Die politischen und rechtlichen Folgen der Coronakrise

WER DARF WAS? – DIE REISEFREIHEIT, DIE GRUNDRECHTE, DIE VERFASSUNGEN UND DIE EU
Es stellt sich heraus, daß die Coronavirus-Pandemie auch in und zwischen den Staaten einiges durcheinanderbringt.
Der Schengenraum und die Reisefreiheit in der EU müssen neu definiert werden.
Muß man frische CV-Tests mitbringen, um wo einreisen zu können?
Mit was für Recht werden Einreisende unter Quarantäne gestellt?
Wer sorgt für im Ausland gestrandete Bürger?
Dürfen die einreisen, mit oder ohne Test?
Wer trägt die Kosten für Tests und Quarantäne?
Welche Tests werden anerkannt? Welche Behörden verfügen das, und was für Anforderungen stellen die?
Entscheidet das die EU oder die regionale Regierung?
Oder wird ab einem Stichtag alles aufgehoben? Wer ist dann für die Risiken verantwortlich?
Gegen die Gemeinde Ischgl und die Tiroler Landesregierung wurden Klagen eingereicht. Da werden Präzedenzfälle geschaffen, weil wer kann für was verantwortlich gemacht werden?
Für alle diese Themen gibt es hier eine eigene Pinnwand.

11 Gedanken zu “Die politischen und rechtlichen Folgen der Coronakrise

  1. Was auch sehr wichtig ist: Inwiefern erlaubt die EU wieder Verstaatlichungen bzw. staatliche Beteiligungen?
    Irgendso etwas wird notwendig werden bei der Frage der Fluglinien, weil sonst bleibt ein Haufen Staaten ohne nationale Fluglinie und der nationale Standort kann dann mehr oder weniger zugesperrt werden, da weder Märkte noch Zulieferer noch Exportfirmen oder Importeure irgendwie betreut werden können.

  2. Schon v o r Corona waren Entscheidungen für oder gegen “Staatseingriffe” in Brüssel umstritten, wie ein Streit um die Förderung des schnellen Internets (Glasförderausbau) zeigt:
    “Die Kommission befürchtet, dass das Förderprogramm den Wettbewerb verzerren würde: „Es besteht ein Risiko, dass Deutschlands Pläne nicht den Ausbau beschleunigen, sondern lediglich private Investitionen ersetzen“.
    (…) Im Kern lautet die Streitfrage: In welchen Gebieten soll der Glasfaserausbau staatlich gefördert werden? Prinzipiell bekennt sich die Regierung zum Prinzip des eigenwirtschaftlichen Ausbaus, der Staat solle nur dort zuschießen, wo der Markt versagt – beispielsweise in Gebieten, die so dünn besiedelt sind, dass private Investitionen sich nicht rentieren würden.
    Die Streitfrage lautet, ab wann man von Marktversagen spricht. Genauer: Wie langsam muss das Internet sein, damit der Staat eingreift?”
    https://www.euractiv.de/section/europakompakt/news/glasfaserfoerderung-deutsch-deutscher-zwist-in-bruessel/
    Geachtet werden solle darauf, dass staatliches Geld die Gelegenheiten zum privaten Gewinnemachen nicht würde verdrängen dürfen. Super wäre also, die Allgemeinheit trägt die Schulden, die Unternehmen sind danach schuldenfrei, und können sich weiter als Gewinnmaschinen für ihre Aktionäre betätigen.
    Bis dann zur nächsten Krise, etcpp – und danach dann wieder genau dasselbe Karrussell ….
    Verstaatlichungen wären demzufolge verboten, “Staatsbeteiligungen” aber vermutlich auch dann, wenn dadurch potentielle europäische Investoren sich würden geschädigt sehen können. Potentiell…
    Chinesische potentielle Groß-Investoren allerdings so vom europäischen Markt fernhaften zu sollen, scheint zwar staatlich eher Konsens zu sein. Von wegen Sicherheitsbedenken etc.
    Viele europäischen Unternehmer sehen die Sachlage ganz weltoffen ein bissel anders
    https://www.spiegel.de/wirtschaft/service/wirtschaft-bdi-gegen-schaerfere-pruefung-chinesischer-investoren-a-979c3101-997e-4245-9d34-a97c1feef94d
    Leitfaden und Standard europäischer staatllicher Krisenpolitik also: europäisches Geld soll Mittel sein für europäisches Gewinnemachen. Und das fördert so diejenigen Unternehmen, die allein schon aus ihrer Größe heraus sich europäische Markterschließung profitabel leisten können, – also europäische Multis aus europäischen Metropolen.

