Zu den diplomatischen Verwicklungen um den „Oppositionellen“ Nawalny

DISSIDENTEN-THEATER ODER: IMPERIALISMUS HEUTE
Älteren Leuten ist vielleicht noch in Erinnerung, wie in Zeiten des Kalten Krieges mit der Unterstützung von Dissidenten Stimmung gegen die Sowjetunion gemacht wurde. Nach der Ausbürgerung Solschenizyns, der sich nach seiner Ankunft im Westen bald als propagandistischer Flop entpuppte, war in den 80-er Jahren vor allem der Atomphysiker Andrej Sacharow in westlichen Medien populär.
Genüßlich wurden seine Leiden in der Verbannung in Gorkij (heute Nischni Nowgorod) ausgemalt, seine – in sowjetischen Zeiten leider ganz übliche – Verurteilung zu mehrmonatigen Psychiatrie-Aufenthalten, und an all dem wurde die Unmenschlichkeit des sowjetischen Regimes angeprangert. Man hatte fast den Eindruck, daß die Propagandisten des Freien Westens etwas enttäuscht waren, als er 1986, von Gorbatschow begnadigt, wieder nach Moskau zurückkehren konnte.
Es wäre allerdings damals niemandem eingefallen, die Sowjetunion quasi ultimativ aufzufordern, Sacharow freizulassen, oder einem westlichen Außenminister ein hochoffizielles Treffen mit ihm, bei Medienpräsenz, zu gestatten.
Damals steckte der EU-Imperialismus noch in den Kinderschuhen, und auch die größeren europäischen Mächte, sogar die USA wußten, daß sie sich mit einem solchen Ansinnen nur lächerlich machen würden.
Es wäre auch unangebracht gewesen, mit Sanktionen zu drohen, zu einer Zeit, als der COMECON einen eigenen Wirtschaftsraum darstellte, und die westlichen Staaten aus politischen Gründen sehr scharf darauf waren, mit den einzelnen Staaten dieses Blockes ins Geschäft zu kommen, um das Bündnis auf diese Art und Weise aufzuweichen.
Anders heute mit dem Berufspolitiker Nawalny, der in jeder Hinsicht ein kleineres Kaliber als Sacharow ist – der immerhin anerkannter Wissenschaftler war und eine beeindruckende Karriere hinter sich hatte, als er beschloß, seine Stimme gegen die Atombombe und für Menschenrechte zu erheben.
Nawalnys Beruf besteht inzwischen darin, laut zu rufen: Putin muß weg!, und mit allen Mitteln des Krakeels und der Medienshow auf eine ordentliche Parteienkonkurrenz in Rußland zu drängen, die ihn, Alexej Superstar, endlich zum Oberhaupt Rußlands machen soll.
Daß er damit eine Anhängerschar von jungen Unzufriedenen anspricht, die auf diese Art von Influencern abfährt, ist eine Sache.

