„ES GEHT NICHT UMS GELD: SOLLTE RUSSLAND DEN IWF VERLASSEN?
Die Beteiligung an einem Finanzinstitut bleibt eine wertvolle Verhandlungsplattform (…)
Die Fraktion der Kommunistischen Partei Rußlands legte der Duma einen Gesetzentwurf vor, der vorsieht, die Entscheidung des Obersten Rates(*1) über den Beitritt Russlands zum IWF für ungültig zu erklären. Die Autoren der Initiative schlagen außerdem vor, das 1992 in Washington unterzeichnete Protokoll über den Beitritt Russlands zur Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD)(*2) und zur Internationalen Entwicklungsorganisation(*3) zu kündigen.
Wie die Verfasser des Gesetzentwurfs betonten, verhinderte die Mitgliedschaft im IWF und in der IBRD nicht die Verhängung von Sanktionen gegen Moskau, und die Organisationen selbst verurteilten diese Beschränkungen nicht.
Ihrer Meinung nach zwingt die Teilnahme am IWF Russland dazu, eine Geldpolitik zu verfolgen, die ihm seine Währungsunabhängigkeit, insbesondere das Recht, den Rubel-Wechselkurs zu erhöhen oder zu senken, entzieht. Darüber hinaus verpflichtet sie Rußland darauf, den Wechselkurs des Rubel an eine Fremdwährung zu koppeln.
Die Initiative der Kommunisten wurde sofort scharf kritisiert. Laut dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ausschusses für Wirtschaftspolitik der Staatsduma Artjom Kirjanov (Einiges Russland) ist der IWF eine wichtige Verhandlungsplattform, daher sollte Russland die Struktur nicht verlassen. Noch kategorischer äußerte sich der Vorsitzende des Finanzmarktausschusses der Duma, Anatolij Aksakov. Er bezeichnete die Initiative zum Austritt aus dem IWF als »Unsinn«.
Kreditgeber, nicht Schuldner
Russland ist seit 30 Jahren Mitglied des IWF und trat im Juni 1992 der Weltfinanzorganisation bei.(*4) Insgesamt erhielt Moskau rund 22 Milliarden Dollar vom IWF, doch das Geld des internationalen Kreditinstituts braucht es schon lange nicht mehr.
Seit 2000 hat Moskau keinen Antrag mehr an den Fonds gestellt.“
Mit Putins Amtsantritt änderte sich offenbar sofort die Politik Rußlands gegenüber dem IWF. Das war nicht nur seine alleinige Entscheidung, sondern sicher auch eine Art Schlußfolgerung aus der Rubelkrise 1998.
„Und im Januar 2005 hat Rußland alle Schulden abbezahlt und fungiert seit langem als Gläubiger des IWF. Aber es geht nicht nur um Geld.
Wie Maria Konjagina, Professorin am Nord-West-Institut für Verwaltung der RANEPA, erklärt, ist die Mitgliedschaft in der Organisation nicht nur eine Gelegenheit, Kredite aufzunehmen, sondern auch, um die Probleme des globalen Währungssystems, das sich derzeit in einer Krise befindet, zu diskutieren und nach Lösungen für diese tiefe Krise zu suchen.“
Frau Kojagina weist damit indirekt darauf hin, daß sich im IWF nicht nur Rußland gegenüber „unfreundliche“ Staaten tummeln, sondern beinahe alle Staaten der Welt.
Immerhin ist er doch eine UNO-Organisation, auch wenn die USA das größte Gewicht darin haben.
Rußland will es also als Forum für seine Vorstellungen nutzen, nicht als Kreditorganisation.
„Sie weist auch darauf hin, dass die Verfasser des Gesetzentwurfs mit ihren Schlußfolgerungen hinsichtlich der Bildung des Rubel-Wechselkurses falsch liegen.
