„EIN LAND GROSSER TATEN ODER EIN TRAGISCHES EXPERIMENT: WAS WAR DIE UDSSR WIRKLICH?
Am 30. Dezember jährt sich die Entstehung der UdSSR zum 100. Mal
Wir kennen die UdSSR als eine der größten Mächte ihrer Zeit. Doch weniger als 70 Jahre sind vergangen, seit das Land, das immer noch Millionen mit Nostalgie erfüllt und das zu einem Symbol für Stabilität und Macht geworden war, zusammenbrach. So schnell wie sie geboren worden war.“
Nun ja. Zur Entstehung waren 2 Revolutionen (die von 1917) bzw. 4 (wenn man die von 1905 und 1912 dazuzählt) und ein mehrjähriger Krieg und Bürgerkrieg vonnöten. Für den Zerfall genügte ein feuchtfröhlicher Abend zu dritt auf einer Datscha in Weißrußland.
„Was war also die UdSSR? Ein großes und tragisches Experiment, das den Schlußstrich unter das Russische Reich zog, oder eine glänzende Zukunft, in der wir lebten, aber sie nicht verstanden, weil wir ihr nicht gewachsen waren?
Wir haben darüber mit dem Historiker Pavel Pryanikov und dem Autor des Buches »Der Geheimcode der UdSSR« Alexander Myasnikov gesprochen.
Mit Austrittsrecht geködert
KP: Für den Umstand, daß die Sowjetunion schließlich zusammenbrach, beschuldigen viele ihre Gründer: Lenin und Stalin.
Sie gewährten jeder Republik das Recht, auf eigenen Wunsch aus der UdSSR auszutreten. Wovon die Republiken 1991 Gebrauch machten. Warum also stimmten sie vor 100 Jahren solchen Bedingungen für die Gründung der Union zu? Wussten sie nicht um die zerstörerische Kraft dieses Austrittsrechtes?
PP: Versetzen Sie sich kurz in die damalige Situation. 1922 hat das Land bereits Finnland, das Baltikum, Polen und die Hälfte Moldawiens verloren. Russland war so schwach, dass es sogar gezwungen war, Esten und Letten einen Teil seines Territoriums (Isborsk) zu überlassen und Reparationen (mehrere Tonnen Gold) zu zahlen. Alles lag in Trümmern. An der Staatsspitze standen Menschen, die noch nie mit Staatsführung zu tun hatten. Der Erste Weltkrieg, dann die Revolution und der Bürgerkrieg hatten die dünne Schicht der Regierungsbeamten – 2 Prozent der Bevölkerung – weggespült.
KP: Und dann beschlossen die verbleibenden Republiken, sie mit einem solchen „Zuckerbrot“ in die gemeinsame Union zu locken?
PP: Natürlich. Sie mussten sie zumindest unter allen Umständen vereinen – mit der Verlockung: Wenn es dir nicht gefällt, kannst du gehen.
Damals war es wichtig, einfach ein einheitliches wirtschaftliches und politisches Gebilde zu schaffen. Denn einige der Republiken waren strategisch wichtig: Ohne die Ukraine hätte Russland nicht überlebt – als Hauptkornkammer plus Kohle und Stahl. Es ging darum, Armut und Hoffnungslosigkeit hinter sich zu lassen. Deshalb kam es zu großen Zugeständnissen.
Die Alternativen und die Kompromißformel
KP: Wer hat die Gründung der Union in dieser Form initiiert? Haben Stalin und Lenin verstanden, dass nationale Republiken eine schlechte Option sind?
AM: Lenin hatte eine Ansicht darüber, wie der neue Staat eingerichtet werden sollte, Stalin hatte eine andere.
Laut Lenin sollte dies die UdSREuA sein – die Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens. Diese Konstruktion unterstützte Leo Trotzki. Sie entsprach den Zielen der Komintern, also der künftigen Weltrevolution.
Stalin schlug eine alternative Option vor: Alle Republiken sollten als autonom Regionen Teil Rußlands werden, ohne Austrittsrecht.
Das heißt, die UdSSR erwies sich als Kompromiss zwischen der UdSREuA und der RSFSR.“
Die Leninsche Konstruktion bleibt in diesem Gespräch unklar. Es scheint, daß er noch mehr Teilrepubliken vorgesehen hätte, wobei Rußland noch weniger Gewicht gehabt hätte, und alles mit Austrittsrecht.
Demzufolge ist es nur Stalin zu verdanken, daß die UdSSR überhaupt 70 Jahre bestehen konnte.
Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, daß dieser Unions-Gründungsvertrag der SU zum Vorbild für die Verfassungen Jugoslawiens (von 1974) und der Tschechoslowakei wurde.
„PP: Lenin war Maximalist, er glaubte, dass wir weiter expandieren würden, dass es eine »Republik Zemshara« (= Erdkugel) geben würde. Stalin bewegten eher taktische Überlegungen.
Ende der 1930er Jahre gestand er: »Was bin ich im Vergleich zu Lenin? Ein bloßes Insekt.« Das sagte er in seinem berühmten Trinkspruch am 7. November 1937 in Woroschilows Wohnung.
Im Kaukasus rumorte es
KP: Die Grenzen der Unionsrepubliken – wer zog die?
PP: Formal das Ministerium für Nationalitäten. Das unterstand Stalin. Aber die Koordination ging immer noch über Lenin, über das Zentralkomitee. Es war eine schwierige Aufgabe. Damals wußte niemand, wie man das anstellen sollte.“
Das ist heute noch genauso, nicht nur in Rußland.
„Sie zogen sie ungefähr dort, wo die ethnische Mehrheit war. Und später wurden die Grenzen noch ein paar Mal geändert.
KP: Damals gab es noch die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (TSFSR). Es umfasste Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Abchasien.
AM: Ja. Sie gehörte zusammen mit Weißrussland, der Ukraine und der RSFSR zu den vier Gründern der UdSSR. Die Bolschewiki glaubten, dass die Vereinigung Transkaukasiens in der TSFSR notwendig sei, um dort nationalistische Aufstände zu verhindern. Dies war die unruhigste Region. Der armenisch-aserbaidschanische Krieg von 1918 bis 1920 bereitete große Sorgen. Damals gab es Massaker und ethnische Säuberungen.
Lenin blendete die Ukraine
KP: Wie kamen sie auf die Idee, ganz Neurußland an die Ukraine zu übergeben?
AM: Auf Beschluss Lenins. Die Ukrainische SSR wurde 1919 auf einem Kongress in Charkow (der Hauptstadt der damaligen Republik Donezk-Kriwoj Rog) proklamiert. Es wird traditionell so angesehen, dass sie auf dem Territorium von Kleinrußland gebildet wurde. Aber in Wirklichkeit umfasste sie auch den größten Teil von Neurußland – das Gebiet von Chisinau bis Lugansk, d.h. die gesamte Schwarzmeerküste und die Küste des Asowschen Meeres.“
Hier ist natürlich auch eine gewisse Geschichtsklitterung bzw. Verlegenheit zu beobachten, denn dieses Gebiet war damals umstritten zwischen den Machnowzy, Kosaken und den Interventionsarmeen. Die Kongreßdelegierten in Charkow vertraten also ein Territorium, das sie nicht kontrollierten.
„Sehen wir die Fakten an: Im Januar 1918 unterzeichneten Vertreter der ukrainischen Zentralrada einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland und Österreich. Die Besetzung der Ukraine begann. Bis Mai besetzten sie das Territorium der Sowjetrepublik Donezk-Krivoy Rog, Teile von Taurien und der Volksrepublik Odessa vollständig. Aber als nach der Kapitulation Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg die Gebiete befreit wurden, verbot Lenin kategorisch ihre Rück-Eingliederung in das Territorium Rußlands. Er bestand darauf, sie der Ukraine anzuschließen.
Und sobald die Ukrainische SSR gegründet wurde, begann das, was als Politik der Ukrainisierung („Verwurzelung“) in die Geschichte eingegangen ist. Das heißt, die übereilte Schaffung der „ukrainischen Sprache“ und ihre gewaltsame Einführung.
Charkow blieb übrigens bis 1934 Hauptstadt der Ukraine.
Die nationale Frage
KP: Wer zog die Grenzen innerhalb der Russischen Föderation?
AM: Am Tag, nachdem die Welt von der Gründung der UdSSR erfahren hatte, schrieb Lenin in sein Notizbuch:
»Internationalismus … sollte nicht nur in der Einhaltung der formalen Gleichheit der Nationen bestehen, sondern auch in einer solchen Ungleichheit, die seitens der Unterdrückernation, einer großen Nation, die im Leben tatsächlich entstehende Ungleichheit kompensieren würde.«“
Das heißt also als Antwort auf die eigentlich unbeantwortete Frage: Die anderen Republiken wurden auf Kosten der russischen Föderation bevorzugt, in strittigen Fragen entschied man gegen russische Bevölkerungsmehrheiten.
„KP: Hat die nationale Frage als Ergebnis die UdSSR zum Einsturz gebracht?
AM: Stalin hat vor dieser Gefahr gewarnt. Er wies darauf hin, dass es notwendig sei, dem Spiel der »nationalen Unabhängigkeit« ein Ende zu setzen, alle Republiken fest Moskau unterzuordnen und sie in Zukunft insgesamt zu liquidieren und einen einheitlichen Sowjetstaat zu schaffen.
Lenin kritisierte diesen »stalinistischen Plan«. Und sehr scharf …
KP: Wieso denn?
PP: Lenin hatte wirklich Angst vor russischem Großmachts-Chauvinismus. Deshalb wurden nicht nur angestammte Territorien Rußlands abgetrennt, sondern Rußland war auch das einzige Mitglied der Föderation, das im Gegensatz zu anderen Republiken weder eine eigene Kommunistische Partei noch eine Akademie der Wissenschaften erhielt.
Was wäre geschehen, wenn es keinen (II. Welt-)Krieg gegeben hätte?
KP: Die UdSSR hatte eine Vielzahl großartiger Errungenschaften. Hätten wir ohne diese den Großen Vaterländischen Krieg gewinnen können?
PP: Ohne sie hätte es keinen Krieg gegeben. Denn statt eines riesigen Landes hätte es 30-40 kleine Staaten gegeben. Russland wäre in verscheidene Gebiete zerrissen worden, die Satelliten anderer Mächte gewesen wären. Die Ukraine oder Georgien wären wie Rumänien oder Ungarn unter deutschen Einfluß geraten.
Der Ferne Osten wäre den Amerikanern und den Japanern zugefallen. Der Kaukasus wäre pro-türkisch und Karelien gehörte zu Finnland. Weißrussland wäre Teil Polens geworden. Mit einem Wort, es hätte niemanden gegeben, der (durch Deutschland) zu bekämpfen gewesen wäre.
KP: Und was wäre von Russland übrig geblieben?
PP: Das großrussische Kernland. Wie unter Iwan dem Schrecklichen – bis zur Wolga. Rundherum 30 bis 40 Staaten. Zentralasien wäre unter britischen Einfluss geraten. Nun, mit wem soll man kämpfen? Es wäre eingenommen worden, ohne daß es jemand bemerkt hätte.
Die Sowjetunion hingegen schuf einen Superstaat.
Der Westen zwang uns, Großmacht zu werden
KP: Die Industrialisierung, der GOELRO-Plan (des Staatlichen Elektrifizierungs-Ausschusses) gilt als Errungenschaft der Sowjetunion.
PP: Die UdSSR hat hier nichts erfunden. Alle großen Infrastrukturprojekte der Welt wurden unter der Führung des Staates oder durch die Streitkräfte des Staates durchgeführt. Nur der konnte es tun.
KP: Sind Sozialleistungen auch ein Verdienst des Sowjetstaates? Schulen, Kliniken, ein Achtstundentag…
PP: Die Sowjetunion übernahm das deutsche System, dass der Staat eine strenge Bildungs-, Gesundheits-, Sanitärpolitik betreiben sollte …
Lenin verstand, dass Fabriken gebildete Arbeiter brauchen, Armeen gebildete, gesunde Soldaten brauchen.
KP: Die Monarchisten behaupten, dass sowohl GOELRO als auch die allgemeine Alphabetisierung Pläne von Nikolaus II. waren, die die Bolschewiki einfach kopiert haben.
PP: Alles hat seine Zeit. Vielleicht hatte dieser Zar Pläne, aber er war zu spät dran.
In Deutschland begann die Zentralisierung von Bildung und Gesundheit in den 1870er Jahren. Rußland war genötigt, dies in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts durchzuführen. Die Transsibirische Eisenbahn war eine gute, richtige Idee. Aber es hätte in den 1870er Jahren geschehen sollen, nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir hätten Millionen von Bauern aus Zentralrussland umsiedeln und eine Revolution vermeiden können. Die verschiedenen Zaren dachten sich viel aus, aber alles war 20–30 Jahre zu spät.
KP: Die UdSSR war doch bei vielen Dingen Pionier. Sie schickte einen Menschen in den Weltraum. Sie erfand die Wasserstoffbombe. Liegt das auch nur an der Rivalität mit dem Westen?
PP: Konfrontation bringt immer viel hervor. Aber wenn Lenin länger gelebt hätte, hätte sich das Land höchstwahrscheinlich mehr in eine konsumorientierte Richtung entwickelt.
Die NEP wäre nicht eingeschränkt worden, viele Leben wären gerettet worden, es hätte nicht so schreckliche Repressionen gegeben.
Andererseits gäbe es keine große Industrialisierung, keine Großindustrie. Russland wäre ein mäßig entwickeltes Land. Und wir wissen nicht, ob es die Randgebiete in seinem Staatsbestand gehalten hätte.
Opfer hätten vermieden werden können
KP: Die UdSSR hatte aber auch viele unerfreuliche Züge. Das Gulag, die totale Gleichmacherei, weitverbreitete Armut. Und all dies führte zum Totalitarismus und der Apathie in der Bevölkerung.
PP: Das ist eben der industrielle Durchbruch, für den unser Staat bezahlt hat. Wenn man in 20 Jahren den Weg zurücklegen muß, der in 50 bis 100 Jahren schrittweiser Reformen zurückgelegt werden müsste, so sind Opfer unausweichlich.
Es gibt ein russisches Modell der staatlichen Führung: Es schwankt ständig wie ein Denkmal, zwischen Stagnation und Akkordarbeit. Die ganze Geschichte des Landes ist so aufgebaut. Peter I. übertraf in seinen Reformen sogar Stalin in Bezug auf menschliche Verluste. Aber Stalins Problem ist, dass dies vor unseren Augen geschah.
Gibt es die Möglichkeit einer Wiedervereinigung?
KP: 1991 fand der Zusammenbruch der UdSSR statt. Aber wurden nicht die slawischen Schwestern – Russland, Ukraine und Weißrussland – künstlich auseinanderdividiert?
PP: Seien wir ehrlich: Die Spaltung zwischen Russland, die Ukraine und Weißrussland fand nicht 1991 statt, sondern im 15. und 16. Jahrhundert, als ein Zweig des russischen Volkes zum Moskauer Zarenreich wurde und die anderen beiden Teil der litauisch-polnischen Republik. Damit war alles entschieden. In der UdSSR und sogar in der späten Zarenzeit versuchte man, die Unterschiede auszugleichen, aber das Vermächtnis eines getrennten Lebens im Laufe von zwei oder drei Jahrhunderten erfüllte seine Aufgabe, vor allem bei den Eliten.
Die Eliten der Ukraine hatte unter den Polen eine lediglich untergeordnete Position – das inspirierte die ukrainischen Intellektuellen, sich als eigene Nation zu emanzipieren.“
Das ist nicht ganz richtig, weil Teile der Ukraine – Sumi, Tschernigow, später Kiew – gehörten zum Zarenreich, und auch dort wurden die Eliten nur dann anerkannt, wenn sie sich assimilierten (=> Emser Dekret).
„KP: Aber warum hat dann die Sowjetunion selbst die Ukrainisierung der Ukraine so heftig propagiert?
PP: Man muß sich vor Augen halten, dass die Westukraine in den 1920er und 1930er Jahren in Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien gelandet ist. Und die Bolschewiki mussten den Menschen, die dort gelandet waren, die »vorbildliche Ukraine« als Beispiel zeigen. »Unterdrücken dich die Polen, lassen dich nicht Ukrainisch sprechen? Aber daneben ist die wunderbare Ukraine, wo die Ukrainer alles haben.«
KP: War das in Weißrussland auch so?
PP: Teilweise. Denn ein Drittel von Weißrussland landete auch in Polen. Bitte beachten Sie, dass es in anderen Republiken der UdSSR keine so aggressive Förderung des Nationalismus’ gab.
Wir erinnern uns an Stabilität
KP: Warum denken so viele Menschen mit Nostalgie an die UdSSR zurück?
AM: Damals waren die Spielregeln klar und die Menschen konnten ihr Leben planen. Niemand in der UdSSR kannte den chinesischen Fluch: »Mögt ihr in einer Zeit des Wandels leben!« Einer der Verdienste der UdSSR war das Vertrauen in die Zukunft. Und die Menschen werden von Stabilität angezogen.
PP: Das ist ein sehr wichtiges psychologisches Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Wenn man nicht darüber nachdenken muß, ob man morgen seine Familie ernähren kann.
KP: Für welche spezifischen Jahre sind die Menschen so nostalgisch?
PP: Natürlich sehnen sie sich nach der Breschnew-Ära. Die Menschen erinnern sich an die Zeit, in der sie selbst gelebt haben, als es keine großen Kriege und Repressionen gab – das sind die 60er, -70er Jahre, die erste Hälfte der 80er Jahre. Das war die Blütezeit der Sowjetunion. Die Menschen waren überzeugt, dass morgen besser sein wird als heute. Damals gab es diese Überzeugung.
Die letzte Utopie
KP: Was war also die UdSSR? Ein grandioses tragisches Experiment? Oder eine Ära großer Errungenschaften?
PP: Vielleicht war sie die letzte Utopie der Welt, die gut anfing.
Niemand – weder Marx noch Engels und vor allem Lenin – dachten nicht, als sie über den Übergang zum Sozialismus sprachen, daß dieser so viele Opfer fordern würde. Die UdSSR begann zu früh. Sie wurde auf der Grundlage eines sehr armen, analphabetischen Bauernlandes ausgerufen – in eine Gesellschaft, die diese Umgestaltung schwer annahm. Und vieles lief von Anfang an schief. Alles musste laufend geändert werden, man lebte dauernd auf Abruf. Lenins Traum von einer sozialistischen Weltrepublik musste schnell aufgegeben werden. Dann wurde die NEP aufgegeben … Ja, es war ein Experiment. Aber ein großartiges, nicht ohne einen gewissen Zauber.
Johannes Schillo: Proletarisches Einverständnis mit dem Ende der Zivilisation
Wo allenthalben Rückblicke aufs Jahr der „Zeitenwende“ veranstaltet werden, hier ein weiterer Blick – mehr als 100 Jahre – zurück auf die Wende von 1914, als die Arbeiterbewegung den Weg ins Zeitalter der Weltkriege einschlug.
Jüngst wurde unter dem Titel „Der Weg ins Zeitalter der Weltkriege“ an Anton Pannekoeks wieder aufgelegtes Pamphlet „Klassenkampf und Nation“ von 1912 erinnert: Die Neuausgabe der Streitschrift rufe eine historische Zeitenwende in Erinnerung, nämlich die Zäsur, als die Arbeiterbewegung ihre Kapitalismuskritik beendete und aus ihrer internationalistischen Programmatik heraus den Weg zur Bejahung der Nation fand, somit das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) möglich machte. Das sei, schrieb Frank Bernhardt, ein Denkanstoß für die heutige Zeit, wo sich ebenfalls der Weg in einen Weltkrieg – unter tatkräftiger sozialdemokratischer Mitwirkung und ohne Gegenwehr der Gewerkschaften – als finale Perspektive abzeichne, atomare Apokalypse inbegriffen.
SPD ermöglicht „Urkatastrophe“
Auch heute: Proletarische Einverständniserklärung
Wer hat uns verraten…
Dass jetzt ein sozialdemokratischer Kanzler vorangeht und den Aufwuchs des neuesten Deutschland zu einer europäischen „Führungsmacht“, zu einer weltpolitisch agierenden „Zentralmacht“ (SPD-Klingbeil), betreibt, die sich selbstverständlich in alle militärischen Händel auf dem Globus einmischt und dank nuklearer Teilhabe den Supermächten (fast) auf Augenhöhe gegenübertritt, hat so schon seine Logik. In der Tradition von Willy Brandt und Egon Bahr, die den Osten durch Wandel und Annäherung erschließen wollten, und in der Nachfolge eines Helmut Schmidt, der Moskau eine eigene Atomkriegsdrohung von deutschem Boden aus in Aussicht stellte, agiert hier ein Politiker, der die Ostpolitik von allen friedensidealistischen Hemmungen befreit und ihr eigentliches Programm mit den robustesten Mitteln, die man sich vorstellen kann (und die sich ein Friedensnobelpreisträger Brandt wohl nicht hätte träumen lassen), zur Geltung bringt.
Dass das durchgeht, liegt nicht zuletzt daran, dass sein Parteifreund Steinmeier als Bundespräsident die letzten Zweifel an der Güte des neuen vereinigten Deutschlands ausgeräumt und noch mit seiner letztjährigen Erinnerung ans „Unternehmen Barbarossa“ festgehalten hat, dass eine derart moralisch geläuterte Nation wie die BRD alles Recht der Welt hat, gegen das Böse im Osten vorzugehen. Somit war schon vor dem 24.2. klar: Deutschland bleibt sich treu und der neue Feind der alte: Russland!
https://overton-magazin.de/top-story/proletarisches-einverstaendnis-mit-dem-ende-der-zivilisation/
Nur ergänzend:
Das einzige, was von unten kommt – ob Gewerkschaften, ob Klimafreunde, ob Kriegsgegner – sind Appelle an die Politiker, doch bitte etwas zu tun, damit alles besser wird. Und Klagen über „Unterlassungen“ der Verantwortlichen.
Oder aber Wahlwerbung, um nach oben zu kommen.
Die Harmonie zwischen Untertanen und Obrigkeit ist perfekt.
Die Nachrufe auf Chasbulatov sind ziemlich nichtssagend, interessanter ist dieses Interview von 2013 aus der Wiener Zeitung.
Rußland hat heute (10. August) in der Früh eine Rakete Richtung Mond geschickt, und zwar vom Kosmodrom Wostotschnyj in Sibirien.
Das ist deswegen erwähnenswert, weil man sieht, daß Rußland erstens an seinem Weltraumprogramm festhält und damit auch weiterkommt.
Zweitens ist aber auch erwähnenswert, daß das russische Kosmodrom anscheinend voll einsatzfähig ist. Es wurde nämlich erst in diesem Millenium in Angriff genommen, um irgendwann das alte sowjetische in Baikonur schließen zu können und damit die Abhängigkeit von Kasachstan zu beenden.
Abgesehen von der politischen Abhängigkeit zahlte Rußland auch bedeutende Pachtkosten und mußte dort eine ziemliche Sicherheitstruppe stationieren, die bei den Unruhen in Kasachstan auch noch verstärkt wurde.
Zum neuen „östlichen“ Kosmodrom ist festzustellen, daß in westlichen Medien die längste Zeit der Tenor herrschte, daß der Bau von Pannen und Korruption begleitet war, typische russische Mißwirtschaft, und die das vermutlich nie hinkriegen werden … (Dergleichen kommt ja im Westen, in der Marktwirtschaft bekanntlich nie vor … )
Vergangenheitsbewältigung ist nicht mehr gefragt:
Russische Justiz löst das Sacharow-Zentrum auf
Das Menschenrechtszentrum war vor drei Jahrzehnten gegründet worden. Ihm werden nicht genehmigte Konferenzen und Ausstellungen vorgeworfen
(…)
(Standard, 18.8.)
VEREINTE NATIONEN
Selenskyj verlangt Mechanismus, um Vetos im Sicherheitsrat zu überwinden
Der ukrainische Präsident geht scharf mit der Uno ins Gericht und fordert grundlegende Reformen. Er plädierte zudem für eine Erweiterung des Uno-Sicherheitsrats
Bei einem aufsehenerregenden Auftritt im Uno-Sicherheitsrat hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Machtlosigkeit der Vereinten Nationen beklagt und grundlegende Reformen gefordert. Die Uno reagiere auf Probleme mit "Rhetorik" anstatt mit "echten Lösungen", sagte Selenskyj am Mittwoch im mächtigsten Uno-Gremium in New York. Der 45-Jährige war dort erstmals seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen sein Land vor 19 Monaten persönlich vertreten.
"Die Menschheit setzt ihre Hoffnungen nicht mehr auf die Uno, wenn es um die Verteidigung der souveränen Grenzen der Nationen geht", mahnte er. Selenskyj verlangte einen Mechanismus, um Vetos im Sicherheitsrat zu überwinden. Außerdem plädierte er für eine Erweiterung des Uno-Sicherheitsrats um weitere ständige Mitglieder – wie Deutschland – und sprach sich für ein System aus, um frühzeitig auf Angriffe auf die Souveränität anderer Staaten zu reagieren.
(…)
(Standard, 21.9.)
Dazu ist zu bemerken, daß das Vetorecht im Sicherheitsrat seinerzeit ein Anliegen der SU war und sie der UNO nur zustimmte und beitrat unter dieser Bedingung.
Auf der einen Seite ist Selenskijs Anliegen sehr populär bei Staaten wie Deutschland, die gerne mit den Großen an einem Tisch sitzen würden.
Andererseits wäre so ein Schritt gleichbedeutend mit der Auflösung der UNO.
Die Vorgängerorganisation der UNO, der Völkerbund, hatte seine Schwachstellen darin, daß manche Staaten gar nicht beitraten, z.B. die USA, andere wieder austraten, wie Deutschland nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, und die SU 1939 ausgeschlossen wurde – sodaß die Organisation mit jedem fahlenden Staat immer mehr an Bedeutung verlor.
Deswegen war es sowohl Roosevelt als auch der sowjetischen Führung wichtig, eine Nachfolgeorganisation zu schaffen, bei der Alleingänge, Ausschlüsse oder Austritte erschwert oder verunmöglicht würden – und wo, da war sich Rußland mit den USA einig – wichtige kriegerische Akte nur mit Duldung der damaligen Großmächte, also der Sicherheitsratsmitglieder geschehen dürften.
Die ohne Zustimmung des Sicherheitsrats losgetretenen Kriege waren also völkerrechtswidrig, was sie aber nicht verhindert hat. Weder den Vietnamkrieg, noch den Jugoslawienkrieg noch den jetzt gerade laufenden Ukrainekrieg.
Aber das Vetorecht ist ein Eckstein der UNO-Architektur, und seine Abschaffung wäre nur mitsamt der Auflösung der UNO möglich.
Die Präsidentschaftswahlen in Rußland müssen ja sehr heiter gewesen sein.
Die 3 Tage, wo gewählt wurde, fielen nämlich mit dem Abschluß der Maslenitsa, dem russischen Fasching, zusammen. Die Leute warfen sich in Kostüme und vor den Wahllokalen wurden Palatschinkenkuchln errichtet.
Kein Wunder, daß die Wahlbeteiligung hoch war. Man feierte Fasching und den Führer gemeinsam. Die Frau auf dem Pferd ritt von Haus zu Haus mit den Wahlurnen. Mancherorts zeigten sich die Leute in Volkstrachten, andererorts in Zaren-Aufmachung.
Auch traditionelle Figuren, teilweise aus Comics, fehlten nicht:
Wieder einiges Historische zu den wirren 90-er Jahren in Rußland:
„»Tschubais ist schuld am Schwarzen Dienstag«
Vor dreißig Jahren erlebte Russland den ersten dramatischen Absturz des Rubels
Dieser Herbst markiert einen weiteren traurigen Jahrestag in der Wirtschaftsgeschichte Rußlands – 30 Jahre „Schwarzer Dienstag“.
Zum ersten Mal spürten die Bürger unseres Landes am 11. Oktober 1994, was ein katastrophaler Rückgang des Rubels, ein starker Preisanstieg und Panik in der Gesellschaft bedeuteten. Die damalige Regierung erklärte den Chef der Zentralbank der Russischen Föderation, Viktor Geraschtschenko, und den amtierenden Finanzminister Sergej Dubinin für schuldig. Sie legten damals ihre Ämter nieder.
Alexander Razuvajev, Mitglied des Aufsichtsrats der Gilde der Finanzanalysten und Risikomanager, erzählte MK von diesen Ereignissen, ihren Ursachen und Lehren.
»Jemand hat gutes Geld verdient«
MK: 30 Jahre später, vor dem Hintergrund des denkwürdigeren Bankrotts von 1998 und der Finanzkrise von 2008, erscheinen die Ereignisse des „Schwarzen Dienstags“ von 1994 nicht wie ein großes Drama. Für die Russen, die die 90er Jahre überlebt haben, ist dies jedoch nicht der Fall. Warum?
AR: In den frühen 90er Jahren herrschte in Russland eine Hyperinflation, die größtenteils durch die ständige Abwertung des Rubels erklärt wurde. In den Geschäften gab es fast keine inländischen Waren, sondern nur Importe. Die erste Welle von Reformern glaubte, dass alles im Ausland gekauft werden könne und sollte, indem Öl, Gas und andere Rohstoffe nach Europa verkauft würden.“
Diese „erste Welle von Reformern“ wollte also Rußland auf den Status eines Rohstofflieferanten herunterdrücken und die sonstige einheimische Produktion vernichten.
Damit wäre die Bevölkerung Rußlands zu einem großen Teil für überflüssig erklärt und Rußland auf den Status Nigerias oder Venezuelas heruntergebracht worden.
Kein Wunder, daß diese Leute im Westen hochgelobt wurden – für ihren Wagemut, ihre Überzeugtheit von der Marktwirtschaft und ihre Verachtung gegenüber den Errungenschaften der Sowjetunion.
„Viele Menschen kennen den Ausdruck »Schwarzer Dienstag« und wissen auch, dass er mit der Abwertung des Rubels und Währungsspekulationen in Verbindung gebracht wird. Allerdings weiß nicht jeder, woher es kommt.
Diese Geschichte ist jedoch sehr alt.
Ich war im Herbst 1994 Student, aber ich erinnere mich an diese Tage, als wäre es gestern gewesen. Der Präsident der Russischen Föderation war Boris Jelzin und der Premierminister war Viktor Tschernomyrdin. Am Schwarzen Dienstag, dem 11. Oktober 1994, fiel der Rubel gegenüber dem Dollar. An einem Tag stieg der Dollarkurs an der Moskauer Interbanken-Währungsbörse (MICEX, ihre Arbeit wurde 1992 aufgenommen und 2011 in die Moskauer Börse umgewandelt) von 2833 auf 3926 Rubel.
Woher kommen solch hohe Wechselkurs-Nominierungen? Ich möchte Sie daran erinnern, daß die Abwertung der russischen Währung im Verhältnis 1 zu 1000 am 1. Januar 1998 erfolgte, also im Jahr des legendären Zahlungsausfalls …
Bereits am 14. Oktober 1994 fiel der Dollarkurs auf 2994 Rubel, aber es ist klar, dass einige Leute gutes Geld verdient hatten.“
Razuvajev weist hier darauf hin, daß die Wechselkursschwankungen künstlich hervorgerufen worden waren und daß sich diejenigen, die daran beteiligt waren, die Taschen füllen konnten.
So etwas wie eine Finanzaufsicht oder Kontrolle über die Bargeldvorräte und Stützungskäufe der Natioonalbank gab es damals in der jungen Marktwirtschaft nicht, die sich erstmals mit Erscheinungen wie Konvertibilität und Wechselkurs auseinandersetzen mußte.
„Aus dem Bericht der von den Behörden gebildeten Sonderkommission, die sich mit diesen Ereignissen befasste, ging hervor, dass »einzelne Geschäftsbanken Devisentransaktionen durchführten, die darauf abzielten, den Wechselkurs des Dollars künstlich zu erhöhen, indem sie Währungen nicht für ausländische Wirtschaftstransaktionen kauften, sondern zum Zweck der spekulativen Bereicherung weiterverkauften.«
Die größten Gewinner der Abwertung des Rubels waren die inzwischen in Vergessenheit geratene Most Bank, die von Vladimir Gusinskij kontrolliert wurde, die Neftechimbank, die von Georgij Zhuk verwaltet wurde, und die Mezhkombank, die von Sergei Ovsjannikov geleitet wurde.“
Die meisten von diesen Akteuren sind inzwischen in der Versenkung verschwunden, die Banken wurden aufgelöst. Zhuk ist verstorben. Gusinskij lebt in Israel.
Dieser Streich ließ sich offenbar nicht wiederholen.
MK: Wie war der Zustand der russischen Wirtschaft zu dieser Zeit?
AR: Russland erlebte im Jahr 1994, das Gott sei Dank vorbei ist, schwierige Zeiten. Im selben Jahr kam es zum Zusammenbruch von MMM, Telemarket und anderen Finanzpyramiden.“
Zu Mavrodi und MMM siehe auch hier, das System lebt in anderen Staaten weiter.
„Es gab keinen Markt für die Aktien privatisierter Unternehmen. Erst 1995 nahm ein solcher in Form des »Russischen Handelssystems (RTS)« seinen Betrieb auf.
Russlands BIP ging in diesem Jahr um 15 % zurück, und das Haushaltsdefizit überstieg 5 % des BIP. Die projektierten Einnahmen des Haushalts wurden aufgrund des schwachen Steueraufkommens nicht erfüllt. Die Bank von Russland (d.h., Nationalbank) musste der Regierung Kredite gewähren, um das Haushaltsdefizit zu decken. Es gab kein Einlagensicherungssystem. Schon damals tauchten jedoch betrogene Einleger von Geschäftsbanken auf.
Eine Folge der Abwertung war die Entscheidung der Bank von Russland, die Kreditkosten zu erhöhen. Bereits am 12. Oktober 1994 wurde der Refinanzierungssatz von 130% auf 170% erhöht. Der Schwarze Dienstag war der Hauptgrund für den Übergang zu einer extrem restriktiven Geldpolitik im Jahr 1995. Gehälter und Renten verzögerten sich um sechs Monate.“
Interessant, was hier „restriktive Geldpolitik“ heißt: Das Nicht-Zahlen von Gehältern der Staatsangestellten. Manchmal wurden – in den entlegeneren Gebieten rußlands, weit weg von den Metropolen – eineinhalb Jahre keine Gehälter gezahlt.
Alles im Sinne der wirtschaftlichen vernunft, selbstverständlich, nach der man einfach nicht so viel Geld drucken konnte …
„Es wurde ein Währungskorridor eingeführt. Und das Haushaltsdefizit wurde durch IWF-Kredite und die groß angelegte Emission von Staatsanleihen finanziert, deren Zusammenbruch im Jahr 1998 die nächste Krise auslösen wird.“
Damals stieg Rußland zur Finanzierung seiner Staatsaufgaben also auf die Auslandsverschuldung ein, was einige Jahre später das internationale Finanzsystem zum Wackeln bringen wird.
„MK: Die damalige Regierung machte den Chef der Bank von Russland, Viktor Geraschtschenko, für den Vorfall verantwortlich, im Weiteren auch Finanzminister Sergej Dubinin und seinen ersten Stellvertreter Andrei Wawilow. Sehen Sie das auch so?
AR: Nein. Tatsächlich wurde die Führung der Bank von Russland unter der Leitung ihres zum Rücktritt gezwungenen Vorsitzenden Wiktor Geraschtschenko als Hauptverantwortliche für die Abwertung erklärt. Dabei ist er eine Person der Finanzwelt, die jeden Respekt verdient: Er war es, der die russische Wirtschaft nach dem Zahlungsausfall von 1998 rettete.
Es mag banal klingen, aber meiner Meinung nach trägt Anatolij Tschubais die Schuld an den bewußten Ereignissen vor 30 Jahren.“
Auch Tschubais lebt inzwischen in Israel.
„Tatsache ist, dass im Sommer 1994 die Gutscheinprivatisierung endete.“
In Rußland wurden Anteilsscheine („Coupons“) an die Beschäftigten der Unternehmen ausgegeben, nach dem Modell der tschechischen Privatisierung. Diese wurden von Banken, aber auch von Glücksrittern in Hinterzimmern oder an Straßenecken aufgekauft und auf diese solchermaßen erworbenen Anteilsscheine wurden Aktien ausgegeben, die in Ermangelung einer Börse auf ähnliche Art und Weise gehandelt wurden wie vorher die Coupons. Aus diesen zutiefst unseriösen Praktiken entstanden die Mehrheitseigentümer großer Unternehmen wie Jukos usw.
„In Russland erschienen Aktien großer Öl-, Metallurgie- und Kommunikationsunternehmen. Die Behörden machten sich jedoch nicht die Mühe, den Handel mit ihnen an der Moskauer Börse (MMVB/MICEX) zu organisieren.“
Der Handel mit Wertpapieren wurde jedoch erst 1995 mit dem oben erwähnten »Russischen Handelssystems (RTS)« an der bewußten Börse und anderswo reguliert. Vorher konnte mehr oder weniger jeder machen, was er wollte.
„Sie wurden nur im Freiverkehr gehandelt, wo Kurse von einer kleinen Anzahl von Maklerfirmen festgesetzt wurden.
Hätte zu diesem Zeitpunkt in Russland ein organisierter Wertpapiermarkt begonnen, wäre westliches Kapital in das Land geflossen. Vor dem Kauf von Aktien privatisierter Unternehmen an der MICEX wäre es jedoch notwendig gewesen, Rubel zu kaufen, da alle Transaktionen in diesem getätigt werden mußten. Dies hätte zu einer starken Nachfrage globaler Investoren nach der russischen Währung geführt.
Leider geschah dies nicht rechtzeitig, und Tschubais war damals für genau diesen Bereich verantwortlich – Privatisierung, Börse, Wertpapiermarkt.
»Panik entstand nicht nur an der Börse«
MK: Waren Sie persönlich von den Ereignissen des Jahres 1994 stark betroffen?
AR: Der »Schwarze Dienstag« hat mich nicht sonderlich aus der Fassung gebracht. Im August 1994 kaufte ich meine ersten Aktien – der Tveruniversalbank. (Sie wurde später umbenannt, durchlief einen Umstrukturierungsprozess und ging 2016 aufgrund von Fusionen in einer größeren Bankengruppe auf, der Binbank Tver.)
Und die Banken haben damals, wie ich bereits sagte, im Allgemeinen gut mit der Abwertung verdient, und ich habe dadurch großzügige Dividenden erhalten. Aufgrund der hohen Inflation wurden sie dann vierteljährlich ausgezahlt.
Um Papiere zu kaufen, musste man mit Bargeld zur Bank gehen. Die Wertpapierabteilung gab Kauf- und Verkaufsangebote heraus. Jetzt können Sie Aktien mit einem Klick online kaufen, aber die Zeiten waren noch anders.
Titelbild des Moskovskij Komsomoljets am 12.Oktober 1994: „Ausgerubelt!“
MK: Aber diejenigen, die sich in Finanzfragen nicht so gut auskannten, bleiben auf der Strecke. Wie ging es den Menschen angesichts dieser Ereignisse?
AR: Natürlich sind die Russen ärmer geworden. Der Wechselkurs am 11. Oktober 1994 fiel auf 3.926 Rubel pro Dollar, was 845 Rubel niedriger war als die Daten vom 10. Oktober. Die Nachfrage nach Devisen an der Börse erreichte an diesem Tag ein Rekordhoch von 335,7 Millionen US-Dollar, während das Angebot nur 24,25 Millionen US-Dollar betrug.
Der Zusammenbruch war nur von kurzer Dauer, denn bereits am 14. Oktober 1994 fiel der Dollarkurs auf 2994 Rubel, – aber unsere Landeswährung „wackelte“ stark und es kam nicht nur an der Börse zu Panik.
Russen, die davon besessen waren, Dollars zu kaufen, versuchten, die Banken zu stürmen. In Wechselstuben wurden Dollars bereits für 4.900 Rubel verkauft, in der Hoffnung, daß der Wechselkurs der amerikanischen Währung weiter steigen würde. Geschäfte wurden zugesperrt, um ihre Preise an den neuen Wechselkurs anzupassen.
Die Behörden versuchten, den Markt zu beruhigen, doch das Gegenteil war der Effekt. Insbesondere der damalige Chef der Zentralbank, Viktor Geraschtschenko, versuchte zu erklären, daß der Wechselkurs des Rubels nicht gehalten werden könne, weil die Reserven aufgebraucht seien. Diese Aussage verstärkte jedoch nur die Panik.“
Was heißt „jedoch“? Das war ja wirklich ein Panikmacher und insofern ist die Schuldzuweisung an Geraschtschenko nicht ganz verkehrt.
Allerdings wußte der gute Mann sich angesichts der Umstände auch nicht anders zu helfen als mit der Flucht nach vorn.
„Die Bürger verstanden dieses Signal als Zeichen der Ohnmacht der Beamten und begannen, noch stärker Dollars zu kaufen, um ihre Ersparnisse zu retten. Seitdem ist es für die Mehrheit der Russen mit finanziellen Überschüssen zur Normalität geworden, einen Teil ihres Einkommens in Dollar zu speichern.“
Lange Jahre in der Matratze, wegen des Mißtrauens gegenüber Banken.
„Nach dem abermaligen Sinken des Dollarkurses »vergaß« ein erheblicher Teil der Geschäfte, die Preise auf das vorherige Niveau zu senken.
All dies hatte unangenehme Auswirkungen auf die Einkommen der Bevölkerung.
MK: Warum waren die Ereignisse des „Schwarzen Dienstags“ möglich?
AR: Ich denke, daß sie das Ergebnis einer Verschwörung mehrerer großer Geschäftsbanken waren, die gemeinsam gegen den Rubel gespielt und damit Geld verdient haben.
Die Version riecht ein wenig nach Verschwörungstheorie, da niemand die Verschwörung beweisen konnte.
Aber ich ermutige alle, die Situation umfassender zu betrachten.
Rußland schlitterte in die Ereignisse von 1994 mit vielen finanziellen Problemen und einem unpassenden System zur Verwaltung des Devisenmarktes.
Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Rezession, der hohen Arbeitslosigkeit, der chronischen Steuerausfälle großer Unternehmen und der fortschreitenden Inflation gingen auch die Exporterlöse zurück. Die Marktmechanismen im Land funktionierten nicht gut.
Der Leitzins der Zentralbank der Russischen Föderation war hoch, was eine Ausweitung der Kreditvergabe an den Realsektor nicht ermöglichte. Menschen, die mit den Pyramidenspielen Geld verloren und den Glauben an die »Coupon-Privatisierung« verloren hatten, waren deprimiert.
Vor diesem Hintergrund war die Finanzpolitik der Regierung, gelinde gesagt, mehrdeutig. Der Haushalt sah unnötige Ausgaben vor“
– was in Zeiten der „restriktiven Geldpolitik wohl „unnötig“ war? –
„und um den Rückgang des Dollarkurses zu bewältigen, wurden Deviseninterventionen durchgeführt. Unter dem Druck der Importeure hat die Bank von Russland den Rubel ungerechtfertigterweise überbewertet. Die allgemeine Lockerheit der Mechanismen des Devisenmarktes war offensichtlich.
Es besteht die Meinung, dass die Zentralbank zu diesem Zeitpunkt den Rubel frei schwanken lassen sollte, sodaß sein Wechselkurs nach den Marktgesetzen gebildet würde und die Regulierungsbehörde keine Reserven dafür ausgeben würde.
Und obwohl Spekulanten infolge des »Schwarzen Dienstags« erkannten, dass sie nicht mit der Zentralbank der Russischen Föderation spielen konnten, rettete diese Einsicht das Land und seine Bürger nicht vor unangenehmen Folgen.
Jelzin nannte diese Ereignisse einen Versuch eines »Finanzputsches«, und der damalige Sicherheitsrat bezeichnete die Ereignisse als »Bedrohung für die Sicherheit Russlands«.
In seinen Memoiren nannte Viktor Geraschtschenko den Grund für den Zusammenbruch des Rubels die »grundlegende Schwäche« der Wirtschaft des Landes, die durch einen Produktionsrückgang verursacht wurde.“
Nun, das ist angesichts der „ersten Welle von Reformern“ und deren Vorstellungen nicht verwunderlich. …
„Darüber hinaus hätten die Behörden die Entwicklung der Situation übersehen, und der Wechselkurssprung sei zu einer Zeit erfolgt, als nur 300 Millionen Dollar an Reserven vorhanden waren.
Sergei Dubinin behauptete in seinen Interviews, dass er seinen Posten ohne Grund verloren habe – es heißt, die Zentralbank habe den Markt im Stich gelassen und sich geweigert, einzugreifen, ohne ihre Maßnahmen mit dem Finanzministerium abzustimmen. Für die Ereignisse dieser Jahre gibt es also mehrere Einschätzungen.
MK: Könnte es heute wieder zu einem solchen »Schwarzen Dienstag« kommen?
AR: Nein. Heutzutage kontrollieren die Zentralbank und das Finanzministerium den Devisenmarkt viel strenger. Selbst die Einführung von 14 Sanktionspaketen durch den Westen – eine vorsätzliche Schädigung feindseliger Länder – führte nicht zu einer Wiederholung dieser Ereignisse, was auf eine völlig andere Qualität der Steuerung der Finanzprozesse durch die Währungsbehörden hinweist.“
(MK, 10.10.)