Ewiger Frieden heißt ewiger Krieg

Aber die Politik des Westens, vor allem der EU, die unbedingt in diversen Staaten der Welt Regimewechsel herbeiführen will, ist die andere.
Der Imperialismus, also das Großmachtstreben der Europäischen Gemeinschaft, nimmt dabei immer absurdere Züge an.
Abgesehen davon, daß die Regimewechsel des letzten Jahrzehnts nicht wirkliche Erfolgsstories sind, auch was die angestrebte Einflußnahme in den solchermaßen mit neuen Oberhäuptern versehenen Weltgegenden angeht, ist die Methode als solche sehr gewalttätig und unbescheiden: Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ wird zwar unter dem Firmenschild Demokratie weiterhin als Rechtstitel auferhalten, der Inhalt ist jedoch klar: Unsere Statthalter sollen die in Staaten aufgeteilte Welt nach unseren Maßstäben und zu unserem Nutzen regieren.
Das ist einerseits die logische Konsequenz des mit dem Fall des Eisernen Vorhanges begrüßten „Endes der Geschichte“, wo mit dem zugunsten des Westens entschiedenen Systemgegensatz auch jeder Widerstand gegen die Marktwirtschaft als unrechtmäßig, „totalitär“, eingestuft worden ist. Europa, die USA und einige andere Verbündete werden die Welt beherrschen und alle werden vor uns zu Kreuze kriechen – das ist das Ideal, dem die alten und neuen Kolonisatoren anhängen. Wer sich dagegen wehrt, ist ein Bösewicht und muß weg.
Damit wird auch das nach 1945 weltweit durchgesetzte System der konzessionierten Souveränität auf seinen abstraktesten Inhalt zurückgeführt: Souveränität erhält ein Staat genau so viel, als er den vorgestellten Konzessionsgebern nützlich ist, die sich als „internationale Staatengemeinschaft“ zu den Normen setzenden Weltherrschern erklären.
Bei diesem Programm, das mit der Zerstörung Jugoslawiens relativ vielversprechend begonnen hatte, sind im Laufe der Zeit Störfaktoren aufgetreten. Der eine heißt Rußland, der andere China.
Bei ersterem Staat hat sich die Hoffnung zerschlagen, daß er sich durch innere Querelen und marktwirtschaftliche Elemente erstens auflösen und zweitens auf die Stufe eines Entwicklungslandes zurückfallen würde. Die enttäuschte Hoffnung, die in einem veritablen Feindbild mündet, heißt Vladimir Putin. Putin ist schuld, daß die Schwächung Rußlands nicht gelungen ist.
Während der Freie Westen gestärkt und seine Ansprüche immer überzogener wurden, als sich die SU und China in den 60-er und 70-er Jahren überwarfen, hat sich China heute zu einem neuen Ärgernis entwickelt, weil es imstande ist, die kapitalistischen Welthüter-Staaten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Mit einer gewinnorientierten Wirtschaft, einer gut ausgebildeten Bevölkerung und reibungslos funktionierender Infrastruktur hat es einen guten Teil der Produktion Europas und der USA an sich gezogen und verfügt deswegen sowohl über die Mittel als auch über die Absicht, ihnen zumindest auf gleich zu begegnen: Als Großmacht.
Die EU und die USA haben es mit ihrer Außenpolitik geschafft, daß sich China und Rußland wieder gut vertragen und zusammen inzwischen eine Art Gegenpol zu den angemaßten Weltherrschern bilden: Alle Staaten, die einen anderen Umgang mit ihrer Bevölkerung pflegen als den von den westlichen Mächten vorgesehenen, werden dadurch in die offenen Arme Chinas und Rußlands getrieben. Dort finden sich daher ehemalige Gegner und ehemalige Freunde mit ganz unterschiedlichen Gesellschaftssystemen wieder, wie Kuba, Venezuela, der Iran oder Nordkorea.
Die ganze Welt hat sich inzwischen in eine Art Aufmarschgebiet oder Hinterland für diesen Feldzug entwickelt, in dem mit Kriegen, neuer Seidenstraße, Protektionismus und einer immer erratischer wirkenden Außenpolitik (Stichworte: „Fuck the EU!“, Militäreinsatz gegen Flüchtlinge oder die Anerkennung eines Oppositions-Hampelmannes als Staatsoberhaupt) der Kampf dieser beiden Blöcke tobt, mit dem Versuch, die Staaten der Welt auf die eine oder die andere Seite zu ziehen.
Im Nahen Osten wird heute die Angelegenheit so betrachtet, daß der III. Weltkrieg längst am Laufen ist.

Der Außenbeauftragte der EU als verhinderter Königsmacher

Angesichts dieses Einsatzes und der vorhandenen Kräfteverhältnisse ist es mehr als lächerlich, daß sich die EU dann eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands anmaßt und beleidigt reagiert – „Die diplomatischen Beziehungen sind auf einem Tiefpunkt“ – wenn dieses Ansinnen mit der gebotenen Deutlichkeit zurückgewiesen wird.
Rußland verdirbt der EU die Show und zeigt ihr ihren Platz als zerstrittene Regionalmacht, die versucht, an einem gemeinsamen Feind Einheit zu demonstrieren, während einige ihrer Mitglieder gute Geschäfte mit ihm machen.
Alles natürlich mit der Waffengewalt der USA im Hintergrund.