Die Mitgliedsländer können den Wechselkurs der Landeswährung durch Deviseninterventionen der Zentralbanken erhöhen und senken. Im Jahr 2014 hat Russland auf den Marktwechselkurs des Rubels umgestellt: Der Kurs wird durch den Tageshandel gebildet. Andererseits hängt der Wechselkurs vom Volumen des Devisenhandels ab.“
Es ist eben eine Entscheidung der russischen Finanzbehörden, was sie als „Devise“ ansehen, bzw. welchen Fremdwährungen sie den Vorrang geben:
„Daher hänge der Rubel-Wechselkurs von der Struktur des internationalen Handels- und Zahlungsverkehrs und damit von der Struktur der internationalen Reserven ab, da diese in einem entsprechenden logischen Zusammenhang gebildet würden, erklärte die Ökonomin.“
„Logisch“ heißt hier: Erstens aus dem Volumen, die die Handelsbeziehungen bisher hatten, zweitens aus der Bedeutung, die sie in Zukunft haben werden bzw. sollen – was breiten Spielraum für die Ausgestaltung des Devisenschatzes übrigläßt.
Die Bindung an andere Währungen ist jedoch eine Notwendigkeit, wenn man auf irgendeiner Art von Weltmarkt aktiv sein will. Darin unterschiedet sich das heutige Rußland von der Sowjetunion.
„Der IWF steht nicht außerhalb der Politik
Der IWF wird vor allem dafür kritisiert, dass diese Organisation, die sich lange Zeit als „außerhalb der Politik“ agierende Institution positionierte, bereits mehr als einmal ihre Prinzipien verraten hat.
Beispielsweise änderte der Fonds in den Jahren 2015 und 2023 die Regeln, um die Kreditvergabe an die Ukraine zu stärken und zu vereinfachen. Früher verlangte der IWF in der Regel vom kreditnehmenden Land, einen Plan oder eine Strategie für die Rückzahlung des Kredits vorzulegen, in Bezug auf die Ukraine war dies jedoch nicht erforderlich.
»Andere Länder, die in militärisch-politische Konflikte verwickelt sind oder Krisen erleben, haben ein solches Privileg nicht: Es gibt Doppelmoral gegenüber einzelnen Ländern«, sagt Jevgenyj Smirnov, Leiter der Abteilung für Weltwirtschaft und internationale Wirtschaftsbeziehungen der Staatlichen Universität für Management. Der IWF habe seinerzeit die Kreditvergabe an Russland davon abhängig gemacht, wie sehr es liberale Prinzipen einhalte, präzisiert der Experte.
Jaroslaw Ostrowskij, Spezialist in der Abteilung für strategische Forschung bei Total Research“ (einer privaten Beraterfirma für Unternehmen), „stimmt ihm zu.
»Die Ziele und Zielsetzungen dieser Kreditstrukturen (IWF und IBRD) sind nobel, nämlich: Hilfe für Entwicklungsländer, Vergabe von Krediten zu niedrigen Zinssätzen und so weiter. Aber tatsächlich stehen alle diese Organisationen auf die eine oder andere Weise unter der Kontrolle Washingtons und sind die Dirigenten seiner Finanzpolitik«, erklärte der Analyst.“
Hier merkt man deutlich, daß Entwicklung und Kreditvergabe in Rußland auch als gute Dinge angesehen werden, – allerdings nach anderen Kriterien, als sie der IWF verfolgt.
„Hebelwirkung
Dennoch stellt der IWF wie jede internationale Organisation den Teilnehmern bestimmte Einflusshebel zur Verfügung, deren Ablehnung im Allgemeinen keinen Sinn macht.“
Interessant, wie die in der sowjetischen Wirtschaftsplanung so wichtigen Hebel wieder auftauchen.
„Der IWF löst für Russland nun nicht so sehr die Funktion des Investierens als vielmehr des Aufbaus von Beziehungen zu neuen Ländern und der Durchsetzung seiner Politik, erklärt Veniamin Dajkov, geschäftsführender Gesellschafter der Anwaltskanzlei Perex. »Gegenwärtig brauchen wir den IWF nur für geopolitische Zwecke«, meint er.
Laut Veniamin Dajkov ist es aus mehreren Gründen unangemessen, über einen sofortigen Austritt aus der Organisation nachzudenken. Erstens wurde dort viel Geld investiert. Zweitens spielt der IWF in gewissem Sinne immer noch seine geopolitische Rolle. Drittens schließlich ist die BRICS-Bank noch nicht bereit, die den IWF vollständig ersetzen und den Fokus von West nach Ost verlagern könnte.“
Das hat sie aber offenbar vor.
Der IWF wird also von Rußland als eine Art Vehikel betrachtet, mit der man der BRICS-Bank auf die Sprünge hilft.
Irgendwann, so lautet anscheinend das Ideal, sollte dann der IWF bei der BRICS-Bank um Unterstützung betteln.
„Auf die Notwendigkeit einer Mitgliedschaft in der Organisation weist auch Maria Konjagina (RANEPA, St. Petersburg) hin. In diesem Fall könnte Russland den Zugang zu internationalen Statistiken verlieren und keinen Einfluss mehr auf die Lösung aktueller Weltwährungsprobleme haben. Die Integration in globale Finanzprozesse ist äußerst wichtig.“
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(*1) Im Frühjahr 1992 wurde Russland Mitglied des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank.
Den Beitritt Rußlands umgibt bis heute eine gewisse Aura des Geheimnisses. Er hing mit der Schuldenlösung nach der Auflösung der SU zusammen. Rußland als Rechtsnachfolger übernahm alle Passiva und Aktiva der SU. Der Vertrag mit dem IWF war also auch ein Vertrag über die Stellung Rußlands in der Weltpolitik, ebenso wie diverse Entscheidungen im UNO-Sicherheitsrat, mit denen es seine Rechtsnachfolge der SU unterstrich.
Wer den Vertrag letztlich unterzeichnete, läßt sich auf die Schnelle nicht herausfinden. Es scheint, daß der Oberste Sowjet damals noch existierte und diese Entscheidung absegnete.
Der Vorschlag der KP hat also darin ein gewisses Gewicht, daß schon der Beitritt von Personen und unter Umständen geschlossen wurde, die heute insgesamt in ein schiefes Licht geraten sind.
(*2) Die Gründung der IBRD als Teil der Weltbankgruppe wurde im Juli 1944 auf der Währungs- und Finanzkonferenz der Vereinten Nationen in Bretton Woods beschlossen, und am 27. Dezember 1945 wurde die IBRD gegründet. Am 25. Juni 1946 nahm die Bank mit 12 Milliarden US-Dollar Anfangskapital an ihrem Sitz in Washington, D.C. (USA) ihre Geschäftstätigkeit auf.
Die Bank wurde im Hinblick auf den für die Nachkriegszeit erwarteten großen Bedarf an langfristigem Kapital für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Mitgliedsländer geschaffen. Zunächst setzte sie ihre Mittel überwiegend für den Wiederaufbau Europas ein. Nach Beginn der amerikanischen Wirtschaftshilfe zu Gunsten Europas konnte sie sich ab Ende der 1940er Jahre auf die Entwicklungsländer konzentrieren. (Wikipedia)
(*3) „Die Internationale Entwicklungsorganisation ist eine Unterorganisation der Weltbankgruppe, deren Rolle die Armutsbekämpfung in Ländern mit besonders niedrigem Einkommensniveau ist.“ (Wikipedia)
(*4) Woanders steht überall: „Frühjahr“ oder „Mai“. Also sogar über das Datum des Beitritts herrscht Unklarheit.
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Siehe auch früher Einträge zum IWF:
Macris Schwanengesang? ARGENTINIEN BITTET DEN IWF UM KREDIT – 2018
Der IWF und die Eurokrise: FALSCHE VERSPRECHUNGEN UND VON WUNSCHDENKEN BESTIMMTE PROGNOSEN – 2014
Die Weltfinanzbehörde als etwas hilflose Krisenfeuerwehr: DER IWF, TEIL 8: DIE EUROZONE ALS SANIERUNGSFALL
Das Ende einiger Träume von Wohlstand und Prosperität: DER IWF, TEIL 7: DIE KREDITSTÜTZUNGSPAKETE VON 2008 FÜR UNGARN, RUMÄNIEN, LETTLAND
Die Weltfinanzbehörde läßt einen Musterschüler durchfallen: DER IWF, TEIL 6: ARGENTINIENS ZAHLUNGSUNFÄHIGKEIT 2002
Die Weltfinanzbehörde als Retter der Freiheit: DER IWF, TEIL 5: DIE ASIEN- UND RUSSLAND-KRISE 1997/98
Die Weltfinanzbehörde übernimmt den bisher unfreien Teil der Welt: DER IWF, TEIL 4: DIE AUFLÖSUNG DES OSTBLOCKS
„Priorität Krieg: Russland gerät mit seinen gigantischen Militärausgaben in einen Teufelskreis
Das russische Parlament steht vor der definitiven Verabschiedung des Haushalts für 2024. Noch nie seit dem Ende der Sowjetunion war der Anteil der Verteidigungsausgaben so hoch. Das hat seine Tücken.
Der russische Präsident Wladimir Putin lässt kaum eine Gelegenheit aus, zu betonen, dass Russland dem Sturm getrotzt habe, den die Sanktionen des Westens in den vergangenen zwanzig Monaten über die russische Wirtschaft gebracht hätten. Russland, so stellen er und seine zuständigen Minister es dar, befinde sich zwar in einer Transformationsphase. Aber diese sei sogar heilsam und biete ganz neue Möglichkeiten – in der Zusammenarbeit nach aussen und im Voranbringen der eigenen Fähigkeiten im Innern. Der Schock und seine Folgen gelten als überwunden.
Die Regierung demonstriert einen wirtschaftspolitischen Optimismus, der jedoch vom ewigen internen Rivalen, der Zentralbank, nicht unbedingt geteilt wird – und auch nicht von der Unternehmenswelt.“
Diese ganzen Mahnungen und das Schlechtreden der russischen Wirtschaft muß man vor den Hintergrund dessen stellen, was budgetmäßig im Westen, vor allem in den USA, vor sich geht. Gerade die Nationen, die ein international gültiges Geld herausgeben, sich also theoretisch unbegrenzt verschulden können, stoßen praktisch an Grenzen, die dem nur im Inland gültigen Rubel fremd sind.
Also von wegen Teufelskreis!
„Ein Drittel für die Verteidigung
Vieles daran kristallisiert sich am Staatshaushalt für das kommende Jahr. Das Budget für 2024, das die Regierung dem Parlament vorgelegt hat und das dieser Tage verabschiedet wird, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es ist von gigantischen Ausgaben und fast schon fahrlässig optimistisch eingeplanten Einnahmen geprägt. Vor allem aber macht es so deutlich wie nicht einmal die Reden des Präsidenten: Russlands Priorität zur Fortsetzung des Krieges gegen die Ukraine. Eine längerfristige Strategie aber fehlt – ja die Implikationen der Kriegswirtschaft bringen nach Ansicht von Experten Russland in einen Teufelskreis.“
Auch hier muß man sagen: Unter den Bedingungen des staatlichen Dirigismus, der in Rußland einen weitaus größeren Teil der Ökonomie beherrscht, wie z.B. die stets staatliche Rüstungsindustrie, kann Rußland auf Kriegswirtschaft umstellen, was den westlichen Staaten nicht möglich ist.
