäre, warum gehen die Klimapolitiker nicht von vornherein forscher zu Werk und stellen weitgehend alles Klimaschädliche still, sondern setzen sukzessiv, aktuell erst nach einem Spruch des höchsten Gerichts, ihre Klimaziele herauf? Der Grund erhellt daraus, dass die hehre Sorge um den Naturhaushalt sich gar nicht abtrennen lässt von der Verfasstheit des hiesigen schönen kapitalistischen Gemeinwesens: das hat erst mit der geschäftsnützlichen Erschließung der Energieressourcen (insbesondere der fossilen Art: Kohle, Öl) national und weltweit fürs Klimadesaster gesorgt; umgekehrt hat das seit einigen Jahren eingekehrte Kümmern um den Zustand des Globus seinen Maßstab daran, wie dies als neue Quelle der Geldbereicherung als die entscheidende Räson der nationalen Kapitalismen taugt. Entsprechend sieht die praktizierte Klimapolitik aus (…) … (Forts.):
    https://tages-politik.de/Energie-Umwelt/Klimapolitisches-Mai_2021.html

    vgl.: https://www.jungewelt.de/artikel/402135.gr%C3%BCne-marktwirtschaft-imperialismus-klimaneutral.html

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert