DIE GEMEINDEAUTONOMIE IN UNGARN
Ungarn war durch die Wende 1990 praktisch pleite. Die RGW-Märkte waren verlorengegangen, und der Westhandel wurde von den kapitalistischen Staaten gestoppt, weil er seinen Zweck, die Aufweichung des sozialistischen Ostblocks, erfüllt hatte. Der IWF und zahlreiche westliche Berater griffen der ersten frei gewählten ungarischen Regierung unter József Antall unter die Arme und bestärkten sie darin, alle Wirtschaftszweige weiter zu ruinieren und möglichst rasch zu privatisieren.
Die Idee der Gemeindeautonomie stammte eigentlich von einer damals in Opposition befindlichen (und heute nicht mehr existenten) Partei, den Freien Demokraten, sie wurde aber von der Regierung gerne aufgegriffen und als Gesetz verabschiedet, weil es der Regierung die Möglichkeit verschaffte, sich von den Kosten zu entlasten, die ihre Gesellschaft verursachte. In vielen Artikeln der neu entstandenen freien Presse wurde die Einführung der Gemeinde- (und auch der Komitats-) Autonomie als ein Befreiungsschritt besprochen, der den Behörden und der Bevölkerung vor Ort die Möglichkeit gab, endlich! selbst über ihre eigenen Angelegenheiten zu bestimmen.
Der Pferdefuß, der immer den Debatten über Zentralismus und Föderalismus anhaftet – was für ein gesellschaftliches System die Ziele vorgibt, über die dann oben oder unten entschieden werden soll – war natürlich auch hier die Grundlage dieser neuen Freiheit. Es ging um Marktwirtschaft, um die Herrschaft des Profits, und das gab den Rahmen vor, innerhalb dessen sich diese Gemeindeautonomie entwickelte.
Die neuen Gemeinderäte und Bürgermeister hatten wenig Mittel zur Verfügung, um die anstehenden Aufgaben – Aufrechterhaltung der Infrastruktur, der Straßenbeleuchtung, soziale und kulturelle Aufgaben – zu erfüllen. Schon Mitte der 90-er Jahre gab es bankrotte Gemeinden. Der Tourismus am Balaton, der vor der Wende floriert hatte, brach zusammen, und viele Gemeinden dort, die ihr Budget auf Tourismuseinnahmen aufgebaut hatten, sahen durch die Finger. So konnte sich z.B. Siófok einmal keine Rettungsautos mehr leisten. Woanders konnte das Straßennetz, oder die elekrischen Leitungen nicht erneuert werden, usw. usf. Als Lösung vieler finanzieller Löcher, die dann immer wieder notdürftig gestopft wurden, erschien der EU-Beitritt, die Fördertöpfe und der Kredit, der nach 2004 reichlich floß, vor allem durch die auch hierzulande beliebten Fremdwährungskredite.
Das Schema der Kreditaufnahme war in vielen Gemeinden gleich: Die Gemeinde nahm einen Fremdwährungskredit, meistens in Schweizer Franken bei einem lokalen Geldinstitut auf. Diese Summe hinterlegte sie in einem anderen Geldinstitut als Forint-Einlage. Aus der Zinsdifferenz generierte sie die Eigenmittel, die für EU-Projekte verlangt wurden, und aus den dann von der EU zur Verfügung gestellten Fördergeldern renovierte sie entweder sanierungsbedürftige Gebäude, oder errichtete neue Kultureinrichtungen. Besonders beliebt waren – oftmals von Stararchitekten geplante – „Erlebnisbad“ genannte Thermen, die den örtlichen Tourismus beleben sollten.
Beispiel 2: Esztergom
Esztergom hat 31.000 Einwohner, liegt im Donauknie und war jahrhundertelang der Sitz des ungarischen Erzbischofs. Ebenso ist es im Prinzip der Sitz des ungarischen Verfassungsgerichtshofes. Weder der VGH noch der Erzbischof residieren jedoch dort: sie bevorzugen die Hauptstadt und nicht diesen als „Pfaffennest“ apostrophierten, aber etwas abgelegenen lieblichen Ort.
Esztergom hat einige touristische Attraktionen, so die größte Kathedrale Ungarns und eine der größten Europas. Außerdem ist es eine interessante Destination für türkische Touristen, die dort die Ausdehnung des osmanischen Reiches bestaunen können, anhand eines Minaretts und eines Grabmals eines türkischen Helden. Schließlich besitzt es seit 2005 die für aufstrebende ungarische Gemeinden unentbehrliche Erlebnistherme
Vor allem jedoch gibt es in Esztergom eine Autofabrik, die über 4000 Leute beschäftigt. Dieser Umstand wirft ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise, wie der Kapitalismus nach der Wende in Ungarn implantiert wurde: Suzuki errichtete dieses Werk 1991 und erhielt anscheinend völlige Steuerbefreiung. Es ist nicht klar, ob Suzuki heute irgendwelche Steuern zahlt, aber wenn ja, so offensichtlich nicht ins örtliche Gemeindebudget.
Esztergom ist seit über einem Jahr zahlungsunfähig. Im vorigen Jahr wurden die Brunnen abgedreht, die Stadtbeleuchtung zurückgefahren, und die örtlichen Parkanlagen von Gemeinderatsmitliedern freiwillig von Müll befreit. Die Aufrechterhaltung der Feuerwehr war in Gefahr, ebenso die Müllabfuhr. Dann wurde eine Zeitlang die Schulspeisung ausgesetzt. Der öffentliche Verkehr in Esztergom wurde eingestellt. Seither betreibt die britische Supermarktkette Tesco eine Art Notdienst, eine abgespeckte Variante des öffentlichen Verkehrs, um Kunden in ihr am Stadtrand von Esztergom gelegenes Einkaufszentrum zu befördern.
Das hat zu administrativen Eigenartigkeiten geführt. Im Gemeinderat von Esztergom hatte immer Fidesz die Mehrheit, und stellte lange auch den Bürgermeister. Der Volkszorn über die Unzulänglichkeiten der Stadtverwaltung kanalisierte sich aber nicht darin, die oppositionellen Sozialisten oder Jobbik an die Macht zu befördern, sondern in der Wahl einer parteiunabhängigen Bürgermeisterin. Das wiederum hat den Fidesz-dominierten Gemeinderat dazu bewogen, seit über einem Jahr alle Initiativen der Bürgermeisterin zu blockieren. So konnten auch die Schulden bei den Banken nicht neu verhandelt werden.
Mit Berufung auf die unmöglichen Zustände in Esztergom holte die ungarische Regierung zu ihrem nächsten großen Schlag in der Neuordnung des Staatsapparates aus: Der Liquidierung der Gemeindeautonomie. Ein entsprechendes Gesetz, das „Lex Esztergom“ heißt, wurde voriges Jahr im November beschlossen. Demzufolge übernimmt der Staat die Aufgaben und die Schulden Esztergoms und ernennt dann die Beamten, die sich in Zukunft um die Belange der Stadt zu kümmern haben.
Esztergom ist ein Pilotprojekt für die „Verstaatlichung“ der Gemeinden.
Erstens werden laut Gesetz nicht alle Schulden übernommen, nur die „institutionellen“. Was das konkret heißt, wird erst noch mit den Geldinstituten auszustreiten sein. Sie werden vermutlich gezwungen werden, Abstriche zu machen. Die rechtliche Situation ist unklar, aber es sieht nicht gut aus für die Kreditinstitute: Das Subjekt, das ihr Schuldner war, die Gemeinde, hat sich ja in Luft aufgelöst.
Zweitens sind alle Verträge mit Gemeindebediensteten und Versorgerfirmen hinfällig. Auch da gibt es Einsparungs- und Verhandlungspotential.
Der nächste Kandidat für die Anwendung des Gesetzes ist das Komitat Pest …
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