  3. Mit dieser Privatisiererei schaufelt sich die EU ihr eigenes Grab, weil immer mehr Produktion ausgelagert und dadurch in der EU vernichtet wird.
    Zu dem Begriff „Marktversagen“ eine Anekdote: Vor 6 Jahren habe ich in Maglaj in Bosnien dieses Photo gemacht:

    Am Eingang zu dem Einkaufszentrum saß eine alte Bettlerin, drinnen waren 2 Verkäuferinnen und eine Putzfrau. Ich glaube, das einzige offene Geschäft war ein Kleidungsgeschäft für Kinderkleidung, dort waren die 2 Verkäuferinnen. Keine Kundschaft.
    Ich habe das Photo einem Freund als Illustration für irgendeine neoliberalismuskritische Publikation geschickt.
    Er untertitelte es „Marktversagen“.
    Ich denke mir, eigentlich könnte man genauso schreiben: Marktdurchsetzung.
    Wenn man alles dem Markt überantwortet, so heißt das eben, daß die Schwachen untergehen.

  4. Katalysator Corona
    In der Pandemie sortiert sich der Kapitalismus neu – die Linke muss es auch tun. Die Krise treibt faschistischen Kräften neue Massen zu
    Von Stefan Huth
    Der globalen Wirtschaft droht ein Schlag ins Kontor, möglicherweise sogar der Kollaps. Es ist bereits einige Wochen her, dass der Weltwährungsfonds vor einem »riesigen« Schock für die Weltökonomie warnte. IWF-Chefin Gita Gopinath verband ihre Wirtschaftsprognose Mitte April mit der Vermutung, 2020 werde die schlimmste Rezession seit der Großen Depression in den 1930er Jahren bringen. »Diese Krise ist wie keine andere bisher«, so ihre Einschätzung.
    Düstere Perspektiven zeichnen sich ab: Allein in den 27 EU-Staaten wurde für rund 42 Millionen Menschen Kurzarbeit beantragt. Aktuellen Schätzungen des großen Kreditversicherers Euler Hermes zufolge wird die Coronapandemie doppelt so viele Firmenpleiten nach sich ziehen wie die Finanz- und Wirtschaftskrise 2009. Der Volkswagen-Konzern teilte Anfang des Monats mit, er habe im ersten Quartal nur zwei Millionen Fahrzeuge ausliefern können – 23 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Nach Darstellung der Branche von Mitte April wird jeder dritte Hotel- und Gastronomiebetrieb hierzulande pleite gehen, stünden insgesamt rund 70.000 Unternehmen vor dem Bankrott. Es sind dies Prognosen auf unsicherer Datenbasis, denn die ökonomische Entwicklung hängt hierorts wie weltweit von der weiteren Entwicklung der Seuche ab – und da gibt es Unwägbarkeiten sonder Zahl, nicht nur in puncto Dauer (»zweite Welle«) und betroffene Regionen, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung wirksamer Impfstoffe bzw. Medikamente.
    ——–
    Aluhutproteste in Spanien
    Rechte demonstrieren in Madrid. Innenministerium befürchtet »Aufruhr« wegen Coronakrise
    Von Carmela Negrete
    Ausgerechnet in Madrid formiert sich derzeit eine reaktionäre Bewegung, die die Coronapandemie leugnet – an einem der am meisten vom neuartigen Coronavirus betroffenen Orte Spaniens. Wochenlang waren die Krankenhäuser der Hauptstadt überlastet, provisorische Kliniken mussten gebaut und Gebäude zu Leichenhallen umfunktioniert werden. Bisher sind es vor allem Dutzende Rechte und Bewohner des Reichenviertels Salamanca, die seit Anfang der Woche täglich für einen Rücktritt der Regierung demonstrieren, ohne dabei den vorgegebenen Mindestabstand einzuhalten. Für sie handelt es sich bei der Coronapandemie um eine kommunistische Verschwörung, mit dem Ziel, den Spaniern ihre Freiheit zu nehmen.
    Mit der Präsidentin der Region Madrid, Isabel Díaz Ayuso von der rechten Volkspartei PP, haben die Protestierenden eine mächtige Verbündete. Am Mittwoch warnte sie zudem die Zentralregierung vor noch größeren Demonstrationen: »Sobald die Menschen auf die Straße dürfen, wird Ihnen der jetzige Protest wie ein Witz vorkommen.« Für den 23. Mai ruft die faschistische Vox-Partei in Madrid zu einem Autokonvoi »für Spanien und seine Freiheit« auf.
    Obgleich die Ausgangssperre mit dem Rückgang der täglichen Anzahl von Neuinfektionen vor zwei Wochen gelockert wurde und auch alle Menschen wieder arbeiten gehen »dürfen«, sehen die Protestierenden ihre wirtschaftliche »Freiheit« in Gefahr. Seit Freitag gilt in Spanien zudem eine zweiwöchige Zwangsquarantäne für in das Land Einreisende – viele fürchten nun noch mehr um den diesjährigen Tourismus, eine der Haupteinnahmequellen des Landes. Am Dienstag zog Konsumminister Alberto Garzón von der Vereinigten Linke (IU) die Wut der Tourismusbranche auf sich, nachdem er den spanischen Tourismussektor als »prekär und saisonal« sowie »nur gering wertschöpfend« bezeichnete. Dabei hatte Garzón, der auch Mitglied der kommunistischen PCE ist, eigentlich nur die besorgniserregende Wirtschaftslage beschrieben.
    Zeugen der Lage, in dem sich der spanische Tourismus befindet, sind große Teile der in den vergangenen Wochen zum Heer der Erwerbslosen Hinzugestoßenen – mehr als eine halbe Million seit März. Der Großteil ihrer Verträge war befristet gewesen, weshalb sie nicht in das Kurzarbeitergeldprogramm aufgenommen werden konnten, das die Regierung im großen Stil aufgestellt hat. Bereits 3,3 Millionen Spanier profitieren von der Maßnahme, die IU-Arbeitsministerin Yolanda Díaz zu verantworten hat.
    Unterdessen deckte die katalanische Tageszeitung La Vanguardia am Mittwoch ein internes Papier des Innenministeriums auf, in dem das Amt vor Demonstrationen, »Aufruhr« und »Kriminalität« durch Unabhängigkeitsbefürworter warnt. Darin heißt es, die paramilitärische Polizei »Guardia Civil« befürchte, dass es im Rahmen der Coronakrise mit »hoher Wahrscheinlichkeit« zu »Sabotageakten« und Auseinandersetzungen mit »Independentistas« kommen werde. Getragen würden solche Proteste insbesondere von den Ärmsten, da die kommende Wirtschaftskrise »die am stärksten Benachteiligten, die ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen könnten«, treffen werde.
    Vor allem katalanische Politiker hatten in den letzten Wochen signalisiert, dass sie nicht mit dem Krisenmanagement der Zentralregierung einverstanden sind. Sprecher der Republikanischen Linken (ERC) warfen Madrid vor, die Regierung von Katalonien während der Krise faktisch entmachtet zu haben, weshalb die Partei am Mittwoch der vergangenen Woche auch ihren ungeschriebenen Pakt mit der Zentralregierung aufkündigte und gegen die Verlängerung des »Alarmzustands« stimmte.

  5. Während ich den endlosen „Katalysator“-Artikel auch gekürzt habe – bei dem in leicht hysterischen Tonfall alles angesprochen, aber nix ausg’redt wird, – hat der „Aluhut“-Artikel über Spanien eigentlich einen anderen Inhalt, als die Überschrift vermuten läßt.
    Der spanische Regionalismus und die zersplitterte Parteienlandschaft erhalten nämlich durch die Coronakrise ziemlichen Zündstoff.
    Es ist, was den ersten Artikel angeht, mit diesen Weltuntergangs-Getöse und den Aufrufen an die (imaginäre) Linke, doch endlich den A…h hochzukriegen, wirklich niemandem gedient.

  6. WHO-Konferenz gestartet
    Kritik von UNO an »uneinheitlicher Reaktion« auf Pandemie. China spendet weitere zwei Milliarden US-Dollar – USA schweigen
    Appelle und Kritik haben am Montag den Auftakt der WHO-Tagung zur Coronapandemie geprägt. UN-Generalsekretär António Guterres kritisierte die uneinheitliche Reaktion der »Weltgemeinschaft« und beklagte, viele Länder hätten »die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ignoriert«. Die Pandemie solle ein »Weckruf« für die Welt sein. Die Krise müsse genutzt werden, um gerechtere und nachhaltigere Wirtschaftssysteme aufzubauen, sagte der UN-Generalsekretär. Die Konferenz findet wegen der Coronapandemie in diesem Jahr erstmals virtuell statt und wurde außerdem auf zwei Tage verkürzt.
    China hat unterdessen angekündigt, im Falle einer erfolgreichen Impfstoffentwicklung gegen das neuartige Coronavirus das Mittel weltweit zur Verfügung zu stellen. Sollte China einen Impfstoff entwickeln, werde Beijing diesen zu einem »weltweiten Gut der Allgemeinheit« machen, sagte Präsident Xi Jinping am Montag in einer Videobotschaft an die WHO in Genf. Damit solle der Impfstoff auch für Entwicklungsländer verfügbar und bezahlbar gemacht werden. Xi kündigte außerdem an, der WHO im Kampf gegen die Coronapandemie weitere zwei Milliarden US-Dollar bereitzustellen.
    Beijing unterstütze Bestrebungen, die weltweite Reaktion auf die Pandemie »umfangreich zu bewerten«, nachdem diese unter Kontrolle gebracht sei, sagte Xi. Er versicherte, sein Land sei »immer offen, transparent und verantwortungsvoll« im Umgang mit dem Virus gewesen und habe seine Erkenntnisse zügig mit der internationalen Gemeinschaft geteilt.
    Überschattet werden die Beratungen von der aggressiven Haltung Washingtons gegenüber China. US-Präsident Donald Trump hatte der WHO Einseitigkeit zugunsten der Volksrepublik vorgeworfen und die Zahlungen seines Landes an die Organisation eingestellt. Weiterhin gibt er Beijing die Schuld an der Pandemie. Die USA überließen das Feld in der Auftaktsitzung am Montag den anderen, niemand aus Washington stand mit einem Redebeitrag zur Verfügung.
    WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus versprach in seiner Rede eine unabhängige Untersuchung zum »frühesten geeigneten Zeitpunkt«. Kritik am Umgang der WHO mit dem neuartigen Coronavirus wies er zurück. Die WHO habe nach dem Auftreten des Virus »früh Alarm geschlagen«, sagte Tedros. (AFP/dpa/jW)

  7. Trump droht mit WHO-Austritt
    US-Präsident attackiert Weltgesundheitsorganisation und China. Resolution zu Impfstoffverteilung und Untersuchung der Pandemie beschlossen
    Mit neuen Attacken gegen die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Volksrepublik China hat US-Präsident Donald Trump die Gespräche zur Bewältigung der Coronakrise dominiert. Auf der Jahrestagung der WHO wurde am Dienstag während einer Videokonferenz eine Entschließung verabschiedet, die sich für eine gerechte Verteilung eines Impfstoffs gegen das neuartige Coronavirus einsetzt, sobald dieser auf dem Markt ist. Die Schlagzeilen bestimmte aber der US-Präsident mit seiner Drohung, die Beitragszahlungen an die WHO dauerhaft zu stoppen und aus der Organisation auszutreten.
    Trump veröffentlichte am Montag abend im Kurznachrichtendienst Twitter Bilder eines Briefes an WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, in dem er »substantielle Verbesserungen« in der Arbeit der Organisation forderte. Er bezeichnete letztere zudem als »Marionette Chinas«. »Es ist klar, dass die wiederholten Fehltritte von Ihnen und Ihrer Organisation bei der Reaktion auf die Pandemie die Welt äußerst teuer zu stehen gekommen sind«, schrieb Trump an den WHO-Generaldirektor. Sollte die UN-Sonderorganisation die geforderten Änderungen nicht in den nächsten 30 Tage vornehmen, werde Washington die Beitragszahlungen dauerhaft einstellen, warnte der US-Präsident. Außerdem werde seine Regierung in diesem Fall ihre Mitgliedschaft in der WHO »überdenken«. Eine Reaktion der Organisation auf Trumps Brief gab es bis jW-Redaktionsschluss nicht.
    In der am Dienstag einstimmig angenommenen, aber rechtlich nicht bindenden Resolution wird ein (bzw. eine) »weltweiter, zeitnaher und gerechter Zugang und ebensolche Verteilung« von Impfstoffen und Medikamenten gegen die Krankheit Covid-19 verlangt, die durch den neuen Erreger SARS-CoV-2 ausgelöst werden kann. Grund dafür ist die berechtigte Sorge ärmerer Länder, dass die reichen Nationen in der Krise zunächst nur die eigene Bevölkerung damit versorgen.
    Zudem beschlossen die WHO-Mitgliedstaaten mit dem Dokument eine unabhängige Untersuchung der Reaktion auf die Coronaviruspandemie. Ziel der Analyse solle es sein, Lehren aus der Pandemie zu ziehen und Empfehlungen zu geben, um die Welt und die einzelnen Staaten besser gegen künftige solche Infektionswellen zu rüsten, sagte der WHO-Generaldirektor Tedros. (AFP/dpa/jW)