„Russland will 2024 36,6 Billionen Rubel (352,5 Milliarden Franken) ausgeben, das sind 22 Prozent mehr als in diesem Jahr. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bilanz stehen geplante Einnahmen von 35 Billionen Rubel (343 Milliarden Franken), ein Plus von 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In der Budgetplanung für die darauffolgenden zwei Jahre sind die entsprechenden Zahlen nur geringfügig kleiner. Auf mindestens drei Jahre hinaus rechnet Finanzminister Anton Siluanow mit einem jährlichen Budgetdefizit von mindestens 1 Billion Rubel.
Ein knappes Drittel der Ausgaben für kommendes Jahr macht allein der Posten «nationale Verteidigung» aus: 10,8 Billionen Rubel (105,7 Milliarden Franken) fliessen in die Armee und deren Bedürfnisse, was vor allem der Rüstungsindustrie zugutekommen wird. Eine Aufschlüsselung, wo das Geld genau ausgegeben wird, ist nicht öffentlich. Das sind rund 70 Prozent mehr als 2023 und entspricht 6 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Erstmals seit dem Ende der Sowjetunion übersteigen damit die Rüstungsausgaben die Sozialausgaben, die ebenfalls leicht angehoben und auf 7,5 Billionen Rubel (73 Milliarden Franken) veranschlagt werden.
Optimismus bei den Einnahmen
Auch sie haben mit dem Krieg zu tun: Darin eingerechnet sind unter anderem die Kompensationszahlungen für die Angehörigen Gefallener und für Kriegsinvalide – eine Geldverteilmaschine, die bereits dazu geführt hat, dass in Russland statistisch gesehen erstmals seit Jahren das real verfügbare Einkommen zugenommen hat. Nominal gleich viel Geld wie bis anhin geht in die Bildung und die Gesundheit – angesichts der Inflation entspricht das aber eher einem Rückgang als einer Stagnation. Für Subventionen in der Wirtschaft und für staatliche Investitionen steht sogar nominal weniger zur Verfügung.“
Jetzt ist die Ankurbelung der Rüstung eine einzige Subvention in die Wirtschaft, aber dennoch wird hier beklagt, daß man die zuwenig subventioniert.
Natürlich, in der Schweiz denkt man an die Unterstützung von Klein- und Mittelbetrieben und der Landwirtschaft.
Die Rüstungsindustrie ist dort eine Profitkuh.
„Zum Gesamtbild gehören zudem die 3,5 Billionen Rubel, die in den nichtmilitärischen Sicherheitsapparat fliessen, und die rund 660 Milliarden Rubel (6,5 Milliarden Franken), die für Wohnbau und Infrastruktur in den besetzten Gebieten in der Ostukraine ausgegeben werden sollen. Weitere Geldmittel für die annektierten Territorien sind nicht extra ausgewiesen, weil sie in den anderen Budgetposten bereits enthalten sind, etwa bei den Sozialausgaben.
Siluanow verhehlt nicht, dass dieses Budget ganz auf die Bedürfnisse des Krieges ausgerichtet und sehr eng kalkuliert ist. Es ist aber höchst fraglich, ob die hohen Einnahmen, mit denen die Regierung im nächsten Jahr rechnet, überhaupt erzielt werden können. Das liegt einerseits an den optimistischen Wachstumsprognosen, die von der Zentralbank nicht geteilt werden und leicht ins Wanken geraten könnten. Dann würden auch die berechneten Steuereinnahmen zurückgehen. Anderseits ist die Regierung offenbar davon überzeugt, dass der Erdölpreis-Deckel von derzeit 60 Dollar, den die westlichen Staaten beschlossen haben, ohnehin nicht funktionieren wird.“
Der funktioniert ja auch heute nicht. Darüber liest man allerdings in unseren Medien wenig. Die Berechnung der Russen ist daher richtig.
„Sie rechnet mit einem Erdölpreis von 71,3 Dollar und einem Rubelkurs von 90,1 zum Dollar. In dieser Rechnung kommt dem schwachen Rubel die Rolle zu, die Einnahmen zu erhöhen.
Kriegswirtschaft als Falle
Angesichts der westlichen Sanktionen und möglicher unvorhergesehener Auswirkungen auf den Erdölpreis halten es Experten für unrealistisch, die budgetierten Einnahmen zu erzielen. Klar ist schon jetzt, dass die Regierung an allen Ecken und Enden versucht, die Wirtschaft über Steuern und Abgaben so weit wie möglich auszupressen.“
Das ergibt sich aus der anderen Art von Verschuldungspolitik, wo Rußland sich nicht des internationalen Finanzkapitals bedienen kann – und auch nicht mehr will –, sondern auf die eigene Ökonomie verwiesen, bzw. Anleihen in den BRICS-Staaten auflegen will.
„Ein Beispiel dafür sind die neu eingeführten Exportzölle, die mit dem Rubel-Wechselkurs korrelieren und je nach Branche zwischen 4 und 10 Prozent des Exportwertes ausmachen. Sie wurden zwar zur Stützung des Rubelkurses und nur vorübergehend eingeführt, könnten aber auch verstetigt werden.“
Und?
Rußland kann dergleichen Zölle einführen, weil es sich nicht durch Freihandelsabkommen diese Möglichkeit versperrt hat.
Man erinnere sich, als Argentinien unter Kirchner dergleichen Zölle einhob, schrie die ganze Wirtschaftswelt auf und verurteilte diesen Angriff auf die heiligen Rechte des Eigentums.
„Seit Monaten steht zudem die Frage nach Steuererhöhungen für Unternehmen im Raum.
All diese Massnahmen zur Erhöhung der Einnahmen drohen aber zugleich die Wirtschaft zu bremsen – und das angestrebte Ziel damit zu gefährden. Auch die schwierige Lage am Arbeitsmarkt – die offiziell gemeldete Arbeitslosigkeit ist so tief wie noch nie, es fehlen Fachkräfte – drosselt das Wachstumspotenzial.“
Dieses Problem haben natürlich nur die Russen …
„Zugleich führt, wie die Zentralbank-Chefin Elwira Nabiullina immer wieder betont, die Ausgabenfreudigkeit“ (vermutlich ist gemeint: des Staates) „zur Ankurbelung der Inflation und zwingt damit die Notenbank zur Beibehaltung der restriktiven Geld- und Kreditpolitik. Über diese stöhnen wiederum viele Unternehmer und Konsumenten, weil sie ihren Handlungsspielraum einschränkt.
Für die Ökonomin Alexandra Prokopenko und den auf Militärfragen spezialisierten Politologen Pawel Lusin begibt sich Russland mit dem Primat des Krieges in der Wirtschaftspolitik in eine Falle, wie sie auf dem Online-Portal Carnegie Politika schreiben. Die enormen Ausgaben für Rüstung und Armeebudget liessen sich nur zum Preis einer Verarmung der Bevölkerung erkaufen. Hinzu komme, dass das Geld in eine Rüstungswirtschaft fliesse, die seit Jahren hochdefizitär und ineffizient sei.“
Über die „Ineffizienz“ der russischen Rüstungsindustrie stöhnen die ukrainischen Soldaten an der Front unter Dauerbeschuß …
„Zwar wird in den wieder zum Leben erweckten Rüstungsbetrieben nun rund um die Uhr gearbeitet, was auch zum Aufschwung der umliegenden Regionen und der Zulieferer führt.“
Zähneknirsch.
„Aber umso stärker treibt das die übrige Wirtschaft in den Teufelskreis.
Würde der Krieg gestoppt und wäre die Produktion im Akkord plötzlich nicht mehr nötig, fiele nach Meinung der beiden Autoren die russische Wirtschaft in eine Schockstarre. Insofern ist das Budget für die nächsten Jahre ein weiterer Beleg dafür, wie sehr Putin sein eigenes Schicksal und das seines Landes an die Fortsetzung des Krieges gegen die Ukraine – und in russischer Lesart: gegen den Westen – geknüpft hat.“
(NZZ, 14.11.)