10 Gedanken zu “Zu den diplomatischen Verwicklungen um den „Oppositionellen“ Nawalny

  1. Neues Protokoll zum Jour fixe vom 08.02.2021
    Die Krise in Weißrussland und der Fall Nawalny: „Das Ende der Ostpolitik?“ (GS 4-20)
    1. Fragen zum Protokoll vom 25.01. und zur „Krise in Weißrussland
    Zum alten Protokoll: „Die Opposition legt keine Programme vor, wie Ökonomie und Politik anders funktionieren sollen …“ und drei Absätze weiter: „Was da von diesen Figuren aufgemacht wird, sind alternative Staatsprogramme …“. Die beiden Aussagen scheinen mir konträr. Ich denke, dass die Führung der Opposition tatsächlich auf ein alternatives Staatsprogramm zielt, eine andere Verfassung von Staat und Ökonomie, das sich dann zusammenkürzt in der Position ‚Lukaschenko muss weg‘.
    Man muss unterscheiden: Das Eine ist, dass die Figuren, die als Präsidentschaftskandidaten angetreten sind, alle für einen Umsturz nach westlicher Machart stehen. Sie sind unzufrieden damit, wie der Staat ihr Geschäft behindert und sich nicht zum Agenten ihres kapitalistischen Vorankommens macht. An dem Programm der Opposition, das sie zwischenzeitlich hatten und das von der Ukraine abgeschrieben war, hat sich sehr deutlich gezeigt: Es soll auf eine antirussische Stoßrichtung, Regieren nach westlichem Vorbild und einen ordentlichen Kapitalismus hinauslaufen. Das Andere ist, dass sich dieses Interesse am Umsturz nicht als solches vorträgt, sondern unter dem Titel ‚Lukaschenko ist ein Wahlfälscher, verletzt damit den Volkswillen und muss deswegen weg‘ alle Unzufriedenheit im Land für sich instrumentalisiert. Die Stoßrichtung gegen Russland wird nicht programmatisch bekundet…. (…)
    2. Der Fall Nawalny
       — Nawalny ist Kreml-Kritiker. Seine politische Karriere begann er als Vorstand der „liberalen“ Partei Jabloko, die die Ideale der Marktwirtschaft und Demokratie hochhält, gegen die in Russland eingerissenen Zustände. Als Kritiker wird Nawalny vom Westen vereinnahmt zur Bestätigung des Vorwurfs, Putin widersetze sich diesen Idealen und damit den berechtigten Interessen der Wähler nach politischem Wandel. Mit der Vergiftung wurde der Oppositionspolitiker Nawalny zum Opfer des Putin-Regime stilisiert. So gewann er in Russland und im Westen eine Beachtung, die er mit der Jabloko-Partei mit ihrem mageren Stimmen von 1,7% nie erreicht hätte.
    Nawalny hat sich bei seinem politischen Aufstieg aller Hebel bedient, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dafür war ihm der Reformradikalismus der Jabloko-Partei genauso recht wie Mittel der USA, mit denen er eine Jabloko-Jugendorganisation aufgebaut hat, ebenso die Rechtsradikalen, die Fremde als Kakerlaken beschimpfen, weil ihretwegen der Russe nicht zu dem Seinen kommt. Bis er dann sein Thema Korruption fand. Im Resultat: eine skrupellose Politikerkarriere.
       — Soll „skrupellos“ ausdrücken, Nawalny geht es allein um den Erfolg, um die Macht?
    Das war ein Hinweis auf den politischen Opportunismus Nawalnys, der seinen Standpunkt „Russland hat Reformbedarf“ mit dem Reformradikalismus der Liberalen und dem Rechtsradikalismus kombiniert hat, um politischen Einfluss zu bekommen. Zu klären ist, was Nawalny mit dem Korruptionsvorwurf transportiert und was Korruption in Russland überhaupt ist. Es heißt sogar, in Russland ist Korruption die Regel, in Deutschland dagegen eher die Ausnahme. (..)
    3. Deutschland macht den Fall Nawalny zu seinem Fall (…)
    —-
    * Nächstes Mal (22.02.2021): Beruf Polizist (GS 4-20)
    https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/jf-protokolle/jf210208-Weissrussland%20und%20Nawalny.pdf

  2. “Einstweilige Anordnung” zur Freilassung Nawalnys
    Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte geht von Lebensgefahr für “Kreml-Kritiker” aus. Er selbst fühlt sich in russischer Haft laut Instagram-Post wie im Weltraum-Kinofilm
    Im Kolonialherrenstil (18.02.2021)
    In Berlin werden Forderungen nach neuen Sanktionen gegen Moskau laut: “Wir wollen einen Regimewandel”.
    BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – In den deutschen Herrschaftseliten schwellen die Forderungen nach neuen Sanktionen gegen Moskau und einem Aufwiegeln von Russlands junger Generation an. Man habe “gegenüber Russland … sehr große [Ziele]”, erklärt der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr: “Wir wollen … einen Regimewandel”. Die jüngsten Proteste von Anhängern des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, die aus Berlin koordiniert wurden, reichten noch nicht aus, um “die Stabilität des Regimes” zu gefährden, urteilt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Man könne allerdings auf die junge Generation (“Generation Putin”) setzen, in der viele gegenüber der Regierung kritisch eingestellt seien, schlägt ein Mitarbeiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung vor. Nawalny spreche insbesondere jüngere Menschen an; er verkörpere “einen neuen Politikertyp”. Der Mann, den die deutschen Eliten im Kolonialherrenstil in Russland an die Regierung zu bringen suchen, wird lediglich von einer kleinen Minderheit der russischen Bevölkerung unterstützt.
    “Wir wollen Regimewandel”
    Vor dem Treffen der EU-Außenminister am kommenden Montag, bei dem die grundsätzliche Positionierung der Union gegenüber Russland sowie die etwaige Ausweitung der Sanktionen auf der Tagesordnung stehen, dringen deutsche Think-Tanks in zunehmendem Maß auf schärfere Aggressionen gegenüber Moskau. Offen diskutiert wird unter anderem über Zwangsmaßnahmen. Während es etwa in einer Stellungnahme aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) heißt, die EU solle ihr vor kurzem eingeführtes”Menschenrechts”-Sanktionsregime [1] nutzen und es gegen noch auszuwählende “russische Amtsträger” in Anschlag bringen [2], rät der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, explizit von umfassenden Wirtschaftssanktionen ab. “Wenn man Russland wirklich wirtschaftlich in die Knie zwingen will”, erklärt Felbermayr, dann “kann Europa allein nicht so viel ausrichten, wie notwendig wäre”: Dann “bräuchte man … eine große Koalition von Ländern” – “zumindest auch China … und am besten noch Indien und weitere Handelspartner Russlands”. Felbermayr zeigt sich eher skeptisch: “Die Ziele, die wir gegenüber Russland haben, sind ja sehr große. Wir wollen ja nicht weniger als einen Regimewandel in Russland, das ist sehr schwer zu erreichen mit wirtschaftlichem Druck.”[3]
    Sehnsucht nach Instabilität
    Skeptisch geben sich deutsche Russland-Spezialisten auch bezüglich der jüngsten Proteste von Parteigängern des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, die aus Berlin koordiniert wurden – von Nawalnys Stabschef Leonid Wolkow, der Berichten zufolge seit mehr als einem Jahr “im Exil” lebt [4] und nach eigenen Angaben erst kürzlich Vertreter mehrerer EU-Staaten über “mögliche Sanktionen gegen Putin-Gefolgsleute” beriet [5]. Über die Proteste hieß es unlängst aus der vom Kanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), durch sie sei “die Stabilität des Regimes … kurzfristig nicht bedroht”: Sie niederzuschlagen sei “für die russische Nationalgarde eine lösbare Aufgabe”, zumal “die Zahl der Protestierenden … zu klein” und “die Proteste bislang friedlich und gewaltfrei” seien.[6] “Zu Gegenwehr von Demonstrantinnen und Demonstranten” sei es “bislang nur in Einzelfällen” gekommen; auch sei “eine Spaltung innerhalb der Elite, die eine wesentliche Voraussetzung für Instabilität wäre, … bislang nicht erkennbar”. Allerdings lade “der Kreml” sich mit der “massiven Repression” gegen die Proteste “für die kommenden Jahre eine schwere politische Hypothek auf”: Das Vorgehen der Polizei könne “bislang unpolitische Teile der Bevölkerung mobilisieren”.
    Die “Generation Putin”
    Dabei haben die Experten vor allem die jüngere Generation im Blick, die erst kurz vor oder sogar nach dem ersten Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin geboren wurde (“Generation Putin”). In der Tat sind die 18- bis 24-Jährigen die einzige Altersgruppe, in der laut einer Umfrage des Moskauer Lewada-Centers eine sympathisierende Haltung zu den Nawalny-Protesten (38 Prozent) gegenüber einer negativen Meinung (22 Prozent) überwiegt.[7] “In den Augen gerade vieler junger Russinnen und Russen” werde durch die Polizeirepression “die Legitimität der politischen Führung … irreparabel beschädigt”, heißt es entsprechend bei der SWP.[8] Prinzipieller urteilt etwa Stefan Meister, ein einstiger DGAP-Spezialist, der heute für die Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/Die Grünen) tätig ist: “Die ‘Generation Putin’ konsumiert nicht mehr das Staatsfernsehen und ist gegenüber staatlicher Propaganda ebenso skeptisch wie gegenüber den Behauptungen von Politikern. Sie informiert sich via Telegram und über ihre eigenen Netzwerke in den Sozialen Medien.”[9] Nawalny habe “über seine Kanäle in den Sozialen Medien eine direkte Verbindung zu diesen jungen Leuten aufgebaut” und damit zugleich “ein Netzwerk in die Regionen [Russlands, d. Red.] geknüpft”. Damit verkörpere er “einen neuen Politikertyp”.
    Impfstoff ohne Gegenleistungen
    Ergänzend zum Bestreben, Russlands junge Generation gegen die Regierung zu mobilisieren, schlägt die DGAP in einem aktuellen Papier mit Blick auf das EU-Außenministertreffen weitere Maßnahmen vor. So müsse die Union ihr Visaregime für russische Bürger liberalisieren – mit dem Ziel, nicht nur jüngeren Menschen, sondern auch der “Zivilgesellschaft” – gemeint sind offenbar prowestlich orientierte Milieus – die Einreise sowie damit den Aufbau von Beziehungen in die EU zu erleichtern.[10] Darüber hinaus könne man sich um weitere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gegen Russland bemühen, heißt es weiter; freilich ist damit zu rechnen, dass die Glaubwürdigkeit des EGMR ein wenig leidet, wenn er nach seiner Entscheidung vom Dienstag, keinerlei Einwände gegen den NATO-Bombenmord an einer dreistelligen Zahl afghanischer Zivilisten zu erheben (german-foreign-policy.com berichtete [11]), nun Polizeieinsätze gegen Demonstranten anprangert, wie sie auch im Westen üblich sind [12]. Insbesondere spricht sich die DGAP dafür aus, allgemein einen “muskulöseren Kurs” gegenüber Moskau einzuschlagen. Zwar sei “Kooperation in Gesundheitsfragen” erwünscht; die Union denkt nach ihrem Versagen bei der Covid-19-Impfstoffbeschaffung aktuell darüber nach, das russische Vakzin Sputnik V zu erwerben. Doch seien politische Gegenleistungen ausgeschlossen.
    Vertrauen bei fünf Prozent
    Während Berlin und Brüssel weiter für Nawalny agitieren, zeigt in der russischen Bevölkerung nur eine kleine Minderheit Sympathien für den Mann, der ihr Land nach dem Willen der EU möglichst regieren soll. Dies belegen aktuelle Umfragen des Moskauer Lewada-Instituts. Befragt, ob sie “Nawalnys Aktivitäten” billigten, antworteten demnach im Januar 19 Prozent mit “Ja”, dagegen 56 Prozent mit “Nein”.[13] Selbst unter den 18- bis 24-Jährigen war die Ablehnung mit 43 Prozent größer als die Zustimmung (36 Prozent). Übelgenommen wurde Nawalny insbesondere, dass er zu den Demonstrationen seiner Anhänger auch Schulkinder aufgerufen hatte – mit der Begründung, dort sei “was los”.[14] Faktisch trieb der Oppositionelle damit Minderjährige – wohl gezielt – in die Konfrontation mit der Polizei. Auf die offen formulierte Frage, welchem Politiker sie vertrauten, nannten lediglich fünf Prozent Nawalny, während einsamer Spitzenreiter mit 29 Prozent Wladimir Putin war. Zugleich gaben 64 Prozent der Befragten an, sie beurteilten Putins präsidiale Aktivitäten positiv; selbst unter den 18- bis 24-Jährigen stimmte dem mit 51 Prozent eine Mehrheit zu.[15] Damit entlarven die Umfragen die Regime Change-Bestrebungen Berlins als Politik im Kolonialherrenstil.