  8. Die Pandemie als welthistorische Wende (27.05.202)
    Innere Brüche und deutsche Dominanz gefährden Zusammenhalt der EU. EU-Außenbeauftragter diagnostiziert Wende zum “asiatischen Jahrhundert”.
    BERLIN (Eigener Bericht) – Zunehmende Fraktionierungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU überschatten die für heute angekündigte Präsentation eines Hilfsplans der EU-Kommission für den Kampf gegen die Coronakrise. Grundlage der Kommissionspläne ist ein deutsch-französischer Kompromiss, der von Italien kritisiert wird, da er quantitativ nicht ausreicht, um dem Land aus der Krise zu helfen. Gleichzeitig wird er von diversen anderen EU-Staaten als zu großzügig attackiert. Darüber hinaus zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Bundesrepublik deutsche Firmen so massiv unterstützt, dass diese nach dem Ende der Krise ihre Marktdominanz wohl noch ausweiten können. Das wiederum verstärkte das bestehende Ungleichgewicht in der Eurozone so weit, dass der Bestand der EU in Gefahr geriete. Prominente Stimmen, darunter etwa der Finanzinvestor George Soros, warnen offen vor dem Zerfall der Union – zu einem Zeitpunkt, zu dem sich, wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag äußerte, “das Ende des US-geführten Systems und die Ankunft des asiatischen Jahrhunderts” zu vollziehen scheine.
    Ein dünner Kompromiss
    Die EU-Kommission, die an diesem Mittwoch ihre Pläne nicht nur für den langfristigen EU-Haushalt, sondern auch für ihren “Recovery Fund” zum Kampf gegen die Coronakrise vorlegen wird, kämpft dabei gegen immer stärker werdende Fraktionierungen innerhalb der Union. Für den Recovery Fund liegt ein Modell vor, auf das sich Deutschland und Frankreich in der vergangenen Woche geeinigt haben; demnach soll Brüssel 500 Milliarden Euro vergeben, und zwar nicht als Kredit, sondern als Zuschuss, berechnet danach, wie schwer die jeweiligen Länder von der Krise getroffen wurden (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte stuft es als Schritt in die richtige Richtung, aber quantitativ unzureichend ein. Tatsächlich könnte Italien laut Berechnung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung mit Mitteln in Höhe von 19 bis 26 Milliarden Euro rechnen, Spanien mit 14 bis 24 Milliarden: bei weitem nicht genug, um die Krisenschäden zu überwinden.[2] Gleichzeitig fordern die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden weiterhin, die Mittel nicht als Zuschuss, sondern als rückzahlbares Darlehen zu vergeben. Die EU-Staaten Ost- und Südosteuropas lehnen das deutsch-französische Modell ebenfalls ab, weil es sie zu Nettozahlern machen würde. Allerdings scheint es der Kommission zu gelingen, ihren Widerstand auszuhebeln, indem sie verlangt, die Mittelvergabe an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu koppeln; das richtet sich gegen Ungarn und Polen, deren Verhandlungspotenzial mit der Verhinderung dieser Forderung wohl ausgelastet ist.
    Deutschland startet durch
    Während die Kommission bemüht ist, die gegnerischen Fraktionen mit einem Kompromiss zu besänftigen – die Rede ist davon, Zuschüsse und Kredite im Verhältnis von 70 zu 30 oder 60 zu 40 Prozent zu splitten [3] -, steht sie zugleich vor dem Problem, dass es laut aktuellem Stand die deutsche Wirtschaft schaffen könnte, im Verlauf der Coronakrise ihre Dominanz in der Union noch weiter auszubauen. Ursache ist, dass die Bundesrepublik erheblich mehr Mittel zur Unterstützung ihrer Unternehmen mobilisieren kann als alle anderen Mitgliedstaaten (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Bereits Anfang Mai hatte die Kommission mitgeteilt, der Anteil der im Kampf gegen die Krise bereits zugesagten deutschen Staatshilfen an der Gesamtsumme der Staatshilfen in der EU belaufe sich auf 52 Prozent; auf Platz zwei lägen Frankreich und Italien – mit 17 Prozent weit abgeschlagen, obwohl ihre Wirtschaft beträchtlich stärker getroffen wurde als die deutsche.