  3. Diese Vorstellungen, man könne in Rußland irgendwelche breiten Massen gegen die Regierung aufmischen, haben etwas von Rumpelstilzchen an sich.
    Sie dienen offenbar dem Betören der eigenen Bevölkerung, um Einfluß in der Welt vorzutäuschen, den man nicht hat.

  4. Heute ist es sogar dem Kommentator im österreichischen Fernsehen aufgefallen, was für eine zahnlose Alibihandlung die neuen Sanktionen der EU gegen Rußland sind, angesichts der Tatsache, daß sie sonst nichts zu melden hat.

  5. Man kann es ja auch anders rum sehen: Die EU zeigt Rußland so, daß sie im großen Ganzen mit den Beziehungen zufrieden ist und nicht gewillt ist, mehr als die lächerlichen “Zeichen” zu setzen. (Was natürlich auch daran liegt, daß die EU ja nun wirklich nicht zu wesentlich schmerzhafteren Schritten greifen kann, selbst wenn sie das wollte.)

  6. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß du recht hast, aber es wäre dann wirklich der Gipfelpunkt der Lächerlichkeit, wenn die EU dauernd eine große Lippe riskiert, und sich in Rußlands innere Angelegenheiten versucht einzumischen, um den USA zu zeigen, daß sie eh gute Verbündete sind, und gleichzeitig die Russen zu beschwichtigen: Ist eh alles nur Show!

  7. EU will neue Strafen
    Fall Nawalny: Außenminister einigen sich auf Maßnahmen gegen Moskau
    Die EU-Außenminister haben neue Sanktionen gegen Russland wegen einer gerichtlichen Bestätigung eines Urteils gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny auf den Weg gebracht. Es gebe eine Grundsatzeinigung auf neue Strafmaßnahmen, erfuhr die Nachrichtenagentur AFP am Montag von Diplomaten in Brüssel.
    Übereinstimmenden Angaben zufolge sollen vier Verantwortliche für Nawalnys Inhaftierung und Verurteilung belangt werden. Die EU will dabei erstmals ihren neuen nach US-Vorbild geschaffenen Sanktionsrahmen gegen Menschenrechtsverletzungen einsetzen, wie ein Diplomat nach den Ministerberatungen zu Russland sagte.
    Ein russisches Gericht hatte am Sonnabend bestätigt, dass eine zuvor ergangene Umwandlung einer Bewährungsstrafe in eine Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren rechtens war. Es geht dabei um eine Verurteilung Nawalnys aus dem Jahr 2014 wegen Veruntreuung.
    Nach dem mutmaßlichen Giftanschlag auf den Oppositionellen im Sommer hatte die EU bereits sechs Russen auf ihre Sanktionsliste gesetzt, ohne dass Beweise für die Anschuldigungen vorgelegt worden wären. Unter ihnen waren der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko, und der Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Bortnikow.
    Die Sanktionen wegen Nawalnys Inhaftierung und Verurteilung müssen nochmals konkret beschlossen werden. Erst dann werden die Namen der Betroffenen veröffentlicht, gegen die dann Einreiseverbote in Kraft treten und deren mögliche Vermögen in der EU eingefroren werden. Russlands EU-Botschafter Wladimir Tschischow hatte vor neuen Sanktionen gewarnt. Falls diese verhängt würden, »werden wir vorbereitet sein zu antworten«, sagte er der Welt.
    Unterdessen hat die EU bereits weitere Sanktionen gegen die Regierung von Venezuelas Präsident Nicolás Maduro verhängt. Wie der EU-Rat am Montag mitteilte, beschlossen die Mitgliedstaaten Einreise- und Vermögenssperren gegen 19 Militärangehörige, Richter, Beamte und Abgeordnete. Als Gründe wurden schwere Menschenrechtsverletzungen, die Einschränkung von Oppositionsrechten bei der jüngsten Parlamentswahl und die Untergrabung der demokratischen Arbeitsmöglichkeiten des Parlaments genannt. (AFP/jW)
    Moskau kritisiert EU-Sanktionen
    Moskau. Russland hat nach neuen Sanktionen der EU wegen der Inhaftierung des Oppositonellen Alexej Nawalny mit Konsequenzen gedroht. Dies werde von russischer Seite nicht unbeantwortet bleiben, sagte der Chef des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Leonid Sluzki, am Montag abend in Moskau der Agentur Interfax zufolge. Details nannte er nicht. Die Strafmaßnahmen im Fall Nawalny seien ein »weiterer Schritt zur Verschlechterung der Beziehungen zu Russland«. Sluzki warf Brüssel vor, einen Dialog mit Moskau konsequent abzulehnen – »und zwar aus absolut weit hergeholten und provokativen Gründen«. »Das kann in keiner Weise zu einer Normalisierung beitragen«, meinte der Außenpolitiker. Zuvor hatten sich die Außenminister der EU-Staaten darauf geeinigt, mit den notwendigen Vorbereitungen für neue Strafmaßnahmen zu beginnen. Dafür soll nach Angaben aus Brüssel ein neues Sanktionsinstrument genutzt werden. Dieses ermöglicht es, in der EU vorhandene Vermögenswerte von Akteuren einzufrieren. Zudem würden unter anderem EU-Einreiseverbote verhängt. Hintergrund sind mehrere Gerichtsverfahren gegen Nawalny. (dpa/jW)