[5] Demnach können deutsche Unternehmen darauf hoffen, mit einem deutlichen Startvorteil in die Phase nach der Krise zu gehen, in der die Marktanteile innerhalb der EU wohl neu verteilt werden. Fraglich ist, ob die Eurozone eine noch größere deutsche Wirtschaftsdominanz tragen könnte; die Eurokrise der Jahre ab 2010 resultierte in hohem Maß daraus, dass die schon damals gewaltigen deutschen Exportüberschüsse zu strukturellen Defiziten vor allem in südlichen Eurostaaten führten und diese damit in die Verschuldung trieben.[6] EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hat schon vergangene Woche angekündigt, dies verhindern zu wollen: “Ein Übermaß an Staatshilfe werden wir … nicht zulassen.” Der “Wiederaufbauplan” sei “paneuropäisch” zu konzipieren.[7]
    Asymmetrische Krisenfolgen
    Vor einer weiteren Vertiefung der Risse in der EU hat am Montag auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell auf der diesjährigen deutschen Botschafterkonferenz gewarnt. Zwar sei die Coronakrise “in ihrem Ursprung symmetrisch”, erklärte Borrell vor den per Video versammelten deutschen Diplomaten; doch sei sie “in ihren Folgen sehr asymmetrisch”.[8] Das liege daran, dass “die fiskale Kapazität der Staaten” in der EU gewaltige Unterschiede aufweise. Der Kompromiss, den Berlin und Paris über den Recovery Fund erzielt hätten, sei “notwendiger denn je”; er reiche aber nicht aus. “Europa” zusammenzubringen sei “schwierig, hart”, und zwar, weil “zwischen den Mitgliedstaaten große Spaltungen bezüglich vieler Themen bestehen”. “Uns mangelt es an einer gemeinsamen strategischen Kultur”, urteilte Borrell: “Die Bereitschaft zum Kompromiss ist geringer, als sie es sein sollte.”
    EU: Vom Zerfall bedroht
    Längst warnen prominente Stimmen, die Coronakrise könne nicht nur die Brüche in der Union vertiefen; sie könne sie unter Umständen sogar zerstören. In diesem Sinne äußerten sich bereits im April etwa Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und vier weitere prominente SPD-Politiker. Wenn man anderen EU-Staaten in der Coronakrise die dringend benötigte Unterstützung verweigere, “riskieren wir den Zerfall Europas”, hieß es in einem Schreiben der fünf Sozialdemokraten an die Bundesregierung.[9] Ähnlich äußert sich seit Wochen beispielsweise der Finanzinvestor George Soros. “Die EU kann sich jetzt entweder zusammenraufen”, kommentierte Soros Anfang Mai trocken, “oder sie kann ihren Zerfall fortsetzen”.[10] Zehn Tage später erklärte er: “Ich mache mir gewaltige Sorgen, ob die Europäische Union diese Krise überleben kann.”[11] Ende vergangener Woche bekräftigte Soros erneut, falls die EU nicht in der Lage sei, insbesondere Italien aus der Krise zu helfen, dann werde sie “die Herausforderungen, denen sie gegenwärtig gegenübersteht”, möglicherweise “nicht überleben”: “Das ist keine theoretische Möglichkeit; es kann durchaus tragische Realität sein.”[12]
    Vom US- zum asiatischen Jahrhundert
    Die Gefahr des Zerfalls droht der EU inmitten einer Phase als historisch eingestufter Umbrüche. “Analytiker haben lange über das Ende des US-geführten Systems und die Ankunft des asiatischen Jahrhunderts gesprochen”, konstatierte der EU-Außenbeauftragte Borrell am Montag auf der Berliner Botschafterkonferenz: “Jetzt geschieht dies vor unseren Augen. Wenn das 21. Jahrhundert zum asiatischen Jahrhundert werden sollte, wie das 20. ein amerikanisches war, dann könnte die Pandemie durchaus als der Wendepunkt dieses Prozesses in Erinnerung bleiben.”[13] Die EU solle im Verlauf des Machtkampfs zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik ihre eigene Position stärken, und dazu müsse sie genügend Einigkeit entwickeln. Es sei “ein entscheidender Moment”, urteilte Borrell: “ein Moment, um in ein ehrgeiziges Europa zu investieren”. Die innereuropäischen Rivalitäten stehen dem freilich – jedenfalls zur Zeit – entgegen.