  8. Schlag ins Kontor
    Amnesty International erkennt Alexej Nawalny Status als »Gewissensgefangener« ab. Grund: Frühere rassistische Publikationen
    Von Reinhard Lauterbach
    Im Lager der Anhänger Alexej Nawalnys hat eine Entscheidung von Amnesty International (AI) für Empörung gesorgt: Die Menschenrechtsorganisation entzog dem russischen Oppositionellen den Titel eines »Gewissensgefangenen« (englisch: »Prisoner of conscience«, im Deutschen wird auch der Begriff »gewaltloser politischer Gefangener« verwendet). Der Regionaldirektor von AI für Europa und Zentralasien, Denis Kriwoschejew, bestätigte am Mittwoch, dass diese »interne Entscheidung« gefallen sei. Sie ändere aber nichts daran, dass sich AI weiter für Nawalnys Freilassung einsetzen werde. Dessen Anhänger äußerten die Vermutung, dass Amnesty – in den 1960er Jahren mit Hilfe des britischen Geheimdiensts gegründet und in der Regel ein verlässlicher Helfer westlicher Imagekampagnen – zum Opfer »russischer Staatspropaganda« geworden sei.
    Die Aberkennung des »Ehrentitels« wurde mit rassistischen Veröffentlichungen Nawalnys aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts begründet. Sie liegen vor seiner »demokratischen Wende« infolge seines Aufbaustudiums im »World Young Leaders«-Programm der US-Eliteuniversität Yale anno 2010. Tatsächlich hatte wohl eine Autorin, die auch eine Kolumne auf RT schreibt, die alten Aufnahmen ausgegraben und nach Art der sozialen Netzwerke skandalisiert. In den Videos hatte Nawalny unter anderem die Angehörigen von Russlands nordkaukasischen Nationalitäten mit Ungeziefer verglichen und empfohlen, sich gegen »Insekten, die größer sind als Küchenschaben«, mit der Pistole zur Wehr zu setzen. Bekannt sind auch Äußerungen Nawalnys, dass sich »weiße« Frauen nachts nicht mehr auf die Straße trauen könnten, wenn die Zuwanderung aus den muslimischen Regionen ins Innere Russlands anhalte. Dass der russische Oppositionelle eine Zeitlang offen solche rassistischen Positionen vertreten hat, ist seit langem kein Geheimnis; sie widersprechen allerdings der AI-internen Anforderung an »Gewissensgefangene«.
    Unterdessen ist der Versuch von Nawalnys Organisation, eine Außenstelle im nordkaukasischen Dagestan zu errichten, offenbar vorerst gescheitert. Der designierte Regionalleiter der »Stiftung gegen die Korruption«, Ruslan Abljakimow, wurde am vergangenen Wochenende am Rande der Regionalhauptstadt Machatschkala von einer Gruppe »sportlich gebauter junger Männer« heftig verprügelt und aufgefordert, die Region innerhalb eines Tages zu verlassen. Was er dann auch tat, um sich in Moskau medizinisch behandeln zu lassen. Außerdem beklagte er sich gegenüber dem von Michail Chodorkowski finanzierten Internetportal Medusa in einem am Dienstag veröffentlichten Beitrag, dass ihm niemand in der Stadt Räume für die Geschäftsstelle der Stiftung habe vermieten wollen.
    Abljakimow ist dabei kein örtlicher Basisaktivist, sondern das, was man in Russland einen »politischen Fallschirmspringer« nennt. Medusa schreibt, er habe Nawalny nach seinem Bachelorstudium des Tourismus in Kasan in Nowosibirsk kennengelernt und sich seiner Organisation angeschlossen. Das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Die Instagram-Seite des jungen Mannes verrät noch mehr: Sie nennt sich @crimeantatarofprotest und zeigt eine Reihe von Selfies mit der Silhouette von Kiew im Hintergrund.
    Tatsächlich wäre die Idee von Nawalnys Organisation, ausgerechnet im Nordkaukasus Fuß fassen zu wollen, vom Standpunkt des Parteiaufbaus her waghalsig und ist wohl nicht besonders prioritär. Schließlich hat Nawalny die Bewohner der Region jahrelang in der oben beschriebenen Weise beschimpft, entsprechend ist die Zahl seiner Unterstützer dort überschaubar. Die von der prowestlichen und in Russland als »ausländischer Agent« eingestuften Gedenkorganisation »Memorial« gegründete und über deutsche Mobilfunknummern erreichbare Seite ­kavkazuzel. eu (»Kaukasischer Knoten«) sprach von nur 15 Demonstranten Ende Januar in Machatschkala. Wer im Nordkaukasus, Russlands Armutsgürtel, eine Fundamentalopposition aufzumachen versucht, rührt an die Pandorabüchse des Separatismus und weiß, was er tut. Es stellt sich die Frage, wer daran interessiert sein kann, dieses Fass wieder aufzumachen. Sicher nicht nur Abljakimow, der in einem nach seiner fluchtartigen Abreise aufgenommenen Video allen »Einheitsrussen« drohte, sie »zur Verantwortung zu ziehen«.

  9. Nawalny hat in seinem Prozeß Mitglieder des Gerichtes übel beschimpft, in einer Art und Weise, die Šešelj vor dem Haager Tribunal matt erscheinen lassen.
    Es kann sein, daß Amnesty diese Kartoffel ein bißl zu heiß ist und die Organisation befürchtet, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn sie Nawalny unter ihre Fittiche nimmt.
    Die früheren rassistischen Äußerungen von ihm, die er auf Ratschlag seiner Mentoren inzwischen bleiben läßt (nicht, weil er seine Meinung geändert hätte), dienen Amnesty vermutlich nur als Vorwand, um die Entscheidung zu begründen.

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