  9. Die EU solle im Verlauf des Machtkampfs zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik ihre eigene Position stärken

    Wie denn das? – fragt man sich. Die EU hat doch schon länger keine eigene Position mehr, sondern versucht einen Spagat zu machen zwischen Geschäften mit den USA und Geschäften mit China, wobei sie sich politisch und militärisch über die NATO in einem fort an die USA anschmiegen will.

  10. Jemand hat Herrn Keiner einen Leserbrief zu dessen Artikel “Warum und wie die Bevölkerung das Gesundheitssystem vor „Überforderung“ zu schützen hat – Anmerkungen zur „Corona-Krise“ geschrieben, der damit anfängt, daß er überrascht war von meinem Lob des Artikels
    http://www.herrkeiner.com/geschichten/wirbleibenzuhause/?fbclid=IwAR1JZiSNgGEl1d1dpt4EXdl_uKujI5zTZ6jC-9P9KGu6fNdFYc4Z2ccN1z0
    Uli, aka Herr Keiner, hat ihm, wieder lesenswert, geantwortet:
    http://www.herrkeiner.com/briefwechsel/#Betreff-Nachfrage-Volksgesundheit

  11. Peter Decker: Vom breiten Spektrum des Wissens in einer demokratischen Wissensgesellschaft
    Besorgt registriert man in der Republik sich häufende Zusammenrottungen rechtschaffener Bürger zu “Hygiene-Demonstrationen”, auf denen sie gegen obrigkeitliche Bevormundung, Entmündigung und Schlimmeres protestieren: Allen volksaufklärerischen Bemühungen von Medizinern, Ministern und Moderatoren zum Trotz, die ihr Bestes geben zur Klarstellung der aktuellen Gefährdungslage, fasst sich für sie alles, womit der Staat gegen die Durchseuchung seines Volkes Vorkehrungen zu treffen sucht, in Varianten von Freiheitsberaubung zusammen.
    Wie sie auf so etwas verfallen können, ist aufgeklärten Zeitgenossen ein Rätsel… (Forts.):
    https://www.heise.de/tp/features/Die-Buerger-und-ihre-ultimative-Wahrheitsfrage-4772493.html

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